VIII
Jetzt haben wir Sommer, und es ist immer hell. Ich glaube, dass ich sehr lange im Bett gelegen habe. Vielleicht sollte ich versuchen, aufzustehen. Finde ein hübsches Kleid. Gehe hinunter in die Küche und will Kaffee kochen, doch da ist die Kaffeedose verschwunden. Wo versteckt Vigfús jetzt bloß die Bohnen?
Ich streiche über die Tastatur der Orgel, dann fällt mein Blick auf die Nähmaschine. Lange her, dass ich sie benutzt habe. Was ich wohl mit den Stoffbahnen gemacht habe, die ich in Reykjavík gekauft hatte? Anna findet sie, und ich lächle, als sie wiederauftauchen. Ach, habe ich mich nie darangemacht, die Kleider für Einar zu nähen? Es wird schön sein, das Nähmaschinengeräusch wieder zu hören. Das Brummen im Kopf hat abgenommen.
Ich frage Anna nach der Kaffeedose. Sie steht jetzt bloß an einem anderen Platz. Anna holt sie und gießt auf. Warum müssen die Dinge auch ständig weggelegt und alles durcheinandergebracht werden?
Es ist gut, wieder auf den Beinen zu sein, und es ist keine Magd da, die mich unglücklich macht. Aber ich habe den Eindruck, dass wir früher häufiger Besuch hatten. Jetzt ist es eine Überraschung, wenn mal jemand die Nase zu uns hereinsteckt. Und niemand lässt mehr etwas nähen. Es ist auch lange her, dass die Wanderschule bei uns war. All das fehlt mir, und ich frage Vigfús danach, doch der antwortet kaum. Anna meint, dass es aus Rücksicht auf mich so sei. Niemand wolle mich in meiner Krankheit stören.
«Furchtbarer Blödsinn, was die Leute da denken! Ich bin kein bisschen krank.»
«Das ist gut, Mütterchen», flüstert Anna und umarmt mich. Dann sollten wir nach draußen gehen und frische Luft schnappen.
Wir setzen uns draußen vor die Tür, die Sonne scheint, und die Fliegen brummen. Anna möchte von Reykjavík hören, und wir vergessen alles um uns herum. Ich erzähle von den Läden, von Theateraufführungen und vom Kaffeehaus. Von Bertel und Maria, der Blaskapelle und Annas Cousine Halldóra, die jetzt die Mädchenschule besucht.
Anna schweigt und seufzt traurig. Dann fragt sie: «Darf ich auf die Mädchenschule?»
«Versuch, deinen Vater zu fragen», antworte ich. «Er hat dich so gern. Aber zuerst musst du dich konfirmieren lassen. Kein unkonfirmiertes Mädchen darf dorthin.»
Da habe ich etwas Dummes gesagt. Das merke ich. Achte darauf, sie nicht anzusehen. Sie klingt ein wenig pikiert und anders als sonst, als sie sagt: «Mutter, ich bin konfirmiert. Du warst nur krank und weißt nichts davon.»
Langsam dämmert es mir – die Konfirmation. Aber welches Kleid soll sie getragen haben? Du meine Güte – hatte ich genäht? Will nicht nachfragen.
Ich wünsche mir heiß und innig, dass sie auf die Schule kommt, möchte sie glücklich machen. Weiß, dass sie es genießen würde, in Reykjavík zu sein. Möglicherweise würde sie nicht mehr nach Hause kommen wollen.
«Vielleicht bitte ich Papa, die Kosten für dich zu übernehmen», sage ich und ziehe an einem ihrer dunklen Zöpfe. «Er hilft mir immer, wenn dein Vater nicht will.»
Sie sieht mich stumm an und seufzt noch lauter.
Die Sonne scheint an jedem Tag, und ich spüre kaum die Angst. Das wird ein guter Sommer werden. Vigfús steckt tief in der Heuernte, alle helfen mit. Katrín und Anna harken fleißig. Manchmal geselle ich mich dazu. Es macht Spaß, mit den anderen draußen zu sein. Die Einsamkeit ödet mich an. Wenn ich müde werde, lege ich mich einfach hin und schlafe im frisch geschnittenen Grün. Schön, im duftenden Gras aufzuwachen.
«Jetzt müsste Stefán bei uns sein», sage ich eines Tages, als wir eine Pause machen und etwas trinken.
«Kann der denn überhaupt noch arbeiten?» Ingi nimmt einen Schluck Kaffee. «Sitzt doch nur in Kirchen und orgelt vor sich hin!» Er lacht, bis er keine Luft mehr bekommt.
«Er kann Norwegisch sprechen», sagt Þorgerður, und ihre Bewunderung ist nicht zu überhören. «Er hat gesagt, dass ich zu ihm kommen kann, wenn ich groß bin.»
«Ich hoffe bloß, dass er wieder nach Hause kommt.» Plötzlich packt mich die Furcht. Er darf nicht dort draußen in Norwegen heiraten.
«Bleib mal ganz ruhig, Weib. Eines schönen Tages wird er auftauchen. Vertrau mir, dann hat er genug von all dem», sagt Vigfús und streichelt mir über die Hand. Meine Güte, wie sehr Vigfús doch abgebaut hat.
