IV
Wer hätte gedacht, dass mal ein solches Schloss errichtet werden würde – und das in unserer Gegend? Es steht dem Feinsten in Reykjavík in nichts nach.
Das Haus hat zwei Etagen und einen Speicher unter dem Dach. Das ganze Gebäude ist unterkellert. Innen an der Eingangstür hängt die Adlerklaue aus dem alten Torfhaus. Solange sie im Haus ist, brennt es nicht. Am meisten haben mich die Fenster gefesselt. Immer wieder bin ich die Wiese hinuntergelaufen, um sie anzuschauen. Da waren die Fenster aus unserem kleinen Gesellschaftszimmer, auferstanden im neuen Haus. Die Fenster, die ich einst heimlich poliert hatte, weil ich sie so schön fand. Damals waren es neun Scheiben, jetzt sind es viel mehr, und sie sind viel größer. Frische Luft strömt durch die Fenster, die man öffnen kann, und weiße Gardinen wehen in der Sommerbrise.
In den besseren Häusern in Reykjavík hat man Sommer- und Wintergardinen. Mutter fand das völlig unnötig, sie war durcheinander und konnte sich im neuen Haus nicht wiederfinden. Zog als Allerletzte um. Hielt sich stundenlang im alten Torfhaus auf. Wir hatten Tischdecken aus Reykjavík mitgebracht. Mutter warf einen erstaunten Blick auf die Decken und verstaute sie dann in einer Schublade.
Es war unglaublich, aufzuwachen und einzuschlafen, ohne unter einer grünen Dachschräge zu liegen. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin im Märchen, die Angst ging zurück, und auch die Platzangst verschwand.
Papa war quietschfidel und wurde nicht müde, Gästen und Durchreisenden das neue Haus zu zeigen. Hätte am liebsten jeden Tag Besuch bekommen. Die Arbeit blieb liegen.
Mein Bettkantenbrett war verschwunden. Ich suchte überall, konnte es aber nirgends finden. Fragte Papa, der tat, als wüsste er von nichts. Sah in seinen Augen, dass er wusste, was damit geschehen war. Ich drohte mit dem Schlimmsten, wenn es sich nicht fände. Auf der Stelle! Verstand nicht, woher ich diese Sicherheit hatte.
Einar brachte mir das Brett. Bat mich, nicht böse zu sein. Es war grünlich, hatte im Stall gelegen. Ich wusch es mit starkem Seifenwasser, trocknete es und stellte es an mein Bett. Knallte Türen und warf Papa böse Blicke zu, wenn er zu Späßen anheben wollte.
Ansonsten blieb kaum Zeit, an Sveinn zu denken, und ich hütete mich davor, unsere alten Orte aufzusuchen. Mied die Elfensenke. Tat nichts, was die Wunde hätte aufreißen können.
Vigfús Bjarnason arbeitete als Tischler für Papa. Sie kamen gut miteinander aus, und ich fand es nett, ihn wiederzutreffen. Auch Þórarinn war zu Hause und half mit. Das war vielleicht ein freudiges Wiedersehen!
Sein Haar war noch genauso kupferrot, aber die Proportionen in seinem Gesicht waren ausgeglichener, und die Ohren schienen geschrumpft zu sein. Die Sommersprossen waren fast verschwunden. Er war fröhlich und laut. Papa schätzte ganz offensichtlich seinen Fleiß. Und Halldóra strahlte von morgens bis abends wie die Sonne. Es sah ganz so aus, als würde das neue Haus unser aller Leben verändern.
Die Wohnstube ist groß, und Papa hat ein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch liegt der Almanach des Verbands isländischer Patrioten, und darüber hängt ein Bild des ersten Island-Ministers im dänischen Parlament, der auch selbst Isländer ist. Ein Verwandter von Papa. An der langen Wand hängt eine Europakarte, auf der die Länder verschiedene Farben haben. Diese Karte sehe ich mir oft an. Dänemark ist grün und kleiner, als ich dachte. Ob Gunnhildur wohl den ganzen Weg bis nach Kopenhagen zurücklegen wird? Britannien ist hellbraun. Dieses Land sehe ich mir am genausten an, und in meinen Träumen reise ich dorthin. Von dort haben wir das letzte Mal Nachricht von meinem Bruder Ingi erhalten. Es kommt mir vor, als sei es viele Menschenleben her, dass seine Karte und der Brief kamen. Sie sind mittlerweile so abgegriffen und zerknittert, dass man die Schrift kaum noch lesen kann.
Vigfús zimmert Regale und einen geschlossenen Schrank für das Arbeitszimmer. Durch die Gemeindevorsteherarbeit sammeln sich Briefwechsel und Berichte an, durch die Homöopathie Fläschchen und Gefäße. In der neuen Wohnstube stehen ein Tisch, Stühle und eine Anrichte. Der Diwan, das kleine Sofa, die braune Porzellankanne und das Bild von Maria und Jesus aus dem alten Gesellschaftszimmer wirken verloren neben der neuen Orgel. Der Orgelstuhl ist braun und rund, wie der, auf dem ich in Reykjavík saß. Ich spiele, wann immer ich eine freie Minute finde, manchmal spielt Papa auch Akkordeon. Doch er will immer sowohl Tonhöhe als auch Tempo bestimmen, und wenn er das nicht kann, ist er schlecht gelaunt und hört mittendrin auf, als ob er neidisch auf die Orgel wäre.
Mutter wollte nicht zulassen, dass ich ein dänisches Kleid für sie nähte. Ich habe es trotzdem getan, Maß genommen und ihr Schnitte gezeigt, als wäre es das Normalste von der Welt. Als sie sah, dass es mir ernst war, ließ sie sich mitreißen.
Da stellte sich heraus, dass sie genau wusste, was sie wollte, und dass sie vom Stoff, den ich gekauft hatte, begeistert war. Als alles fertig war und sie das Prachtstück angezogen hatte, bekam sie vor Freude und Aufregung rote Wangen.
«Engelchen, wie tüchtig du bist!», sagte sie und sah sich im Spiegel an. Dann umarmte sie mich. Ich genoss es, ihre Wärme zu spüren, nahm allen Mut zusammen und fragte: «Darf ich dich auch kämmen?»
Sie sah mich verdutzt an, nickte dann langsam und feierlich, als würde sie so fein angezogen keine Bewegung riskieren wollen.
Ich ließ sie auf einem Stuhl Platz nehmen und löste ihre Zöpfe. Ihr Haar war einst schön blond gewesen, mittlerweile aber matt geworden, fast farblos. Trotzdem waren die Zöpfe noch dick. Eine ganze Weile bürstete ich das lange Haar, nahm dann eine Spange und machte ihr einen schönen hohen Dutt.
«Flichtst du mein Haar nicht?», flüsterte sie ängstlich, doch ich schüttelte den Kopf. Sie sah sich im Spiegel an, und ihre Miene war unentschieden. Die Frau im Spiegel war viel schöner als die Frau, die täglich auf dem Hof herumlief. Der Glanz in den Augen erinnerte an ein junges Mädchen.
«Du musst nicht so steif sein», sagte ich und schmunzelte, als ich beobachtete, wie schwer Mutter alle Bewegungen fielen. Dann reichte ich ihr die Hand und führte sie hinunter in die Wohnstube, wo Papa und meine Brüder Karten spielten. Auch Halldóra saß dort und nähte. Als wir erschienen, wurde es schlagartig still.
«Mutter, was bist du schick!», rief Páll Jósúa und warf die Karten hin. Er tanzte um sie herum, und jetzt schauten auch Pétur Jakob und Einar auf. Halldóra sah schon nicht mehr gut, stand aber auf und befühlte vorsichtig den Stoff des Rockes. Dann lächelte sie. Papa saß wie versteinert und starrte uns abwechselnd an.
