MITTWOCH, 23. DEZEMBER
1
Lena hob den Plastikbecher und probierte den Gløgg. Er schmeckte nach Schulentlassungsfeier: eine lauwarme Gewürzmischung, an deren Oberfläche ein paar gehackte Mandeln und Rosinen schwammen. Vor Weihnachten gibt es überall Gløgg. In Kindergärten, Schulen, bei der Arbeit, in Geschäften. Man kann sich in Oslos Einkaufsstraßen kaum umdrehen, ohne dass jemand versucht, einem dieses lauwarme, süße Zeugs anzudrehen. Klar bin ich jetzt ziemlich negativ, dachte sie. Aber irgendwas an den Mandeln verursachte ihr einen trockenen Hals. Vielleicht war sie einfach nur allergisch?
Der junge Typ mit dem Frank-Sinatra-Hut und der Piratenhose fand die Stille offensichtlich quälend. Er saß vornübergebeugt da und holte tief Luft, als suche er verzweifelt nach einem Thema. Er wirkte etwas zu zart, um ein Hospiz für obdachlose Junkies zu leiten. Aber Lena kannte ihn nicht. Wahrscheinlich machte er seinen Job sehr gut.
Lena schlürfte noch etwas von dem süßen Trunk und lehnte dankend ab, als der junge Mann sich gerade hinsetzte und sie bat, sich doch bitte an den Pfefferkuchen zu bedienen.
Der Geschmack gekaufter Pfefferkuchen erinnerte auch an Schulabschlussfeiern. Theaterstücke einstudieren, sich in einer Rolle deplatziert fühlen, ein selbst genähtes Kostüm tragen, das einem nicht passt, blöde Sätze herunterleiern, in dem Bewusstsein, dass jemand, den man liebt, loyal im Dunkel des Festsaales sitzt. Das waren Anforderungen an die Familienkonvention. Komm zu Schulabschlussfeiern, trinke lauwarmen Gløgg und mache ein Foto von unseren Hoffnungsträgern, die gerade Josef oder Maria oder den Engel Gabriel darstellen.
Lena bekam nie die Rolle der Maria oder des Engels. Rotes Haar und Sommersprossen waren eine schlechte Voraussetzung für die Rollenbesetzung. Nicht einmal einen der drei Könige aus dem Morgenland konnte sie vorweisen. Sie bekam gerne die Rolle von Schafhirte 1 oder Schafhirte 2. Sie war der Wirtshausbesitzer gewesen, der Maria und Josef die Herberge verwehrte. Meistens stand sie mit Pfeifenputzer-Heiligenschein auf dem Kopf in der Herde der Evangelisten und sang Ihr Kinderlein kommet.
Wenn sie ihre Mutter fragte, konnte die sich an all das nicht erinnern. In der Regel war Lenas Vater derjenige, der gekommen war und das Foto gemacht hatte.
War das das Geheimnis hinter dem Unbehagen? Dem Verlust? Die Tatsache, dass sie keine Erinnerungen mehr mit ihm teilen konnte? Sie schob den Gedanken beiseite.
Eines stand allerdings fest: Es war mal wieder der Tag vor Weihnachten. Sie hatte die meisten Weihnachtsgeschenke gekauft, aber noch nichts für ihre Mutter.
Wenn sie das am Nachmittag schaffte, würde sie gleich mit dem Weihnachtsbaum bei Mama vorbeifahren, damit die ihn rechtzeitig vor dem großen Tag schmücken konnte.
Morgen würden sie von früh bis spät zusammen sein. Gemeinsam zum Friedhof gehen und eine Kerze auf Papas Grab stellen. Danach würden sie in Mamas Wohnung gehen und die Hammelrippchen fertig machen. Die hatte sie Gott sie Dank schon gekauft, geräucherte und gesalzene Hammelrippchen von Schafen, die garantiert frei in den Bergen gegrast hatten. Jetzt musste sie das Fleisch nur noch am Abend in Wasser legen. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen.
Lena sah auf die Uhr. Außerdem durfte sie nicht vergessen, Steckrüben für das Steckrübenmus zu kaufen. Das würde sie auch morgen noch schaffen. Aber sie mussten geschält und geschnitten werden, bevor die immer gleichen Sängerknaben morgen mit ihrem Gesang Weihnachten einläuteten – sonst käme Mama in Stress.
Auf der Fensterbank stand ein Radio. Modern, mit einer digitalen Uhr ausgestattet. Lena stellte fest, dass es noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags war. Sie hatte also immer noch viel Zeit. Die Geschäfte hatten am Tag vor Heiligabend bis spät abends geöffnet.
Der junge Mann mit dem Frank-Sinatra-Hut hielt die Stille nun wirklich nicht mehr aus und schaltete das Radio ein.
Glockenläuten. Erst ertönten Streicher, dann erfüllte Jussi Björlings samtene Stimme den Raum. Er sang von der heiligen Nacht. Da gab es kein Halten mehr.
Der Junge erschrak so sehr, dass er fast vom Stuhl fiel. »Was ist los?«
Lena antwortete nicht. Sie war nicht in der Lage zu sprechen.
»Tut Ihnen was weh?«
Lena schüttelte den Kopf. Es stürzte aus ihr heraus. Tränen, Rotz. Sie stand auf, ging zum Radio und schaltete es aus. Die Stirn an die Wand gedrückt, stand sie da und schluchzte.
Sie hörte den jungen Mann unruhig auf und ab gehen. Drehte sich um. Er sah blass und verstört aus.
Lena richtete sich auf. »Haben Sie eine Serviette oder so was?«, presste sie hervor.
»Ja, klar.« Der Junge drehte sich schnell um die eigene Achse und verschwand aus dem kleinen Büro. Kam wieder zurück – mit einer Rolle Küchenpapier in der Hand.
Lena nahm sie entgegen. Wischte sich die Tränen aus den Augen und putzte sich die Nase. Sie hatte es noch nie ertragen können, wenn Jussi Björling Papas Lied sang. Das war einfach so. Aber sie war niemandem eine Erklärung schuldig.
Auch der junge Mann setzte sich und sah sie unsicher an. »Hab auch schon von anderen gehört, die einfach so anfangen zu weinen. Ganz ohne Grund irgendwie. Muss schrecklich sein.«
Lena sagte nichts. Saß nur da und schniefte. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Ihre Geste inspirierte den jungen Mann, das Thema zu wechseln.
»Die Zeit vergeht«, sagte er.
Wieder erfüllte Stille den Raum.
»Ja ja«, sagte der Junge. Er wirkte plötzlich nervös und schielte unsicher zu ihr herüber. Wusste nicht wohin mit seinen Händen. Er nahm seinen Hut ab und spielte damit.
Lena kam langsam wieder zu sich. »Cooler Hut«, sagte sie und wischte sich noch einmal mit dem Papier unter den Augen entlang. »Wo haben Sie den gekauft?«
»In Kiel, im Einkaufszentrum, Karstadt.«
Lena nickte. Diese Sängerknaben, dachte sie, die konnte sie ertragen. Stille Nacht, Oh du fröhliche, sogar das Lied vom Weihnachtsstern, der über dem Haus der Hebamme leuchtete. Aber nicht O Holy Night.
Das hatte er gesungen, in der Kirche, mit dem ganzen Chor hinter sich. Der Gedanke und die Erinnerung riefen einen weiteren Schluchzer hervor. Tränen drängten aus ihren Augen.
Der Junge mit dem Hut zuckte nervös.
Sie konnte auch den nächsten Schluchzer nicht unterdrücken. Dann holte sie tief Atem.
Denk an etwas anderes! Denk an ein Thema ohne Gefühle. Denk an die Ereignisse in Steffens Wohnung. Das Gefühl, als du die Armbanduhr umgebunden hast und der Fußboden dir entgegenkam.
Sie lehnte sich zurück und betrachtete den Stuhl, auf dem der Junge saß. Über dem Stuhlrücken hing eine Umhängetasche.
Lenas Mutter mochte Taschen mit vielen Fächern. Ich kaufe ihr eine Tasche, dachte Lena, schloss die Augen und atmete auf, erleichtert, dass sie endlich eine Geschenkidee für ihre Mutter hatte.
Da ertönte laut und schrill eine Klingel über ihren Köpfen.
Lena und der Junge mit dem Frank-Sinatra-Hut sahen sich an.
»Ein Klient?«, fragte Lena.
Der Junge sah zu der Klingel hinauf, die hoch oben an der Wand hing. »Etwas früh dafür«, sagte er.
Es klingelte erneut.
»Glaube nicht, dass das ein Klient ist. Klingt etwas zu energisch.«
Der Junge stand auf und ging in den Flur. Lena trank ihren Plastikbecher mit dem lauwarmen Gløgg aus und schnitt eine Grimasse.
Kurz darauf kam der Junge wieder zurück. Er lächelte über das ganze Gesicht.
»Was war los?«, fragte Lena.
»Der Typ hat nach Dag Enoksen gefragt.«
Lena stand auf, ging zum Fenster und zog die Gardine ein wenig zur Seite. Sie schaute hinaus. »Und Sie haben gesagt, was wir abgesprochen hatten?«
»Ja.«
»Danke«, sagte Lena und holte ihr Handy aus der Tasche. In der Tür zögerte sie, drehte sich noch einmal um.
»Also dann, frohe Weihnachten«, sagte sie.
»Ihnen auch frohe Weihnachten«, sagte der Junge.
Lena verließ hastig das Haus.
In der Waldemar Thranes Gate war niemand zu sehen, nur die roten Rücklichter eines Wagens, der zum St. Hanshaugen hinauffuhr.
Ein paar Sekunden lang schaute sie dem Wagen nach, dann drehte sie sich um und lief den Bürgersteig entlang. Jetzt ging es los. Sie hatten den Köder ausgeworfen, und der Fisch hatte angebissen. Sie rief Gunnarstranda an.
2
Gunnarstranda fuhr mit hohem Tempo aus der Stadt hinaus, die E6 in Richtung Norden entlang. Er dankte Lena und wünschte ihr viel Glück.
»Wo bist du?«, fragte Lena, deutlich überrascht.