Meine Katrín wirkt ein wenig trübselig, geradezu trotzig. Ob sie in die Ferne möchte? Vielleicht sollte ich versuchen, Gunnhildur zu schreiben und sie zu bitten, Katrín einen Winter lang in Reykjavík zu beherbergen? Bin nicht sicher, ob Vigfús sie zu Hause entbehren kann, aber man könnte es versuchen. Ich suche ein Blatt Papier und beginne, etwas darauf zu kritzeln. Es ist lange her, dass ich einen Brief geschrieben habe. Wann eigentlich zuletzt?
Meist sind die großen Kinder bei der Heuernte, und Þorgerður ist bei mir. Wir kommen gut miteinander aus. Jón ist auch bei uns, doch er ist schon jetzt ein tüchtiger Bauer und will lieber bei den anderen sein.
Bei gutem Wetter sitzen wir draußen, stricken und reden. Vigfús baut eine schöne Bank und stellt sie an der Südseite vors Haus. Streicht sie sogar weiß. Ich nehme ein dickes Kissen mit und genieße es, draußen zu sitzen.
Der Gletscher ist weit weg, und es fällt mir schwer, in den Wolken darüber jemanden zu entdecken. Sage zu Þorgerður, dass wir später die Pferde nehmen und näher heranreiten sollten. Sie lauscht meinen Geschichten mit offenem Mund. Ich darf bloß nie etwas Trauriges erwähnen.
Als wir so dasitzen, sehen wir die Kinder von den anderen Höfen. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten und rufe sie, doch die Kinder verziehen sich hastig in ihre Häuser. Meine Güte, wie verklemmt die sind!
Þorgerður sagt, dass ich sie in Ruhe lassen solle, sie dürften ohnehin nicht mit uns sprechen. Ich frage nach, verstehe nichts.
«Mütterchen, so viele fürchten sich vor dir», sagt sie und sieht mich mit aller Offenheit an. Mir wird ganz anders.
«Habe ich ihnen etwas getan?»
«Aber warum fürchten sie sich dann?»
«Du bist ziemlich laut bei deinen Anfällen. Und machst so viel Trubel. Keiner weiß, was du als Nächstes anstellst, und deswegen dürfen die Kinder nicht herkommen. Aber sie sind auch gar nicht so lustig», sagt sie noch genauso offen, und zeigt in die Luft. «Siehst du die Wolke da? Ist das vielleicht Kristbjörg? Sie sieht so lustig aus!»
Ich konzentriere mich auf die Wolken, suche sie ab, entdecke aber kein Wesen darin. Kann nicht vergessen, was Þorgerður gesagt hat.
In diesen Sommertagen sticke ich Blumenmuster. Ich habe weißen Leinenstoff und suche alle Stickgarne zusammen, die ich finden kann, fest entschlossen, ein hübsches Altartuch für unsere Kirche zu besticken. Es ist lange her, dass ich zuletzt in der Kirche war, aber wenn ich mich recht erinnere, war das Tuch auf dem Altar ziemlich verschlissen. Þorgerður sitzt geduldig bei mir und beobachtet gespannt die Blumen, die auf dem Tuch entstehen. Die Farben wählen wir gemeinsam aus, und sie darf sich dann mit den Resten abmühen. Wir summen, die Sonne scheint, und der Sommer ist uns gnädig.
«Mutter, kannst du nicht einfach immer so sein?», fragt Þorgerður eines Tages und lächelt mich an. Wie so oft sitzen wir draußen in der Sonne.
«Was meinst du damit, Liebes?»
«So wie andere Leute. Wir haben jetzt solch einen Spaß zusammen», sagt sie und seufzt vor Glück.
Ich sehe sie an. Ihr Gesicht ist schmal, fast wie das eines Vogels. Auch die Hände, die ständig in Bewegung sind. Es fällt ihr schwer, still zu sitzen.
«Sieh mal, möchtest du hierfür die rote Farbe nehmen?», frage ich. «Das könnte eine hübsche Blume werden.»
Sie sieht abwechselnd mich und das Fädchen an, nimmt es und beginnt zu sticken. Nach einer Weile sieht sie auf: «Die Hauptsache ist natürlich, dass es uns gut geht.» Ich betrachte das kleine Gesicht und überlege im Stillen, ob sie noch ein Kind oder schon eine erwachsene Frau ist.
«Glaubst du, dass Stefán vielleicht bald nach Hause kommt?», frage ich, als wir wie so oft an der Mauer sitzen. Es scheint mir so lange her zu sein, dass er fortgegangen ist.
«Ich weiß nicht, aber wir können ihn besuchen, wenn du dich erholt hast. Fahren einfach mit dem Schiff zu Gauja nach Seyðisfjörður und dann weiter nach Norwegen. Wäre das nicht schön?» Jetzt strahlt Þorgerður.
«Ich habe mich erholt, Þorgerður, Liebes.»
«Wir müssen trotzdem Vater fragen», antwortet sie und sieht mich unruhig an. «Mach keine Dummheit, Mutter.»
Dieses ganze Gerede über Krankheit verstehe ich nicht. Sicher – dann und wann liege ich im Bett, aber das geht doch vielen so. Wenn ich munter und gut drauf bin, werde ich ständig an die Erkrankung erinnert. Wird gesagt, dass ich nicht zu viel arbeiten und mich nicht übernehmen dürfe. Mich nicht erschöpfen. Als würde sich niemand über die Kraft in mir freuen.