«Möchtest du nichts sagen?», fragte ich lächelnd.
Da sah er mich an und sagte mürrisch: «Du solltest Stoff für eine Schürze und ein Halstuch kaufen.»
Die Freude in Mutters Gesicht war wie weggewischt, die Röte wich aus ihren Wangen, während in mir die Wut aufloderte.
«Den Stoff gab es nicht. Und Mutter hat ein schönes Kleid verdient», gab ich ebenso bissig zurück.
«Gab es nicht!», murmelte er ironisch vor sich hin und trat auf Mutter zu. Sie stand da und schaute wie ein schüchternes Schulmädchen auf den Boden. Er begutachtete sie wortlos. Etwas hing in der Luft.
«Welch schöne Frau steht da eigentlich mitten in meiner Wohnstube?», sagte er schließlich schmunzelnd, streckte seine Arme aus und drückte ihr einen überschwänglichen Kuss direkt auf den Mund.
Gunnhildur ist nach Reykjavík gegangen. Sie sagte, dass sie eine Stelle in gutem Hause gefunden habe. Papa war nicht dafür, sie gehen zu lassen, konnte es aber nicht verhindern. Þórarinn, der dadurch in Ungnade gefallen ist, hat ihr die Stelle verschafft. Sie geht immer noch mit der Kopenhagenreise schwanger, hat aber kaum eine Möglichkeit, dieses Vorhaben voranzutreiben. Papa wollte weder etwas von Kopenhagen noch vom Hebammentraum hören. Wollte sie einfach nur zu Hause haben.
Þórarinn glaubte, dass Gunnhildur in Reykjavík eine Ausbildung machen könne. Doch dafür braucht sie Geld, das Papa nicht ausgeben will. Ich versuchte, mich für sie einzusetzen, doch Papa hörte weder auf mich noch auf andere. Als sie aufbrachen, war er niedergeschlagen. Mutter auch. Vermutlich ging es Halldóra am schlechtesten. Ihr Junge war zu einem Sündenbock geworden, der Gunnhildur aus der Bahn geworfen und mit sich nach Reykjavík gezogen hatte. Ich versicherte ihr, dass meine Schwester sich dadurch einen Traum verwirkliche, aber ich weiß nicht, ob sie zuhörte.
Ich musste versprechen, den Hof nicht zu verlassen. Das war leicht. Will mich weder von Mutter und Papa trennen noch meine Brüder verlassen. Niemals.
Vor ihrer Abreise vertraute mir Gunnhildur an, dass sie und Þórarinn verlobt seien. Sie wollte Papa nichts verraten, glaubte, dass es ihn bloß rasend machen würde. Aber sie war sich sicher, dass sie zurechtkommen würden. Eines Abends, kurz bevor sie aufbrachen, bat Þórarinn mich, mit nach draußen zu kommen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, mir zu versichern, wie gern er Gunnhildur habe. Sagte, dass er immer zu ihr halten werde, was immer sie sich auch vornehme.
Unwillkürlich stelle ich Sveinn und Þórarinn nebeneinander. Weiß, dass das ungerecht ist, doch es tut mir im Herzen weh. Warum hat Sveinn nicht so für mich gekämpft, wie Þórarinn es tut? Es fällt mir so schwer, mich damit abzufinden, wie leicht er aufgegeben hat. Besteht noch Hoffnung auf einen Brief? Sollte ich ihm vielleicht schreiben? Ich versuche, immer als Erste die Post durchzusehen. Diesmal soll Papa nichts verheimlichen können, falls ich einen Brief bekomme.
Ich wollte, dass Gunnhildur und Þórarinn Mutter und Halldóra von ihren Plänen erzählten, Papa am liebsten auch, aber ich glaube nicht, dass sie es getan haben. Bei der Verabschiedung drückte ich die beiden fest an mich, und wir Schwestern brachen in Tränen aus. Gunnhildur flüsterte mir zu, dass sie schreiben werde. Und wenn diese Briefe ankommen, werde ich sie laut vorlesen. Ich will nicht, dass es Gunnhildur wie Ingi ergeht, über den niemand mehr spricht, als wäre er tot.
Nachdem Mutter das dänische Kleid bekommen hat, möchte sie ein weiteres haben, diesmal ein helles. Auf einmal achtet sie auf ihr Äußeres. Mehrmals in der Woche steckt sie sich die Haare hoch. Sie hat ihre alte Alltagskleidung abgelegt und trägt jetzt immer Festtagskleider. Und sie lächelt mehr als sonst. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Papa sie anschaut, aber nichts sagt. Ich selbst möchte mir eine Tracht schneidern. Das Gewand wird aus blauem Samt sein und weite Ärmel haben, die bis über die Ellenbogen reichen. Sie werden mit Spitze besetzt. Den Kopfschmuck zu nähen, traue ich mir zu, nur den geschmiedeten Gliedergürtel muss ich kaufen.
Das neue Haus ist geräumig, aber viel kälter als das alte Torfhaus. Der Küchenherd ist die einzige Wärmequelle. Die Kälte drinnen erinnert an die Mädchenschule, und ganz gleich wie warm ich mich einmummle, ich bin immer bis auf die Knochen durchgefroren. An den kältesten Tagen will Mutter in die alte Stallstube umziehen, doch davon will Papa nichts hören. Sagt, dass er sie bei nächster Gelegenheit abreißen werde. Vor Furcht wird Mutter leichenblass.
Wir sitzen lange Stunden in der Küche, um uns aufzuwärmen. Am angenehmsten ist es im Stall bei den Kühen, und ich lasse mir beim Melken abends und morgens viel Zeit.
Ich arbeite im Haus und auf dem Hof und weigere mich, eine Magd einzustellen. Habe mir geschworen, dass Mutter niemanden von außerhalb zu Hause ertragen muss, solange ich da bin. Die Brüder tun es mir nach und helfen bei der Hofarbeit.
Pétur Jakob möchte hinaus in die Welt. Will sich umschauen, nach Rom reisen und alte Bauwerke sehen. Baumeister werden. Ich flehe ihn an, diesen Plan nicht zu erwähnen. Er habe keine Eile – vielleicht änderte er noch seine Meinung. Er lächelt und sieht mich mit dem Blick dessen an, der gewinnen will. Er glaubt, dass er unseren Bruder Ingi finden kann. Ich sage ihm, dass er sich nicht zu große Hoffnungen machen solle. Viele Jahre sind vergangen, seit wir zuletzt eine Zeile von ihm erhalten haben. Und das Ausland ist groß.
Páll Jósúa möchte Pfarrer werden. Nicht etwa, weil er besonders gläubig, sondern weil das Pfarrerleben so beschaulich sei. Neben der Arbeit als Pfarrer möchte er lesen, auf dem Meer segeln und tun und lassen, wonach ihm ist. Er ist der Jüngste, faul bei der Arbeit, lacht aber ständig und ist der größte Spaßvogel in der Gruppe.
Der Hübscheste ist Einar, Magga wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn ich ihn ansehe, kann es immer noch vorkommen, dass ich ihren Duft wahrnehme. Dann packt mich die Sehnsucht nach einem Wiedersehen. Was wohl aus ihr geworden ist, nachdem sie in den Osten gegangen ist? Manchmal bedaure ich, dass Einar nicht nach seinen Wurzeln fragt. Doch er scheint keinerlei Verlangen danach zu haben und sieht Mutter als seine eigene Mutter an. Hat keine andere kennengelernt und möchte den Hof niemals verlassen.