»Im Auto«, sagte Gunnarstranda. »Ich rufe dich später wieder an.«
Er fuhr an Skedsmovollen vorbei und nahm die nächste Ausfahrt in Richtung Zentrum. Nach ein paar Kilometern verließ er die Hauptstraße und fuhr auf einer schmalen, aber gut ausgebauten Straße, die in ein kleines Dorf mit flachen Fertighäusern führte. Dann wurde die Straße noch schmaler und der Abstand zwischen den Häusern größer. Kurz darauf kam er an einem älteren Holzhaus vorbei, vor dessen verfallener Garage ein kleiner roter Traktor mit vorgebautem Schneepflug stand. Gunnarstranda war schon oft dort gewesen und kannte den Weg. Sein Ziel war das nächste Haus auf der linken Straßenseite. Das Haus leuchtete, wie jedes Jahr zu Weihnachten, wie eine amerikanische Cola-Reklame. Massen von roten, grünen und gelben Lichterketten schmückten den Dachfirst und den Hauseingang.
Gunnarstranda bog auf den Hof ein.
Dort wendete er und stellte den Wagen an der Seite ab. Er schaltete den Motor aus. Die Scheinwerfer erloschen. Durch die breiten Fenster konnte er ins Haus hineinsehen. Drinnen liefen die Vorbereitungen für eine Feier. Ein Teenager ging mit einer Streichholzschachtel herum und zündete Kerzen an. Das Hölzchen war bis gefährlich nah an seine Fingerspitzen heruntergebrannt. Die nächste Kerze war eine zu viel. Der Junge verbrannte sich, ließ das Streichholz los und pustete hektisch auf seine Fingerspitzen, bevor er das nächste anzündete.
Gunnarstranda nahm das Handy, das auf dem Beifahrersitz neben ihm lag. Er rief eine eingespeicherte Nummer auf. Ingrid Kobros private Handynummer.
Bevor er die Nummer wählte, warf er einen weiteren Blick auf das Haus. Durch die Fenster konnte er jetzt Ingrid Kobro sehen, die aus der Küche kam und etwas zu einem anderen Teenager sagte.
Er wandte sich vom Fenster ab.
Gleich darauf hörte er ihre Stimme an seinem Ohr.
»Ich stehe draußen«, sagte Gunnarstranda. »Ich kann sehen, dass du nicht allein bist. Deshalb ist es viel einfacher, wenn du rauskommst, als wenn ich reinkomme.«
»Dann siehst du sicher auch, dass ich ziemlich beschäftigt bin?«, fragte Ingrid Kobro zögernd.
»Wir sind gefährlich nah an einer Verhaftung«, sagte Gunnarstranda.
»Gib mir nur ein paar Minuten«, sagte Ingrid Kobro.
3
Die Weihnachtsbeleuchtung tauchte die Straße in ein gelbes, fast orangefarbenes Licht. Ein Weihnachtsmann mit einem Sack auf dem Rücken kam Lena entgegen. Sie ging an ihm vorbei, blieb stehen und spähte um sich.
Er war verschwunden. In welche Richtung konnte er gegangen sein?
Egal, es bestand kein Zweifel, wohin er unterwegs war.
Sie ging schnell zum Kiellands Plass. Wusste, dass sie Verstärkung brauchte. Sie hatte ein schlechtes Gefühl.
An einer Kreuzung wartete eine Handvoll Menschen auf Grün. Eine Familie. Die Mutter in schwarzer Burka. Der Vater bugsierte einen Kinderwagen auf den schneebedeckten Gehweg. Ein kleines Mädchen hielt die Mutter an der Hand und sah zu Lena auf, die nach wie vor nach dem Mann in der Lotsenjacke Ausschau hielt. Der Verkehr wurde dichter, Busse und Taxis fuhren vorbei.
Sie rief Emil Yttergjerde an.
»Hier passiert nichts«, sagte Emil. »Ich frier mir nur den Arsch ab.«
»Er trägt eine marineblaue Lotsenjacke«, sagte Lena. »Er ist unterwegs, garantiert, aber ich hab ihn aus den Augen verloren.«
Grün. Lena überquerte die Straße.
»Wo bist du?«
Lena rief laut in den Hörer, um den Verkehrslärm zu übertönen. »Kiellands Plass, bin gerade am Ila-Hochhaus vorbei.«
»Dann müsste er bald auftauchen«, sagte Emil.
»Sag Frank Bescheid«, rief Lena und zögerte.
»Hab ich schon gemacht.«
»Sag, dass …«
»Was soll ich sagen?«
»Sag, es ist völlig okay, wenn er aussteigen will.«
Yttergjerdes Lachen ertrank fast im Dröhnen eines Busses. »Ist das dein Ernst?«
»Ja, das ist mein Ernst. Gefällt mir nicht, dass der Kerl verschwunden ist. Das ist ein schlechtes Zeichen.«
Sie wollte nicht mit Emil diskutieren, unterbrach die Verbindung und ging mit schnellen Schritten weiter den Maridalsveien hinunter.
Der Gedanke, dass Frølich jetzt ganz allein dort saß, ließ sie noch schneller gehen. Es hatte alles so einfach ausgesehen. Nichts konnte schiefgehen. Aber ehe man sich’s versah, lief plötzlich alles anders.
Sie joggte weiter. Das war schwierig im Neuschnee. Die Räummannschaften sparten natürlich die Gehwege aus. Lena warf einen Blick über ihre Schulter. Die Autos hinter ihr hielten vor der roten Ampel. Sie sprang über den Schneewall und lief über die Fahrbahn. Während sie lief, kreisten ihre Gedanken um das, was wenige Minuten zuvor geschehen war:
Durch das Fenster hatte sie den Rücken des Mannes gesehen. Keine Minute später stand sie auf der Straße, und es war niemand mehr zu sehen. Warum?
Ein Auto! Natürlich!
Sie lief noch schneller. Eine Hupe ertönte. Sie sprang wieder auf den Gehweg. Es war ein Taxi. Sie winkte. Das Taxi hielt. Sie warf sich auf den Rücksitz. »Oslo S«, sagte sie atemlos. »Zum Parkhaus.«
4
»Ja«, sagte Frølich tonlos. »Ich werde gut aufpassen, wenn ich ein Auto sehe.« Er unterbrach die Verbindung und sah sich um. Autos überall.
Er fingerte an seinem Handy herum. Aus reiner Langeweile begann er ein altes Spiel zu spielen. Mittlerweile saß er schon einige Stunden auf einem Sprossenstuhl in diesem Parkhaus. Die Luft war schlecht, und das einzige Geräusch, das durch das Rauschen des Ventilators drang, war das Rasseln rollender Reifen auf Beton, wenn ein Auto die Rampe am anderen Ende der Halle hinunterrollte. Jedes Mal falscher Alarm.
Er hoffte, dass das Spiel auf dem Handy ihm die Zeit vertreiben würde. Eine komische Figur lief hin und her, während Bomben auf sie herabfielen. Frank Frølich hielt das Handy mit beiden Händen und drückte mit den Daumen auf die Pfeiltasten. Er war ganz offensichtlich aus der Übung und hatte das Spiel kaum angefangen, da zermalmte schon eine hinterlistige Bombe das arme Geschöpf, und er musste wieder von vorn beginnen. Es war nicht besonders kalt, aber er fror trotzdem an den Fingern und sein Hintern fühlte sich langsam an, als sei er aus Holz. Wenn man längere Zeit ganz still dasaß, schlich sich der Frost irgendwann unter die Haut. Frank Frølich setzte sich auf seinem Küchenstuhl bequemer zurecht und spähte durch das riesige, fast leere Parkhaus. Es standen fast keine Wagen mehr in der Halle.
Er begann das Spiel von neuem und schaffte es fast eine ganze Minute lang. Langsam bekam er es wieder in den Griff. Unglaublich, wie schnell man süchtig wird, dachte er, hob den Kopf und lauschte. War da ein Geräusch?
Nein. Es war eine Bombe, die den armen Kerl auf dem Display umbrachte.
Er schauderte und wollte das Spiel erneut starten, als das Geräusch eines Wagens, der in der Etage über ihm Gas gab, die Stille durchbrach. Kunde im Anmarsch. Sicher der fünfzigste in der letzten halben Stunde.
Frølich steckte das Handy in die Tasche. Kurz darauf leuchtete es gelb von der Rampe, und das Geräusch knisternder Spikes übertönte den Leerlauf des Motors. Frølich sah auf. Wurde vom Scheinwerferlicht geblendet, das ihm entgegenkam.
Achtung!
Der Wagen fuhr an ihm vorbei und parkte weit hinten.
Frank Frølich hörte, dass der Wagen weiterhin im Leerlauf lief. Er wartete darauf, dass der Fahrer den Motor ausschaltete.
Warum tat er das nicht? Merkte er nicht, dass die Abgase die Luft verpesteten?
In dem Moment, als er dies dachte, reagierte sein Autopilot. Erst jetzt war er auf der Hut. Sprang instinktiv auf. Trat zwei Schritte zurück und ahnte den Schatten, der sich auf ihn stürzte, eher, als dass er ihn sah. Er drehte sich um neunzig Grad herum und rettete damit sein Leben. Das Messer, das auf seinen Rücken gerichtet war, durchstach seine Jacke und riss die ganze Seite auf.
Frølich griff den Mann am Arm, drehte ihn herum und warf ihn zu Boden. Bekam einen neuen Stich ab. Diesmal in den Oberschenkel. Es schrie auf, als das Messer in sein Fleisch drang. Der Mann entwand sich, als Frølich fiel.
Frølich blieb liegen und umfasste mit beiden Händen seinen Oberschenkel. Zwischen seinen Fingern pumpte Blut hervor.
Da sah er Lena heranlaufen. Hob den Kopf. Hinter Lena kam Emil Yttergjerde.
»Ich brauche jemanden, der eine Wunde verbinden kann«, stöhnte Frølich. »Sag, dass es eilt.«
Emil Yttergjerde kniete sich hin, riss sich den Schal vom Hals und band ihn fest um Frølichs Schenkel, in der Nähe der Leiste. Das gesamte Hosenbein war nass und rot, und es war unmöglich zu erkennen, ob die Blutung gestillt war.
In dem Moment ertönte das Klirren einer Gitterpforte, die ins Schloss fiel. Der Mann war auf dem Weg nach draußen!
Frølich und Emil wechselten einen Blick. »Das kriegen wir hin«, sagte Emil ohne große Überzeugungskraft.
