III

Hier gibt es keinen Gletscher, keine Sander, nichts, wo die Augen verweilen könnten. Ich versuche, den Berg Esja anzuschauen, ihn zu meinem Berg zu machen, doch er ist zu weit weg, und der scharfe Nordwind bläst direkt aus seiner Richtung. Noch haben wir uns jedenfalls nicht angefreundet. Das Kreischen der Möwen und das Krächzen vereinzelter Raben sind die einzigen Geräusche, die ich höre. Jetzt wäre es gut, die Sprache der Raben zu verstehen, sich mit den Schwarzgefiederten zu unterhalten und durch sie Nachrichten zu empfangen. Man hat mir gesagt, dass die Küstenseeschwalbe zum Tjörnin kommt, zum See westlich der Schule, wenn es Frühling wird. Wenn es denn jemals Frühling wird.

Die Wiese auf dem Austurvöllur ist umzäunt. In der Mitte des Platzes steht Bertel Thorvaldsen. Seine Statue befindet sich innerhalb eines Eisenzauns, und ich fühle, wie einsam er ist.

Meine Schwester Gunnhildur ist mit mir zur Mädchenschule gereist. Sie war quietschfidel. Hatte nicht damit gerechnet, so schnell von zu Hause wegzukommen. Den ganzen Weg bis nach Reykjavík! Hat Papa versprochen, auf mich achtzugeben, lieb zu mir zu sein.

Jetzt sind wir Schwestern alle fort und nur noch die jüngeren Brüder daheim. Ich bemühe mich, die Gedanken an Mutter zu verdrängen. Weiß, dass es daheim eine neue Magd gibt. Hoffe, dass sie alt und unansehnlich ist. Halldóra geht Mutter zur Hand. In sie setze ich mein Vertrauen.

Wir haben keine Zeit, uns einzugewöhnen. Die Aufnahmeprüfung ist gleich am Tag nach unserer Ankunft in Reykjavík. Bei mir läuft es gut. Bei Gunnhildur auch. Wir werden in eine Reihe gestellt, ich bin die Vierte und Gunnhildur die Neunte.

Der Schuljahresbeginn ist feierlich. Die Schulleiterin stellt den Lehrplan vor, spornt uns an, fleißig zu sein und die Schulregeln zu befolgen. Sie ist recht klein, zierlich, hält sich gerade und ist resolut. Nach ihr kommt ein Mann und redet lange. Dann werden Psalmen gesungen.

Die Sonne scheint durchs Fenster, ich fühle mich unwohl und kann nicht folgen. Starre die anderen Mädchen an. Dachte, dass ich schick bin. Mustere meine groben Hände. Verstecke sie schnell unter der Schürze. Einst war von Musikerfingern die Rede.

Sveinn! Ich spüre einen Stich in der Brust.

Konzentriere mich auf ein Mädchen in der Reihe vor mir. Sie trägt ein dänisches Kleid. Der Stoff ist hell, die Ärmel sind lang und ein bisschen gepufft. Ein Spitzenkragen um den Hals. Sie hat eine schlanke Taille, und wie sie dort so auf dem Stuhl sitzt, wirkt der Rock weit und lang. Da ist es also: das Kleid von der Postkarte aus Grimsby. Ich muss auf meine Hände aufpassen, die das Verlangen haben, das Kleid zu befühlen. Würde den Stoff so gerne anfassen. Könnte das Seide oder Taft sein? Leinen ist wohl kaum so glänzend.

Schrecke auf, als Gesang einsetzt, und stimme in den Psalm ein. Nach der Zeremonie gibt es Kaffee und Gebäck.

Nachdem Sveinn fort war, steckte der Vogel lange Zeit in meinem Hals fest. Es kamen keine Briefe von ihm, und ich weiß nicht, ob er meinen bekommen hat. Ich hatte einen Mann gebeten, ihn mitzunehmen. Er war auf dem Weg in den Westbezirk und wollte ihn persönlich überbringen.

Alle waren unheimlich lieb zu mir, Gauja ließ das Mosern völlig sein, hatte genug mit sich selbst zu tun. Nur Papa und Magnús kriegten sich ständig in die Haare, und der ganze Hof war von Ärger und Geschrei erfüllt. Am Ende zog Magnús beleidigt ab, und Gauja mit ihm.

Ich habe Hulda keine Milch mehr gebracht, das Haus nicht mehr verlassen, mich höchstens mal auf die Torfmauer gesetzt. Es war gut, dort zu sitzen und in den Westen zu schauen. Pálmar war nicht mehr in den Wolken, aber einmal hatte ich das Gefühl, Kristbjörg kurz auftauchen zu sehen. Sie murmelte etwas und machte ein zorniges Gesicht.

Eines Abends holte Einar Sveinns Bettkantenbrett aus dem Lagerraum. Ich hatte ihn darum gebeten, war mir sicher, dass Sveinn es bei seiner Abreise zurückgelassen hatte. Mit dem Brett in den Händen brach ich in Tränen aus. Den Händedruck hatte er fertig geschnitzt und danach mit zwei verschlungenen Herzen angefangen. Weiter war er nicht gekommen.

Ich steckte das Brett ans Kopfende meines Bettes, sodass ich die Schnitzerei sehen konnte. Niemand sagte ein Wort. Ich merkte, dass Papa mit mir sprechen wollte, es aber nicht konnte, und ich ermutigte ihn auch nicht dazu. Mied ihn. Höchstens Einar gelang es, mich mal mit an die frische Luft zu nehmen. Ansonsten saß ich stundenlang vor Mutters neuer Nähmaschine. Wachte in der Nacht, schlief am Tag.

Gunnhildur und ich sind Wohnheimmädchen, was bedeutet, dass wir gemeinsam mit einigen anderen in der Schule wohnen. Wohnheimmädchen sollten eigentlich in der zweiten Klasse sein, aber wir Schwestern kennen niemanden in Reykjavík, und da es noch freie Plätze gibt, dürfen wir in der Schule wohnen. Das eine Mädchen heißt Jósabet. Sie hat rote Haare und lacht viel. Die andere heißt Borghildur, ist ernster und ein bisschen älter als wir anderen. Wir vier teilen ein Zimmer.