Vigfús arbeitet überall in der Umgebung und kommt oft abends oder am Wochenende, um etwas auszubessern und dieses oder jenes fertigzustellen. Ich kann mir schon denken, weshalb er kommt, und es berührt mich, wie treu er ist. Er sieht gut aus und ist charmant, könnte zweifellos viele Mädchen für sich gewinnen. Vielleicht tut er das auch, ohne dass ich davon weiß. Manchmal stelle ich mir vor, dass Vigfús Sveinn ist. Dann geht es mir gut, bis das schlechte Gewissen die Oberhand gewinnt. Vigfús ist nicht Sveinn und wird es nie werden. Sveinn war auch viel lustiger.
Es spricht sich schnell herum, dass ich eine geschickte Schneiderin bin, und ich habe allerhand damit zu tun, die Bestellungen abzuarbeiten. Mit der Zeit widme ich mich nur noch der Hausarbeit und dem Schneidern. Es gefällt mir, Maß zu nehmen und zu beobachten, wie sich ein Stück Stoff in Kleidung verwandelt. Für meine Arbeit bekomme ich Wolle, Fleisch, Eier, Forellen oder andere Dinge, die ich zum Haushalt beisteuere. Wenn große Hochzeiten oder Feste in der Umgebung anstehen, werde ich um Rat und Vorschläge gebeten. Achte darauf, immer gut gekleidet zu sein, gekämmt und zurechtgemacht.
Papa besorgt mir Stoffe vom Handelsplatz. Wenn ich den Hof verlasse, trage ich ein dänisches Kleid und bin oft die Einzige, die so gekleidet ist. Habe mir mittlerweile mehrere Kleider in verschiedenen Farben geschneidert.
Die Nähmaschine steht im oberen Stock auf einem Tisch an einem der Westfenster. Ich drehe die Kurbel, bis Handgelenk und Schulter schmerzen. Zwischendurch sehe ich hinaus zum Gletscher. Halte nach nichts Bestimmtem Ausschau, starre bloß in die Ferne. Zermartere mir das Hirn, bis der Kopf wehtut. Wie alt müssen Männer werden, um keinen Röcken mehr hinterherzurennen?
Wieder einmal hat man Papa ein Balg angehängt. Ich habe gehört, wie darüber getuschelt wurde, glaubte es aber nicht, dachte, dass es eine der vielen Lügengeschichten sei. Eines Abends fragte ich Vigfús, was er auf den anderen Höfen aufgeschnappt habe. Er redete die Sache klein.
Gestern ließ der Pfarrer nach Papa rufen, und ich weiß schon, was das bedeutet. Er ist noch nicht aufgebrochen, hantiert im Arbeitszimmer mit seinen Fläschchen und Tropfen. Stinkwütend springe ich auf und laufe die Treppe hinunter.
«Willst du dich nicht beeilen?», schreie ich, als ich die Tür aufreiße und hineinstürme.
«Was ist denn los mit dir, Engelchen?», fragt er und sieht mich erstaunt an.
«Um das Balg von Stína vom Efrigarðar-Hof anzunehmen! Schämst du dich nicht?»
Auf einmal wird mir schwindelig, und meine Beine geben nach. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.
«Wie kannst du Mutter so behandeln?», schimpfe ich atemlos weiter.
«Und wie sprichst du mit deinem alten Vater?»
«So, wie er es verdient und wie ich es schon längst hätte tun sollen», antworte ich und kämpfe mit den Tränen. Merke, dass die Wut nachlässt, möchte aber noch loswerden, dass es so nicht weitergehen kann. Nicht weitergehen darf.
Papa antwortet nicht. Als er sich umdreht und über die Arzttasche beugt, sehe ich, wie krumm er geworden ist. Seine Schultern sind eingefallen. Im selben Moment denke ich an Einar. Um nichts auf dieser Welt möchte ich ihn missen. Ich zögere, bin hin- und hergerissen, gehe schließlich mucksmäuschenstill und schließe die Tür hinter mir. Kurz darauf sattelt Papa ein Pferd und reitet los. Ich fühle mich schlecht, versuche aber, mich aufs Nähen zu konzentrieren.
Am frühen Abend kommt er nach Hause. Ich laufe hinaus auf den Hof und falle ihm um den Hals. Er nimmt seinem Ross den Sattel ab, tätschelt es und lässt es laufen. Dann sucht er meine Hand, und wir stützen uns gegenseitig auf dem Weg ins Haus, ohne ein Wort zu sagen.
Vigfús hat um meine Hand angehalten. Er hat oft zu erkennen gegeben, dass er mich heiraten möchte, aber ich habe ihm durch nichts Hoffnungen gemacht. Wir kennen uns schon lange, trotzdem bin ich unentschlossen und bitte um Bedenkzeit.
Der Gedanke an Sveinn lässt mich nicht in Frieden. Es ist lange her, dass ich seinen Brief bekommen habe. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Er wäre sicher nicht wieder zu uns gekommen, aber möglicherweise war er bei einem Arzt in Reykjavík. Ist er mittlerweile vielleicht ganz gesund? Warum nimmt er dann nicht Kontakt auf? Steht zu seinem Versprechen und holt mich.
Er hat gelobt, niemals Gemeindevorsteher zu werden. Und auch nicht durch die Gegend zu streifen. Nur zu Hause bei mir zu sein. Immer. Wir wollten unser Zuhause mit Kindern, Musik und Lachen füllen. Tränen schießen mir in die Augen. Mit Vigfús kann ich so nicht reden. Und wir lachen nicht gerade oft. Außerdem wird er als Tischler ständig unterwegs sein. Und er würde auch den Gemeindevorstehertitel nicht ablehnen. Aber er wird sich um die Seinen kümmern. Ich genieße es, wenn er mich umarmt. Mich festhält. Und dann ist er auch noch jünger als ich und sieht gut aus.
Was wird aus mir, wenn ich Vigfús nicht heirate? Bleibe bei Papa und Mutter, solange sie noch leben, und lande dann bei einem meiner Brüder? Bei einer Schwägerin, die mich nicht mag und die ich nicht leiden kann? Werde Magd. Da kommt mir Kristbjörg in den Sinn, fluchend am Fischstein. Obwohl es ein trauriges Bild ist, kann ich beim Gedanken daran ein Lachen nicht verkneifen. Und mir wird warm in der Brust.
Ich laufe hinauf zur Schlucht oberhalb des Hofes, setze mich in die Nähe der kleinen Eberesche und lausche dem Rauschen des Wasserfalls. Sitze lange dort und träume von vergangenen Tagen.
Schrecke aus meinen Gedanken auf und merke, dass es schon kühl wird. Auf dem Rückweg mache ich kurz bei Hulda halt und setze mich in die Senke. Lehne mich ganz vorsichtig an den Stein. Hier bin ich nicht mehr gewesen, seit Sveinn nach Hause geschickt worden ist. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass Hulda da ist, spüre sie, doch sie hat mir offenbar nichts zu sagen. Vielleicht hat sie den Tropfen Milch, den Sveinn damals getrunken hat, immer noch nicht verwunden. Papa sagt, dass das Elfenvolk nachtragend ist, die Seinen aber auch nicht vergisst.
Vigfús stammt aus einer bitterarmen Familie. Aber ich habe gehört, dass sie fleißig sein soll. Er hat sich durchgeschlagen und aus eigener Kraft das Tischlern gelernt. Weiß, was es heißt, arm zu sein, und geht sorgsam mit jeder einzelnen Krone um, die er sich erarbeitet. Doch eines ist sicher: Wenn Vigfús entscheiden könnte, würde er Hulda keine Milch bringen.
