VI
Das Land ist weit hier, und in der Ferne ist der Gletscher zu sehen. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass das mein Gletscher ist, doch er ist es. Sehe ihn nun aus einem ganz anderen Blickwinkel. Das Haus ist hoch gelegen. Im Zimmer sind sechs Betten, und in allen wird geschlafen. Unter dem Fenster stehen ein Tisch und ein Stuhl.
In der ersten Zeit nach meiner Ankunft habe ich viel geschlafen. Wurde ganz in Ruhe gelassen. Mittlerweile komme ich langsam wieder auf die Beine. Alle sind lieb zu mir. Ich soll mich erholen und gesund werden. Und soweit ich es mir zutraue, soll ich auf dem Hof helfen. Doch ich sehne mich nach Hause. Vermisse die Kinder, und es schmerzt mich in der Brust. Katrín hielt ihre kleinen Geschwister im Arm, als ich ging. Sie haben bitterlich geweint. Wir alle haben geweint. Auch Vigfús.
Þorgerður kam mitten in der Schlachtsaison auf die Welt. Sie war klein, aber gesund, und alles lief glatt. Vigfús fand es unmöglich, den Haushalt ohne Magd am Laufen zu halten. Als sie kam, ging es mir schlagartig schlechter. Der Sommer war gut gewesen, und die Angst hatte mich die meiste Zeit in Frieden gelassen, doch dann suchte sie mich wieder heim.
Bergþóra kam aus dem Westbezirk. Ich habe so wenig wie möglich mit ihr geredet. Hatte aber ein Auge auf sie und Vigfús.
Die Wintertage waren schwarz, ich schaffte es nicht aus dem Bett und tat nichts anderes, als mich um den Säugling zu kümmern, der bei mir lag. Verweigerte das Essen. Der Vogel hatte eine neue Gestalt angenommen. Einst steckte er in Brust und Hals fest. Jetzt lag er auf mir. Wenn ich mich besonders schlecht fühlte, war es gut, unter ihn zu kriechen. Dabei versuchte ich immer, den Säugling zu beschützen, darauf zu achten, dass er nicht zerquetscht wurde. Sah keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, hörte nur ab und zu Stimmen und das Kommen und Gehen um mich herum. Ansonsten war alles still.
Sie hat sich bewegt, als du dich an den Bettrand gesetzt hast, hat sich umgedreht und unter der Decke hervorgelugt. Du hast sie rasch begrüßt und gelächelt. Dann hast du gefragt, ob sie sich aufsetzen möchte. Hattest kaum Hoffnung, doch sie versuchte, sich aufzurichten, und du hast ihr geholfen. Ihr ein Kissen in den Rücken geschoben und sie mit warmem Wasser gewaschen. Zuerst das Gesicht, dann runter bis zum Hals. Danach beide Arme und Hände.
«Das tut gut», flüsterte sie und lächelte. Plötzlich hat sie die Augen auf dich geheftet und gefragt: «Katrín, siehst du den Vogel?»
Du hast den Kopf geschüttelt. Hast keinen Vogel gesehen. Sie wollte, dass du das Bett absuchtest. Der Vogel war nirgends zu sehen, weder unter noch hinter dem Bett. Da atmete sie leichter und war einverstanden, ein wenig zu essen.
Langsam ging es mir besser. Kam aus dem Bett und fing an, mich der Arbeit zu widmen. Wurde mit jedem Tag kräftiger. Wollte unbedingt zeigen, dass ich keine Magd brauchte. Habe alles aufmerksam verfolgt. Versucht, einen fremden Menschen im Haus zu tolerieren, seine Arbeitsweisen nicht zu kritisieren – doch die Sudelei und das ewige Geschwätz über alles und nichts warfen mich aus der Bahn.
Der Arzt sitzt mir gegenüber am Tisch. Er ist ernst und hat grau meliertes Haar. Was tue ich eigentlich hier? Warum bin ich nicht bei meinen Kindern? Er nimmt Blut ab und gibt mir ein Medikament, von dem er sagt, dass es gegen meine Krankheit wirkt. Ich habe nichts. Bin bloß müde, muss daheim meinen Frieden haben und die Magd loswerden.
Er spricht, ich schweige. Kann man von mir verlangen, dass ich mit einem wildfremden Mann über mein Befinden spreche – auch wenn er noch so gutmütig ist? Einmal bin ich während des Gesprächs tief und fest eingeschlafen. Er ließ mich schlafen und deckte mich zu. Als ich aufwachte, lächelte er und fragte, ob er so langweilig sei. Da lachte ich laut auf. Dann erschrak ich. Kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so herzhaft gelacht habe.
Die Unruhe in meinem Körper wuchs mit jeder Woche. Ich merkte, wie ich von Energie durchströmt wurde, und arbeitete wie ein Berserker, tat, was ich konnte, um zu zeigen, dass ich mit dem Haushalt zurechtkam. Versuchte, mein Fernweh zu zügeln. Doch wie sehr ich auch kämpfte, ich kam nicht dagegen an. Ich konnte nicht mehr schlafen, vergaß den Säugling und brach Hals über Kopf auf. Vigfús hatte meinen Sattel versteckt, und ich ritt auf blankem Rücken.