Frølich drehte den Kopf und sah Lena auf die Gitterpforte zu sprinten.
5
Die Halle war voller Menschen, die langsam hin und her wogten. Eltern, die ihre Kinder oder sich gegenseitig an der Hand hielten, junge Frauen, die nebeneinander Kinderwagen schoben, Jugendliche, die sich vor Schaufenstern mit Handys und Kameras versammelten, Freundinnen, die zu viert nebeneinander her gingen und kicherten. Es war eine zähe, dichte Masse von Jackenrücken in verschiedensten Farben, und die Freiräume zwischen den Menschen waren fast überall mit prallen Einkaufstüten voller Weihnachtsgeschenke gefüllt. Lena zwängte sich durch die Menge, versuchte, sich auf Steffens marineblauen Jackenrücken vor ihr zu konzentrieren. Mal war er zu sehen, mal verschwand er in der Menge. Er ging ohne Mütze, und sein Haar schlug bei jedem Schritt gegen seinen Nacken. Der Versuch, den Abstand zwischen ihnen zu verringern, fühlte sich an, wie gegen eine starke Strömung zu schwimmen. Die Menschen trotteten bedächtig dahin, schoben Einkaufswagen vor sich her, blieben stehen oder standen schon, um sich zu unterhalten. Es war so voll, dass Lena schieben musste, um durchzukommen. Dafür erntete sie Knuffe und ärgerliche Worte. Ihre Gedanken waren blockiert. Sie dachte an Frølich und machte sich Vorwürfe.
Warum war sie nicht sofort ins Parkhaus gelaufen?
Warum hatte sie sich nicht sofort die Nummer des Wagens aufgeschrieben, als sie ihn das erste Mal sah? Und wo war Steffen jetzt geblieben?
Da. Er war auf dem Weg zur Rolltreppe und warf einen Blick über seine Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke.
Jetzt bewegte er sich auf die T-Bahnstation zu. Lena versuchte zu laufen. Erreichte die langen Rolltreppen. Nahm zwei Stufen auf einmal in schnellem Takt. Weiter unten schubste Steffen Leute zur Seite. Lena lief hinterher und bekam von einem ärgerlichen Mann, der sich mit einem Koffer abmühte, einen Stoß in den Rücken. Einen kurzen Moment sah sie Steffen ganz unten zwei Kinder umrunden und mit einer Frau zusammenstoßen, die ihre Einkaufstaschen verlor. Er lief in die T-Bahnstation hinein. Lena sprang über die Einkaufstaschen und folgte ihm. Sie hörte den einfahrenden Zug schon heranrauschen. Hörte die Türen aufschlagen. Sie nahm die Treppe zum Bahnsteig in drei Sprüngen. Der Zug stand da und wartete. War er in den Zug gesprungen oder nicht? Sie ging an den Wagen entlang. Spähte durch alle Fenster und jede offene Tür, an der sie vorbeikam, suchte den Bahnsteig ab. Sie sah ihn nicht. Verdammt noch mal, sie sah ihn nicht!
Das Pfeifen signalisierte, dass die Türen geschlossen wurden. Da ahnte sie nur vage eine Bewegung am Ende des Bahnsteigs. In dem Moment warf sie sich in den Zug. Die Türen knallten zu.
Der Zug fuhr los. Jetzt war es zu spät, um abzuspringen. War er im Zug oder nicht? Sie sah hinaus auf den Bahnsteig. Keine Lotsenjacke zu sehen. Aber der Zug fuhr immer schneller. Bald waren die Menschen auf dem Bahnsteig ein zusammenhängender Schatten. Dann fuhr der Zug in den Tunnel.
Sie ging langsam nach vorn. Bahnte sich einen Weg zwischen den Passagieren hindurch. Manche sahen sie an, andere sahen an die Decke, wieder andere klammerten sich an ihre Einkaufstaschen. Sie drängte sich weiter nach vorn.
Es war unmöglich, in den Wagen vor ihr zu sehen. Sie zweifelte wieder. Hatte sie ihn verloren?
Der Zug fuhr schneller. Der Wagen wackelte in den Kurven. Lena musste sich festhalten.
Dann fuhren sie in die Station Stortinget ein.
Der Zug hielt.
Die Türen öffneten sich. Lena trat auf den Bahnsteig hinaus und ging weiter nach vorn.
In der Menschenmenge, die ausstieg, war er nicht zu sehen.
Sie stellte sich vor die Tür des ersten Wagens. Einen Fuß auf dem Bahnsteig, einen im Wagen.
An einer Tür weiter vorn bewegte sich jemand.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Zehn Meter lagen zwischen ihnen. Er stand an einer Tür. Sie an einer anderen.
Sie hielten Blickkontakt. Er hob eine Hand zum Gruß.
Sie stand bewegungslos und starrte ihn an.
Der Ausdruck in seinen Augen war leer und kühl. Nicht der Hauch eines Gefühls, dachte sie. Wahrscheinlich waren da nie Gefühle gewesen.
Einige Nachzügler kamen die Treppe heruntergelaufen und sprangen in den Zug.
Würde er aussteigen oder wieder in den Wagen springen?
Sie stand ganz still.
Die Passagiere hatten sich gesetzt.
Lena und Steffen standen immer noch und sahen sich an.
Ein scharfes Pfeifen signalisierte, dass die Türen geschlossen wurden.
Sie wartete, wartete, wartete.
Als er hinaussprang, machte sie einen Schritt nach rechts. Die Türen knallten zu. Er versuchte, sie aufzudrücken und sich wieder hineinzuzwängen. Ohne Erfolg. Der Zug setzte sich in Bewegung. Er ließ die Tür los.
Der Zug verschwand in den Tunnel.
Sie standen allein auf dem Bahnsteig und sahen sich an. Jetzt konnte sie einen fremden Ausdruck in seinem Gesicht erkennen. Er zog eine Art beschämter Grimasse. Sie begriff. Sie hatte gerade einen Moment der Hilflosigkeit beobachtet. Der ertappte Ausreißer.
Als er begann, auf sie zuzugehen, stand sie ganz still.
Bald trennte sie nur noch ein Meter.
»Ich soll von Bodil grüßen«, sagte Lena.
»Von wem?«
»Bodil Rømer, der Mutter deines besten Freundes.«
Er antwortete nicht. Aber sein Blick flackerte kurz.
»Das war ein kleiner Exkurs«, sagte sie. »Was ich meine, ist: Du bist verhaftet.«
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche und betrachtete das Display.
»Geh ruhig dran«, sagte Steffen, der die Fassung wiedererlangt zu haben schien.
Es war Rindal. Er wollte wissen, wo sie war. »Haltestelle Stortinget«, sagte sie, »T-Bahn.«
Rindal wollte wissen, ob sie alles unter Kontrolle hatte.
»Ja«, sagte sie und unterbrach die Verbindung.
»Und was jetzt?«, fragte Steffen, als sie das Handy wieder in die Tasche steckte.
Lena blieb die Antwort schuldig. Er hatte gehört, was sie gesagt hatte. Wenn er so tun wollte, als sei nichts geschehen, war das seine Sache. Sie nickte mit dem Kopf zur Treppe. »Gehen wir?«
Er blieb ein paar Sekunden stehen und sah sie an, als frage er sich, ob sie es ernst meinte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und setzte sich in Bewegung.
Sie gingen langsam Seite an Seite die Treppe hinauf in die große Halle. Hier waren nur wenige Menschen. Steffen steuerte auf die Rolltreppe zu.
Lena stellte sich neben ihn, auf dieselbe Stufe.
»Meine Güte«, seufzte er. »Jetzt übertreibst du aber ein bisschen, findest du nicht?«
Lena antwortete nicht.
Ein dunkelhaariges Mädchen im Teenageralter kam langsam gleitend auf der Rolltreppe neben ihnen herunter. Das Mädchen sah erst sie und dann Steffen an. Da streckte er den Arm aus, zeigte auf sie und rief: »Guck nicht so!«
Das Mädchen zuckte zusammen und lief mit gesenktem Blick weiter.
Lena fragte sich, wie sie diesen Ausbruch deuten sollte. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Aber danach wirkte er wieder so ruhig, als habe es diesen Zwischenfall gar nicht gegeben.
Sie erreichten das Ende der Rolltreppe. Blieben beide stehen. Menschen, die hinter ihnen gestanden hatten, gingen an ihnen vorbei zum Ausgang.
Sie blieben allein. »Gib mir das Messer«, sagte Lena.
Er brauchte einen Moment, um zu antworten. »Und wenn ich abhaue?«, fragte er schließlich.
Sie sah ihn von der Seite an. Seine Wortwahl war kindisch. Sein Gedanke war kindisch. Sie antwortete nicht.
»Was machst du, wenn ich jetzt abhaue?«
»Dies hier ist, wie ich schon gesagt habe, eine Verhaftung. Wenn du dich der Verhaftung widersetzt, wird die Anklage erweitert.«
»Die Anklage? Welche Anklage?«
Noch ein Mensch kam gleitend die Rolltreppe herauf. Ein Angestellter der T-Bahn, in Uniform und mit einem Rucksack auf dem Rücken.
Lena wartete, bis sie wieder allein waren. »Du hast einen Menschen im Parkhaus angegriffen und verletzt«, sagte sie. »Du hast gezeigt, dass du gefährlich bist. Es wird für alle am besten sein, wenn du mir das Messer freiwillig gibst.«
Er lächelte leicht. »Komische Situation, findest du nicht?«
»Gib mir das Messer«, wiederholte sie ruhig.
»Herrgottnochmal, hör dich mal selber reden!«
»Steffen!«
»Ich habe es nicht mehr. Ich hab es weggeworfen.«
Sie sah ihm in die Augen. Sein Lächeln war eine erstarrte Grimasse, und sein Blick war kalt. Die Situation entwickelte sich in die falsche Richtung. Und jetzt war Lena sich nicht mehr sicher, was sie tun sollte. Das Denken fiel ihr schwer. Die Rolltreppen dröhnten. An der Mauer hinter Steffen hing ein Werbeplakat für Damenunterwäsche. Das Model betrachtete sie herausfordernd, mit erhobenem Kinn.