Einst habe ich wie meine Brüder gearbeitet. Sagte Papa nicht, dass ich ein Junge hätte sein und den Hof übernehmen müssen? Was hat sich denn geändert?
Mutters Medikamente sind aufgebraucht, und die neue Bestellung ist noch nicht angekommen. Nächstes Mal wirst du dich selbst ums Bestellen kümmern. Vater sagte, dass er es tun werde, aber welchem Teufel hat er bloß hinterhergetrödelt? Du weißt, dass sie teuer sind, aber sie werden nicht billiger, wenn man die Bestellung aufschiebt. Und Mutter geht es besser, wenn sie sie nimmt.
Sonst kommen die Tage, an denen es dir so vorkommt, als wäre diese Frau nicht länger deine Mutter. Was hat man ihr verabreicht? Ist es etwas, das ihr hilft, oder stellt es sie bloß ruhig?
An guten Tagen hat sie immer noch Freude daran, sich herauszuputzen. Vor Kurzem hast du sie gekämmt und angezogen. Sie war so elegant wie immer, sie sieht so schön aus, wenn sie zufrieden ist. Als ihr draußen auf dem Hof standet, schlug sie vor, ins Zunfthaus zu gehen und ein Theaterstück anzuschauen. Du hast genickt, und ihr habt euch auf den Weg gemacht. Nach einer Weile hielt sie an, warf dir einen scharfen Blick zu und sagte: «Warum spielst du mit mir, Mädchen? Du weißt verdammt noch mal genau, dass wir nicht in Reykjavík sind und hier kein Theater ist.» Dann brach sie in Tränen aus.
Du hast versucht, sie zu trösten, doch sie war mit nichts zufrieden. Wollte nach Reykjavík, redete unsinniges Zeug. Sagte, dass sie nicht länger in dieser Einöde wohnen wolle, wollte auf die Mädchenschule, mehr lernen und Lehrerin werden. Als du Vater davon erzählt hast, spielte er die Sache runter, kannte solche Anwandlungen schon. Meinte, dass es für Mutter vielleicht wirklich am besten gewesen wäre, in Reykjavík zu leben – doch jetzt sei es zu spät dafür.
Auf einmal kam er dir so müde vor. Armer Vater, was hätte er wohl am liebsten getan?
Ich hänge die Gardinen ab und wasche sie, schneide Kleider zu und nähe, ziehe die Betten ab und lüfte alles, übe an der Orgel, mache die Küchenschränke sauber und wasche die Wand ab. In diesem Haus ist wahnsinnig viel vor die Hunde gegangen, während ich krank war. Höchste Zeit, mal richtig was zu schaffen. Arbeite Tag für Tag, die Energie ist unerschöpflich.
Þorgerður versucht, mich zum Hinsetzen zu bewegen, zum Ausruhen und Weiternähen, behauptet, dass ich die Wohnstubengardinen schon gewaschen hätte. Unsinn! Sie sind völlig verdreckt. Sie will, dass ich hinaus auf die Bank gehe, in der Sonne sitze und stricke.
«Mutter, es macht so viel mehr Spaß, wenn wir uns unterhalten», sagt sie ganz offen.
«Ja, Liebes, ich komme zu dir nach draußen, wenn ich Zeit habe», rufe ich und mache weiter. Diesmal möchte ich nicht mit einer Magd enden. Muss zeigen und beweisen, dass ich das selbst schaffe.
Im Eifer zerbreche ich Gläser und Tassen. Ich stoße ständig irgendwo an, und manchmal rutschen mir die Dinge einfach aus der Hand und fallen auf den Boden. Es ist, als würde mir alles im Weg stehen. Oft glaube ich, dass sich die Wände bewegen und auch die Möbel. Vigfús bittet mich, den ganzen Wirbel sein zu lassen, doch ich kläre ihn darüber auf, dass ich diese Tassen immer schon hässlich fand. Will sowieso zum Handelsplatz und neue besorgen. Da schimpft er und will keine anderen Tassen sehen.
Ich weiß nicht, wieso der Bauer so wütend war. Er packte mich mit seinen Pranken und brüllte etwas, das ich nicht verstand.
«Warte, warte», rief die Frau und wollte dazwischengehen, doch er fegte sie einfach beiseite.
«Ich wollte euch nur besuchen», sagte ich und versuchte ein Lächeln. «Es ist so lange her, dass wir uns gesehen haben.»
«Ja, ja», sagte er, als wir draußen auf dem Hof waren. «Das nächste Mal hetze ich den Hund auf dich!»
Zum Glück mischte sich die alte Frau vom Nachbarhof ein. Sie war gerade auf dem Weg über den Hof und befahl dem Bauern, mich auf der Stelle loszulassen, sagte, dass wir verwandt seien und sie mich nach Hause begleiten werde. Doch vorher bat sie mich zu sich herein. Das fand ich sehr lieb von ihr.