Wir schlafen unter einer grün gestrichenen Dachschräge, das Fenster ist ein Bullauge mit Fensterkreuz. Auf der anderen Seite des Flurs wohnen andere Mädchen. Ich brauche lange, um mich daran zu gewöhnen, an diesem neuen Ort zu schlafen. Die Platzangst ist erstickend. Höre dem Regen zu, der auf das Dach über uns prasselt. Abends hält er mich wach, doch mit der Zeit nehme ich ihn nicht mehr wahr.

Um sieben Uhr stehen wir auf, machen die Betten und gucken uns den Stundenplan für den Tag an. Um kurz vor neun sammeln sich alle Schüler, singen abwechselnd einen Psalm und sprechen ein Gebet. Bis zwei Uhr sind wir in der Schule, manchmal bis drei. Lernen Schreiben, Rechtschreibung, Grammatik, Rechnen, Musik, Leinennäharbeiten, Schneidern, Stricken und Häkeln.

Ich bin jetzt Pálína Jónsdóttir. Gunnhildur nennt mich immer noch Ljósa, Engel, aber die anderen Mädchen übernehmen das nicht. Ich erinnere mich noch an die Pálína vom Konfirmandenunterricht. Der Pfarrer und die Madam haben sich immer nur mit ihr unterhalten, aber wir beide konnten uns damals nicht so recht anfreunden. Die anderen Kinder kannten bloß Ljósa.

In den Herbstmonaten lernen Pálína und ich, miteinander umzugehen. Und ich glaube, wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um uns wirklich näherzukommen. Ich freue mich schon darauf, Ljósa zu treffen, wenn ich im Frühling wieder nach Hause gehe. Falls ich Pálína dann nicht ohnehin in Reykjavík zurücklasse.

Früher einmal habe ich es genossen, frühmorgens zu schlummern. Habe vor mich hin geträumt, während die Sonne darauf wartete, dass ich nach draußen kam und den Tag begrüßte. Jetzt wache ich schweißgebadet durch seltsame Geräusche in einem unbekannten Bett auf.

Ich sehe alles um mich herum wie aus der Ferne. Mit genügend Arbeit komme ich gut durch den Tag. In der dunklen Jahreszeit stricken wir, häkeln und machen Leinennäharbeiten, beginnen den Tag aber mit theoretischem Unterricht. Die Direktorin sagt, dass der Theorieunterricht abnimmt, sobald die Sonne höher steht, und dass wir dann das Schneidern lernen und mit dem Sticken, der Nadelmalerei und der Seidenstickerei vertraut gemacht werden. Ich bekomme auch die Erlaubnis, in die Schulbibliothek zu gehen. Dort finde ich Sveinns und meine Gedichte, die mich trösten.

Wie es wohl erst im Ausland sein muss, wenn Reykjavík schon so groß ist? Hier gibt es keine Wegweiser, bloß Häuser und wieder Häuser. Gunnhildur ist begeistert und findet alles spannend. Mittags haben wir frei. Dann gibt sie keine Ruhe und will, dass wir ständig durch die Stadt spazieren.

Sie treibt mich sogar in der Dämmerung nach draußen, weil sie sich an den Laternen nicht sattsehen kann. Sie stehen überall in der Stadt. Eine steht in der Bakarabrekkastraße, eine andere an der Skólabrücke. Geheimnisvolles Licht strahlt durch das Glas dieser Ölleuchten. Bevor sie gezündet werden, muss es richtig dunkel sein. Wenn der Mond scheint, bleiben die Laternen aus. Das gilt auch für Nebelwetter, wenn der Mond eigentlich scheinen müsste.

Als wir zum ersten Mal einen Laden betreten haben, sind wir ziellos im Kreis gelaufen. Wir wollten alles sehen, alles anfassen. Gunnhildur ist immer noch im fiebrigen Ladenrausch, aber mir genügt es, mich in Hansens Magasín oder im Hutgeschäft aufzuhalten. Dort kann ich stundenlang stehen und die Auswahl betrachten. In Gedanken nähe ich Kleider, Blusen und Schürzen, mache Hüte und eine kleine Ausgehtasche. Das Wort Stoffhandel hat einen ähnlichen Klang angenommen, wie ihn einst das Wort Harmonium hatte.

Die Schulleiterin hat mir geholfen, Musikstunden zu bekommen. Papa hatte einen Brief an sie geschrieben, den ich ihr gab, und eines Tages rief sie mich zu sich und sagte, dass sie eine gute Lehrerin gefunden habe. Sagte, dass es ihr nicht gleichgültig sei, wer ihre Schülerinnen unterrichte. Betonte, dass ich fleißig und gewissenhaft sein solle. Und daran denken solle, mich gut zu benehmen.

Zunächst soll ich einmal pro Woche in der freien Zeit zum Unterricht. Madam Agnes Poulsen ist meine Lehrerin. Sie ist Dänin, versteht aber Isländisch. Ich machte einen Knicks und bedankte mich, bekam aber gleich Angst.

Ob Angst mit Menschenmengen zu tun hat? Kann es sein, dass alle Einwohner von Reykjavík besorgt sind? Abends schlafe ich mit der Angst in meiner Brust ein und wache nachts damit auf. Rede mir morgens Mut zu und krieche unter der Dachschräge hervor. Versuche, das Unwohlsein auszusperren. Ich würde gerne mit Gunnhildur darüber sprechen, tue es aber nicht. Vermutlich würde sie sich dann Sorgen machen. Oder sogar Papa Bescheid geben.