Er bewegte sich ungeduldig. »Gehen wir?«
»Du musst mir erst das Messer geben.«
Er schüttelte herablassend den Kopf. »Es war dein Vorschlag«, sagte er. »Du hast vorgeschlagen, dass wir gehen sollen.«
Was er sagte, war Blödsinn. Aber Lena schwieg. Wenn er das Messer immer noch bei sich hatte, musste er es in einem Halfter tragen. Den hat er entweder am Gürtel oder in einer Tasche. Da er jetzt beide Hände frei hatte, würde er sich mit einer Handbewegung verraten.
In dem Moment stoppten die Rolltreppen. Das Dröhnen verstummte mit einem Klick.
Die plötzliche Stille dröhnte wie ein Alarm in ihren Ohren, und sie sah in eine andere Richtung, um sich nicht zu verraten.
Aber hatte Steffen die Veränderung wahrgenommen? Sie konnte es nicht erkennen.
Jede Sekunde, die verging, ließ die Stille in Lenas Ohren lauter dröhnen. Kein Schritt, kein Rauschen eines Zuges, kein Windhauch von einem einfahrenden Zug.
Ihr Mund war trocken. Sie musste etwas sagen, um ihn abzulenken. Aber sie hatte keine Worte. Da bemerkte sie, dass Steffen etwas wahrnahm. Er hob den Kopf, lauschte und versuchte herauszufinden, was anders war. Sie trat einen Schritt zurück, um ihren Schwerpunkt zu finden. Doch ihre Bewegung wirkte wie ein Signal. Für den Bruchteil einer Sekunde fing sie seinen Blick ein. Las, was er dachte, und sah seine Bewegung, bevor er in die Hocke ging.
Er hatte das Messer im Stiefel.
Aber jetzt hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden.
Stahl blitzte auf, als er sich erhob.
Sie trat zu. Traf ihn an der Kniescheibe. Er schrie vor Schmerz und fiel um wie ein Stock. Sie warf sich nach vorn. Bekam ihn unter sich. Verschränkte seine Arme auf seinem Rücken. Er wand sich wie eine Schlange.
»Sowas trainiere ich zweimal die Woche«, zischte sie. »Lieg still!«
Er war dabei, sich umzudrehen. Da setzte sie ein Knie in sein Kreuz, machte sich schwer und riss seine beiden Unterarme hart nach oben. Er schrie wieder vor Schmerz. Sie ließ ihn schreien. Zählte langsam bis drei und ließ dann ein paar Zentimeter lockerer.
In dem Moment hörte sie laufende Schritte. »Ich hab doch gesagt, ich hab alles im Griff«, sagte Lena ärgerlich.
Sie kamen zu dritt. Polizisten, gekleidet wie Roboter, mit Visier, Weste und Helm. Alle drei mit dem Gewehr im Anschlag.
Steffen lag jetzt ganz still.
Sie entdeckte das Messer. Es lag auf dem Boden. Die Klinge war lang und breit. Es klirrte, als ein Fuß es wegtrat.
Der Fuß trug verschlissene Boots.
»Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich Lockvogelaktionen nicht mag«, sagte Gunnarstranda, zog eine Hand aus der Tasche und legte Steffen Handschellen an.
Lena ging zuerst die Treppe hoch. Ihre Beine taten weh, und sie zitterte. Puh, dachte sie. Ich hatte eine Riesenangst, aber keine Zeit, es zu bemerken.
Hinter der Polizeiabsperrung hatte sich eine neugierige Menschenmenge versammelt.
Lena und Gunnarstranda bahnten sich einen Weg durch die Zuschauer und setzten sich in den Wagen des Einsatzleiters. Vom Rücksitz aus sahen sie zu, wie ein bewaffneter Polizist einem humpelnden Steffen Gjerstad in einen Kastenwagen half, der dann mit ihm davonfuhr. Lena war übel. Ihre Hände zitterten. Sie legte sie in den Schoß, um sich nicht zu verraten.
»Und Frank«, fragte sie.
»Dem geht’s gut, den Umständen entsprechend. Wurde beim Arzt genäht. Er ist wohl auf dem Weg nach Hause.« Gunnarstranda sah auf die Uhr. »Wenn er Glück hat, dann kann er noch Dinner for One gucken. Aber so was interessiert ihn bestimmt nicht.«
6
Lena ging in den Überwachungsraum und setzte sich. Auf dem Bildschirm waren die Gesichter von Gunnarstranda und Steffen Gjerstad im Profil zu sehen. Unten rechts blinkte die digitale Zeitanzeige. Mittlerweile war es fast 23 Uhr.
»Fartein Rise und Frikk Råholt lassen Sie hochgehen«, sagte Gunnarstranda. »So ist die Lage.«
Steffen antwortete nicht.
»Fartein Rise hat ausgesagt, Sie hätten ihm gegenüber zugegeben, am Donnerstag, dem 10. Dezember, einen gefakten Drohbrief an Aud Helen Vestgård verfasst und in den Briefkasten des Parlamentsgebäudes geworfen zu haben. Frikk Råholt wiederum hat zugegeben, Ihre Dienste gekauft zu haben. Er bestellte eine Reportage, für die Sie Fotos von Vestgård, Adeler und dem Vertreter von Polisario bei einem Essen gemacht haben, sowie einen Artikel, in dem Sie später über dieses Treffen berichten sollten.«
Gunarstranda schob ein paar Papiere über den Tisch. »Sie können die Protokolle gern lesen.«
Steffen faltete seine Hände im Nacken. »Und weshalb werde ich angeklagt?«, fragte er grinsend. »Illegale Aufführung einer Studentenrevue und Paparazzitätigkeit zu Unzeiten?«
»Wir haben noch mehr«, sagte Gunnarstranda sachlich. »Fartein Rise hat ausgesagt, dass Sie ihm Geld gegeben haben, damit er Ihnen den Namen des Zeugen mitteilt, der den Mörder von Adeler erkennen konnte. Sie haben Rise erklärt, Sie wollten einen Zeitungsartikel darüber lancieren und bräuchten deshalb den Namen für ein Interview. Fartein Rise nannte Ihnen den Namen des Zeugen, Dag Enoksen. Aber Sie haben kein Interview gemacht. Stattdessen haben Sie Enoksen mit einem Messer angegriffen. Warum?«
»Glauben Sie tatsächlich, dass ich Adeler vom Kai gestoßen habe?«, fragte Steffen.
»Wir können auch gern erst über Sveinung Adeler sprechen«, sagte Gunnarstranda. »Auf Enoksen kommen wir noch zurück. Vielleicht können Sie mir sagen, wer Adeler ins Wasser gestoßen hat, da Sie ja gerade einen Augenzeugen mit einem Messer verletzt haben?«
»Ich kann Ihnen viel mehr als nur einen Namen sagen«, sagte Steffen. »Ich kann Ihnen sagen, was passiert ist. Der Mann, der Adeler ermordet hat, heißt Stian Rømer. Er ist spurlos verschwunden, und die Person, die ihn zuletzt lebend gesehen hat, ist eine Kollegin von Ihnen, Lena Stigersand.«
Lena stand auf und dachte ein paar Sekunden nach. Dann ging sie auf den Korridor hinaus, marschierte zum Verhörraum, öffnete die Tür und trat ein.
»Lena Stigersand schließt sich dem Verhör von Steffen Gerstad an«, sagte sie zum Aufnahmegerät. »Es ist jetzt 23 Uhr«, fügte sie hinzu und setzte sich.
Steffen lächelte sie an.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er.
»Ach ja?«, sagte Gunnarstranda.
»Ich lege ein Geständnis ab.«
»Nichts würde mich mehr freuen«, sagte Gunnarstranda.
»Ich gestehe, dass ich Fartein Rise für gewisse Dienste bezahlt habe, aber ich tue es unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Sie hören sich an, was ich zu sagen habe. Ich erzähle Ihnen, was mit Sveinung Adeler passiert ist, und Lena Stigersand erzählt, was mit Stian Rømer passiert ist.«
Steffen sah ihr direkt in die Augen.
Stille erfüllte den Raum, bis Gunnarstranda sich räusperte. »Je mehr Klarheit wir in Bezug auf diesen Rømer bekommen, desto besser, meinst du nicht auch, Lena?«
Lena sah ihn an. Dann wandte sie den Blick ab. »Klar.«
Steffen sah jetzt zu Gunnarstranda. »Aber ich spreche mit Ihnen allein«, sagte er.
Gunnarstranda wandte sich an Lena. »Lässt du uns einen Moment allein?«
Lena schluckte die Demütigung herunter, stand auf und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
7
Als sie die Tür hinter sich schloss, stieß sie fast mit Ingrid Kobro zusammen.
Beide blieben abrupt stehen.
Die Situation war merkwürdig. Zwei alte Freundinnen standen sich Auge in Auge gegenüber und wendeten dann beide voller Unbehagen den Blick ab. Schließlich war es Lena, die die Situation auflöste und sich wortlos an Ingrid vorbeischob. Sie ging ein paar Schritte, blieb dann aber stehen und warf einen Blick über ihre Schulter.
Ingrid Kobro stand noch an derselben Stelle und sah sie an.
»So schlimm ist es doch wohl noch nicht mit uns, oder?«, sagte Ingrid. »Wir können uns doch wohl weiterhin grüßen?«
Lena senkte den Blick. »Hei«, sagte sie tonlos.
Ingrid antwortete: »Hei, Lena.« Es sah aus, als suche sie nach Worten.
»Ist etwas?«, fragte Lena.
Jetzt war es an Ingrid, den Blick zu senken. »Ich höre, du hast eine Verhaftung vorgenommen?«
Lena nickte. »Entschuldige, wenn ich so direkt bin, aber morgen ist Heiligabend, und es ist fast Mitternacht …«
Ingrid Kobro nickte.
»Was machst du denn eigentlich noch hier?«
Ingrid Kobro legte ihr Gesicht in nachdenkliche Falten.
»Ist es wegen dieser Verhaftung?«
Ingrid sah sie nur an.
Lena hatte keine Lust, auf eine Antwort zu warten. Sie drehte sich um und ging wieder in den Überwachungsraum.
Auf dem Bildschirm fragte Gunnarstranda: »Wer ist Stian Rømer?«
Steffens Gesicht antwortete: »Ein Kumpel von mir. Wir sind in derselben Straße groß geworden.«
Lena setzte sich.