Papa war hocherfreut, als ich mich zu ihm ans Bett setzte. Wie immer fragte er, ob ich nun für immer und ewig zu ihm gekommen sei. Als die Milch aus meiner Brust tropfte, fiel mir Þorgerður ein, ich schwang mich aufs Pferd und eilte nach Hause.
Vigfús war mir ständig böse, wahrscheinlich schämte er sich für mich. Ich nahm Þorgerður mit ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Die Kinder waren lieb zu mir, vor allem Katrín. Nach ein paar Tagen im Bett kam ich wieder auf die Beine.
Mit jedem Tag fiel es mir schwerer, Bergþóra im Haus zu ertragen. Und ich flehte Vigfús an, sie wegzuschicken. Es bringt nichts, wenn ich die Mägde feuere. Sie gehen nicht. Alles muss über Vigfús laufen, und diesmal blieb er hart. Er bat mich, seine Mägde nicht mehr zu piesacken, ich solle lieber mal versuchen, die Hilfe im Haushalt zu genießen. Zudem sei Bergþóra ein tatkräftiges Mädchen, umgänglich und liebenswürdig.
«Hattet ihr nicht immer Mägde, als du aufgewachsen bist? Ist das denn was Schlimmes?»
Ich sah ihn an, und mir wurde schwindelig. Wenn er wüsste, welche Last sie meiner Mutter immer waren. Vielleicht sah er, was ich dachte, denn er sagte: «Denk nicht, dass ich wie dein Papa bin, meine Liebe. Ich kann ein Mädchen ansehen, ohne es gleich haben zu wollen. Selbst wenn es schön ist.» Dann stand er auf und ging.
Am Tag darauf saß ich in der Wohnstube und nähte ein Männerhemd. Da kam Vigfús zu mir und wollte reden. Ich sah ihn erstaunt an. Wollte ihn nicht vom Reden abhalten, steckte aber weiter das Hemd zusammen.
«Ich habe mir überlegt, mit dir zu einem Arzt zu gehen und etwas gegen deine Krankheit zu unternehmen, meine Liebe», sagte er.
Ich sah ihn verdutzt an.
«Sieh mal», fing er an, setzte sich und nahm mir das Hemd weg. Dann streichelte er über meine Hände. Wann hatte er das zuletzt getan? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, sah auf seine Hände, und plötzlich kamen mir Sveinns Musikerfinger in den Sinn. Aus der Ferne hörte ich Vigfús über den Arzt reden. Viele sprächen gut über ihn. Er wollte, dass wir es versuchten.
«Aber er ist in einer ganz anderen Gegend», stammelte ich und starrte auf die dünnen Finger.
«Das weiß ich, und du wirst eine Weile bei ihm bleiben.»
«Im Westbezirk?»
«Ja», sagte Vigfús.
«Und meine Kinder?»
«Sie werden bei mir sein, bei mir und Bergþóra. Dann kommst du wieder nach Hause, und es geht dir viel besser.» Jetzt lächelte er und streichelte immer noch über meine Hände.
Mit einem Mal hatte ich alles klar vor Augen. Er wollte mich in die Ferne schicken, mich loswerden, um dann nach Lust und Laune mit Bergþóra zusammen sein zu können. Ich sprang auf.
«Lass mir das nie wieder zu Ohren kommen, mein Lieber», sagte ich und raste nach oben. Dort warf ich mich aufs Bett und weinte, als würde mein Herz zerspringen.
Die nächsten Tage über machte ich unbeirrt weiter. Scherte mich nicht um Vigfús und schenkte den Kindern umso mehr Aufmerksamkeit. Ich holte den Baum hervor. Vor vielen Jahren hatte Vigfús einen Weihnachtsbaum gezimmert und ihn grün angemalt. Auf meinen Wunsch hin. Der Weihnachtsbaum in der Wohnstube der Madam im Mädchenschulwinter war mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Da wir schon keinen richtigen Baum hatten, verkleidete ich Vigfús’ Baum einfach mit Moos und Papier in verschiedenen Farben. Dann behängten wir ihn mit selbst gebasteltem Schmuck. Doch ich träumte von einer roten Glaskugel wie die, in der mir einst Kristbjörg erschienen war. Es war immer schön, wenn wir den Baum holten und anfingen, ihn zurechtzumachen. Dann war Weihnachten.
In der Abenddämmerung stehe ich am Fenster und sehe nach Osten. Die Tage werden schon länger, und bald kommt der Frühling. Ich schaue zum ausdruckslosen Gletscher und weiß, dass meine Kinder dort sind. Sehe sie vor mir, wie sie im Türspalt stehen und mir hinterhergucken. Mich anstarren. Können ihre seltsame Mutter nicht verstehen, die sich nie wie andere Leute benehmen kann. Wieso ist sie so? Anders als alle anderen Mütter. Dann verschwimmt alles, und ich erkenne nichts mehr durch den Nebel.
Ich gab mir die größte Mühe, und über die Weihnachtstage hinaus lief das Leben zu Hause gut. Vigfús sollte sehen, dass ich nicht zum Arzt musste. Und er sollte auch sehen, dass wir uns die Magd sparen konnten. Täglich war ich auf den Beinen, und die kleine Þorgerður wuchs kräftig. Immer noch hatte ich Milch für sie. Sie erinnerte mich an Katrín, an das halbe Portiönchen, das sie einmal war. Jón war ein aufgeweckter und unterhaltsamer Bursche geworden und unsere Kinderschar groß und schön.