Sie führte mich in ihr Haus, das mir kein bisschen bekannt vorkam. Obwohl sie meinte, dass ich oft zu Besuch gewesen sei und für sie genäht hätte. Wir tranken einen Schluck Kaffee in der Küche, und ich bot ihr meine Hilfe an. Hatte sie nicht irgendetwas, das genäht werden musste? Ich sagte, dass wir uns schnell darum kümmern sollten – solange noch Zeit dafür sei. Bald ginge ich nämlich nach Reykjavík und würde Lehrerin an der Mädchenschule. Sie tätschelte und streichelte mich überall. Doch jetzt suchten und riefen meine Kinder nach mir, und sie gab ihnen ein Zeichen, wo ich war.
«Es sind die Augen, Liebes», sagte sie auf dem Weg über die Wiese. «Die Leute haben Angst vor deinen Augen, wenn du einen Anfall hast. Und du verschreckst natürlich alle mit deinem Gebaren. Musst du denn auch so laut sein, meine Liebe? Aber ich weiß, dass du niemandem etwas tust – und schon gar nicht den Kindern. Das habe ich schon oft gesagt. Er soll sich nicht so haben, der Bauer vom Hof da unten. Keine Ahnung, was mit dem Mann los ist!»
Ich versuche, auf ein Pferd zu steigen, doch da kommt Vigfús. Fragt, ob ich ungekämmt vom Hof wolle. Das wirkt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass ich so liederlich ausgeritten wäre. Manchmal lasse ich zu, dass er mich den ganzen Weg bis ins Obergeschoss bringt.
Aber oft ist Vigfús auch aggressiv. Dann will ich nicht, dass er in meine Nähe kommt. Neulich hat er mich gepackt und wollte mich ins Haus ziehen. Es regnete, und ich war zugegebenermaßen barfuß draußen, hatte es einfach nicht bemerkt. Da befreite ich mich durch einen Biss in seinen Arm. Er schrie vor Schmerz auf und ließ los. Þorgerður kam zufällig vorbei. Sie nahm mich unauffällig bei der Hand, und wir gingen gemeinsam ins Haus.
Danach saß sie lange an meinem Bett. Sie erinnerte mich daran, dass nur Hunde beißen. Als ob ich das nicht wüsste! Wer beißt, dem werden die Zähne gezogen. Ich sagte, dass ich ihn ja auch nicht fest gebissen, sondern bloß gezwickt hätte. Dann bat ich sie, mir Bürste und Spiegel zu geben, und band meine Haare zu einem ordentlichen Dutt oben auf dem Kopf zusammen. Sie sind immer noch dunkelblond und kaum grau geworden, aber Vigfús anzusehen ist deprimierend. Dabei ist er jünger als ich.
Die Kirche ist offen, ich setze mich an die Orgel und beginne zu spielen. Durchstöbere den Notenstapel, finde aber nichts, was mich befriedigt. Verdammt, wie trostlos das alles ist. Ich hätte nicht so überstürzt von zu Hause aufbrechen sollen. Hätte meine eigenen Noten mitnehmen sollen. Aber bin ich nicht ständig auf der Flucht vor Vigfús, damit er mich nicht aufhält? Wird immer aufdringlicher, der Kerl.
Ich blicke nach oben. Hier fehlt die Kuppel aus den Kirchen in Rom, von denen Pétur Jakob erzählt. Und wo ist das Pedalspiel aus der Dómkirkja in Reykjavík? Ohne ist es unmöglich, ein richtiges Konzert zu geben. Warum um Himmels willen treibe ich mich noch in dieser Gegend herum, in der es nichts und wieder nichts gibt? Hätte schon längst fort sein sollen.
«Guten Tag, werte Madam!» Pfarrer Jóhann steht lächelnd im Türspalt. Dann kommt er her und streckt mir die Hand entgegen.
Ich überlege, ob ich mit ihm schimpfen soll, weil es in dieser Kirche an allen Ecken und Enden fehlt, lasse es aber sein. Stehe auf und begrüße ihn. Er freut sich, mich zu sehen, und will, dass ich ein paar Lieder auf der Orgel spiele. Will, dass wir zusammen singen.
«Man könnte mal eine neue Orgel kaufen», sage ich brüsk. «Und zwar eine mit Pedalspiel.»
Jóhann sagt, dass die Orgel neu und er mit dem Kauf sehr zufrieden sei. Er werde sie bei Gelegenheit stimmen lassen. Ich falle ihm ins Wort: «Und es fehlt eine richtige Glaskuppel oben auf der Kirche. In Rom würde sie erbärmlich wirken.»
«Ja, findest du?», sagt er bloß und lädt mich auf einen Schluck Kaffee ein.
Ich schließe die Orgel und gehe mit ihm ins Haus. Das Desinteresse dieses Mannes ist wirklich unglaublich.
Anna kommt und holt mich. Ich bin auf dem Weg zum Handelsplatz und will nicht nach Hause, doch sie schlägt vor, dass ich später dorthin gehe, da nun schon Abend sei. Ich bin einverstanden. Der Pfarrer und seine Frau stehen auf dem Hof und winken uns. Die Arme hat ein schlecht genähtes, hässliches Kleid an. Diese Farbe steht ihr überhaupt nicht, doch ich halte mich zurück und sage es ihr nicht.