Kurz darauf machte sich jemand an der Tür zu schaffen. Auf der Schwelle stand Ingrid Kobro und balancierte eine Tasse Kaffee in jeder Hand. »Hilfst du mir?«
Lena erhob sich und hielt ihr die Tür auf.
Ingrid Kobro setzte sich, lächelte und sagte: »Fast wie im Kino, was?« Sie nickte zu der einen Kaffeetasse. »Die ist für dich.«
Lena starrte auf den Bildschirm. Steffens Kopf sprach:
»Nach dem Abitur habe ich an der Uni in Oslo Politikwissenschaften belegt. Stian machte seinen Wehrdienst und ging dann auf die Offiziersschule. Er verpflichtete sich, tat Dienst in Bosnien und im Kosovo, dann in Afghanistan. Hörte beim Militär auf, um sich selbständig zu machen. Danach war bei Stian nur noch Action angesagt. Er war viel in Südamerika und Nordafrika. Da haben wir uns getroffen, ganz zufällig, vor ein paar Wochen. Ich habe für eine Serie über die norwegischen Staatsfinanzen recherchiert und bin durch Marokko, Mauretanien und Westsahara gereist. Habe in Marrakesch im Kenzi Fara gewohnt – ziemlich geiles Hotel. Ich liege da am Pool, auf der Sonnenliege, entspanne mich, öffne die Augen und sehe Stian, meinen alten Kumpel, an der Pool-Bar. Dachte erst, es sei wirklich ein Zufall. Aber das war es natürlich nicht. Egal. Stian und ich haben ein paar Bier getrunken, und er hat erzählt, dass er für die Sicherheit mehrerer Firmen da unten verantwortlich war. Er organisierte groß angelegte Beschattungsaktionen und Recherchen. Zwei Abende später tauchte er wieder auf, im Hotelzimmer, jetzt mit den Taschen voller Dollarscheine. Er wollte mich dafür bezahlen, dass er mir diktierte, was ich schreiben sollte.«
Steffen änderte seine Sitzposition. »Stians ganzes Projekt war völlig daneben. Das habe ich auch gesagt. Ich bin Journalist, habe ich gesagt, ich schreibe nicht für Geld, habe ich gesagt. Aber Stian war Soldat und verstand so etwas nicht.
Am 6. Dezember war ich wieder in Oslo. Ein oder zwei Tage später tauchte er wieder auf – hier in Oslo. Total paramilitärische Geschichte, Undercover und der ganze Kram. Ich habe zu Stian gesagt, dass ich sein Geld nicht haben will.«
Gunnarstranda räusperte sich. »Als er Ihnen in Marrakesch Geld angeboten hat, war das auch für diese Firma MacFarrell Ltd.?«
Steffen schüttelte den Kopf. »Stian hätte mir niemals erzählt, wer dahintersteckte.«
»Aber der Artikel, den er sie bat zu schreiben, sollte von den Transaktionen dieser Firma handeln?«
»Ja.«
»Frikk Råholt hat ausgesagt, dass er Sie dazu aufgefordert hat, Fotos von Adelers Treffen mit Polisario und Aud Helen Vestgård zu machen.«
Steffen nickte.
»Sagen Sie es bitte laut«, sagte Gunnarstranda, »wegen des Tonbands.«
»Ja«, sagte Steffen mit klarer Stimme und holte mit geschlossenen Augen tief Luft.
»Wir sprechen von Mittwoch, dem 9. Dezember?«, fragte Gunnarstranda.
»Ja. Er brauchte Fotos und einen Artikel, um Adeler unglaubwürdig zu machen und seine Recherchen über Westsahara in den Dreck zu ziehen.«
»Und Sie haben die Fotos vor einem Restaurant in Grefsen gemacht?«
»Ja.«
»Waren Sie allein, als Sie fotografiert haben?«
»Nein.«
»Wer war noch dabei?«
»Stian Rømer.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Stian hatte einen Leihwagen. Da drin saßen wir und haben gewartet. Ungefähr um elf Uhr abends haben die drei ihr Treffen beendet. Sie kamen raus, gaben sich die Hand und brachen auf. Gute Stimmung. Sind auch gute Fotos geworden. Na ja. Die beiden, Vestgård und Shamoun, setzten sich in ein Taxi und fuhren los. Sveinung Adeler blieb noch ein paar Minuten stehen. Dann stieg auch er in ein Taxi, das einen anderen Kunden abgesetzt hatte. Stian und ich sind hinter diesem Taxi her in die Stadt gefahren. Das Taxi hielt in der Bygdøy Allé. Sveinung Adeler ging zu einer Haustür und klingelte. Stian stieg aus dem Wagen und tat so, als würde er im selben Haus jemanden besuchen. Er stellte sich neben Adeler. Als die Tür geöffnet wurde, gingen beide rein. Kurz darauf kam Stian zurück. Er erzählte, Sveinung Adeler mache einen Damenbesuch. Der Name an der Tür sei Lisbet Enderud. Also was sollte ich tun? In jedem Fall musste ich Adeler mit dem Restaurantbesuch konfrontieren, mit den Fotos, und ihn um einen Kommentar bitten. Aber ich hatte keine Ahnung, wie lange er bei der Dame bleiben würde. Ich überlegte, einfach dort zu klingeln, beschloss dann aber, zu warten und mit ihm allein zu sprechen. Stian fand einen Parkplatz, von dem aus wir die Haustür im Auge hatten. Wir blieben im Auto sitzen. Die Zeit verging. Sveinung Adeler blieb ziemlich lange. Stian weckte mich um kurz nach fünf Uhr morgens. Da stand Sveinung in der Tür. Ich musste aussteigen, um mit ihm zu sprechen. Ich war völlig benebelt, aber ich schaffte es auszusteigen. Als ich die Straße überquert hatte, war er schon ein ganzes Stück gelaufen. Ich sah nur den Typen, wie er davonlief und folgte ihm. Das war leichter gesagt als getan, aber am Ende ging er etwas langsamer, und ich habe ihn unten bei den Kais eingeholt. Wir gingen nebeneinander weiter, und er fragte, was ich wolle. Ich war höflich und sagte ihm, dass ich Fotos von dem Treffen im Restaurant gemacht hätte und dass ich nur wissen wollte, worüber sie gesprochen hätten. Er wollte nicht antworten. Aber schließlich hatte er mich zuerst angesprochen. Also machte ich etwas mehr Druck. Fragte, warum der Mann von Polisario während dieses Gesprächs von einer norwegischen Toppolitikerin unterstützt wurde. Ob das also seine Art der Recherche sei? Ich fragte, ob der Kontakt zu Vestgård und ihre Parteizugehörigkeit seinen Bericht nicht zweifelhaft machte. Konnte die Opposition sich darauf verlassen, dass alles mit rechten Dingen zuging? Ich fragte, wer das Essen bezahlt hatte, ob er ein Angebot von Polisario bekommen habe, zum Beispiel Geld? Er wurde bei jeder Frage etwas blasser. Offensichtlich verstand er den Ernst der Lage. Dann änderte der Mann seinen Charakter. Er wurde wütend und begann mir zu drohen. Das war ganz schön beängstigend, denn er war ein kräftiger Typ. Da sagte ich wahrheitsgemäß, dass die Zeitung die Sache auf jeden Fall bringen würde. Er hatte die Wahl, die Klappe zu halten, was allerdings dumm wäre, sagte ich, denn dann hätte er ja keinen Einfluss mehr darauf, was ich schriebe.«
Steffen beugte sich vor und tippte mit seinem Zeigefinger auf den Tisch, um seine Darstellung zu unterstreichen:
»Adeler ist auf mich losgegangen. Ich habe nichts getan. Aber Stian war da. Stian war uns gefolgt. Als Sveinung Adeler auf mich losging, war Stian sofort zur Stelle. Ich habe nicht gesehen, was passiert ist. Ich weiß nur, dass Sveinung plötzlich im Wasser zappelte, obwohl er gerade noch vor mir gestanden hatte. Verstehen Sie? Dass Sveinung Adeler ins Wasser fiel, war seine eigene Schuld. Und ich konnte es nicht verhindern. Ich bin den Kai entlanggelaufen, um einen Rettungsring zu suchen. Der Wasserstand war tief, und Sveinung hätte keine Chance gehabt bei der Kälte, also musste ich einen Rettungsring finden. Und dann? Dann laufe ich direkt in diese Junkiefrau hinein. Hilf mir, hab ich gesagt, aber sie stand völlig ratlos da und hat nur geguckt.«
»Wohin sind Sie gelaufen?«
»Den Kai entlang. Ich bin mit der Frau zusammengestoßen.«
»Welchen Kai?«
Die Frage brachte Steffen aus der Fassung. »Welchen Kai?«
Schließlich beantwortete Steffen die Frage nicht, sondern fuhr mit seinem Bericht fort.
»Ich bin direkt in die Frau reingerannt. Wo sind die Rettungsringe?, hab ich gefragt, aber die Frau ist bloß vor mir zurückgeschreckt. Ich hab mich umgesehen. Hab keinen Ring gefunden, gar nichts. Ich meine, da hängen doch Rettungsringe an den Kais, oder nicht? Aber da war kein Ring. Ich bin zurückgelaufen und habe niemanden mehr gesehen. Stian war weg, die Junkiefrau war weg, und Sveinung Adler bewegte sich nicht mehr. Er schwamm auf dem Bauch, mausetot. Was sollte ich machen? Es gab nichts mehr zu tun. Also bin ich weg.«
Gunnarstranda räusperte sich.
Steffen sah ihn an.
»War es vielleicht der Kai direkt unterhalb der Festung?«
Steffen brauchte Zeit, um nachzudenken. »Ja.«
»Sicher?«
»Was spielt das für eine Rolle, welcher Kai es war?«
»Ihre Glaubwürdigkeit spielt schon eine gewisse Rolle, besonders weil Sie eine andere Geschichte als Gegenleistung verlangen.«
Das brachte Steffen erneut aus der Fassung. »Ja, es war der Kai bei der Festung. Ich bin sicher. Können wir weitermachen?«
»Und Sie sind direkt in Nina Stenshagen rein gelaufen?«
»Ich weiß nicht, wie sie hieß.«
Gunnarstranda hantierte mit den Papieren herum. Dann schob er eines über den Tisch. »Ich glaube, Sie wissen, wie sie hieß. Sie haben sie selbst interviewt.«
Gunnarstranda hob abwehrend die Hand, um Gjerstads Reaktion zu dämpfen. »Lassen Sie uns einfach durchgehen, was geschehen ist. Sie sind den Kai unterhalb der Festung entlanggelaufen und mit dieser Frau zusammengestoßen, stimmt das?«
Steffen betrachtete das Foto, auf das Gunnarstranda zeigte.