An den Festtagen will Vigfús immer das Beste haben, was da ist. Dann gibt es Kaffee, Fleisch und frisch gebackenes Fladenbrot, Weihnachtskuchen und Rosinengrütze. Ich versuchte, den Gedanken wegzuschieben, wie langweilig alles nach Weihnachten wird, wenn der graue Alltag wieder einkehrt, und genoss es, bei den Kindern zu sein.
Wir sangen viel, manchmal spielte ich, meist aber Stefán. Er ist sehr emsig, und eines Tages erzählte er seinem Vater, dass er davon träume, eine Ausbildung zum Organisten zu machen. Ich hörte heraus, dass Vigfús es für unangebracht hielt, dass ein Mann auf diese Weise seinen Lebensunterhalt verdient. Nebenbei könne er gerne auf der Orgel klimpern, aber nicht ausschließlich. Schlug einen heiteren Ton an und sagte, dass er ihn schon als Tischler vor sich gesehen habe. Dann würde er natürlich den Betrieb übernehmen.
Stefán wurde blass, schüttelte den Kopf und schwieg. Ich sah meinen Bruder Ingi leibhaftig vor mir und wurde von Furcht ergriffen. Ich versuchte, einen Blick von Stefán zu erhaschen. Ihm zu sagen, dass er in mir eine Verbündete habe. Doch er schaute nur auf den Boden. Womöglich konnte ich ihm auch keine Hilfe sein. Doch ich beschloss, Gunnhildur zu schreiben und sie zu bitten, sich Stefáns anzunehmen, wenn er nach Reykjavík käme. Und wenn Vigfús die Ausbildung nicht bezahlen will, dann wird Papa es tun, dachte ich bei mir.
«Ich möchte den Betrieb übernehmen», sagte Katrín in die Stille hinein. Alle sahen sie an, und Ingi lachte laut los.
«Nein, ich werde das tun!» Ehe man sich’s versah, lagen sich die Geschwister in den Haaren. Ingi behauptete, dass Katrín überhaupt nicht wisse, wie man einen Betrieb führte. Das würde schnell in einem Elendsbetrieb enden. Sie gab zurück, dass ihn kein Mädchen heiraten wolle – so schlaksig und zu allem Übel auch noch rothaarig. Schließlich einigten sie sich darauf, gemeinsam auf dem Hof zu leben. Und Prinzessin Anna wollte bei ihnen sein.
«Ich freue mich schon darauf, bei euch meinen Lebensabend zu verbringen», sagte ich und war auf einmal heiter. Stefán war unruhig, das sah ich und beschloss, nicht zu vergessen, meiner Schwester zu schreiben. Was das Schreiben angeht, war sie viel fleißiger als ich und hatte ohnehin noch so manchen Brief bei mir gut.
Nach Weihnachten gingen Vigfús und Stefán auf Fischfang, brachen früh am Morgen auf und kamen spät zurück. Ingi wollte mit, durfte aber nicht – unkonfirmiert. Zudem besuchte er gerade auch die Wanderschule.
Die Weihnachtszeit strahlte noch in der Erinnerung, verschwand dann aber in der Dunkelheit, und die Angst krallte sich wieder an mir fest. Ich schloss die Gardinen, zog die Decke über den Kopf und konnte mich nicht bewegen. Das Rauschen im Kopf war das Einzige, was ich hörte.
Der Arzt achtet darauf, dass ich meine Medikamente nehme. Jetzt kennen wir uns langsam ein wenig besser, und das Reden fällt mir leichter. Ich erzähle ihm von meinen Freunden in den Wolken über dem Gletscher, von Papa und Mutter, vom fliegenden Vogel und der Sonne, die einst am Himmel lachte. Erzähle ihm von Hulda, Kristbjörg und den Kühen unter der alten Stallstube. Lächle vor lauter Freude übers ganze Gesicht.
Dann sprechen wir über die Angst, die Schwäche, den erdrückenden Vogel, über die Platzangst und die Mägde, über meinen Bruder Ingi und die Trauer über das, was war, die Sehnsucht nach dem, was nie sein wird. Doch ich erzähle ihm nicht von Sveinn.
Natürlich hatte Bergþóra viel Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern, als ich Tag für Tag im Bett lag. Sie beschwerte sich bei Vigfús, der mich zum Aufstehen bewegen wollte. Ich versuchte es auch, konnte aber kaum die Beine bewegen, und alles wuchs mir über den Kopf. Setzte mich am liebsten an die Orgel und spielte oder sang mit den Kindern. Dann wurde Bergþóra noch wütender, bewarf mich mit zerschlissenen Kleidern, die ausgebessert werden mussten, und machte sich lustig über mich – die Schneiderin! Schob mir alles in die Schuhe, knallte Türen und keifte herum.
Eines Abends verkündete Bergþóra, dass sie gehe. Vigfús drängte sie, ihre Dienstzeit über noch zu bleiben, bat sie, ihn und die Kinder nicht im Stich zu lassen. Dann setzte er sich mit dem Arzt in Verbindung, ohne mich mitreden zu lassen.