Faxi und ich haben ein schönes Tempo erreicht, sausen in fliegendem Ritt voran. Vielleicht hätte ich mich ein bisschen besser anziehen sollen, das warme Schultertuch greifen, doch ich wollte bloß schnell loskommen. Wollte nicht, dass Vigfús sich aufbläst und mir wieder einmal den Fuß in den Weg stellt. Der Wind saust in den Ohren, und jetzt nieselt es auch noch von oben. Dabei sah das Wetter am Morgen so gut aus. Vielleicht hätte ich auf einen besseren Tag warten sollen, doch man weiß nie, wann diese Tage kommen.
Schon lange will ich zum Hornafjord. Ich brauche so vieles. Reite selbst zum Handelsplatz und wähle aus. Lasse nicht Vigfús die Dinge für mich besorgen. Ist bei allem so knauserig. Immer. Ganz anders als Papa, wenn der früher vom Handelsplatz zurückkam. Tagelang freuten wir uns darauf, zu sehen, was er wohl mitbringen würde. Er hat immer mehr gekauft als das, worum wir ihn gebeten hatten.
Vielleicht nehme ich das Schiff und fahre einfach nach Reykjavík zu Gunnhildur. Kaufe ein und bleibe eine Weile dort. Ich bin müde, habe in letzter Zeit viel gearbeitet und wenig Schlaf gefunden. Vigfús hat jetzt ständig ein Auge auf mich, er rechnet damit, dass ich etwas anstelle. Dadurch bin ich ganz angespannt und schlafe noch weniger.
Müsste ich nicht langsam den Fluss erreichen? Habe ein wenig Angst davor, tue es aber trotzdem. Werde es allein und aus eigener Kraft ans andere Ufer schaffen müssen. Da vorn ist ein Hof. Sollte ich einen Abstecher machen und mich aufwärmen, bevor ich weiterreite? Vielleicht einen Schluck Kaffee trinken und ein wenig singen? Nein, Vigfús ist mir ganz sicher auf den Fersen. Doch über den Fluss wird er wohl kaum gehen, glaubt bestimmt nicht, dass ich mich so weit vorwage. Das werde ich ihm schon noch zeigen!
Auf dem Hof würden sie natürlich sofort bemerken, dass ich keine Reisekleidung trage. Könnten versuchen, mich festzuhalten. Aber ich trickse sie alle aus! Kommt da nicht jemand hinter mir her? Drehe mich nicht um, will keine Zeit verlieren.
«Mutter!»
Das Wort zerschneidet die Luft, wieder und wieder. Habe ich mich verhört? Nein, da ist es wieder, diesmal noch näher: «Mutter, warte! Warte auf mich!»
Ich höre nicht heraus, wer es ist, denn nun bin ich am Fluss angelangt. Schlammbraun tost er vorbei, scheußlich und laut! Mir wird ganz anders, Faxi schnaubt und bleibt ruckartig stehen. Um ein Haar wäre ich runtergefallen. Er ist klitschnass vom Rennen. Ich streichle und beruhige ihn, lasse den Fluss aber nicht aus den Augen. Wo kann man ihn am besten durchqueren? Reite am Fluss entlang. Der Flusslauf ist schmal, und es gibt heftige Stromschnellen. Habe ich überhaupt eine Chance?
Dann hat er mich eingeholt. Ich spüre es. Streckt mir vorsichtig die Hand entgegen, die Stimme zittert: «Mütterchen!»
Es ist mein Liebling, das weiß ich. Er klammert sich an mich und hilft mir vom Pferderücken. Ich sacke zusammen, kann nicht auf den Füßen stehen, doch er hält und streichelt mich beruhigend.
«Will zum Hornafjord», sage ich. «Brauche so vieles …»
«Schon gut», sagt er. «Wir werden zusammen zum Hornafjord reiten, aber nicht heute. Der Fluss schwillt im Moment an, aber wenn du mit mir kommen willst, verspreche ich es. Später!» Er sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Zittere und schlottere vom Scheitel bis zur Fußsohle. Eiskalt.
Wir kehren auf dem nächsten Hof ein. Bekommen heißen Kaffee und Leihklamotten. Alle sind lieb zu mir, und langsam werden meine kalten Glieder warm. Doch ich wage nicht, die Augen zu schließen, sehe immer noch die hellbraune Flut vorbeirasen und höre ihr Tosen. Und das Zittern in mir hält an. Erst viel später hört es auf. Da liege ich schon zu Hause in meinem Bett.
Vigfús tobt. Es sei nur rechtens, wenn ich mich im Gletscherfluss umbringen wolle, unentschuldbar aber sei es, das Pferd dermaßen zur Erschöpfung zu schinden. Ingi bringt ihn zum Schweigen. Ich gehe ins Bett, finde den Vogel und suche Schutz unter ihm. Werde nie wieder aufstehen.
Tagelang sitzt Þorgerður an meinem Bettrand.
Kühle Luft empfängt mich draußen auf dem Hof. Lehne mich an den Türrahmen. Stiere hinaus in die Dunkelheit, höre in der Ferne Wellen branden. Schimpfe die Hunde aus. Versuche, mich zu orientieren, und laufe quer über die Wiese. Hoffentlich auf dem richtigen Weg. Rudere in der Luft, wacklig auf den Beinen in dicken Wollsocken. Sofort durchnässt. Hocke mich kurz hin und verschnaufe. Dämmere weg. Springe schlotternd auf die Beine. Wickle das Schultertuch fester um das Nachthemd.