»Ja.«
Gunnarstranda verzog zweifelnd das Gesicht.
»Was ist denn jetzt wieder?«, fragte Steffen ungeduldig.
»Das passt irgendwie nicht zusammen. Wir haben nämlich einen Teil des Handlungsablaufs rekonstruiert, und wir können belegen, dass die Frau sich auf dem Rathauskai 2 befand, dem Kai daneben.«
Lena nutzte die Gelegenheit, um an ihrem Kaffee zu nippen, der völlig geschmacklos war. Sie warf einen Blick zu Ingrid, die sagte: »Koffeinfrei, sorry«, und dann zum Bildschirm nickte. »Das ist spannend, oder?«
Lena antwortete nicht. Ihr ganzer Körper war ein Knoten, aber sie hatte kein Bedürfnis, das auszusprechen.
Steffens Gesicht auf dem Bildschirm sprach. »Sie irren sich«, sagte er.
Gunnarstranda schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, wir haben den Tathergang rekonstruiert. Derjenige, der Sveinung Adeler ins Wasser geworfen hat, griff nach einem Brett, das auf dem Kai 1 lag. Das Brett hat er benutzt, um Adeler unter Wasser zu halten. Sie behaupten also, das sei Stian Rømer gewesen?«
»Das behaupte ich nicht!«
»Wer war es dann?«, fragte Gunnarstranda. »Sie haben gerade erklärt, dass Sie zu dritt waren. Sveinung Adeler, Stian Rømer und Sie selbst.«
»Ich meinte, dass er dieses Brett nicht benutzt hat.«
»Aber jetzt widersprechen Sie sich. Gerade haben Sie gesagt, Sie hätten nicht gesehen, was passiert ist.«
Steffen schwieg wieder.
»Einer von Ihnen hat es getan«, sagte Gunnarstranda.
»Die Rekonstruktion ist falsch.«
Gunnarstranda schüttelte den Kopf. »Ich glaube Ihnen vieles von Ihrer Geschichte«, sagte er. »Ich glaube zum Beispiel, dass Sie und Rømer im Auto gewartet haben, während Adeler bei der Frau war. Ich glaube, dass Sie eingeschlafen sind und dass Sie hinter Adeler her gelaufen sind. Ich glaube, dass Sie ihn eingeholt haben«, sagte Gunnarstranda. »Ich glaube, dass Stian Rømer Ihnen und Adeler gefolgt ist. Ich glaube auch, dass er gesehen hat, dass Sie und Adeler wegen irgendetwas stritten. Aber – ich glaube nicht, dass Stian Rømer Adeler ins Wasser geworfen hat. Ich glaube, er hat zugesehen, wie Sie es taten. Dann hat er reagiert und ist den Kai 2 entlanggelaufen – möglicherweise, um einen Rettungsring zu suchen. Dabei stieß er auf Nina Stenshagen. Die beiden haben zugesehen, wie Sie das Brett benutzt haben, um Adeler unter Wasser zu drücken. Nina Stenshagen ist geflohen, und Stian Rømer ist hinter ihr her.«
Steffen schüttelte den Kopf. »Sie stellen alles ganz falsch dar.«
»Okay«, sagte Gunnarstranda. »Sie geben jedenfalls zu, dass Sie sich zwischen fünf und halb sechs auf dem Rathauskai befanden. Ein paar Stunden später standen Sie wieder am selben Ort, als Lena Stigersand und Emil Yttergjerde von der Osloer Kriminalpolizei am Tatort ankamen. Was geschah in der Zwischenzeit?«
Steffen betrachtete ihn mit leeren Augen.
»Sie haben schon gestanden, dass Sie einen Teil dieser Zeit genutzt haben, um einen Drohbrief zu schreiben. Warum taten Sie das?«
Steffen zuckte mit den Schultern. »Aus Spaß.«
Gunnarstranda schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie nicht, dass alles, was Sie sagen, Einfluss auf Ihre Glaubwürdigkeit hat. Ich glaube, dass Sie den Drohbrief wegen dem hier geschrieben haben.« Er schob einen Stapel Papiere über den Tisch und drehte ihn herum, so dass die Vorderseite zu sehen war. Es war Sveinung Adelers Bericht.
»Was ist das?«
»Das ist Sveinung Adelers Bericht über die Firma MacFarrell Ltd.«
Steffen blinzelte. Er betrachtete den Bericht und blinzelte erneut.
Lena wurde durch kleine Knusperlaute wieder in die Realität zurückgeholt. Ingrid Kobro hatte sich von einem Teller auf dem Tisch einen Pfefferkuchen genommen.
Ein Geräusch vom Bildschirm übertönte das Knuspern. Es war Steffen, der nach dem Stapel Papier griff und ihn dann wieder auf den Tisch legte.
»Sie wollten wissen, warum ich den Drohbrief geschrieben habe. Also. Sveinung Adeler schwamm im Wasser. Er war tot, da gab es keinen Zweifel. Es hatte also keinen Sinn mehr, einen Artikel über den vorherigen Abend zu schreiben. Ich brauchte einen anderen Ansatz.«
»Ansatz wofür?«
»Für meine Story. Darüber, wie eine norwegische Politikerin ihre Macht und ihren Einfluss missbraucht, um die Neutralität des Ethikrates zu untergraben. Und Sveinung Adeler war schließlich in der Nacht bei dieser Frau gewesen. Der Sinn der Sache war, dass der Drohbrief Lisbet Enderuds Namen mit Aud Helen Vestgård in Zusammenhang brachte. Wenn ich diese Geschichte zuerst veröffentlichte, dann konnte ich danach damit weitermachen, das Treffen aufzudecken und dann die anderen Dinge – nach und nach. Ganz einfach journalistische Taktik. Erst die Verbindung zwischen Lisbet Enderud und Adeler herstellen und dann die Fotos von Adeler, Vestgård und Shamoun veröffentlichen.«
»Ich fasse es nicht«, sagte Ingrid Kobro und nahm sich einen weiteren Pfefferkuchen vom Teller. »Das ist aber wirklich ein kalter Fisch. Ein Mörder, der sich einfach seine eigenen Nachrichten bastelt.«
Lena streckte die Hand nach der Kaffeetasse aus. Aber ihre Hand zitterte. Sie ließ die Tasse stehen.
»Sie haben sich also vor Lisbet Enderuds Haus gestellt«, sagte Gunnarstranda. »Als mein Kollege Fartein Rise ankam, haben Sie ihn gebeten, die Frau nicht wegen des Drohbriefes zu verhören. Warum?«
Steffen hob beide Hände in die Luft. »Ich hatte ein wenig nachgedacht. Der Drohbrief war eine übereilte Lösung gewesen. Ein tollpatschiger Versuch. Ich war nicht klar im Kopf. Erstens konnte ich nicht sicher sein, ob die Sache mit dem Drohbrief überhaupt veröffentlicht oder der Presse mitgeteilt würde. Und wenn, dann konnte die Geschichte immer noch eine ganz andere Wendung nehmen als die, die ich mir wünschte.«
»Sie hatten also einen besseren Ansatz gefunden?«
»So könnte man sagen, ja.«
»Und welchen?«
»Ich hatte Lena Stigersand kennen gelernt.«
Ingrid Kobro und Lena wechselten einen Blick.
»Wie hatten Sie sie so schnell kennen gelernt?«
»Im Grunde zufällig. Ich habe sie getroffen, als sie aus Adelers Wohnung kam. Und habe sie angesprochen. Sie war ein guter Typ, wir haben uns verstanden, und sie schien irgendwie Interesse an mir zu haben.«
Gunnarstranda setzte sich gerade hin. »Gjerstad, Sie werden wegen Mordes angeklagt.«
»Ich war das nicht«, sagte Steffen zum wiederholten Mal.
»Ich glaube, Sie haben Adeler aus Eigennutz getötet, weil er an dem Morgen, als Sie mit ihm auf dem Kai standen, gesagt hat, er hätte den Bericht über MacFarrell schon abgeschickt. Damit hatten Sie nicht gerechnet. Da er seinen Bericht schon geschrieben hatte, war Ihr geplanter Artikel nichts mehr wert. Abgesehen davon, dass Ihnen die Sensationsnachricht verloren ging, hätten Sie auch noch den lukrativen Job verloren, den Råholt Ihnen angeboten hatte. Ich glaube deshalb, dass Sie Sveinung Adeler umgebracht haben, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wenn Adeler tot war, dann konnten Sie die Story trotzdem bringen. Wenn er tot war, konnte er weder irgendetwas dementieren noch Beweise gegen den Inhalt ihres Artikels liefern – nämlich dass er von einer der Konfliktparteien gekauft und bezahlt worden sei. So konnten Sie Ihren Auftrag für Råholt trotzdem ausführen und die Bezahlung einheimsen, die Ihnen versprochen worden war.
Sie haben zugegeben, dabei gewesen zu sein, als Sveinung Adeler getötet wurde. Die Augenzeugin Nina Stenshagen wurde kurz darauf von Ihrem Freund Stian Rømer erschossen. Diese Augenzeugin hatte die Nacht zusammen mit einem anderen Augenzeugen auf dem Rathauskai verbracht – mit Stig Eriksen. Beide wurden erschossen – mit derselben Waffe. Ich glaube, dass Stig Eriksen sich bei Ihnen gemeldet hat, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass Nina Stenshagen ermordet wurde. Als Stig sich meldete, haben Sie beschlossen, auch ihn aus dem Weg zu räumen. Stian Rømer hat ihn auf Ihr Kommando hin erschossen.«
Gunnarstrand drehte sich um und hob eine Schachtel vom Boden auf. Er stellte sie auf den Tisch zwischen sich und Gjerstad und hob den Deckel ab. »Sowohl Nina Stenshagen als auch Stig Eriksen wurden mit dieser Waffe getötet – die Stian Rømer gehört.«
Er nahm eine halbautomatische Pistole aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch. »Haben Sie diese Waffe schon einmal gesehen?«
Steffen betrachtete die Pistole und schwieg. Im Überwachungsraum stand Ingrid Kobro auf. »Das sollte das Signal für mich sein«, sagte sie freundlich. »Du musst zusehen, Lena, und mir hinterher sagen, ob ich gut war.«
Ingrid Kobro verließ den Raum.