Im Einmánuður, dem letzten Wintermonat, bekam er Nachricht, dass ich kommen könne. Gleich am Abend sagte er mir, dass wir zum Arzt gehen würden. Ich weigerte mich strikt. Hatte ich ihm nicht verboten, davon zu reden? Hatte er das vergessen?
Er sagte, dass nichts vergessen sei, es so aber nicht weitergehe und er das entscheiden werde. Ich starrte ihn an, stand auf und wollte hinaus. Hinauf zum Stein oder zu Papa, doch er ließ mich nicht gehen. Sagte, dass ich nun im Haus bleiben müsse, bis wir aufbrächen. Er wolle mich begleiten.
«Vigfús Bjarnason, ich gehe absolut nirgendwo mit dir hin», sagte ich und verstand die Bestimmtheit nicht, die über mich gekommen war. Da bemerkte ich Stefán und Katrín, die hereingekommen waren, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte.
«Ich kann dich begleiten, wenn du willst», sagte Stefán leise.
«Du wirst nicht so weit über den Gletscher reisen, Liebling», antwortete Vigfús scharf.
«Und ich werde fleißig sein und helfen, solange du weg bist», sagte Katrín genauso leise wie ihr Bruder.
Ich starrte sie an. Meine Kinder – hatten auch sie sich gegen mich verschworen? Das hätte ich nicht gedacht. Da kam Katrín auf mich zu und umarmte mich.
«Mutter, ich freue mich so darauf, wenn du zurückkommst und es dir besser geht», schluchzte sie. «Dann wird alles wieder gut.»
Ich zitterte vor Rührung und genoss es, die dünnen Ärmchen um mich herum zu spüren. Da fragte ich mich, wie ich mich wohl für sie anfühlte. Erinnerte mich an den schweren Duft, der von Mutter ausging, und die Sicherheit. Katrín wird mich wohl kaum mit Sicherheit in Verbindung bringen.
Stefán begleitete mich auf der ersten Wegstrecke. Mein Bruder Einar wollte mich dann über den Gletscher bringen. Ich setzte mich an Papas Bett, und wir redeten lange. Es war, als wäre er geschrumpft. Seine Hand war das Einzige, was an den alten Papa erinnerte. Sie war kräftig und warm. Er fragte nach seinem kleinen Namensvetter und lächelte selig, als ich erzählte, wie tüchtig er sei. Da zeigte sich der alte Glanz in seinen Augen, die fast nichts mehr sehen konnten. Dann sagte er, dass er Stefán bei der Organistenausbildung unterstützen werde. Ich umarmte ihn und versprach, bald wiederzukommen.
«Wirst du dann immer bei mir bleiben?», fragte Papa und drückte mich fest. Ich nickte. War den Tränen nahe und brachte kein Wort heraus.
Nachdem ich mit Einar in Richtung Gletscher aufgebrochen war, fiel mir schlagartig ein, dass Papa mein Nicken nicht gesehen hatte.
Der Arzt spielt Orgel, seine Frau auch. Sie bieten mir an, das Instrument zu benutzen, und bitten mich ab und an, zu spielen. An der Orgel nehmen Schmerz und Trauer ab. Wie durch Nebel sehe ich die kleinen Gesichter. Sitze lange am Instrument, spiele und träume vor mich hin.
Eines Tages hat die Madam Schwierigkeiten mit einem Kleid, das sie gerade näht. Sie fragt mich um Rat, und ehe ich mich’s versehe, sitze ich an der Maschine, habe das Kleid fertig und angefangen, ein Männerhemd zu nähen. Es ist, als würde mir alles zufliegen, und manchmal lache ich so herzlich, dass sich die Grübchen blicken lassen. Ich arbeite auch an der Strickmaschine. Der Arzt ist zufrieden mit den Fortschritten, sagt, dass ich bald nach Hause könne – doch die Madam möchte mich nicht missen!
Das Essen ist gut – alles, bis auf den Sud aus Isländisch Moos. Hier bekommen wir selten Kaffee, was ich vermisse. Vor einigen Tagen habe ich dem Arzt von Sveinn erzählt. Ich wollte das nicht, aber dann ist es einfach passiert. Seitdem haben wir fast täglich über Sveinn gesprochen, doch ich nenne nicht seinen Namen.
An einem freundlichen und schönen Tag taucht plötzlich Einar mit dem Arzt im Türspalt auf. Ich falle ihm um den Hals, leichtfüßig wie in alten Zeiten.
«Bist du gekommen, um mich abzuholen?», rufe ich, drücke und küsse ihn. Lächle und lache. Auch Einar lächelt. Er findet, dass ich gut aussehe, und nimmt mich fest in den Arm. Vermutlich ist es die Anwesenheit des Arztes, die stört, oder etwas in Einars Augen. Sein Lächeln ist nicht so strahlend wie sonst. Er lässt mich Platz nehmen und hält mich fest umschlungen. Dann sagt er: «Engelchen, unser Papa ist gestorben.»
Ich muss Einar nicht zuhören, weil er überhaupt nicht hier ist. Das ist bloß ein Traum, und ich muss schlecht gelegen haben, dass ich solch einen Albtraum habe.
«Kurz nachdem du fort warst, ist er gestorben, und eine Woche später wurde er begraben.»