Als ich nach Hause komme, bin ich beschwingter. Auch in den nächsten Tagen besuche ich Hulda, sehe niemanden, höre aber fröhliches Lachen im Elfenstein. Das fasse ich als Zeichen der Freundschaft auf, und ich fühle mich besser. Dies ist nicht länger Sveinns und mein Versteck, sondern meine Welt, mein Volk. Und eines Abends bringe ich Hulda ihre Milch. Mutter sieht mich erstaunt an, doch ich tue, als würde ich es nicht bemerken. Und als es so weit ist, werde ich nicht traurig. Ich bin jetzt in einem anderen Leben, Sveinn gehörte zum vorherigen …
Ein wenig später gebe ich Vigfús mein Jawort und bin gerührt, als ich seine Freude sehe. Wir sind draußen. Er lacht ausgelassen, wirbelt mich im Kreis herum und sieht mich mit strahlenden Augen an. Ganz anders als der umgängliche Mann, den ich kenne. Sagt, dass er mich glücklich machen werde. Ist auf einmal redselig und temperamentvoll. Er weiß, dass ich den Hof nicht verlassen will. Ich mache es zur Bedingung, dass wir bei Papa und Mutter wohnen bleiben. Immer. Das macht ihm keine Sorgen. Nichts macht ihm Sorgen, solange ich seine Frau werden will. Weiß genau, dass es im neuen Haus Platz für uns alle gibt.
Falls Papa mit dieser Partie einverstanden ist.
Papa lässt sich Zeit mit seiner Antwort im Bezug auf Vigfús. Mutter hingegen freut sich von ganzem Herzen. Strahlt wie die Sonne, steckt ihr Haar hoch, zieht das dänische Kleid an und backt Rosinenküchlein. Trotz allem hat Papa noch nicht geantwortet. Ich stürze mich in die Näharbeit. Möchte im blauen Samtgewand heiraten. Fange mit dem Kopfschmuck an.
Einige Tage vergehen. Papa macht ein mürrisches Gesicht, verlässt den Hof und spricht mit irgendwelchen Leuten. Müht sich mit seinen Tropfen und Salben ab. Hat viel zu tun. Muss ein Pferd im Osten der Gegend heilen und einer Frau in der Vellirregion Tropfen bringen. Er ruft mich nicht zu sich, und ich tue so, als wenn nichts wäre. Mutter und Papa reden lange hinter verschlossener Tür. Diesmal ist Mutter nicht tränennass. Sie ist entschlossen, geht erhobenen Hauptes und gelassener als früher an die Sache heran.
Dann ruft Papa Vigfús zu sich und gibt ihm, ohne dass ich dabei bin, meine Hand. Erlegt ihm harte Bedingungen auf, über die Vigfús nicht sprechen möchte. Er nimmt sie leicht, nimmt alles leicht in diesen Tagen. Sie beschließen, dass die Hochzeit Ende Oktober stattfinden soll, nach Schafabtrieb und Schlachtsaison, und Vigfús schenkt mir als Treuepfand einen vergoldeten Gliedergürtel mit langem Anhänger.
Ich bin verblüfft. Hätte nicht gedacht, dass Vigfús so großzügig ist. Gliedergürtel mit Anhänger sind teuer. Er wird vor Glück tiefrot, als er meine Freude sieht, nimmt mich fest in den Arm und lächelt leicht verschlagen. Ich stutze kurz. Wann hat er den Gürtel gekauft? War er so siegessicher?
Zwei Abende später bringe ich Papa Kaffee ins Arbeitszimmer, wo er mit seinen Fläschchen hantiert. Seit die Hochzeit beschlossene Sache ist, hat er so getan, als würde er mich nicht sehen. Papa gießt etwas Kaffee zum Abkühlen auf die Untertasse, hebt sie und sieht mich an, während er trinkt. Mir fällt auf, dass seine warmen Hände nicht mehr stark sind. Weiß auch, dass sein Sehvermögen nachlässt.
«Du hast in letzter Zeit Hulda besucht», sagt er mit heiserer Stimme und gießt noch mehr Kaffee auf die Untertasse. Etwas tropft herunter, doch ich tue, als würde ich es nicht sehen.
«Schon …», sage ich bloß.
«Es ist besser, sie auf seiner Seite zu haben, als gegen sich», fügt er hinzu.
Ich nicke.
«Besuch sie weiter.» Wieder tropft etwas herunter. «Irgendwann könntest du sie mal brauchen.»
Ich nicke noch einmal, antworte aber nicht. Er schlürft schweigend.
«Ich möchte dich in meine Tropfen und Salben einführen», sagt er plötzlich.
Ich sehe ihn verwundert an. Wollte über die Hochzeit sprechen.
«Ich glaube, du könntest eine gute Homöopathin werden», fügt er hinzu und setzt die Untertasse ab. «Jemand muss meine Nachfolge antreten.»
Ich habe kein besonderes Interesse an Homöopathie, habe genug mit dem Schneidern und dem Haushalt zu tun. Habe keine Zeit, um Tiere und Menschen in der Umgebung zu heilen.
Doch Papa ist so enthusiastisch, dass ich es nicht über mich bringe, ihn zu bremsen. Nebenbei werfe ich Fragen zur Hochzeit, zu Vigfús und mir ein, aber er hört nicht und redet einfach darüber hinweg. Es ist schon Nacht, als wir endlich zu einem Ende kommen.
Mutter und Halldóra freuen sich darauf, Vigfús im Haus zu haben. Glauben, dass alles einfacher wird, wenn ein Tischler auf dem Hof ist. Er ist lieb zu ihnen, zuverlässig und angenehm gesprächig. Papa sagt nichts, doch ich habe eine vage Ahnung. Sein Schweigen weckt ein ungutes Gefühl in mir, das ich beseitigen will. Sveinns Brett war an meinem Bett, seit Einar es im Stall gefunden hatte. Ich streichle zärtlich über die Herzen und den geschnitzten Händedruck, schiebe es dann ganz tief in eine dunkle Nische unter dem Dach.
Der Hochzeitstag ist ein strahlender Herbsttag. In aller Herrgottsfrühe weckt mich der Vogel. Ich laufe hinauf zum Wasserfall. Blicke über den Sander und lasse die Gedanken schweifen. Kämpfe gegen das Erstickungsgefühl an. Noch hätte ich Zeit, könnte ein Pferd satteln und in Richtung Westen reiten. Denjenigen suchen, der hoffentlich noch am Leben ist.
Im Felsen macht jemand Musik. Sitze bewegungslos, lausche gebannt. Jetzt qualmt es zu Hause auf dem Hof. Als ich an der Elfensenke vorbeikomme, möchte ich die leere Milchkanne mitnehmen, sehe sie aber nirgendwo. Da steht plötzlich eine Frau vor mir, klein und kräftig, in einem langen, meergrünen Gewand. Sie reicht mir wortlos die Kanne und lächelt unmerklich. Ihre Augen glänzen hell, und es schaudert mich wohlig. Sie streichelt mir zart über die Wange. Dann ist sie verschwunden, genauso schnell, wie sie aufgetaucht war.
Auf dem Heimweg überlege ich, ob sie wirklich da gewesen ist, spüre aber noch die warme Berührung und erinnere mich genau an ihren Blick. Sehe sie vor mir, weiß aber, dass etwas fehlt. Später wird mir bewusst, dass zwischen ihren Augen kaum Abstand war.
Nach der Hochzeit bekommen Vigfús und ich das Ostzimmer für uns, und ich begreife nicht, wie ich leben konnte, bevor er da war. Er umarmt mich und hält mich warm. Mir ist ständig kalt, ihm heiß. Abends macht er Witze über meine eiskalten Hände und Füße und fragt, wo denn die Jungfrauenhitze geblieben sei, doch ich versichere ihm, dass sie nie da gewesen ist. Vigfús meint, dass ich zu dünn sei und ein bisschen zulegen müsse. Das will ich nicht, und außerdem ist es ganz gleich, was ich esse, es setzt sowieso nicht an.