In der Dämmerung laufe ich über die Austurvöllurwiese und besuche Bertel. Setze mich auf die Stufe vor dem Zaun, der ihn umgibt. In der rechten Hand hält Bertel einen kleinen Hammer. Er trägt einen Umhang mit Gürtel und hat seinen linken Arm auf den Kopf einer Frau gelegt, die meines Erachtens Maria Muttergottes sein muss. Wieso tut er das, und warum um alles in der Welt ist ihre eine Brust entblößt? Sie hält den Rocksaum hoch, als würde sie tanzen wollen, ist aber barfuß. Maria ist wie ein zartes Kind, und Bertel konzentriert und melancholisch zugleich. Es gefällt mir, bei ihnen zu sitzen.

Agnes Poulsen wohnt im Þingholt-Viertel. Während der ersten Stunde bei ihr war ich völlig verschüchtert. Sie sprach Dänisch und bot mir an, es ihr nachzutun, sagte aber, dass ich auch Isländisch sprechen könne, wenn ich wolle. Jetzt spreche ich eine Mischung, weil ich gerne Dänisch lernen möchte. Und die Madam korrigiert mich.

Der Harmoniumstuhl hat mich nicht enttäuscht. Er steht auf drei gedrechselten Beinen, ist braun lackiert und glänzt. Die Sitzfläche ist rund, und man kann sie je nach Größe des Spielers hoch- und runterschrauben. Am liebsten würde ich mich nur im Kreis drehen.

Die Madam inspizierte meine Hände. Dann schnitt sie meine Nägel. Ich setzte mich auf den Stuhl, legte meine Hände auf die Tasten und begann, die Pedale zu treten. Da erklangen diese wundersamen Töne, hohe und tiefe. In dem Moment verschwand die kleine Wohnstube, und ich saß in einer Welt aus Licht.

Sveinn stand in den Sonnenstrahlen und spielte Geige. Er legte den Kopf schief, sah mich an, und mir wurde überall warm. Ich wollte aufspringen und ihn umarmen, aber da schob mich die Madam vom Stuhl, und das Licht verschwand. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich mich befand. Sveinn war so nahe gewesen, dass sich meine Atmung nicht gleich wieder beruhigte. Versuchte trotzdem, mich auf das zu konzentrieren, was die Madam sagte.

Wir haben ganz am Anfang begonnen. Das Unterrichtsbuch heißt Harmoniumschule und ist von Bungart. Die Madam empfahl mir, Orgelmusik zu hören, wann immer ich Gelegenheit dazu habe. Daher gehe ich jetzt regelmäßig in die Dómkirkja, sitze auf der Empore und sehe dem Organisten beim Spielen zu.

Im späten Herbst sah ich die Ankündigung für ein Geigenkonzert im Zunfthaus und beschloss sogleich, hinzugehen, obwohl es fast eine Krone kostete. Gunnhildur war schockiert. Wollte sich lieber etwas Nützliches für das Geld kaufen, aber ich blieb dabei. Die Schulleiterin gab mir die Erlaubnis, und ich ging allein. Die anderen Wohnheimmädchen sahen mir verwundert nach, doch ich tat, als würde ich ihre verstohlenen Blicke nicht sehen.

Es tat weh, als ich die Geige hörte, und Tränen kullerten über meine Wangen. Sveinn spielte ein Lied nach dem anderen für mich allein. Seine Augen ruhten auf mir, und er lächelte. Das Zunfthaus war vergessen, genau wie Reykjavík und die Mädchenschule. Hatte nie existiert. Ich stand an einem hohen Gletscher mit freier Sicht auf Meer und Sander.

Das Klatschen weckte mich. Ich wollte den Traum nicht loslassen. Kämpfte. Dann versuchte auch ich, zu klatschen, ließ mir so wenig wie möglich anmerken und betete zu Gott, dass meine Sitznachbarn das Geschluchze nicht bemerkt hatten. Starrte auf den Boden, als ich nach Hause eilte.

Am nächsten Tag setzte ich mich hin und schrieb Sveinn.

Zuerst erwähnte ich den Besuch der Mädchenschule, aber nur kurz, weil ich keine Lust hatte, von der Schule zu erzählen. Dann schrieb ich ihm, wie schlecht es mir gegangen sei. Wo waren die Briefe, die er versprochen hatte?

Hatte er mich nicht gebeten, auf ihn zu warten? Wollte er nicht kommen und mich holen? Ich schrieb, dass ich die Trennung nicht länger aushalten könne. Wollte nicht glauben, dass es Papa gelungen war, ihn umzustimmen. Auf wackligen Beinen lief ich rüber zur Pósthússtræti, wo ich den Brief abgab. Und gleich anfing, auf Antwort zu warten.

Gunnhildur und ich haben uns voneinander entfernt. Sie ist lieb zu mir, aber ich weiß, dass sie mich als traurig und schwermütig empfindet. Sie selbst genießt das Leben, ist unbeschwert wie ein Schmetterling und begnügt sich weder mit Büchern noch mit Handarbeit. Kaum hat die Freizeit begonnen, da ist sie schon ins Freie gesprungen. Ich glaube, dass sie und Jósabet auf ihren Spaziergängen die meiste Zeit damit verbringen, die Auswahl in den Geschäften durchzusehen. Sie schlingen das Mittagessen herunter und sind schon unterwegs.

Vor einigen Tagen rief mich die Schulleiterin zu sich und sagte, dass sie von Madam Agnes Poulsen gehört habe, dass ich mich bei den Musikstunden gut anstellte. Sie bot mir an, auf der Schulorgel zu üben, wenn ich wolle. Ich wurde ganz rot vor Freude. Dann wurde die Madam ernst und sagte, dass ich ein Auge auf meine Schwester haben solle. Sie daran erinnern, beim Herumlaufen still zu sein, Hausschuhe zu tragen und mit sauberen Händen zum Mittagessen zu kommen. Da wurde ich noch röter. Diesmal vor Scham.

Alles, was wir kaputt machen, müssen wir bezahlen. Neulich ist Gunnhildur gegen einen Tisch gestoßen und hat dabei eine Porzellankanne zerbrochen. Sie wurde fuchsteufelswild und meinte, dass die Kanne auf einem Krüppeltisch mit drei unbrauchbaren Beinen gestanden habe, doch sie wird Papa um mehr Geld bitten müssen.