Ich sehe ihn wie von ferne. Was für ein Mensch ist das, der sich für Einar ausgibt? Jetzt nimmt er mich fest in den Arm und sieht mir in die Augen.
«Engel, hast du mich gehört? Unser Papa ist gestorben.»
Ich schrecke auf. Das ist Einar, und ich bin wach. Trotzdem will ich ihm nicht glauben. Wenn ich es abstreite, ist Papa auch gar nicht tot. Ich gehe zu ihm nach Hause und bleibe für immer bei ihm. Ziehe mit den Kindern um, und wir wohnen alle zusammen. Im Schloss, wie ich es ihm und Mutter versprochen habe. Alles wird wie in alten Zeiten. Und ich gehe niemals fort.
Wir sitzen bis in den Abend hinein zusammen. Einar hält mich im Arm, und ich weine, bis alle Tränen getrocknet sind.
Das Schloss ist klaffend leer. Ich sitze lange auf dem Stuhl im Arbeitszimmer und sehe mir die homöopathischen Mittel an. Papa wollte mir alles beibringen, doch ich habe nicht zugehört. Ich schaue mir die Fläschchen an und fahre mit der Hand über die Bücher. Besuche Hulda, sitze bei ihr, höre sie aber weder stöhnen noch husten. Laufe hinauf zur Schlucht am Wasserfall, blicke über den Hof und zum Gletscher. Der Fels ist schwarz, die Musik verstummt. Sehe Papa vor mir, wohin ich auch gucke.
Aus der Küche kam all das Gute. Dort war das Feuer, das eine Runde nach der anderen tanzte. Unwillkürlich fing ich an, mich in seinem Takt zu bewegen. Bekam ein heißes Gesicht, und ehe ich mich’s versah, kam ein blauer Junge aus der Flamme und streckte die Hand aus. Da senkte ich schnell den Blick, und er verschwand. Ich nannte ihn den Blauen. Wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, obwohl ich das Verlangen spürte, es zu tun. Lag im Dunkeln, dachte über ihn nach und war überall kochend heiß. Träumte davon, dass wir uns später in die Augen sähen.
Als ich Papa vom blauen Jungen erzählte, wurde er ernst. Er meinte, dass mir der Blaue hier und dort im Leben begegnen würde und ich mich gut in Acht nehmen müsse.
Stefán und Katrín kommen, um mich zu holen. Ein Glücksgefühl durchströmt mich, als Katrín ihre Arme um mich schlingt. Auch Stefán umarmt mich, ungewöhnlich warm. Wir eilen nach Hause zu den anderen. Ingi und Anna sind ausgelassen und kommen uns lachend entgegen. Jón ist verschüchtert, Þorgerður brüllt wie am Spieß, als sie mich sieht. Vigfús nimmt mich in den Arm und drückt mich lange. Ich merke, dass er sich danach sehnt, dass alles in Ordnung ist, er setzt Kaffee auf und macht mir alles recht. Als ich ihn inmitten der Kinderschar sehe, habe auch ich ihn gern. Und ich bin gerührt, zu sehen, wie lieb er zu den Kindern ist. Aber sein dunkles Haar ist ziemlich grau geworden.
Bergþóra ist weg, und in diesen Tagen verliert niemand ein Wort über eine Magd. Wir helfen uns gegenseitig, sind rücksichtsvoll und freundlich zueinander. Ich versuche, mir die Arbeit nicht über den Kopf wachsen zu lassen, und nehme keine Näharbeiten an. Doch die Sehnsucht nach Papa ist erdrückend. Wenn ich wach bin, kann ich sie kontrollieren, nicht aber im Traum, sodass ich morgens völlig erschöpft bin. Und dann, eines Morgens im frühen Sommer, weigere ich mich, aufzuwachen, bleibe im Vergangenen. Stehe nicht auf.
Vigfús versucht, mich zum Anziehen zu bewegen. Zu dieser Jahreszeit bekommt er keine Magd, wie sehr er es auch möchte. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Sache gut zu machen, komme aber nicht auf die Beine. Katrín sagt, dass sie allein zurechtkomme und keine Hilfe im Haushalt brauche. Ich höre sie im Erdgeschoss, wenn sie mit Prinzessin Anna schimpft und sie zur Arbeit treibt. Die Jungs sind mit Vigfús draußen bei der Hofarbeit.
Ich schleppe mich aus dem Bett und versuche, mich nützlich zu machen. Anna kämmt mich und flicht mir die Haare. Du lieber Himmel – für gewöhnlich komme ich nicht ungekämmt nach unten! Bin ich schon so armselig? Dann bekomme ich eine heiße Tasse Kaffee – und das mitten in der Woche. Katrín widersetzt sich lächelnd ihrem Vater. Ich lächle zurück und trinke. Dann nehme ich eine Nadel, summe und fange an, die Socken zu stopfen, die überall herumliegen, nicke aber mitten in der Arbeit ein und schlafe wie ein Stein.
Die ganze Zeit, als Mutter beim Arzt war, hast du dich gefreut, sie wieder zu Hause zu haben. Die schöne Mutter. Alles ist so trostlos ohne sie. Du hast dich bemüht, fleißig zu sein. Hattest es ja auch versprochen, hast die Kühe gemolken, auf die Kinder aufgepasst und die Socken gestopft, doch Bergþóra wollte immer, dass du noch mehr tust, also hast du dich einfach nicht mehr so beeilt.