Obwohl ich jetzt Vigfús’ Frau bin, träume ich noch von Sveinn. Manchmal geht es mir in den Träumen so gut, dass ich nicht aufwachen will und lange weiterschlummere. Wenn ich dann Vigfús an meiner Seite sehe, werde ich die Gewissensbisse nicht los. Müsste ich nicht von ihm träumen?
Vigfús bringt seine Tiere mit – ein Pferd, eine Kuh und einige Schafe – und ist ein klein wenig stolz auf seinen Beitrag zum Bestand. Außerdem besitzt er fünf Hühner und den Hütehund Garpur, der ihm auf Schritt und Tritt folgt. Ich untersage Garpur den Zutritt zum Schlafzimmer. Lasse mich nicht erweichen, obwohl er jaulend vor der Tür liegt. Unsere Hunde schlafen am Hauseingang. Papa droht, ihm den Hals umzudrehen. Irgendwann verstummt Garpurs Gejaule, er beruhigt sich, und wir fangen an, das Ganze zu genießen. Bald nimmt das Leben seinen geregelten Lauf, und auf den ersten Blick sind alle zufrieden – bis auf Papa, der bei der kleinsten Kleinigkeit aus der Haut fährt.
In einem Brief von Gunnhildur heißt es, dass sie und Þórarinn vor Kurzem geheiratet hätten. Sie schreibt auch, dass sie in Reykjavík eine Hebammenausbildung mache und es hervorragend laufe.
Ich lese den Brief laut vor und muss ihn für Mutter und Halldóra immer wieder lesen.
«Die Hebammenausbildung ist viel interessanter als die Mädchenschule», schreibt sie, fügt dann aber hinzu, dass ihr jener Winter dort trotz allem genutzt habe und sie nicht wisse, ob sie ohne ihn die Hebammenausbildung hätte aufnehmen können. «In Reykjavík gibt es genügend Arbeit für mich. Þórarinn fährt nicht mehr auf See, sondern arbeitet in einem Geschäft», lese ich weiter.
«Erinnerst du dich noch an Hansens Magasín?», fragt sie. «Dort ist Þórarinn jetzt Verkäufer. Er steht gleich unter dem Geschäftsleiter, der wiederum nur dem Eigentümer untersteht.»
Ja, gewiss erinnere ich mich an Hansens Magasín. Gunnhildur spricht von schönen Stoffen, Borten und Hüten und fragt, ob ich nicht mal zum Einkaufen nach Reykjavík kommen müsse. Ich könne bei ihnen wohnen. Beim Gedanken an all die Meterware kribbelt es zart in mir.
Anders als sonst sind Papa und Vigfús einer Meinung, als sie Gunnhildurs Vorschlag als Unsinn abtun.
«Wir brauchen nichts, mein Mädchen», sagt Papa bestimmt. «Der Hornafjord versorgt uns.» Dann zieht er verdrossen ab.
Es sieht ganz so aus, als sei die Zeit der Offenbarungen gekommen, denn pünktlich zu Beginn der Adventszeit platzt Páll Jósúa damit heraus, dass er mehr über die Geschwister wissen wolle, die fortgegangen sind. Wir sitzen gemeinsam in der Küche, wo es am wärmsten ist, und die ganze Runde verstummt. Einen Moment lang ist nichts außer dem Klackern der Stricknadeln zu hören. Da greift Papa nach einem Buch, möchte laut vorlesen, aber ich komme ihm zuvor und fange an, von Ninna zu erzählen, die auf einem großen Anwesen in der Fljótsdalsregion im Osten lebt und eine ganze Kinderschar hat.
«Anwesen», zischt Papa und lässt das Buch sinken. Niemand widerspricht ihm, da niemand genau weiß, wie Ninna lebt.
«Es scheint ihr gut zu gehen, so selten wir auch von ihr hören. Hat einen Witwer mit sieben Kindern geheiratet und im letzten Sommer ihr fünftes eigenes bekommen.»
«Ich möchte Gauja und Magnús in Seyðisfjörður besuchen», mischt sich Pétur Jakob ein. «Gauja sagt, dass es in Seyðisfjörður genügend Arbeit für mich gibt. Und dass man von dort aus mit dem Schiff nach Norwegen fahren kann.»
«Du gehst nirgendwo hin, Junge», antwortet Papa gereizt mit erhobener Stimme. Er trägt Balladen von Sigurður Breiðfjörð vor, so lange, dass Zeit zum Schlafengehen ist, als er endlich aufhört. Papa trifft die Töne nicht und jault an den höchsten Stellen. Das ist mir noch nie aufgefallen. Vielleicht ist es heute deutlicher, weil er wütend ist.
Niemand hat denjenigen erwähnt, über den ich am liebsten sprechen würde.
In Pétur Jakob sitzt die Wut. Am nächsten Tag kommt er zu mir und beklagt sich bitterlich.
«Warum durften Gunnhildur und du auf die Mädchenschule gehen, während ich noch nicht einmal erwähnen darf, den Hof zu verlassen?», fragt er geradeheraus.
Meine Zunge ist wie um die Zähne gewickelt. Soll ich ihm sagen, dass Papa mich nach Reykjavík geschickt hat, um mich den Mann vergessen zu lassen, den ich liebte? Und Gunnhildur gleich mit, um auf mich aufzupassen! Nein. Ich lasse die Nähmaschinenkurbel los und sage, dass Papa verbittert sei, womöglich müde und langsam alt. Bitte Pétur Jakob um Verständnis.
«Uns gegenüber zeigt er auch kein Verständnis. Muss immer alles bestimmen», schimpft er mit zitternder Stimme weiter.
«Erzählst du mir von unserem Bruder Ingi?», sagt er dann, sieht mir direkt in die Augen und fragt: «Wieso kann Mutter noch nicht einmal von ihm erzählen?»
Ich merke, wie schwer es mir fällt, hole aber die Karte und den Brief von Ingi. Die Worte kommen stockend, als ich zu erzählen beginne …
Gegen Weihnachten weiß ich, dass ich schwanger bin. Morgens ist mir übel, und ich muss mich übergeben. Vigfús ist lieb zu mir und hochzufrieden, doch ich bin zu schwach, um mich mit ihm zu freuen. Trotzdem genieße ich es, an das kleine Sommerkind zu denken. Vigfús ist sich sicher, dass es ein Junge ist, meine Brüder hingegen meinen, dass es ein Mädchen wird, das sie später verwöhnen können. Ich selbst habe kein Gespür für das Geschlecht, möchte es aber nach meiner Mutter Katrín benennen, wenn es ein Mädchen wird. Papa ist schlecht gelaunt und viel unterwegs.
In den letzten Wintermonaten fahren Vigfús und Papa hinaus zum Fischen. Einar und Pétur Jakob sind auch mit dabei. Die Fänge sind gut, doch mir ist unwohl dabei, sie alle auf demselben Sechsruderer zu wissen. Die Küsten sind gefährlich, wenn man sie nicht kennt. Papa ist jahrelang vom Skriðusander aus gerudert, trotzdem bin ich unruhig.
Abends sind die Männer todmüde, und die Atmosphäre zwischen Papa und Vigfús ist geladen. Papa meckert und knallt Türen, Vigfús schweigt und ist dickköpfig. Einar beklagt sich bei mir, dass Papa die Frechheit und Aggressivität in Person sei, Vigfús hingegen stur und haarspalterisch. Er möchte auf ein anderes Boot, dabei ist es sicher sinnvoll, dass sie alle zusammenbleiben.
