OSLO, DONNERSTAG, 10. DEZEMBER

1

Nina bahnt sich ihren Weg gegen den Strom von Menschen, der sich von der T-Bahnstation Egertorget die Treppen hinauf schiebt. Sie geht die Karl-Johan entlang, wo die Wärmekabel unter dem Pflaster den Boden schneefrei halten. Dann beschleunigt sie ihre Schritte. Die Ampel springt auf Rot, aber Nina bleibt nicht stehen. Sie wirft einen Blick über ihre Schulter und läuft weiter. Die Abgase, die über den schwarzen Asphalt wabern, reflektieren das Scheinwerferlicht der Autos im morgendlichen Berufsverkehr und kriechen an den Karosserien entlang. Plastikweihnachtsmänner in Wollpullovern und Filzhosen stehen lachend hinter Schaufensterscheiben. Schaufensterpuppen lächeln ihr gefrorenes Lächeln und winken mit steifen Armen. Nina hastet vorbei, ein Schatten, der über die Scheibe huscht.

Sie läuft die Treppe zur T-Bahnstation Jernbanetorget hinunter. Ein Zug fährt donnernd ein und hält. Die Türen werden geöffnet. Menschen strömen auf den Bahnsteig.

Nina zögert. Wartet. Sieht sich um. Die Türen schließen sich wieder. Im letzten Moment springt sie hinein. Im Wagen hinter ihr tut ein Mann das Gleiche.

Der Zug fährt an. Drinnen ist es wärmer, aber Nina friert. Der T-Bahnzug ruckelt und schwankt in den Kurven. Die Passagiere klammern sich an den Stangen fest, die vom Boden bis zur Decke reichen. Nina sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Sie lässt ihren Blick über die Passagiere wandern, die dicht gedrängt sitzen oder stehen, manche den Blick auf den Boden gerichtet, andere vertieft in eine Zeitung oder ein Buch. Ninas Blick wandert weiter und begegnet dem Blick ihres Verfolgers.

Er sitzt ganz hinten im Wagen und hebt die Hand zu einem Gruß.

Mit einem Ruck steht sie auf. Stolpert in den vorderen Wagenteil. Die Menschen stehen dicht gedrängt, und Nina versteckt sich hinter ihren Rücken, während sie sich einen Weg zur Tür bahnt. Der Zug hält in Grønland.

Die Türen werden geöffnet.

Nina wartet. Kurz bevor sie sich wieder schließen, springt sie raus.

Der Zug fährt weiter.

Nina steht auf dem Bahnsteig. Steht ganz still, als hätte sie Angst, sich umzuschauen, Angst, dass ihr schnelles Manöver ihr doch wieder nichts gebracht hat. Endlich dreht sie sich um. Ihr Verfolger steht einige Meter hinter ihr.

Ein paar lange, stumme Sekunden sehen sie sich in die Augen. Nina will etwas sagen. Die Worte ertrinken im Lärm eines neuen Zuges, der am Bahnsteig bremst und hält. Der Mann sieht Ninas Angst.

Die Türen öffnen sich, Menschen strömen heraus, und einige wenige steigen ein.

Die beiden stehen immer noch ganz still da. Nur Ninas Blick flackert.

Schon werden die Türen wieder geschlossen.

Nina springt in den Zug.

Mysteriöserweise gelingt dem Verfolger das Gleiche, als die Türen schon zuschlagen.

Der Zug fährt an. Nina geht im Wagen ganz nach vorn, schubst Menschen zur Seite. Muss stehen bleiben, weil sie nicht weiter kommt. Langsam dreht sie sich um und begegnet dem Blick des Verfolgers. So steht sie noch, als der Zug in die nächste Station einfährt. Die Türen werden geöffnet. Nina wartet. Die Türen schließen sich wieder.

Wieder springt sie in letzter Sekunde nach draußen. Sie geht langsam und schaut dabei gehetzt in alle Richtungen. Als der Zug weiterfährt, dreht sie sich um. Sieht nur andere Passagiere, nicht den Verfolger. Nach und nach leert sich der Bahnsteig.

Da erst bemerkt sie es: Sie ist an ihm vorbeigegangen. Dann setzt sich der Mann in Bewegung. Kommt auf sie zu.

Nina geht rückwärts den Bahnsteig entlang. Jetzt sind sie allein. Nina steht an die Wand gepresst. Doch die Wand hat eine Öffnung.

Sie wirft sich herum, springt auf die Schienen und rennt in den Tunnel hinein. Bald ist sie im Dunkel verschwunden.

2

Am unteren Rand des Himmels zog sich ein purpurfarbener Streifen den Horizont entlang: eine rote Kerbe in einer Palette von Grautönen. Über dem Hafenbecken hing Eisnebel. Minus 24 Grad. In wenigen Tagen würde der Hafen zufrieren.

Lena bremste vor der roten Ampel am Kontraktskjæret. Schon der Gedanke an 24 Minusgrade ließ sie erschauern.

»Was hast du denn hier rumliegen?«, fragte Emil Yttergjerde und hielt ihr eine ungeöffnete Packung OB hin. Er hatte sich auf dem Beifahrersitz nach vorne gebeugt und suchte im Handschuhfach nach einer CD.

»Da findest du sie nicht«, sagte sie. »Sie steckt garantiert in einem anderen Cover. Wenn ich Auto fahre, schaffe ich es nicht, Ordnung in meinen CDs zu halten.«

»In einem anderen Cover? Wir reden von Tom Waits«, sagte Emil. »So behandelt man keinen Tom Waits.« Er suchte weiter im Handschuhfach. Die Ampel sprang auf Grün, und Lena legte den Gang ein.