Ich nutzte die Gelegenheit und versuchte, mit ihr zu sprechen, weiß aber nicht, ob sie überhaupt zugehört hat. Sie findet, dass wir unfrei sind, findet es wahnsinnig, den ganzen Weg nach Reykjavík zurückgelegt zu haben, um sich dort einsperren zu lassen. Vielleicht stimmt das sogar. Während des Unterrichts dürfen wir nicht aus dem Fenster gucken, weil wir aufpassen müssen, dürfen am Sonntagmorgen nicht ausschlafen und beim Aufsagen keine offenen Bücher auf dem Tisch liegen haben. Müssen alles auswendig wissen.

«Fünf Uhr! Schwacher Wind!»

Angst befällt mich. Kann der Kerl nicht woanders brüllen als unter unserem Fenster? Draußen ist es stockfinster. Ich nehme mein Schultertuch und schleiche mich hinaus, weiß, dass ich nicht mehr einschlafen kann. Ersticke unter der niedrigen Dachschräge. Taste mich die Treppe hinunter und setze mich auf die unterste Stufe.

Im stillen Haus höre ich Mutter, höre, wie sie sich herumwälzt und stöhnt, wie sie wach daliegt zu Hause in ihrem Bett. Trotz allem stöhnt Mutter immer so leise, dass sie niemanden aufweckt.

Wir haben keinen Brief von zu Hause bekommen, und ich habe einen schlimmen Verdacht. Eine Vermutung bezüglich Reisen … Mägden. Ich würde gerne Stoff für ein Kleid kaufen und ihr schicken. Aber sie würde sicher nie etwas daraus nähen. Ich werde es tun. Ich schwöre mir, den schönsten Stoff zu kaufen, den ich finden kann, und ein dänisches Kleid daraus zu nähen, sobald ich nach Hause komme. Die Frau des Gemeindevorstehers sollte die Schönste in der Umgebung sein. Die Kälte treibt mich wieder ins Bett, und als ich gerade einschlafe, höre ich von Weitem eine Stimme: «Der Nachtwächter hier. Sechs Uhr! Mehr Wind und leichter Schneefall!»

Dann ist Weihnachten, und nichts ist wie daheim. Ich vermisse Papa und Mutter, die kleinen Brüder, und wäre froh, wenn ich statt des Nichts hier das Mosern meiner Schwester Gauja hören könnte. Mein Körper schmerzt vor Heimweh. Wir sind ins Haus der Schulleiterin eingeladen, und als ich in ihrer Wohnstube einen geschmückten Weihnachtsbaum sehe, füllen sich meine Augen mit Tränen. Solch einen Baum habe ich bisher nur auf einem Bild gesehen. Der Duft ist wunderbar und alles so strahlend fein.

Es wäre schön, mit einem Weihnachtsbaum nach Hause zu kommen. Ihn ins kleine Gesellschaftszimmer zu stellen und die Freude der Brüder zu sehen. Mit Mutter Weihnachtspsalmen zu singen und Papa beim Akkordeonspielen zu lauschen. Als ich so dastehe und Gunnhildurs Hand fest drücke, würde ich am liebsten in Festtagskleidung ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.

Da bemerke ich Kristbjörg. Rieche ihren Duft und sehe sie plötzlich in einer der Glaskugeln, die den Baum schmücken. Sie lächelt mir verschmitzt zu. Ich trete an die rote Kugel heran und strecke die Hand aus. Streichle mit größter Vorsicht über das glänzende Rund, höre ein lautes Lachen. Mein Herz macht einen Satz, ein bekanntes Geräusch in einer unbekannten Wohnstube. Die Kugel behalte ich den ganzen Abend über im Auge. Kristbjörg lächelt, und ich zurück.

An den Feiertagen besuche ich Messen in der Dómkirkja, aber es wirkt, als seien die meisten Leute nur darauf aus, sich zu vergnügen. Immer wieder denke ich an Mutter. Sehe die heimischen Bibellesungen vor mir, das Psalmensingen und den Ernst, der mit Weihnachten verbunden ist.

Hier gibt es Weihnachtsfeiern und Veranstaltungen, und wir sind zu einem Ball im Zunfthaus am See eingeladen.

Borghildurs Bruder Bolli, der eine Tischlerlehre macht, lädt sie ein, ihn zu begleiten. Seine Kumpel möchten auch Damen an ihrer Seite haben und bitten bei der Schulleiterin für uns um Erlaubnis. Sie denkt darüber nach und sagt schließlich, dass wir gehen dürfen. Aber um zwölf Uhr müssen wir wieder zu Hause sein – ganz gleich, wie lange der Ball dauert.

Gunnhildur und Jósabet freuen sich so sehr, dass sie im Vorfeld nächtelang nicht schlafen können. Pálína Jónsdóttir geht zum Ball, Engel hingegen früh ins Bett.

Wir haben nichts außer den Trachten, doch als es so weit ist, tragen die meisten Frauen dänische Kleider. Sie sind zauberhaft, und ich sehe mir ganz genau die Farben und Schnitte an. Freue mich darauf, später ein solches Kleid zu nähen. Am Eingang empfängt uns Musik. Mit ungekanntem Mut schwebe ich in den Saal und lächle, als wäre ich ständig auf solchen Bällen.

Zu Bollis Freundeskreis gehört auch Vigfús, der mit mir tanzen möchte. Als sich herausstellt, dass er wie ich aus dem Ostbezirk stammt, durchströmt es mich warm, und wir haben genügend Gesprächsstoff. Er ist groß und schlank, hat rabenschwarzes Haar und einen ebensolchen Bart, ist ein bisschen jünger als ich und attraktiv.

Vigfús ist der Dritte in einer vielköpfigen Geschwisterreihe. Er wohnt ganz im Osten des Bezirks, ich ganz im Westen, dazwischen ein Strom und Gletscherflüsse. Vigfús lernt das Tischlern. Er möchte so lange wie möglich in Reykjavík bleiben, will so viel wie möglich lernen. Doch der Lehrlingslohn ist niedrig, und es fällt ihm schwer, sich über Wasser zu halten. Ich denke darüber nach, dass Papa für Gunnhildur und mich bezahlt und ich auch noch Musikstunden bekomme. Senke den Blick und schäme mich.