Ich spreche mit Vigfús, bitte ihn, sich nicht mit Papa zu streiten, mir zuliebe, doch er hört nicht auf mich. Sagt, dass ich diese Seite an Papa nicht kennen würde und mich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen solle. Ich verstehe nicht, warum das so sein muss. Papa hatte Vigfús als Tischler eingestellt, und alles lief wunderbar, bis er um meine Hand anhielt. Seitdem hat nichts mehr funktioniert.
Eines Abends verkündet mir Vigfús, dass er mit dem Fischen so schnell wie möglich aufhören werde. Man habe ihm Tischlerarbeit im Osten der Gegend angeboten, und dort wolle er hin, sobald er anfangen könne. Und er komme abends nicht nach Hause. Dafür sei es zu weit weg.
Es schmerzt mich, und ich werde den Gedanken nicht los, dass er mich bestrafen will. Ich erinnere ihn daran, dass ich mit seinem Kind schwanger bin. Er glaubt, dass ich in meinem Elternhaus gut aufgehoben sei. Ist da ein Stachel in seiner Stimme?
Mit der Zeit empfinde ich eine gewisse Erleichterung, spreche aber nicht darüber. Das Kind tritt munter. Ich streichle kurz über den wachsenden Bauch und lächle.
Vigfús ist nicht auf dem Hof, als der Junge geboren wird, doch meine Brüder versprechen, ihm die Nachricht zu überbringen. Alles läuft gut. Der Junge schreit kräftig und ist wunderbar klein und weich. Ich habe nie ein schöneres Kind gesehen und könnte mir vorstellen, immer und ewig mit ihm im Arm dazuliegen. Mutter und Halldóra nehmen mir alles ab, Papa fürchtet sich fast vor dem Würmchen, und die Brüder sind so unglaublich stolz, dass man denken könnte, sie seien alle am selben Tag Vater geworden.
Der Junge hat dunkles Haar, wie Vigfús. Ob er wohl meine Grübchen hat? Papa sitzt am Bettrand und findet, dass er ihm ähnlich sieht. Sagt, dass er kräftige Händchen und dicke Fingerchen habe. Ich lächle und bin einverstanden, was immer er auch sagt. Müde, aber zufrieden.
Dann kommt Vigfús. Es rührt mich, zu sehen, wie glücklich er ist. Er umarmt mich, traut sich aber kaum, den Jungen auf den Arm zu nehmen.
«Diesem Jungen werde ich all das bieten, wovon ich selbst immer geträumt habe», flüstert er, und seine Stimme zittert. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Schäme mich für die Gedanken der letzten Wochen und Monate.
Vigfús nimmt sich frei und bleibt einige Tage daheim. Doch es ist, als würde sich ein Albtraum über unser Zuhause legen. Papa setzt sich nicht mehr zu mir ans Bett. Die Brüder schauen vorbei, bleiben aber nur kurz. Nur Mutter und Halldóra machen weiter wie bisher. Sie backen abwechselnd Küchlein und Pfannkuchen, und Kaffeeduft zieht durchs ganze Haus.
Und dann steht die Taufe des Jungen an. Ich würde ihn gerne nach Papa Jón nennen, doch Vigfús erinnert daran, dass sein Vater Bjarni heißt. Ich schlage Jón Bjarni vor.
«Klingt das nicht gemeindevorstehermäßig?», frage ich und versuche, lustig zu klingen. Doch Vigfús ist nicht zum Spaßen aufgelegt. Wir einigen uns auf den Namen Stefán, der schön klingt, aber ganz aus der Luft gegriffen ist. Der Pfarrer kommt in unsere Wohnstube. Aus dem Augenwinkel sehe ich die verwunderten Gesichter der anderen. Meine Brüder sind zwar da, aber es wäre schön gewesen, auch Ninna, Gauja, Gunnhildur und den zu sehen, der nie erwähnt wird. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Vermisse all das, was vergangen ist. Papa ist enttäuscht. Er versucht, es zu verbergen, doch ich kenne ihn zu gut.
Als der Herbst kommt, sind die Tischlerarbeiten gemacht, und Vigfús kommt heim. Stefán und ich heißen ihn willkommen, und alles scheint gut anzulaufen. Er ist beim Schafabtrieb dabei und packt überall tatkräftig mit an, doch als es ums Schlachtvieh geht und um die Entscheidung, wie viele Tiere wir den Winter über zur Aufzucht behalten, geraten er und Papa sich sofort wieder in die Haare. Papa ist großzügig, Vigfús realistisch. Papa kann es nicht haben, wenn ihm jemand in die Arbeit redet. Nennt seinen Schwiegersohn einen Geizkragen.
Da Vigfús das Geld, das er verdient, zum Hof beisteuert, gibt er nicht nach. Von der ganzen Freigebigkeit hat er ohnehin die Nase voll. Will das Essen einfacher halten, weniger für Kaffee und Kuchen verschwenden. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass ich mit einem neuen Webstuhl unser Einkommen aufbessern könnte. Ganz zu schweigen davon, wenn wir eine Strickmaschine kaufen würden. Er schneidet mir das Wort ab, sagt, dass ich ohnehin nur unwesentlich zum Haushalt beitragen könne, ganz gleich, was ich täte. Ich bin verletzt und knalle die Tür zu. Suche Stefán, der weich und warm ist und lächelt. Im Advent bin ich wieder schwanger.
Mutter ist geknickt. Sie, die gerade angefangen hatte, im dänischen Kleid mit hochgesteckten Haaren in der neuen Küche das Leben zu genießen, hat jetzt jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie Kaffee aufgießt. Ich bin in einer Zwickmühle, und die Übelkeit macht mich fertig. Versuche, Mutter zu trösten. Glaube, dass das vorübergehen wird.
Im Góa, dem vorletzten Wintermonat, gehen die Männer fischen, und das Haus füllt sich wieder mit frischem Fisch. Wenn sie morgens fort sind, ist es wie die Ruhe nach dem Sturm. Wir gönnen uns einen Extraschluck Kaffee und plaudern in der warmen Küche.
Ich melke und kümmere mich um die Hofarbeit. Halldóra wird langsam blind, trotzdem strickt sie nahezu ununterbrochen. Sie und Mutter sehen nach Stefán, wenn ich nähe. Komme in letzter Zeit nie dazu, mich an die Orgel zu setzen. Abends und am Wochenende, wenn die Männer zu Hause sind, geht das Kräftemessen und Gezanke weiter. Langsam wächst mir das alles über den Kopf. Vigfús hört mit dem Fischen auf und übernimmt die Hofarbeit, froh darüber, Papa zu entkommen.
Einmal, als ich im Obergeschoss an der Nähmaschine sitze, kommt Pétur Jakob zu mir herauf. Draußen ist kräftiger Südostwind und kein Boot auf See. Er ist fest entschlossen, im Frühling nach Seyðisfjörður zu Gauja und Magnús zu gehen, hat Papa gegenüber aber noch nichts erwähnt. Papa ist schlecht drauf, und ich weiß, dass er sich Pétur Jakob gegenüber nicht im Griff hat. Aber ich weiß auch, dass Pétur Jakob trotzdem gehen wird. Nicht nur bis nach Seyðisfjörður, sondern hinaus in die Welt.
Ich stehe auf und strecke mich. Mein Kreuz schmerzt, ich lege langsam zu. Vigfús hat sich im Nebenzimmer hingelegt, und Stefán macht sein Mittagsschläfchen.
Pétur Jakob hat schon genau geplant, wo er nach Ingi suchen will. Von Seyðisfjörður aus möchte er nach Norwegen und von dort nach Britannien reisen. Dann seine Fährte aufspüren. Herausfinden, auf welchem Schiff Ingi war. Wohin er gefahren ist. Verspricht, mir zu schreiben und mich wissen zu lassen, wie es ihm ergeht.