«Katrín, willst du nicht abwaschen? Katrín, wo bist du, Mädchen? Trödelst du schon wieder?»
Stefán und Ingi haben auch geholfen, doch den beiden hat sie nicht annähernd so viel aufgetragen. Und mit der Prinzessin, die immer nur tut, was sie selbst will, ist sie nicht zurechtgekommen. Wenn du mal heiratest, möchtest du nicht so viele Kinder haben. Wenn du überhaupt heiratest.
Mutter singt nicht mehr. Sie, die bei der Arbeit immer gesungen hat. Vater sagt, dass sie sich vom Tod ihres Papas erholen müsse. Wieso musste er auch ausgerechnet jetzt sterben, da es Mutter gerade ein bisschen besser ging? Du weißt, dass man auf Tote nicht böse sein soll, aber du bist es trotzdem. Großvater hätte wirklich noch warten können.
Im Spätsommer werden Jón und Þorgerður auf Nachbarhöfe geschickt. Jón ist umtriebig und tüchtig, seine Schwester hingegen klein und kränklich. Meine Kinder sollen auf unterschiedlichen Höfen zu guten Leuten in Pflege, und ich muss mich ausruhen und gesund werden. Die großen Kinder und Vigfús wollen sich um den Hof kümmern.
Ich hätte gerne mitentschieden, doch Vigfús teilte mir erst kurz bevor sie gingen mit, dass es so sein würde. Obwohl ich es kaum schaffe, den ganzen Tag auf sie zu achten, sollte ich etwas zu sagen haben. Trotzdem versuche ich gar nicht erst, zu protestieren. Blicke nur stumpf vor mich hin.
Als Vigfús mit den Kindern geht, torkle ich hinunter und umarme sie. Jón sträubt sich, Þorgerður nicht. Sie klammert sich an meinen Hals. Dann nimmt Vigfús sie mir vorsichtig ab, setzt sich aufs Pferd, und ich schaue ihnen hinterher, als sie wegreiten. Stütze mich am Türrahmen ab. Ringe nach Luft.
Da fällt mein Blick auf die Orgel. Habe sie lange nicht angerührt. Öffne sie und wische den Staub weg. Streiche über die Tasten. Dann beginne ich zu spielen. Erst suchend, dann energisch.
Katrín gießt Kaffee auf und lächelt. Ich versuche, zurückzulächeln. Trete kräftiger aufs Pedal. Muss meine Kinder wiederbekommen. Spiele, als ob unser Glück auf dem Spiel stünde.
Als Vigfús nach Hause kommt, spiele ich immer noch. Er sieht mich erstaunt an und fragt, ob ich mich nicht anziehen wolle. Es ist, als würde mir ein nasser Lappen ins Gesicht klatschen. Wieso zum Teufel ist er nach Hause gekommen? Warum muss er immer alles kaputt machen? Ich stehe auf, würde ihn am liebsten anschreien, halte mich aber zurück. Gehe nach oben und verkrieche mich unter der Bettdecke.
Vigfús besucht Jón und Þorgerður in regelmäßigen Abständen und erzählt uns von ihnen. Sagt, dass es ihnen gut gehe und sie schon gewachsen seien. Ich versuche, sie vor mir zu sehen. Das klappt unterschiedlich gut. Manchmal schrecke ich mitten in der Nacht eiskalt vor Furcht auf. Kann nicht schlafen. Höre die Kinder weinen. Vielleicht ist jemand böse zu ihnen, lässt seine Wut an ihnen aus. Lässt sie spüren, dass ihre Mutter geisteskrank ist.
Eines Tages, als ich in bester Form bin, kämme ich mich und ziehe mich an. Vigfús arbeitet irgendwo anders, und die Mädchen sammeln Beeren. Ich gehe nach draußen und sehe weder Stefán noch Ingi, vielleicht sind auch sie beim Beerensammeln. Das Wetter ist gut, und unsere Gipfel liegen frei im Sonnenschein. Jetzt endlich gewöhne ich mich an sie. Besonders an den im Osten. Er ist niedriger und nicht ganz so mächtig wie der andere. Wenn ich nichts anderes vorhätte, würde ich heute hinauf zum Stein laufen. Werfe einen Blick in den Schuppen – mein Sattel ist immer noch versteckt.
Wo Vigfús ihn wohl hingetan hat?, frage ich mich und grinse. Spielt keine Rolle, hätte ohnehin keine Kraft, ein Pferd zu satteln. Laufe die Wiese hinunter. Ich habe ein Stück Zucker in der Hand, das ich Blakkur gebe. Dann tätschle ich ihn, lege ihm die Trense an und führe ihn zu einem grasigen Erdhuckel, stelle mich darauf und schwinge mich auf den Pferderücken. Lächle vor mich hin. Ich kann immer noch tun, was mir gefällt.
Die Hausherrin Guðbjörg empfängt mich an der Tür. Ich frage, wie es Þorgerður gehe, sie scheint erstaunt, mich zu sehen, antwortet aber nicht. Mustert mich und sieht natürlich trotz der hochgesteckten Haare und des dänischen Kleids, wie verschwitzt ich bin. Einige Strähnen haben sich gelöst, und meine Wangen glühen nach dem Ritt.