Gunnhildur will nicht nach Hause. Jósabet auch nicht. Sie machen mich darauf aufmerksam, dass es um zwölf Uhr Punsch gibt. Aber ich bin entschlossen. Wenn sie noch einmal auf einen Ball gehen möchten, sollten sie zu ihrem Wort stehen. Das wirkt. Bolli und Vigfús begleiten uns nach Hause. Als ich stolpere, fängt Vigfús mich auf, stützt mich den ganzen Weg, und mir gefällt es. An der Treppe verabschiede ich mich und bedanke mich für den Abend. Ich merke, dass er etwas fragen möchte. Vielleicht will er mich wiedersehen, doch dazu lasse ich es nicht kommen. Bevor ich mich’s versehe, sprudelt aus mir heraus, dass ich mit einem Mann aus dem Westbezirk verlobt bin. Dann wünsche ich eine gute Nacht, eile ins Haus und schließe die Tür.

Im Monat Þorri ruft mich die Madam nach dem Unterricht zu sich und hält einen Brief in die Luft. Der Umschlag ist braun und zerknittert von einer langen Reise. Das Blut schießt mir in die Wangen, und meine Knie beginnen zu zittern. Sie heftet ihren Blick auf mich. Will mehr wissen. Vielleicht möchte sie, dass ich den Brief öffne. Ich rühre mich nicht. Eine ganze Ewigkeit vergeht, ehe sie mir den Umschlag reicht. Mit zitternden Händen nehme ich ihn entgegen, knickse und schließe leise die Tür hinter mir.

Wo kann ich allein sein? Nicht in diesem Haus. Hole das dicke Schultertuch und gehe hinaus. Laufe hinunter zum Strand, finde einen Stein und setze mich. Schaue hinaus aufs Meer, sehe die Wellen gegen Schären krachen, Möwen und den weißen Berg Esja in der Ferne. Die Sonnenstrahlen spielen ganz oben im Felsmassiv, hell zwar, aber eiskalt. Ich fühle den Brief in der Hand, reiße ihn vorsichtig auf und beginne zu lesen …

Gehe weiter, langsam und ruhig. Es hat zu schneien angefangen und ist dunkel geworden. Kann keinen Wegweiser ausmachen, der Berg Esja ist verschwunden, die Möwen auch. Bloß das Meeresrauschen ist an seinem Ort und braust angenehm in den Ohren. Die handschuhlosen Finger sind taub, jegliches Gefühl verschwunden. Spüre meine kalten Füße nicht mehr. Halte verkrampft den dicken Brief.

Als der Wind zunimmt, zerrt er am Umschlag, weht ihn auf die Erde und dann hoch in die Luft. Dort segelt er einen Moment in der Dunkelheit hin und her, dann stürzt er ab und fällt ins Meer. Tanzt mit einer Welle, wird nach unten gesogen und verschwindet.

Setze einen Fuß vor den anderen, tastende Bewegungen. Ein Schritt nach dem anderen. Nicht stehen bleiben, nicht stolpern, nicht ängstlich sein in der Dunkelheit.

Das Rasseln ist von Weitem zu hören, und ich erstarre. Erinnere mich, vor langer, langer Zeit … Breit und auf kurzen Beinen kommt es aus der Dunkelheit. Das Seeungeheuer!

«Kristbjörg!», schreie ich. «Kristbjörg!»

Sehe beide Köpfe, die großen Zähne und all die Augen. Sie starren mich an. Hilfe! Nehme die Beine in die Hand, stolpere über etwas und stürze.

Ich hatte Glück, gefunden zu werden.

Ein Mann, der auf dem Weg nach Reykjavík war, bemerkte einen undefinierbaren Haufen an einem Stein. Er kannte die Gegend und wurde aufmerksam. In Dunkelheit und eisiger Kälte. Er brachte mich in die Stadt. Irgendwer erkannte mich und lieferte mich in der Schule ab. Dort wurde ich ins Bett gepackt, bekam aber hohes Fieber und wurde ins Krankenhaus verlegt. Schwebte mit einer Lungenentzündung zwischen Leben und Tod. Gunnhildur saß am Bettrand und erzählte später, dass ich verdammten Unsinn von mir gegeben hätte. Ich sei ständig aus dem Bett gesprungen und hätte nach Sveinn gerufen.

Ich selbst erinnere mich an nichts, bis ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Als ich mich im weißen Zimmer umsah, dachte ich, dass ich wohl tot sein müsse.

Da fiel mein Blick auf Gunnhildur, die im Sitzen neben dem Bett schlief. Sie war also auch tot. Ich sah mich nach Kristbjörg um, dachte, dass sie mich in Empfang nehmen würde. Oder Großmutter. Streckte die Hand aus und berührte Gunnhildur, die vor Freude weinte, als sie sah, dass ich aufgewacht war.

Seit ich entlassen worden bin und wieder in meinem Bett liege, suche ich überall nach dem Brief, finde ihn aber nicht. Niemand hat ihn gesehen, außer der Schulleiterin, die kein Wort darüber verliert. Obwohl ich genau weiß, dass ich ihn erhalten habe, gibt es Tage, an denen mich der Zweifel befällt, ob überhaupt ein Brief gekommen ist. Die Mädchen sind lieb zu mir, beobachten mich aber heimlich und verstehen nicht, was passiert ist. Weshalb war ich abgehauen, und wohin war ich gelaufen? Ich weiß es selbst kaum. Weiß nicht, was über mich gekommen ist. Erinnere mich nur an Hoffnungslosigkeit. Alles andere ist im Nebel. Zähle die Astlöcher an der gestrichenen Dachschräge und versuche, bei Verstand zu bleiben.