«Du solltest mit deinem Papa sprechen, bevor du groß herumsuchst», sagt auf einmal eine heisere Stimme aus dem Zimmer nebenan.
Die Worte hängen in der Luft. Der Vogel schießt in meinen Hals, und ich stolpere, doch Pétur Jakob fängt mich auf. Auf wackligen Beinen gehe ich rüber zu Vigfús.
«Was willst du damit sagen?», flüstere ich matt durch den Türspalt.
«Sag uns, was du weißt», schreit Pétur Jakob. Er weckt Stefán mit diesem Lärm und will auf Vigfús losgehen, der sich im Bett aufgesetzt hat. Ich halte meinen Bruder zurück.
Vigfús weiß nichts Genaues, spricht von einem alten Gerücht. Aber er glaubt, dass die ganze Gegend mehr weiß als wir. Verweist noch einmal auf Papa.
Wie aus weiter Ferne höre ich Stefán weinen. Pétur Jakob stürzt die steile Treppe hinunter, ich hinterher.
Papa ist im Arbeitszimmer. Er schaut auf, als wir hereinplatzen. Pétur Jakob macht keine Umschweife. Legt die Karten auf den Tisch. Möchte alles über Ingi wissen. Er macht solch einen Lärm, dass sich auch die anderen Brüder auf dem Schauplatz einfinden und hinter uns im Türspalt stehen.
Papa ist vollkommen gefasst, sieht fast so aus, als hätte er mit uns gerechnet. Grau und gebeugt sitzt er am Schreibtisch. Die Worte kommen nur langsam aus ihm heraus: «Er hat auf einem britischen Seelenverkäufer angeheuert, der in einem Unwetter bei Gibraltar untergegangen ist. Wo sie hinwollten, weiß ich nicht, man hat ihn nicht gefunden. Wurde abgeschrieben.» Da kommt Leben in Papa, und er schreit, den Tränen nahe: «Wieso musste er auch fortgehen?»
«Wie lange ist das her?», schaffe ich hervorzustoßen. Ich klammere mich an Pétur Jakob.
«Kurz nachdem wir das letzte Mal von ihm gehört haben.»
Taumle aus dem Zimmer, sehe Mutter auftauchen. Höre Weinen aus dem oberen Stock, die erregten Stimmen meiner Brüder und von Papa, der sich nicht mit Vergangenem quälen will. Im Flur nehme ich mein Schultertuch und wickle es um mich. Gehe hinaus, hinauf zur Schlucht. Sehe nichts vor lauter Tränen, finde einen Stein und setze mich. Der Vogel schlägt mit den Flügeln um sich, doch das Rauschen des Wasserfalls bringt ein wenig Linderung.
Ich schließe die Augen, bin auf dem alten Torfhof. Ingi ist überall, sein Lächeln und Lachen. Die Sonne scheint, und ich spüre den Regen nicht mehr.
Vigfús rüttelt an mir, und ich schrecke auf. Sitze unverändert auf dem Stein. Klitschnass. Er nimmt meinen Arm und stützt mich schweigend bis nach Hause. Bei Hulda halte ich kurz an und hole die leere Milchkanne unter dem Stein hervor. Vigfús tut so, als würde er es nicht sehen.
Dann steckt er mich ins Bett und versucht, mir Leben einzumassieren. Bringt warme Milch und sitzt bei mir. Ich wache auf und schlafe wieder ein. Will nie wieder aufstehen.
Papa sitzt am Bettrand. Fährt nicht hinaus aufs Meer, obwohl das Wetter gut ist. Seine kräftige Hand ist warm. Er spricht leise, ganz anders als sonst.
«Mein kleiner Engel, du musst wieder auf die Beine kommen.»
Ich bin so müde, dass ich kaum sprechen kann, doch es gelingt mir, hervorzustoßen: «Warum hast du nichts gesagt?»
«Ihr habt nie gefragt, und was hätte ich da lamentieren sollen», antwortet er, den Tränen nahe. «Was geschehen ist, ist geschehen, wir können es nicht ändern.»
«Und Mutter?»
«Auch sie habt ihr nicht gefragt.»
«Und wer hat euch die Nachricht überbracht?»
«Pfarrer Gunnar hat einen Brief bekommen.»
«Warum gab es keine Gedenkfeier?»
Papa schweigt, antwortet schließlich mit gebrochener Stimme: «Eine Gedenkfeier? Für einen Mann, der vielleicht noch am Leben ist?»
Ich verschwinde in eine Traumwelt. Bin im alten Torfhaus. Kristbjörg sitzt auf dem Bett in der Stallstube und flucht, was das Zeug hält, Ninna mosert herum und schimpft Gauja aus, und Ingi und ich lachen uns über alles kaputt. Dann sind wir oben an der Schlucht, nur wir beide. Sitzen auf einem großen Stein und schauen zum Sander, ganz weit in die Welt hinaus …
Schließlich komme ich doch wieder auf die Beine, bin noch schwach, werde aber mit jedem Tag etwas kräftiger. Es sieht ganz so aus, als gäbe es einen Waffenstillstand. Alle bemühen sich, freundlich zu sein. Pétur Jakob hat Papas Einverständnis für die Seyðisfjörðurreise im Herbst bekommen, und Páll Jósúa soll die Lateinschule besuchen. Einar wird zu Hause bleiben, will Mutter nie verlassen.
Ich merke, wie gerne Papa mich aufmuntern würde, wie gerne er mich lächeln und lachen sehen würde. Eines Tages, als Stefán sein Nickerchen macht und ich mich ausruhe, steht er im Türspalt und fragt, ob er mich stören dürfe. Ich bitte ihn, leise zu sein und sich zu mir ans Bett zu setzen. Es fällt ihm schwer, zu sagen, was er sagen möchte, doch dann bricht es aus ihm heraus: «Ich habe eine Strickmaschine bestellt. Sie kommt aus Reykjavík. Es ist eine Anleitung dabei. Damit wirst du lernen können, sie zu bedienen, Mädchen.»
Ich starre ihn an. Bringe kein einziges Wort heraus. Mir wird schlagartig heiß, und meine Augen füllen sich mit Tränen, die über die Wangen kullern.
«Na, na», sagt er und tätschelt unbeholfen meine Hand. «Hast du nicht davon gesprochen, dass du neben dem Schneidern auch stricken möchtest?»
Immer noch kann ich nichts sagen. Ich nehme seine Hände, drücke sie ganz fest. Und lächle so strahlend, dass zweifellos die Grübchen zu sehen sind. Papas Mundwinkel zucken, und er beginnt zu weinen.
Der Waffenstillstand erleidet einen Rückschlag, als Vigfús mir eines Abends verkündet, dass er ein Stück Land im Landesinneren gekauft habe und im Frühling mit dem Hausbau beginnen werde. Er sieht stolz und glücklich aus. Ich starre ihn an, traue meinen Ohren nicht. Und die Abmachung, die wir getroffen haben, dass wir hier wohnen? Bevor wir geheiratet haben. Hat er sie vergessen?
Nein, nichts hat er vergessen, doch die Voraussetzungen stimmen seiner Meinung nach nicht mehr.
«Du siehst selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Diese ewige Zwietracht.»
«Ja, und daran müssen wir arbeiten. Uns bemühen», flehe ich. Vigfús schüttelt den Kopf, sagt, dass sich zu viel geändert habe. Er möchte in seinen eigenen vier Wänden wohnen. Nicht von anderen abhängig sein.
«Aber dann betrüge ich meine Eltern, ich habe versprochen, nie fortzugehen», schreie ich, den Tränen nahe.