Im Stall ist es warm und angenehm. Weiß, dass die Schafe Seite an Seite liegen, und mit einem Mal habe ich das Verlangen, mich zu ihnen zu legen und ganz fallen zu lassen. Doch dann mischt sich unter den Stallgeruch der Duft von frisch gekochtem Fleisch, und auch frisch gebrannte Kaffeebohnen sind da. Das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Erinnere mich, weshalb ich hergekommen bin. Sollte meinen Leuten mal etwas Richtiges zu essen geben. Hier habe ich das Sagen!
Recke mich hoch zu den Dachsparren, wo die Sensen aufbewahrt werden. Taste mich in der Dunkelheit voran und finde, was ich suche. Sehe kaum die Hand vor Augen, prüfe die Schärfe, suche den Schleifstein, finde ihn aber nicht. Da fällt mir ein kleines Messer in die Hände. An die Dunkelheit gewöhnt, sehe ich lauter Augen funkeln. Sie strahlen wie Sterne in der Dunkelheit. Gehe auf die Sterne zu, packe ein Horn und stoße das Messer in die Kehle.
Ein warmer Blutschwall schwappt auf mich. Die Tiere springen auf und rennen blökend und tretend umher. Kommen nicht hinaus, eingesperrt im Verschlag. Das Schaf, das sich im Todeskampf windet, habe ich fest im Griff. Es ist stark, doch ich bin stärker. Das Blut spritzt auf Gesicht und Hals. Jetzt liegt es still, das Zucken hört auf. Ich nehme mir keine Zeit, das Blut von den Lippen zu lecken. Packe das nächste und das übernächste, mit ruhigen, entschlossenen Griffen. Hier soll Fleisch werden – und nicht zu knapp! Will so viele Schafe schlachten, dass ich Fleisch kochen kann, wann immer ich Lust habe. Das sind meine Schafe, mein Fleisch, und ich habe genug vom ewigen Fraß.
Diese verdammte Dunkelheit. Ich bewege mich vorsichtig, rutsche aber auf dem glatten Boden aus. Falle der Länge nach hin. Verliere das Messer. Taste herum. Drehe mich auf den Bauch. Versuche aufzustehen, finde aber nirgendwo Halt, und die Schafe stoßen mich immer wieder um. Ein stechender Schmerz in der rechten Schulter.
Hundegebell, und jemand reißt die Tür auf. Sofort wird Licht gemacht.
«Es ist deine Mutter», ruft jemand durch den Türspalt. Vielleicht Vigfús. Ich erkenne die Stimme nicht, höre nichts wegen des Brummens in den Ohren, spüre aber die Tritte der Schafe, die über mich trampeln. Drehe mich weg, meide das Licht und erinnere mich an nichts weiter.
Das Pochen in meinem Kopf gleicht Hammerschlägen. Ich versuche, weiterzuschlafen, doch meine Schulter schmerzt so sehr. Erinnere mich verschwommen an jemanden, der mich gewaschen und mir ins Bett geholfen hat. Glaube, dass Einar bei mir gesessen und mich im Arm gehalten hat. Mir Kaffee gebracht. Mutter und Halldóra waren sicher auch da.
Jemand setzt sich ans Bett. Ich krieche unter der Decke hervor. Kann mich kaum bewegen, der ganze Leib wund. Da sitzt Ingi, mein Bruder. Ich bin außer mir vor Freude und rufe: «Ingi – du bist also nicht tot?»
Die Sonne scheint durchs Fenster und beleuchtet den Staub in der Luft.
«Mütterchen», sagt er und streichelt mir über die Wange. Da erkenne ich, dass es sein Namensvetter ist. Das Haar kupferrot, die Haut hell und schön. Die Sommersprossen nahezu verschwunden. Es ist schön, ihn zu sehen, groß und stark. Ich versuche, mich aufzusetzen, und er hilft mir dabei. Schnell wird alles klar in meinem Kopf, und ich erinnere mich an den kleinen Jungen, der eine Antwort wollte. Nehme seine Hand und flüstere: «Weißt du noch, weißt du noch vor vielen Jahren? Du hast dich mit den Leuten vom unteren Hof geprügelt, hast gefragt, aber ich hatte keine Antwort.» Komme nicht weiter. Ingi nimmt mich fest in den Arm, wiegt mich wie ein Kind und flüstert: «Nicht, Mutter, sag das nicht.»
Dann bittet er mich, kurz zu warten. Geht hinunter und kommt mit einem Teller zurück, randvoll mit Fleisch und Kartoffeln. Wir lachen und weinen abwechselnd, während er mich füttert. Das Fleisch zergeht auf der Zunge, und ich komme zu Kräften. Glaube, dass ich wieder auf die Beine komme, wenn man mir täglich Fleisch gibt. Das sage ich Ingi, der nicht antwortet.
«Hast denn du selbst auch schon einen Bissen gegessen?», frage ich.
Er nickt.
«Ich muss zu Papa. Er wird Stefán die Schule finanzieren. Ich glaube nicht daran, dass dein Vater bezahlt.»
«Mach dir keine Sorgen! Stefán ist längst in Norwegen. Pétur Jakob hat sich seiner angenommen.»