Sveinn hatte geschrieben, dass er seit Herbst die meiste Zeit im Bett gelegen habe. Er habe mir einen Brief in den Osten geschickt – genauer gesagt zwei – und auf eine Antwort gewartet, aber nie eine erhalten. Die Kraft, die ihn bei uns erfüllt habe, sei aufgebraucht. Er bat mich, nicht mehr zu warten, ihn zu vergessen, unseren Traum zu vergessen. Sagte, dass Papa recht habe. Ich müsse heiraten und ein ganzes Haus voller Kinder mit Grübchen bekommen, ihnen vorsingen und lachen. Wenn er stark genug sei, setze er sich auf, denke an mich und spiele.

Ich weine, bis das Kissen klitschnass ist. Stopfe einen Zipfel in den Mund und beiße zu. Will nicht, dass die anderen Mädchen mein Geheule hören. Gunnhildur ist gut zu mir, und ich merke, wie lieb sie mich hat. Sie ist ernster als vorher und arbeitet gut mit. Vielleicht sorgt sie sich zu viel um mich.

Manchmal springe ich mitten in der Nacht aus dem Bett. Der Vogel flattert wie wild, sehnt sich nach Freiheit, und ich schleiche mich die Treppe hinunter und sitze dort, während ich darauf warte, dass die Platzangst vorübergeht. Gunnhildur kommt hinter mir her. Wenn ich wieder ins Bett krieche, bin ich durchgefroren. Ich dämmere weg und schlafe traumlos bis zum Morgen.

Im Winter war mir ständig kalt, aber jetzt steigt die Sonne langsam wieder höher, und die Hitze in den Unterrichtsräumen ist drückend. Mit den Pflichtarbeiten bin ich längst fertig und darf daher im Unterricht der höheren Klassen sitzen. Wenn es nicht das Sticken, die Seiden- und Blumenstickerei und das Schneidern gäbe, läge ich den ganzen Tag im Bett.

Bei der Handarbeit vergesse ich alles um mich herum, und es gelingt mir sogar, Sveinn von Zeit zu Zeit zu vergessen. Ansonsten denke ich an kaum etwas anderes. Sehne mich im Schlaf und wenn ich wach bin nach ihm. Sehe ihn vor mir, wie er mit der Geige im Bett sitzt.

An anderen Tagen bin ich stinksauer auf ihn. Warum hat er alles kaputt gemacht? Als er Huldas Milch getrunken hat, da hat sich das Glück gegen uns gerichtet. Und warum bittet er mich nicht, zu ihm zu kommen und bei ihm zu bleiben? Ich würde zu ihm gehen, so viel ist sicher. Hier gibt es keinen Papa, der mich aufhält.

Als ich diese Gedanken habe, schreibe ich ihm einen langen Brief und sage, dass ich kommen würde, wenn er mich wolle. Doch ich schicke den Brief nicht ab. Warte bis zum nächsten Tag, an dem ich ihn zerreiße, zutiefst verletzt darüber, dass er mich zurückgewiesen hat.

Eines Tages wartet nach dem Unterricht Papa auf Gunnhildur und mich. Ich starre ihn an, traue meinen Augen nicht. Dann fliege ich ihm an den Hals. Spüre seinen borstigen Bart an meiner Wange und seine kräftigen Hände um mich. Immer gleich sicher.

Mir wird klar, dass natürlich Gunnhildur oder die Madam ihm geschrieben haben. Ihm von der kleinen Ausreißerin und der Erkrankung erzählt. Ihm die Rechnung für den Krankenhausaufenthalt geschickt.

«Meine Güte, was bist du dünn!», sagt er und kneift mir in die Wange. Ich lächle übers ganze Gesicht. Halte Papa fest umschlungen. Darf nicht daran denken, dass er wieder fortgeht. Nie.

Doch er hat keine Eile. In Reykjavík muss er allerhand erledigen, wohnt bei einem alten Bekannten. Kennt viele.

Eines Tages geht er mit Gunnhildur und mir zur Lateinschule. Er bekommt die Erlaubnis, uns die Schule zu zeigen, die er einen Winter lang besucht hat, und er ist stolz, als er uns herumführt. Papa wohnte im Langaloft, dem engen und stickigen Wohnheim der Schule. Wir dürfen es uns nicht ansehen. Ich möchte ihm von unserem Wohnheim erzählen. Und von der Platzangst und davon, wie schlecht ich dort schlafe, doch ich will jetzt über nichts Zermürbendes sprechen.

Als Gunnhildur fragt, weshalb er nur einen Winter in der Schule gewesen sei, macht er ein verschmitztes Gesicht. Sagt, dass er anderswo dringende Geschäfte zu erledigen hatte. Im selben Moment geistert mir die Elfenfrau aus dem Westbezirk durch den Kopf.

Papa hat einen Brief von Mutter dabei. Er ist kurz, und ich habe das Gefühl, dass sie etwas ungesagt lässt. Sie schreibt über das Wetter und die Gesundheit, lobt meine Brüder und erzählt von Halldóra.

«Im Herbst kam Þórarinn überraschend zu Besuch. Er fragte viel nach dir, ist wahnsinnig tüchtig, und diesmal haben sich dein Papa und er gut verstanden. Wir haben ihn alle schrecklich vermisst, als er wieder ging.» Es sticht mir ins Herz. Hätte Þórarinn sehen wollen. Ob seine Ohren noch genauso abstehen wie früher?

Mutter erwähnt keine Magd, doch Gunnhildur fragt Papa geradeheraus. Ich selbst hätte das nie gekonnt und senke den Blick. Doch es bringt ihn keineswegs in Verlegenheit, er erzählt, dass sie Sigrún heiße, eine Schönheit aus dem Álftafjord. Meint vor allem, dass Þórarinn ihr ein wenig den Kopf verdreht habe. Da lacht er laut in die Stille hinein. Ich schaue auf und werfe ihm einen scharfen Blick zu, aber da lacht er bloß noch lauter.