Lena betrachtete den Bildschirm. Es gab offensichtlich Menschen, die in diesem Fall viel mehr wussten als sie.
Die Tür des Verhörraums wurde geöffnet.
Ingrid Kobro trat mit einer Akte in der Hand ein und setzte sich.
Steffen war immer noch so auf die Waffe fixiert, dass er kaum reagierte.
Ingrid Kobro streckte den Arm aus und schaltete das Aufnahmegerät aus.
Steffen folgte ihrer Hand mit dem Blick.
»Ich heiße Ingrid Kobro und arbeite beim Norwegischen Geheimdienst«, sagte Ingrid. »Wir schalten das Tonband gleich wieder ein, keine Sorge. Die Waffe auf dem Tisch gehört Ihrem Freund Stian Rømer. Daran besteht kein Zweifel. Er hatte die Waffe bei sich, als diese vor ein paar Tagen bei Kadettangen außerhalb von Oslo beschlagnahmt wurde. Und hier ist mein Angebot an Sie: Sie haben gerade gehört, wie die Polizei Ihre Rolle in dem Fall einschätzt. Die Staatsanwaltschaft ist allerdings bereit, die Anklage unter bestimmten Bedingungen in gewissen Punkten abzumildern.«
Steffen betrachtete sie weiterhin schweigend.
»Es steht Ihnen selbstverständlich frei, dieses Angebot abzulehnen. Sie können abstreiten, Adeler vorsätzlich getötet zu haben, und damit möglicherweise ein Zwangsverwahrungsurteil vermeiden. Aber – auch wenn Sie abstreiten, Adeler vorsätzlich ermordet zu haben, werden Sie kaum widerlegen können, dass Sie an seinem Tod beteiligt waren. Dann stehen die Behauptungen der Staatsanwaltschaft gegen Ihre. Um ihre Mittäterschaft wegzuerklären, müssten Sie sich für mehr als den Mord verantworten. Sie haben schon zugegeben, an einer Verschwörung gegen eine Parlamentsabgeordnete mitgewirkt zu haben. Sie haben zugegeben, eine Morddrohung gegen eine Volksvertreterin geschrieben zu haben. Auch wenn Sie persönlich die Waffe nicht gehalten haben, als sie abgefeuert wurde, haben Sie dennoch an den vorsätzlichen Morden an Nina Stenshagen und Stig Eriksen mitgewirkt und sie mit geplant. Außerdem haben Sie eine Verschwörung gegen die Polizeibeamtin Lena Stigersand geplant. Sie und Stian Rømer haben in Ihrer Wohnung einen Überfall auf sie vorbereitet. Stian Rømer hat den Überfall ausgeführt, nachdem Sie den Ort verlassen hatten. Ich möchte, dass Sie sich diese Fotos anschauen.«
Lena zuckte zusammen. Wie konnte Ingrid das wissen?
Ingrid Kobro öffnete die Mappe, wie eine Marktfrau ihre Geldbörse öffnet. Schließlich hielt sie einen Stapel Fotos in der Hand. Lena stand von ihrem Stuhl auf, aber es war unmöglich, auf dem Bildschirm zu erkennen, was auf den Fotos zu sehen war.
Sie drehte sich abrupt vom Bildschirm weg und ging zur Tür. Als sie sie öffnete, kollidierte sie mit einem Mann, der ihr den Weg versperrte.
Lena versuchte, ihn zur Seite zu schieben.
Er wich keinen Zentimeter.
»Gehen Sie zur Seite.«
Der Mann schüttelte den Kopf. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Er hatte über der Oberlippe eine Narbe von einer Hasenscharte.
»Ich habe Sie schon mal gesehen«, sagte Lena.
»Norwegischer Geheimdienst«, sagte er. »Ich würde es begrüßen, wenn Sie wieder reingehen und sich hinsetzen würden.«
»Es gibt Fotos da drinnen im Verhörraum, die ich unbedingt sehen will.«
Ingrids Stimme brachte sie dazu, sich wieder umzudrehen.
»Die Fotos zeigen Ihren Freund Stian Rømer, wie er eine scheinbar leblose Lena Stigersand zu ihrem Auto schleppt. Wie Sie sehen, sind ihre Hände mit Klebeband gefesselt. Sie wird abgeführt, gegen ihren Willen. Was ich versuche, Ihnen klarzumachen ist, dass Stian Rømer sich der Freiheitsberaubung, des Kidnappings schuldig gemacht hat. Die Freiheitsberaubung fand in Ihrer Wohnung statt. Nachdem die Fotos entstanden, fuhr Stian Rømer den Wagen dieser Frau aus der Stadt zu einem Strandgebiet in Asker. Diese Fotos zeigen, dass er dieselbe Frau zum Wasser zerrt. Einer unserer Mitarbeiter hat dann beschlossen einzugreifen. Damit wurde ihr gemeinsamer Plan vereitelt.«
Lena drehte sich wieder zur Tür.
»Das war ich«, sagte der Mann mit der Hasenscharte und tippte sich an die Brust. »Ich war der Feuerwehrmann an dem Morgen.«
Lena erinnerte sich. Der Mann, der vor ihr stand, war der Rauchtaucher, der vor Steffens Haus mit den Bewohnern gesprochen hatte.
»Also«, sagte Ingrid Kobros Stimme vom Bildschirm her. »Die Staatsanwaltschaft ist bereit, von einer Anklage wegen vorsätzlichen Mordes an Sveinung Adeler abzusehen. Wir sind ebenfalls bereit, von einer Anklage wegen Mithilfe zu vorsätzlichem Mord an Nina Stenshagen und Stig Eriksen abzusehen. Die Anklage wegen der Morddrohung gegen Vestgård, die notwendigerweise unter den Terrorparagraphen fällt, sind wir auch bereit zurückzuziehen, dasselbe gilt für die Verschwörung gegen Stigersand. Alles für den Fall, dass Sie diese Erklärung unterschreiben.«
Sie schob ein Papier über den Tisch.
Steffen sah sie fragend an.
»Sie erklären hier und jetzt, dass Sie Stian Rømer am 3. Dezember in Marrakesch im Hotel Kenzi Farah das letzte Mal lebend gesehen haben.«
Steffen nahm sich Bedenkzeit. Stille breitete sich im Verhörraum aus.
»Was glauben Sie?«, fragte der Mann mit der Hasenscharte. »Wird er unterschreiben?«
Lenas Mund war trocken. Sie hörte die Frage kaum.
»Wie lautet in diesem Fall die Anklage?«, fragte Steffen geschäftsmäßig.
»Wenn Sie unterschreiben, werden Sie wegen Totschlags im Fall Sveinung Adelers angeklagt, indem Sie ihn bei einer Rauferei ins Wasser gestoßen haben, sowie wegen grober Fahrlässigkeit mit Todesfolge, weil Sie nicht eingegriffen haben, um ihn zu retten.«
Steffen saß eine Weile nachdenklich da.
»Zusammen heißt das vorsätzlich«, sagte der Feuerwehrmann mit trockener Stimme. »Aber er kapiert es nicht.«
»Das Brett macht es also zum vorsätzlichen Mord?«, fragte Steffen.
Ingrid Kobro nickte.
»Dieses Brett wird also in der Anklage nicht erwähnt?«, fragte Steffen mit schrägem Blick.
»Korrekt«, sagte Ingrid.
Steffen dachte immer noch nach. Schließlich sagte er: »Ich weiß nicht mehr, ob ich an dem Tag im Hotel Kenzi Farah war.«
»Wir waren da«, sagte Ingrid. »Wir haben Sie beide auf Video aufgezeichnet. An dem Tag haben wir uns allerdings nicht für Sie interessiert, sondern für Stian Rømer.«
Lena schaltete den Fernseher aus.
Der Mann mit der Hasenscharte hielt sie zurück. »Stian Rømer darf nicht auffliegen«, sagte er. »Das Leben und die Sicherheit vieler Menschen hängen davon ab, dass er sich heute offiziell in Mogadischu in Somalia aufhält. Viele Menschen, die täglich ihr Leben riskieren und das Leben ihrer Nächsten, sind davon anhängig, dass Gjerstad hier und jetzt dieses Dokument unterschreibt.«
»Wie können Sie das behaupten?«
Der Mann dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte er:
»Was wäre, wenn gerade jetzt ein Mann in Mogadischu sich für Stian Rømer ausgibt? Was glauben Sie, würde mit ihm und seinen Helfern passieren, wenn der wirkliche Stian Rømer in Oslo auftaucht – tot?«
Lena holte schwer Atem. Sie war sprachlos. Der Mann sah sie schweigend an.
»Sie waren da?«, fragte Lena schließlich. »In Asker? Als ich das Pfefferspray ins Gesicht bekam?«
Der Mann nickte. »Wir haben Rømer beschattet. Wir waren auch am Tag vorher in der Nähe, als er den Ort aussuchte, wo er Sie entsorgen wollte. Wir wussten nicht, was er dort vorhatte. Erst als er den Wagen nahm und Sie aus der Stadt fuhr, wurde uns klar, wohin er wollte. Wir waren schon da, als Sie ankamen. Wie gesagt, wir wollten Stian Rømer nicht verletzen, aber es ließ sich nicht verhindern, als er versuchte, Sie ins Meer zu werfen.«
»Wir?«
»Wir waren zu zweit.«
»Sie haben ihn ins Meer geworfen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Sie haben geschossen?«
Der Mann mit der Hasenscharte nickte.
»Ich habe keinen Schuss gehört.«
»Es war auch nicht vorgesehen, dass Sie einen Schuss hören.«
»Es war dunkel.«
»Wir haben Laser benutzt.«
»Ich hätte runterfallen können!«
Der Mann nickte wieder.