«Na schön, auf die Beine kommen muss ich trotzdem … Du weißt, dass ich keine Magd haben will.»
«Nein, Mutter, du musst dich ausruhen», sagt er und geht mit dem leeren Teller, dreht sich aber noch einmal um und ruft: «Und jetzt hole ich Kaffee, werte Madam!»
Stehe auf und suche meine Schuhe. Mit steifem Körper klaube ich ein paar Klamotten zusammen und begegne Ingi auf der Treppe.
«Marsch ins Bett», sagt er bestimmt. «Du musst noch Kaffee trinken.»
«Schon, ich habe bloß keine Zeit. Es gibt so vieles, das ich noch nicht erledigt habe.»
«Nicht heute, Mutter. Beeil dich nun, bevor der Kaffee kalt wird.»
Ich gehe ins Bett und trinke.
«Furchtbare Pferdepisse, dieser Kaffee. Warum hat Katrín ihn nicht aufgegossen?»
«Machst du dich über meinen Kaffee lustig?» Ingi grinst schelmisch. «Katrín ist in Reykjavík, ist mit dem Küstenschiff gefahren.»
Reykjavík! Wäre ich doch mit ihr gefahren. Schließe die Augen und träume vor mich hin. Stoffläden, Kaffeehaus, Theater, Bertel und Maria …
Prinzessin Anna taucht an meinem Bett auf, ganz verheult. «Was ist los, mein Mädchen?» Ich strecke meine Hand nach ihr aus und sie zieht die Nase hoch, während sie flüstert: «Soll ich dich kämmen, Mutter?»
«Du meine Güte, bin ich ungekämmt?»
Sitze im Bett und trinke Kaffee, während Anna mein Haar kämmt. Gucke auf meine Hände, geschwollen und zerkratzt. Wie sehe ich bloß aus? Dann dämmert es mir. Der Stall! Jetzt bemerke ich auch, dass der Lärm nicht in meinem Kopf ist. Er kommt von draußen. Ich werfe den Kindern einen scharfen Blick zu: «Was treibt euer Vater da? Baut er hier im Obergeschoss?»
Anna kämmt wie verbissen mein Haar und antwortet nicht.
«Kann er diesen Krach nicht sein lassen, der Mann? Das ist unerträglich.»
«Er ist bald fertig», antwortet Ingi.
«Vigfús! Kannst du diesen Höllenkrach nicht sein lassen?», rufe ich mit scharfem Ton.
Keine Antwort.
Sehe nichts vor Dunkelheit, spüre sie aber um mich herum. Schlage mit Fäusten, stoße überall an. Ich strample, setze mich auf, kann aber nicht stehen. Komme nirgendwohin. Schreie mich heiser. Endlich kommt Papa und bittet mich, ruhig zu sein. Er wird bei mir bleiben. Immer. Mutter und Halldóra auch. Da lege ich mich hin, decke mich zu und dämmere weg.
Schrecke auf, sehe nichts in der Dunkelheit. Erinnere mich vage an Widerstand. Ich wollte nicht brav mitkommen, gab nicht nach. Kämpfte, biss und schlug, doch er war stärker. Ich rief die Kinder, bat sie, mir zu helfen. Schrie nach Ingi, doch er kam nicht. Dann hatte Vigfús mich auf den Boden gezwungen, in den Verschlag gesteckt und die Klappe zugeknallt. Hat mich eingeschlossen. Ich döse in der Dunkelheit, habe keine Kraft mehr zu rufen, glaube, dass ich sterbe.
Wache auf, als es hell geworden ist. Es ist ganz still im Haus. Ich schaue nach oben und zu beiden Seiten. Gucke zwischen den Brettern hindurch. Auf einen Ort, den ich kenne – und auch wieder nicht. Eine Gefangene in einem Verschlag in ihrem eigenen Schlafzimmer.
Da werde ich von Furcht ergriffen. Ich erinnere mich an die Platzangst unter der Dachschräge in der Mädchenschule. Erinnere mich an den Lagerraum daheim, die fensterlose Hölle. Wagte mich nicht hinein. Musste immer wissen, dass ich rauskam. Wie kann Vigfús es wagen, mich einzusperren? Ich haue und schlage um mich, schreie so laut ich kann, komme aber nicht hinaus, so sehr ich es auch versuche. Werfe mich hin und ziehe die Decke über den Kopf.
Schrecke auf und dämmere wieder weg, die Stimme nur noch ein Flüstern. Es wird nicht mehr richtig hell.
«Vigfús, mir ist kalt. Hörst du mich nicht? Komm sofort her! Mein Rücken tut weh. Und die Füße. Du kannst mich nicht einsperren!»
Ich möchte aufstehen. Mich bewegen. Hinunter in die Wohnstube gehen, Orgel spielen, nähen. Ein Kleid anziehen. Will nicht wie ein Faulpelz herumliegen.
Wie sehr ich auch schreie, niemand antwortet. Bin ich allein zu Hause? Eiskalt vor Furcht ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Spreche das Vaterunser und all meine Gebete, summe Psalmen, bis ich wegdämmere.
«Engelchen, hast du dich jetzt beruhigt?», höre ich Vigfús fragen. Meine Augen sind geschlossen, ich höre, wie er sich setzt und in Position bringt. Weiß genau, wo er sitzt und wie er sitzt.