«Na, na, noch sind wir ja nicht weg», sagt er und tätschelt mich tröstend.
«Ich werde auch nicht weggehen», sage ich. Meine Stimme ist heiser. Ich versuche, ruhig zu sein, obwohl ich ganz aufgelöst bin.
Er will, dass ich mitkomme, um mir das Land anzusehen. Sagt, dass wir gemeinsam aussuchen, wo das Haus stehen soll. Ich weiß schon, wie es dort aussieht, muss es mir nicht ansehen. Hier werde ich leben und nirgendwo sonst!
Zur Sommersonnenwende schiebt sich ein kleines Mädchen in die Welt. Die Geburt läuft reibungslos. Sie ist ein hellerer Typ als ihr Bruder und fordert mehr Aufmerksamkeit, doch ich genieße es. Wir reiten mit ihr zur Kirche, wo sie auf den Namen Katrín getauft wird. Diesmal waren Vigfús und ich uns über die Namensgebung einig. Mutter strahlt wie die Sonne, und alle sind glücklich. Auf dem Hin- und Rückweg von der Kirche reiten wir an dem Fleckchen Erde vorbei, das jetzt uns gehört. Vigfús möchte wissen, ob ich mit dem Platz für das Haus zufrieden bin. Zeigt auf Pfosten, die er auf einem kleinen Areal unweit eines Baches in den Boden gerammt hat.
Ich schaue mich um. Zwei weitere Höfe liegen auf dem Gelände. Hier ist alles viel weiter und der Horizont freier als daheim. Der Berg ist zerklüftet, und die Gipfel ragen oberhalb der Höfe steil in den Himmel. Kein Wasserfallrauschen.
Vigfús wartet auf eine Antwort. Warum stellt er mir gerade jetzt diese Frage? Ich habe das Gefühl, von Vigfús gegen eine Wand gedrängt zu werden. Ich lasse die Augen über den gelben Butterblumenteppich wandern, der das ganze Land bedeckt, schaue zum Sander, drücke Katrín an mich und kapituliere mit einem Nicken. Was bleibt mir auch übrig? Ich habe keine Lust, mich hier zu streiten, frisch nach der Taufe des Kindes, aber trotzdem werde ich nicht in dieses Haus ziehen. Niemals. Und das weiß Vigfús.
Abends und am Wochenende reitet Vigfús ins Landesinnere. Ich frage ihn nicht, was er dort tut, doch im Spätsommer kommt er mit einigen Bündeln Heu zurück. Meine Brüder helfen ihm, und er ist stolz auf seinen Heubeitrag. Papa geifert, sagt, dass er genug Heu habe.
«Dann ist das halt für mein Vieh», sagt Vigfús ironisch, woraufhin Papa die Türen knallt. Dann kauft Vigfús eine junge Kuh und bringt sie im Stall unter. Bei zwei Kleinkindern und einem vielköpfigen Zuhause sei das das Mindeste, sagt er. Die Kuh ist schwarz und hat einen weißen Kopf. Sie ist zierlich, und ich darf ihr den Namen Schneekuppe geben. Die Felder sind abgeerntet, und Mutter kann Pfannkuchen und Küchlein backen, ohne sich quälende Gedanken über Verschwendung zu machen.
Als es Herbst und dunkel wird, befällt mich die alte Angst. Morgens weckt sie mich, und abends schlafe ich mit ihr ein. Das Verhältnis zwischen Papa und Vigfús ist leicht entzündbar, es muss nur eine Kleinigkeit schiefgehen, dann explodiert es.
Ich laufe oft hinauf zum Wasserfall und besuche auf dem Weg Hulda, sehe niemanden, spüre aber, dass ich dort eine Verbündete habe. Vigfús inspiziert mich genau, wenn ich nach Hause komme, fragt, ob alles in Ordnung sei, und manchmal holt er mich sogar zurück. Eines Abends folgt er mir zur Schlucht und verlangt eine Erklärung. Sagt, dass die Leute über mich reden und er nicht umhingekommen sei, das Gerücht zu hören.
«Was für einen Unsinn treibst du immer hier oben?», fragt er und stellt sich zu mir. Sieht mich forschend an.
Ich will ihn bitten, sich zu setzen, nicht so dazustehen.
«Warum habe ich so manches, was da geredet wird, nicht vor unserer Hochzeit erfahren?»
Wenn ich wüsste, wovon er spricht, könnte ich vielleicht antworten, doch so schweige ich einfach weiter.
«Es heißt, du seist im Winter auf der Mädchenschule verrückt geworden – ist das wahr? Und auch, dass du draußen beinahe umgekommen wärst?»
Mich überkommt das Verlangen, mich an ihn zu schmiegen, ihn zu bitten, all die Erschöpfung wegzuküssen und mich von der Angst zu befreien. Offen mit ihm zu sprechen. Aber ich habe kaum Hoffnung, dass er versteht, was ich sage. Sehe ihn an und schweige.
«Möchtest du mir etwas sagen?», fragt er noch einmal.
Ich sehe zu einer Wolkensäule über dem Gletscher und entdecke Kristbjörg. Sie sieht ungewöhnlich fröhlich aus und lächelt. Ich lächle zurück, stehe auf und mache mich auf den Weg den Hang hinunter. In der Nacht werde ich wach und sehe, dass Vigfús noch nicht da ist. Am nächsten Morgen ist er schon aufgestanden, als ich von Katrín geweckt werde.
Eines Tages stehe ich lange im Arbeitszimmer und sehe mir Papas Medikamentenfläschchen an. Er ist draußen, um ein Pferd zu beschlagen, ich bin allein. Ob Papa mir helfen kann, die Angst in den Griff zu bekommen? Wenn er andere heilen kann, dann sollte er auch mir einen Rat geben können.
Ich blättere in seinen Büchern, weiß aber nicht, wonach ich suchen soll. Im Schrank finde ich ein Päckchen mit weißem Pulver, auf dem Aspirin steht. Rieche daran und sehe mir das Päckchen lange an. Höre Schritte, eile aus dem Zimmer und schließe die Tür.
Garpur ist tot.
Jahrelang ist er Vigfús auf Schritt und Tritt gefolgt. Vor einigen Tagen bekam er eine seltsame Kolik. Papa versuchte, ihn zu heilen, hatte aber kaum Erfolg. Dann gab er ihm ein anderes Medikament, und es schien ihm besser zu gehen. Aber dann fanden wir Garpur eines Morgens ganz steif vor unserer Tür, als wir aus dem Zimmer kamen.
Vigfús hält daran fest, dass Papa Garpur mit einer zu großen Dosis umgebracht hat. Ich bitte ihn, sich einen solchen Unsinn nicht in den Kopf zu setzen. Gleichzeitig erinnere ich mich schwach daran, wie Kristbjörg sich einmal über Tropfen ereifert hat, die auf dem Land eine junge Kuh getötet haben sollen. Vigfús lässt sich nicht davon abbringen. Papa und er streiten sich, dass die Fetzen fliegen, und ich schließe mich ein, will ihre gegenseitigen Anschuldigungen nicht hören.
Vigfús begräbt Garpur oben in der Schlucht und nimmt Stefán mit. Ich bleibe mit Katrín daheim, sie ist unruhig, bekommt wahrscheinlich Zähne. Papa läuft fluchend durchs Haus, während Mutter und Halldóra sich, soweit es geht, zurückhalten.
Ich schaue aus dem Westfenster und suche ohne Erfolg die Wolken über dem Gletscher ab. Sehe wenig durch die Tränen. Drücke Katrín an mich. Habe Vigfús gegenüber nichts gesagt, weiß aber ziemlich sicher, dass es wieder so weit ist und ich das dritte Kind in mir trage.