»Ich hätte sterben können.«
»Das bezweifle ich. Wir waren wie gesagt zwei Leute – beide bereit einzugreifen, wenn Sie es nicht allein geschafft hätten.«
»Aber Sie haben ihn das ganze Projekt durchziehen lassen, das Feuer unter der Treppe, den Überfall, die Autofahrt …«
»Wir hatten keine Ahnung, was er vorhatte. Als erkennbar wurde, dass er plante, Sie zu töten, haben wir eingegriffen.«
Lena betrachtete ihre Hände. Sie zitterten.
»Ich dachte, es sei meine Schuld gewesen, dass er ins Meer gefallen ist.«
Der Mann antwortete nicht.
»Er hätte mich in der Wohnung erschießen können.«
»Das bezweifle ich«, sagte der Mann. »Das hätte seinen Kumpel Gjerstad in eine sehr schwierige Situation gebracht.«
Lena schloss die Augen. Sie griff nach der Türklinke.
»Wo wollen Sie hin?«
»Raus«, sagte Lena. »Weg von hier!«
Doch Lena ging nicht weg. Sie blieb reglos im Korridor stehen, bis sich die Tür öffnete und Ingrid Kobro aus dem Verhörraum trat.
»Hat er unterschrieben?«
»Ja.«
Ingrid Kobro faltete ein Blatt Papier zusammen und sah auf die Uhr. »Es ist schon nach Mitternacht. Jetzt können wir einander wirklich frohe Weihnachten wünschen.«
Lena nickte matt. Sie drehte sich um und ging in ihr Büro. Das Wort Weihnachten hatte einen Alarm in ihrem Kopf ausgelöst.
Es war Weihnachten, und sie hatte es tatsächlich geschafft zu vergessen, die Hammelrippchen ins Wasser zu legen. Das würde Mama ihr niemals verzeihen.
Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Mama um Vergebung bitten? Wegen Hammelrippchen. Wie tickte sie eigentlich?
Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Lange stand sie so da. Schließlich hörte sie Schritte auf dem Korridor. Die Schritte entfernten sich.
Das musste Gunnarstranda sein, der Steffen in die Untersuchungshaft brachte. Sollte sie? Sollte sie nicht? Keine Frage, sie musste!
Sie riss die Tür auf und ging schnell den Korridor entlang. Im Treppenhaus sah sie, dass der Fahrstuhl schon auf dem Weg nach unten war. Sie lief die Treppen hinunter und kam unten an, als Gunnarstranda gerade die Schleuse zum Zellentrakt öffnen wollte.
»Steffen!«
Beide blieben stehen und drehten sich um.
Lena fragte: »Warum hast du das getan?«
Steffen sah sie mit leerem Blick an. »Was getan? Die Buchhaltung wurde beträchtlich revidiert, aber ich weiß nicht, ob du das weißt?«
»Warum hast du den Brand mit geplant? Warum hast du den Mann in deiner Wohnung auf mich warten lassen?«
Steffen drehte sich fragend zu Gunnarstranda herum, der mit den Schultern zuckte und sagte: »Ich höre sowieso nichts von dem, was hier gesagt wird.«
»Geteilte Schuld«, sagte Steffen. »Stian konnte nicht akzeptieren, dass du seine Identität kanntest, und wollte etwas dagegen tun. Tatsächlich hast du mich selbst auf die Idee gebracht, als du dich an dem Kirschkern verschluckt hast.«
Lena musste innerlich bis zehn zählen. Sie stützte sich gegen die Wand.
Sie und Gunnarstranda wechselten einen Blick.
Dann fasste Gunnarstranda Steffen am Arm, um weiterzugehen.
»Warte«, sagte sie.
Beide drehten sich um. »Du hältst dich offenbar ja für unglaublich schlau, Steffen«, sagte Lena. »Aber es gibt da eine kleine Sache, die du wissen solltest.«
Er sah sie fragend an.
»Du hättest Sveinung Adeler gar nicht umbringen müssen.«
Steffen starrte sie mit leerem Blick an.
»Er schreibt es in seinem Bericht. Hast du den nicht gelesen? Dann erzähle ich dir, was er auf der letzten Seite schreibt: In diesem Falle, schreibt er, ist es notwendig, an eine Grenze zu gehen. Ich kann es auswendig, Steffen, ich habe es mir eingeprägt, um es dir zu sagen, wenn wir uns treffen. MacFarrell Ltd. hat ausschließlich Interessen an den Produktionsanlagen, sie haben selbst keinen Anteil an der Produktion, schreibt Adeler. Weil die Firma notwendigerweise Erträge aus diesen Aktivitäten erwirtschaftet und durch ihre Besitzanteile indirekt auch die Produktion in den besetzten Gebieten aufrechterhält, wird es immer strittig sein, ob solche Interessen gegen anerkannte völkerrechtliche Prinzipien verstoßen oder nicht. Andererseits, schreibt er, sind diese Besitzanteile vom Volumen her nicht groß genug, um direkten Einfluss auf die Beschlussfassung der Produktionsgesellschaft auszuüben.«
Lena machte eine Kunstpause, bevor sie fortfuhr: »Deshalb kam Sveinung Adeler zu der sensationellen Empfehlung, dass der Ölfonds die Firma MacFarrell nicht von seiner Liste streichen müsste. Auch wenn alle das Gegenteil glaubten. MacFarrell hatte Angst, rausgekickt zu werden. Frikk Råholt war sicher, dass der Ölfonds MacFarrell rauskicken würde, und bekam ein Spitzenhonorar dafür, die Beschlussgremien zu beeinflussen. Er war sich so sicher zu wissen, was die Ermittlungen des Sekretariats ergeben würden, dass er dich dafür bezahlte, einen Sachbearbeiter zu blamieren. Als Sveinung Adeler dir gesagt hat, dass er den Bericht schon abgeschickt hatte, hättest du dir die Mühe machen sollen, nachzufragen, wie denn sein Votum schließlich lautete. Wenn du das getan hättest, dann hättest du gewusst, dass es gar keinen Sinn mehr machte, ihn umzubringen.«
Gunnarstranda zog Steffen mit sich in den Zellentrakt, während Lena ihnen hinterherrief: »Es war völlig sinnlos! Hörst du, Steffen. Du hast dich selbst verarscht!«
Die Tür knallte ins Schloss.
Lena blieb stehen.
Es dauerte zehn Minuten.
Dann kam Gunnarstranda zurück.
Sie nickte.
Gunnarstrandas Stimme war leise und teilnahmsvoll, als er sprach: »Steffen Gjerstad hat mir erzählt, dass du krank bist, Lena. Stimmt das?«
Sie nickte.
»Es ist vollkommen verständlich, dass die Nerven blank liegen, wenn man so eine Diagnose ins Gesicht geschleudert bekommt«, sagte Gunnarstranda. »Ich habe Menschen verloren, die mir nahestanden, ja, im Grunde haben alle, die ich kenne, jemanden, der von dieser Krankheit betroffen ist. Alle können das verstehen. Du hast Arbeitskollegen, die für dich einspringen werden. Du brauchst Ruhe und Entspannung, Lena. Du wirst eine verdammt harte Behandlung durchlaufen. Ich kenne dich und bin mir sicher, du wirst das schaffen. Aber nur, wenn du dich auch darauf konzentrierst! Tu etwas Vernünftiges. Geh nach Hause und feiere Weihnachten wie andere Menschen. Denk positiv. Melde dich krank und werde gesund. Das Leben ist keine Autobahn in der Po-Ebene. Das Leben hat viele Kurven, und ab und zu gibt es eine Steigung. Manchmal lösen wir die Dinge im Nu. Und manchmal brauchen wir verdammt viel Geduld. Das ist die wichtigste Eigenschaft für einen Polizisten. Seine eigenen Grenzen anzuerkennen. Wir sollen für Recht und Ordnung sorgen. Die Macht liegt woanders. Die liegt beim Parlament, bei der Regierung und bei den Gerichten.«
Lena stand still da und sah ihn an.
»Manchmal auch bei der Presse«, sagte Gunnarstranda mit seinem charakteristischen kleinen Lächeln. »Jedenfalls glaubt sie das selbst. Komm«, sagte er und fasste sie am Arm. »Wir haben den gleichen Weg, wir teilen uns ein Taxi.«
Schweigend saßen sie nebeneinander auf dem Rücksitz des Taxis. Der Wagen fuhr durch stille Straßen. Es roch nach Wunderbaum. Der Fahrer hatte das Radio leise gedreht und die Scheibenwischer wegen des Schneefalls auf Intervallschaltung eingestellt.
Gunnarstranda räusperte sich. »Du feierst Weihnachten mit deiner Mutter?«
Lena antwortete nicht.
»Was ist?«, fragte Gunnarstranda.
»Der Mann mit der Hasenscharte, woher kommt der?«
Gunnarstranda zuckte mit den Schultern. »Klingt so, als sei er aus Fredrikstad.«
»Ich meine, aus welcher Abteilung?«
»Keine Ahnung. Glaube, er ist schon lange beim Geheimdienst. Wieso?«
»Ich frage mich, was für eine Sorte Mensch das ist oder wie sie so werden.«
Gunnarstranda sah sie von der Seite an.
»Mir kam plötzlich der Gedanke, dass diese Leute Stian Rømer sicherlich jede Minute beschattet haben, seit er in Gardemoen gelandet ist.«
Das Taxi hielt vor einer roten Ampel.
Der Fahrer drehte das Radio wieder lauter. Bing Crosby sang White Christmas.
«Und wenn der Geheimdienst nun alles mit angesehen hat, was an dem Morgen auf dem Kai passiert ist?«
Gunnarstranda antwortete nicht.
»Ich würde tippen, sie waren da und haben alles gesehen«, sagte Lena. »Aber sie haben nicht eingegriffen, und sie haben uns nichts gesagt. Überleg mal, was alles passiert ist, nur weil diese Leute glauben, sie hätten den wichtigsten Job der Welt, und meinen, das Wichtigste im Leben sei, zu schweigen.«
»Ich bezweifle, dass sie da waren und alles gesehen haben.«
»Aber wenn sie nun doch da waren?«
Gunnarstranda seufzte schwer. »Wenn es die Sonne nicht gäbe, dann würden wir nicht existieren«, sagte er. »Aber die Sonne geht jeden Morgen auf. Denk nach vorn, Lena. Morgen ist Heiligabend, und der wird schöner für deine Mutter und für dich, wenn du nicht vergisst, die Hammelrippchen ins Wasser zu legen.«