«Willst du dich nicht aufsetzen und etwas essen?»
Ich antworte nicht, rühre mich nicht.
«Nun setz dich auf, meine Liebe, das ist dein Fleisch. Dir lag doch so viel daran, es zu bekommen. Jetzt iss auch.»
Was für ein Ton ist das? Wirft er mir etwas vor? Da bemerke ich, dass er an der ihm zugewandten Seite eine winzige Luke öffnet. Eine kleine Luke in die Freiheit.
Ich richte mich mühsam auf und sehe Vigfús dasitzen. Wie konnte mir bloß einfallen, ihn zu heiraten? Ahnte nicht, dass er mich einsperren würde.
Sehe den Teller und wie er das Essen durch die Luke reicht. Die kleine Luke, die er so praktisch eingebaut hat. Der Kunsttischler. Merke, wie ich von Abscheu erfüllt werde, und boxe so fest ich kann durch die Luke. Schlage ihm den Teller aus der Hand. Sehe Fleisch und Kartoffeln auf ihn fliegen. Höre ihn fluchen. Lege mich hin und kehre ihm den Rücken.
Dann beginne ich zu singen, erst mit leiser Stimme, dann aber lauter, je länger ich singe:
Himmlisches Licht mein Herz erhellt,
immer, wenn ich wein’,
denn Gott meine Tränen zählt –
ich glaube und lass’ mich getröstet sein.
Singe so lange weiter, bis ich wegdämmere. Wache in tiefster Dunkelheit wieder auf und singe aus voller Kehle. Vigfús brüllt etwas, doch ich verstehe ihn nicht wegen des Brummens in meinem Kopf und des Gesangs in mir. Singe und schlafe abwechselnd. Merke keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
«Þorgerður! Þorgerður, Liebes! Wo bist du, Mädchen? Komm her! Ich möchte stricken!»
Ich glaube, dass schon Frühling ist. Müsste nicht bald Sommer sein? Ich bin schon so lange eingeschlossen. Diese Höllenkälte hier auf dem Boden!
Þorgerður setzt sich mir gegenüber, klein und zierlich. Bekommt es etwa nichts zu essen, das Kind?
«Bring mir das Strickzeug, sofort, Mädchen!»
«Ich darf nicht, du könntest dir damit etwas antun. Aber ich kann dir etwas erzählen. Möchtest du, dass ich lese?»
«Wo hast du dich herumgetrieben? Ich habe mich heiser geschrien.»
«Ich war in der Schule.»
«Du weißt, dass ich Gesang unterrichte. Lass mich raus. Dieses verfluchte Eingesperrtsein die ganze Zeit.»
«Rede nicht so hässlich, liebste Mutter!»
«Ich will einfach raus!»
«Vater entscheidet das.»
«Nein, das entscheidet er überhaupt nicht. Hol ihn sofort her. Er muss mich rauslassen, der verdammte Betrüger.»
«Mutter, du warst mal ganz anders.»
«Hol den Mösenstecher!»
«Hör auf damit, sonst gehe ich und lasse dich wieder allein.»
«Setz dich auf, meine Liebe. Du musst etwas essen!»
Er sitzt vor dem Käfig. Ich schließe die Augen, schrecklich, ihn ansehen zu müssen.
«Was gibt es zu essen?»
«Frischen Fisch, probier mal, wie gut der schmeckt.»
«Ich will Fleisch!»
«Ich weiß, aber wir können nicht jeden Tag Fleisch essen.»
«Dann will ich nichts essen.»
«Du musst essen. Sonst stirbst du.»
Ich öffne die Augen, setze mich auf, der ganze Körper steif.
«Wie abscheulich du sein kannst, Vigfús! Wie konnte mir bloß einfallen, dich zu heiraten?»
«Lass bloß niemanden dein Geschwätz hören, meine Liebe. Hier, nun iss!» Er öffnet die Luke.
«Ich wünschte, ich wäre tot.»
«Dazu kommt es schon noch.»
Schrecke in der Dunkelheit auf und höre ein Rasseln. Sehe nichts, spüre aber, dass mich das Ungeheuer anstarrt. Mit all seinen Augen.
Rufe nach Kristbjörg. Bitte sie, mich zu beschützen. Glaube, dass ich das Biest mit Krach von mir fernhalten kann. Singe aus voller Kehle, Vigfús schimpft und befiehlt mir, zu schweigen, doch ich singe weiter, bis es hell wird.
Da habe ich schon keine Stimme mehr. Das Ungeheuer verschwindet vom Rand des Podests und schleppt sich die Treppe hinunter, und ich dämmere todmüde weg und schlafe bis in den Tag hinein.
Die Tage sind lang, die Nächte länger. Ich döse, schreie, singe und schlage um mich, doch auszubrechen ist hoffnungslos. Die Fäuste sind zerkratzt von der ewigen Boxerei. Ich sehne mich nach etwas Sauberem und Trockenem. Sehne mich nach meinen Kleidern. Rufe nach Fleisch, will nicht diesen verdammten Fraß.
Vigfús sagt, dass ich herauskäme, wenn ich ruhig und willig sei. Ich gebe mich mit dem Fisch zufrieden, schlinge ihn herunter und würge …