Die Hausherrin sagt, dass das Mädchen schlafe, doch ich möchte sie sehen. Sie füllt die gesamte Türöffnung aus und lässt mich nicht vorbei. Sie strahlt Abneigung aus. Guðbjörg ist jünger als ich, hat X-Beine und sieht liederlich aus. Ich bemühe mich, die Fassung zu bewahren, und sage, dass ich warten würde, bis das Kind aufwache, doch sie bittet mich nicht herein. Blakkur grast auf der Wiese am Hof. Ich schaue mich um, setze mich schließlich auf den Pferdestein, zum Warten entschlossen. Guðbjörg schließt sorgfältig die Haustür.
Ich sitze lange. Höre ein Weinen, das ich kenne. Drücke die Klinke und merke, dass die Tür abgeschlossen ist. Klopfe an und rufe nach Þorgerður. Keine Antwort, schlage, so fest ich kann. Schreie! Setze mich schließlich wieder hin und warte weiter.
Es beginnt zu regnen und zu winden. Ich wickle das Schultertuch fester um mich. Der Gedanke, mein Mädchen so nah zu wissen, lässt mich von außen gegen die Hauswand schlagen. Þorgerður erkennt meine Stimme und ruft nach mir. Doch die Eingangstür ist nach wie vor verschlossen.
Blind vor Tränen rufe ich Blakkur, steige mit wackligen Füßen auf den Pferdestein und gelange auf seinen Rücken. Reite langsam los.
«Verrückte!», höre ich hinter mir herrufen. Wieder und wieder. Mehr als eine Stimme. Drehe mich nicht um. Treibe bloß Blakkur an, um den Rufen so schnell wie möglich zu entkommen.
Vigfús ist verärgert. Ingi will die Kinder auf dem Hof verprügeln, dem Hahn den Hals umdrehen und das Kalb in der Jaucherinne ertränken. Er sitzt bei mir am Bettrand und schlägt die geballten Fäuste gegeneinander. Ich bitte ihn, nichts Dergleichen zu tun. Dann bestünde die Gefahr, dass jemand böse zu Þorgerður werde. Doch Ingi hört nicht zu. Wenn jemand die Wut an seiner Schwester auslasse, werde er auch noch die Kuh töten. Ich kann nicht anders, als im Stillen zu schmunzeln. Es tut gut, über Ingi meine eigene Wut loszuwerden. Jetzt glänzen seine roten Locken in der Herbstsonne, und das schmutzige Gesicht ist voller Sommersprossen.
Wieder und wieder sage ich Vigfús, dass ich die Kinder zu Hause haben möchte. Und zwar sofort. Þorgerður soll keine Stunde länger auf diesem Hof bleiben. Er arbeitet immer noch im Osten der Gegend. Sagt, dass er täglich bei dem Mädchen vorbeischaue und es ihm nicht schlecht gehe.
Die Wut kocht in mir. Wieso zum Teufel hört er nie auf das, was ich sage? Ich bin immer noch die Mutter seiner Kinder. Ist es etwa Guðbjörg, die ihn anzieht? Kein Wunder, dass er sie täglich besucht! Armseliger Kerl – ist mit einer Verrückten verheiratet und tröstet sich mit einer x-beinigen Schlampe.
Wenn ich wütend bin, geht es mir besser, dann kommen mir nicht so schnell die Tränen. Vigfús bemüht sich nach Kräften, mich aus dem Bett zu kriegen, und er tut, als wäre nichts geschehen, doch ich schaue einfach durch ihn hindurch. Und lache. Dann wird er unsicher. Weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll. Wieso sollte er auch alles allein entscheiden?
Der charmante Mann, den die ganze Gegend bewundert, hört nicht auf seine Frau. Jetzt höre ich ihn auf der Treppe. Trotz der Krankheit habe ich noch eine schöne Stimme und halte die Töne.
Über des Meeres Saale
kaum Tageslicht noch scheint.
Es dunkelt in jedem Tale,
ein’ Ros’ Tautränen weint.
Ich sitz’ und schicke einsam
die Trauer fort, in sanftem Wind,
der sacht mich weht zum Ozean,
sehnsüchtig wie ein Kind.
Welle, liebe Welle,
dein Brausen im Ohr so zart,
Welle, leichte Welle,
mein einzig’ Kamerad.
Vigfús dreht um, doch ich singe das Lied wieder und wieder, Sopran und Alt. Es ist ein so wunderschönes Lied.
Guðbjörg vom Básar-Hof ließ gestern nach Vater schicken. Sie sagte, dass sie nicht riskieren wolle, Þorgerður noch länger bei sich im Haus zu haben, weil ihre Kinder sich so vor Mutter fürchten würden. Idioten! Mutter, die zu allen Kindern lieb ist! Guðbjörg sagte, dass sie nicht vergessen könne, wie sie den halben Tag auf ihrem Hof gesessen und sie nicht mehr hinausgelassen habe. Sie sei zu Tode geängstigt gewesen, so allein und schutzlos mit den Kindern. Was hat sie? Mutter wollte bloß Þorgerður sehen.
Sie bat Vater um Entschuldigung, sagte, dass er ein Ehrenmann sei, es aber trotzdem so sein müsse.