Während Papa in Reykjavík ist, zieht Sveinn sich zurück. Höchstens im Traum lässt er sich mal blicken. Und ich nähe ein dänisches Kleid. Im Schneiderunterricht habe ich schon eine Schürze, ein Mieder, eine Alltagsbluse, einen Rock, eine Trachtenjacke und eine Weste genäht. Deshalb bekomme ich die Erlaubnis, das Kleid zu nähen.

Ich möchte es hell halten, und nach langer Überlegung suche ich einen weinroten Stoff aus. Der Stoff ist hochwertig, das Kleid ist am Hals hoch geschnitten und hat lange Ärmel, die vorn enger werden. An der Taille ist es durch den leicht ausgestellten Rock unterbrochen. Ich werde für meine Sorgfalt gelobt.

Ich möchte auch Mutter Stoff für ein dänisches Kleid kaufen, doch davon will Papa nichts hören. Er meint, dass sie isländische Kleidung tragen solle. Wie sehr ich auch bitte, er hört nicht auf mich. Aber er ist bereit, ihr Stoff für eine neue Schürze und ein Halstuch zu kaufen. Und wir Schwestern dürfen beide Stoff für ein Kleid haben.

Ich hintergehe Papa eiskalt, als ich beschließe, dass Mutter meinen Stoff bekommen soll. Der Stoff ist in einem schönen Grün, und ich weiß, dass ihr diese Farbe stehen wird. Zuerst hatte ich überlegt, ob sie nicht lieber ein Kleid aus schwarzem Taft bekommen soll, kam aber zu dem Schluss, dass sie lange genug Schwarz getragen hat. Es ist Zeit, dass sie mal helle Farben trägt, und ich freue mich darauf, für sie zu nähen.

Papa muss neue Mixturen und Salben besorgen und mit anderen Homöopathen sprechen. Er macht sich auch Gedanken über den Hausbau und berät sich mit einem Tischler. Tagelang lässt er sich nicht blicken, und dann taucht er plötzlich mit einem Lächeln übers ganze Gesicht in unseren freien Stunden auf und spaziert mit uns durch die Stadt. Er begleitet mich zur Musikstunde bei Madam Poulsen, hört zu und beratschlagt sich mit der Madam wegen des Kaufs einer Orgel. Das Schloss ist in Reichweite gerückt, und da darf die Orgel nicht fehlen.

Ich glaube, dass Madam Poulsen sich ein bisschen zu Papa hingezogen fühlt. Nach der Stunde lädt sie uns auf einen Schluck Kaffee ein. Papa spricht ausgezeichnet Dänisch, was mich zutiefst verwundert. Er scheint es zu genießen, in Reykjavík zu sein, und mir wird bewusst, dass dies der Mann ist, der überall anziehend auf Menschen wirkt. Gleichzeitig fällt mir auf, dass Gunnhildur Papa ähnlich ist und ich Mutter.

Am liebsten würde ich von Papa Sveinns Briefe fordern. Warte auf eine Gelegenheit, in der ich ihn allein sprechen kann. Ich will die Briefe lesen. Ich weiß jetzt auch, dass er verhindert hat, dass mein Brief den Westbezirk erreicht. Doch als es so weit ist, frage ich nicht. Will nicht, dass Papa mich anlügt.

Ich möchte mit der Schule aufhören und zurück in den Osten gehen, doch davon will Papa nichts wissen. Sagt, dass wir beide das Winterhalbjahr selbstverständlich noch beenden würden. Er schärft mir ein, dass ich eine ausgebildete Schneiderin werden und das Orgelspielen noch besser lernen müsse. Es ist schwer, sich mit Papa zu streiten, wenn er etwas wirklich will. Er weiß, dass im Frühling ein Schiff in den Osten fährt. Sagt, dass uns Schwestern das Segeln Freude machen werde.

Die Schulleiterin schlägt vor, dass ich die zweite Klasse besuche und Lehrerin werde. Sie redet mit Papa und spricht ihre beste Empfehlung für mich aus, drängt mich, weiterzumachen. Ich möchte gerne mehr lernen, aber beim Gedanken an einen zweiten Winter in der Schule schaudert es mich. Erkläre es Papa unter vier Augen. Er lässt mir die Wahl und bucht die Schiffsfahrt. Sagt, dass er uns am Hornafjord abholen werde.

Als er fort ist, werde ich von Platzangst, Leere und Beklemmungen befallen. Meine Schwester schleppt mich an die frische Luft. Sie ist lieb und verständnisvoll.

Gunnhildur möchte in Reykjavík bleiben. Sie möchte dort als Dienstmädchen arbeiten oder noch mehr lernen. Am liebsten Hebamme werden. Sie träumt auch von Kopenhagen.

«Kopenhagen», stöhne ich. «Wie kommt dir das in den Sinn?»

Es ist nicht zu überhören, wie aufgewühlt sie ist, als sie zu sprechen beginnt. Sie will nicht nach Hause, heiraten und ein eigenes Zuhause aufbauen. Kann sich nicht vorstellen, auf dem Land zu leben. Möchte nicht Papa bestimmen lassen, wen sie heiratet.

«Du siehst ja, wie er zu Magnús und Gauja ist», sagt sie und schluckt die Tränen runter. «Oder zu dir und Sveinn?» Sie verstummt, als hätte sie sich verbrannt.

Hitze steigt mir in die Wangen. Ich möchte etwas antworten, bringe aber kein Wort heraus.

«Wir wissen beide, dass Ninna wegen Papa gegangen ist, genau wie Ingi.» Jetzt schweigt sie wieder. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten. Habe Papa so unendlich gern und möchte ihn verteidigen, kann es aber nicht. In manchen Momenten möchte ich ihn umarmen, in anderen hasse ich ihn.

Gunnhildur traut sich nicht, mit Papa zu sprechen, und weiß, dass von Mutter keine Hilfe zu erwarten ist. Sie bittet mich um Unterstützung. Denn wenn er auf einen Menschen unter dieser Sonne höre, dann sei ich das.

Jetzt bin ich diejenige, die die Tränen runterschluckt. Als ich Sveinn heiraten wollte, hat Papa nicht auf meine Wünsche gehört. Doch ich umarme sie. Verspreche, zu tun, was ich kann, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich vorgehen soll. Ich bitte sie, nicht heimlich abzuhauen wie einst Ingi. Sie nickt schniefend. Und wieder befällt mich die alte Traurigkeit. Ob wir ihn je wiedersehen werden? Viele Jahre sind vergangen, seit er sich aus dem Staub gemacht hat.

Ich sitze bei Bertel und Maria. Im Winter waren wir allein in der Dunkelheit. Jetzt sind die Abende hell und Leute auf den Straßen. Die Eisschicht auf Marias Brust ist verschwunden, und ihre nackten Zehen sind unter dem Schnee wieder zum Vorschein gekommen. Ich werde die beiden vermissen.

Am Geburtstag von König Christian dem Neunten ist schulfrei, und wir dürfen – als wäre Sonntag – bis acht Uhr schlafen. Auf dem Austurvöllur spielt eine Blaskapelle, und wir eilen hinaus auf den Platz. Während sich das Orchester aufstellt, laufen die Zuschauer hin und her, schnupfen Tabak und unterhalten sich. Dann beginnt die Blasmusik, der Lärm prallt wie ein Schlag gegen Bertel und Maria, kein Wort ist mehr zu hören.

Auf der Wiese stoße ich auf Vigfús Bjarnason. Seit dem Weihnachtsball im Zunfthaus habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich lächle ihn freundlich an, verstehe aber wegen des Lärms nicht, was er sagt. Das weinrote dänische Kleid ist zu luftig für einen Apriltag im Freien, obwohl ich ein dickes Tuch um die Schultern habe. Aber ich genieße es, mich darin zu zeigen, und ich glaube, dass auch Vigfús das Kleid würdigt. Ich lächle, gebe ihm die Hand und eile wieder ins Haus.

Einige Tage später höre ich die Rufe der ersten Küstenseeschwalben am Tjörnin und sehe sie von Weitem auf den kleinen Inseln. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Jetzt besteht kein Zweifel mehr. Der Frühling kommt.

Die Prüfungen sind gut gelaufen, ich war die Zweitbeste, Gunnhildur die Fünfte. Immer noch fragt die Schulleiterin, ob ich nicht doch weitermachen, mehr lernen und Lehrerin werden wolle. Fragt, ob ich nicht Lust hätte, den Aufenthalt in Reykjavík auszudehnen. Ich schüttle den Kopf. Könnte mir schon vorstellen, ewig zu lernen, muss aber fort. Die Madam sieht mich lange an, sagt dann, dass ich mich melden solle, falls ich meine Meinung änderte. Ich nicke und mache einen Knicks.

Den ganzen Winter über habe ich mich nach Lust und Laune durch die Schulbibliothek gelesen. Jetzt gebe ich mein letztes Geld für Gedichtbände aus. Ich schaue mich lange im Buchladen um und entscheide mich schließlich für Bücher von Jónas Hallgrímsson und Kristján Jónsson. Kann die Gedichte auswendig. Genau deshalb wähle ich sie aus.

Wir dürfen unter dem Dach wohnen bleiben, während wir darauf warten, dass der Dampfer ausläuft. Um den Aufenthalt zu bezahlen, räumen wir auf und machen sauber. Jetzt scheint jeden Tag die Sonne, und nach der Arbeit gehe ich hinaus zum Tjörnin und beobachte die Küstenseeschwalben. Bekomme nie genug davon. Mag sie und ihr Rufen.

Madam Poulsen geht nach Dänemark, daher nehme ich keine Musikstunden mehr, übe aber weiterhin auf der Schulorgel. Sie hat mir eine gute Beurteilung gegeben, und nach der letzten Stunde haben wir Kaffee getrunken. Sie bat mich, weiterzuüben und Papa Grüße auszurichten. Zum Abschied hat sie mir den zweiten Band der Harmoniumschule geschenkt.

Als ich ihr Haus verließ, hatte ich das Gefühl, dass ein Kapitel in meinem Leben zu Ende gegangen war. Ich drehte mich zum Winken um, aber die Madam war schon wieder im Haus und hatte die Tür geschlossen. Ich spürte den Drang, zurückzulaufen und sie noch ein einziges Mal zu sehen, vermisste schon jetzt alles, hielt mich aber zurück und drückte das Buch an mich. Lief dann schnell nach Hause.

Der Dampfer ist eingelaufen und liegt im Hafenbecken. Am Abend vor der Abreise laufe ich hinauf zum Turm auf dem Skólavörðuhügel, um ein letztes Mal über die Stadt zu blicken. Das Wetter ist freundlich, und die Sonne scheint. Obwohl ich einen ganzen Winter lang hier war, bin ich kaum dazu gekommen, mir die schönen Berge ringsum genauer anzusehen.

In der Abendsonne ist der Berg Esja goldrot, an den schattigen Stellen violett. In weiter Ferne lassen sich hellbraune Gipfel ausmachen.

Ist das dieselbe Stadt, in die ich im vergangenen Herbst gekommen bin? Damals war alles fremd und hat mich eingeschüchtert. Jetzt liegt sie vor mir und schreckt mich nicht mehr. Aber im Gegensatz zu Gunnhildur möchte ich nicht hier sein, und auch nicht in Kopenhagen. Dieser Traum ist mit Sveinn gestorben.

Die Trauer ist immer noch da. Wenn ich doch bloß die Vergangenheit vergessen, die Angst loswerden und mich auf eine neue Zeit freuen könnte. Wie in alten Zeiten lachen. Wann habe ich zuletzt richtig gelacht?

Sitze lange mit geschlossenen Augen da. Dann öffne ich sie und blicke in den Osten. Versuche, nach vorn zu schauen, mich aufs Nachhausekommen zu freuen. Sehe das Schiff im Hafen, orientierungslos und mit Beklemmung in der Brust.

Dann laufe ich langsam den Skólavörðuhügel hinunter.