Dann kam Þorgerður nach Hause, kroch gleich zu Mutter ins Bett und weicht seitdem nicht mehr von ihrer Seite. Jetzt müssen wir nur noch Jón zurückholen! Anna will versuchen, Vater dazu zu bewegen, ihn gemeinsam mit ihr abzuholen. Sie kann ihn am besten bequatschen. Neckt sich gerne mit ihm.
Es geht mir gleich besser, als Þorgerður zurück ist. Ich stehe rasch auf und kümmere mich mit Katrín um den Haushalt. Sie ist so fleißig. Ich erlaube ihr, abends an meiner Maschine zu nähen, und zeige ihr, wie das geht. Wir beide genießen es, doch Vigfús meckert darüber, dass wir so trödeln. Regt sich darüber auf, dass ich nicht ins Bett komme. Meist war doch das Problem, dass ich nicht aus dem Bett kam!
Ich rede immer wieder von Jón, und eines Tages steht er in der Tür, mit Vigfús, der bis zu beiden Ohren lächelt. Der Junge ist schon wieder gewachsen. Er kommt zu mir, und ich spüre seine kräftigen Händchen an meinem Hals. Es durchströmt mich warm. Die Hände meines Papas.
Nachdem Þorgerður und Jón zurück sind, bleiben wir ohne Magd, und alles läuft gut. Katrín und Anna helfen fleißig im Haus. Stefán und Ingi packen draußen tüchtig mit an. Vigfús macht hier und dort Tischlerarbeiten, ist gefragt wie eh und je.
Immer noch werde ich gebeten, zu nähen und zu stricken, worüber ich mich freue. Dachte schon, dass man mich vergessen oder abgeschrieben hätte, doch es stehen zwei Hochzeiten vor der Tür, und ich muss für beide nähen.
Jetzt ist es wichtig, dass ich meine Sache gut mache. Katrín und Anna verfolgen alles gespannt, besonders Katrín. Ich will, dass sie auf die Mädchenschule gehen. Obwohl ich den Gedanken, sie wegzuschicken, nicht zu Ende denken mag. Was wird dann aus unserem Zuhause? Und aus mir? Eiskaltes Magdgrauen packt mich. Nein – wenn es so weit ist, wird es mir besser gehen. Habe ich das Schlimmste nicht schon hinter mir?
Die Nächte sind am produktivsten, ich kann nicht aufhören zu nähen, doch Vigfús bittet mich, ins Bett zu kommen. Er weiß, dass es nichts bringt, mit mir zu schimpfen. Wenn er lieb ist, bin ich nachgiebig. Doch ich kann nicht einschlafen, liege neben ihm und zähle in Gedanken auf, was noch alles zu tun ist.
Muss die Näharbeiten fertig haben, bevor die Schlachtsaison beginnt. Und dann ist auch noch Þorgerður ständig krank, plagt sich mit Husten herum und jammert. Ich weiß einfach nicht, was mit dem Mädchen los ist. Hoffentlich steckt sich Jón nicht bei ihr an. Er hat sich gerade von Mumps erholt.
Merke, dass ich schneller außer Atem gerate. Dass meine Hände zittern. Wenn ich doch bloß schlafen könnte … Mir fehlen die Pferde! Die Männer sind mit den Gäulen beim Schafsabtrieb, und ganz gleich, was es ist – alles muss ich zu Fuß machen. Hat Papa mir nicht ein Pferd geschenkt? Doch, ganz sicher. Was ist daraus geworden?
Sehe in der Dunkelheit die Hand vor Augen nicht, hätte mich wärmer anziehen sollen. Oder auf den Tag warten. Da – jetzt höre ich das Meer rauschen. Laufe blind darauf zu. Sobald es hell wird, werde ich den richtigen Weg einschlagen. Eine Wahnsinnskälte ist das. Und dunkel. Kein einziger verdammter Stern zu sehen. Bei Mutter bekomme ich Kaffee. Wärme mich auf.
Dengang jeg drog af sted,
dengang jeg drog af sted,
min pige ville med,
ja, min pige ville med.
Det kan du ej, min ven,
jeg går i krigen hen …
Damals, als ich fortging,
damals, als ich fortging,
da wollt’ mein Mädchen mit,
ja, da wollt’ mein Mädchen mit.
Das kannst du nicht, mein Lieb’,
ich zieh’ doch in den Krieg …
Du findest sie draußen am Sander. Nass und kalt. Sie kann sich nicht auf den Beinen halten. Schlottert. Du setzt dich zu ihr, schlingst die Arme um sie und versuchst, sie zu wärmen.
«Wo willst du hin, Mutter?»
Sie ist dumpf und antwortet nicht. Du ziehst ihr alles an, was du entbehren kannst, versuchst, sie aufzurichten, doch sie hält sich nicht auf den Beinen. Und du kannst sie nicht tragen.
Du packst sie so warm ein, wie es geht. Sagst, dass du Hilfe holen willst. Doch sie hält dich ganz fest, will nicht, dass du gehst.
Du reißt dich trotzdem von ihr los und nimmst die Beine in die Hand. Rennst zum nächsten Hof, läufst so schnell, dass es in deinem Mund nach Blut schmeckt. Es hat zu schneien und stürmen begonnen, und Mutter muss sofort nach Hause.