»Was ist das denn«, fragte Emil Yttergjerde, als sie wieder schaltete, abbog und die Straßenbahnschienen überquerte.

Lena zuckte zusammen. »Leg das weg«, sagte sie schnell. »Das ist ein Pfefferspray.«

»Das ist aber gefährlich«, sagte Emil.

»Genau deshalb sollst du es ja weglegen!«

Lena lenkte den Wagen in Richtung Rådhusbrygga, wo schon ein Streifenwagen und ein gelber Rettungswagen standen.

Sie hielt an und zog die Handbremse. Dann nahm sie Emil das Pfefferspray aus der Hand. »Wo ist der Deckel?«

»Der war nicht drauf.«

»Her mit dem Deckel!«

»Ich sage doch, der war nicht drauf!«

Lena packte das Spray weg, öffnete die Tür und stieg aus. Die Kälte traf ihren Körper wie eine Wand. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie auf die beiden uniformierten Polizisten zu ging, die dabei waren, Absperrpfosten aufzustellen und das Absperrband zu befestigen. Zwei weitere Kollegen bewegten einen gelben Kran den Kai entlang.

Lena stieg über das Absperrband. Sie kam an einem Häuschen vorbei und trat an die Kaikante. Der Motor des Krans miaute. Ein Mann im Taucheranzug stand auf einem Rettungsfloß und befestigte ein Seil unter den Armen eines offenbar leblosen Mannes, der an der leicht vereisten Wasseroberfläche schwamm.

Einer der Jungs aus dem Rettungswagen tippte ihr auf die Schulter. »Sieht so aus, als wär’n Sie hier der Chef?«

Sie nickte.

»Er ist tot, und das schon eine Weile. Für uns gibt’s hier nichts zu tun, wir hauen dann mal ab.«

Sie nickte wieder. »Okay.«

Der Rettungswagen fuhr davon.

Als der Kran die Leiche aus dem Wasser hob, schlug der steife Körper gegen die Kaimauer, und der Kranführer fluchte.

Eine Straßenbahn verließ langsam die Haltestelle am alten Westbahnhof und verschwand hinter den spitzen Dächern der Zelte auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus, der wie ein weihnachtlich erleuchtetes Dorf aussah.

Wieder fluchte der Kranführer. Der Körper stieg höher und drehte sich in der Luft. Die Jacke des Toten hing an den Seiten herunter wie schwere Flügel. Von der Kleidung tropfte Wasser, das sofort zu Eiszapfen gefror. Der Mann an der Winde brüllte, jemand sollte mit anfassen. Behandschuhte Hände wurden in die Luft gestreckt. Sie reichten nicht hinauf. Der Körper hing zu hoch.

»Tiefer, tiefer, tiefer«, flüsterte Lena dem Kranführer zu.

Langsam schwebte die Leiche zu Boden. Emil Yttergjerde griff nach dem Tau und drehte den Körper auf den Rücken. Sie konnten zusehen, wie das Wasser auf dem Gesicht des Toten zu Eis gefror. Ein glasiertes Gesicht, das einem jungen Mann mit kurzem blondem Haar gehörte. Lena kniete sich hin und untersuchte die Hände. Kein Ehering, aber eine teure Armbanduhr am linken Handgelenk: ein Chronometer von Tissot, das immer noch tickte. Es war neun Uhr geworden.

Aus der Ferne klang Chorgesang in Wellen durch die Dämmerung herüber. Lena stand auf und sah sich um. Hinter den Zäunen, zwischen den Zelten des Weihnachtsmarkts, konnte sie eine Gruppe von Nonnen erkennen, die für die ersten Morgengäste eine Hymne sangen. Ganz in Schwarz. Sie erinnerten an Krähen.

Hinter der Absperrung hatte sich eine Gruppe von Schaulustigen versammelt. Eine Kamera blitzte auf.

»Abendgarderobe bei 25 Grad unter null«, murmelte Emil und fügte erklärend hinzu: »Auf dem Weg nach Hause von einer Weihnachtsfeier, besoffen, und dann an die Kaimauer getreten, um zu pinkeln.«

Lena kniete sich wieder hin, durchsuchte die feuchten Taschen und fand einen Schlüsselbund. In der Innentasche des Jacketts steckte eine Brieftasche.

Sie öffnete das steif gefrorene Leder. Musste sich die Handschuhe ausziehen. Hauchte in ihre Fäuste und untersuchte die EC-Karte: Der Besitzer hieß Sveinung Adeler, dem Geburtsdatum zufolge war er 31 Jahre alt. Die Brieftasche enthielt auch ein Rezept für eine Kortisonsalbe und ein Bündel Geldscheine, das aus irgendeinem Grund noch nicht zu einem Eisblock gefroren war. Lena zählte eintausendzweihundert Kronen.

Der Tote war groß, schlank und wohlproportioniert. Zwei Jahre jünger als ich, dachte Lena. Der Kerl hat vielleicht gestern im gleichen Bus wie ich gesessen – oder im selben Fitness-Studio trainiert und geschwitzt.

Einfach nur traurig, dachte sie und schauderte. Die Nonnen hörten endlich auf zu singen. Es war heller geworden, Dezemberdämmerung. Hundert Meter entfernt legte scheppernd die Nesodd-Fähre an. Eine dunkle Herde winterlich gekleideter Menschen strömte heraus und verteilte sich auf dem Weg in Richtung Vika-Terrasse oder Nationaltheater.

Die Einzigen, die auf die Bühne starrten, auf der sie stand, waren die Presseleute hinter der Absperrung.

Als der Leichenwagen abfuhr, um den Toten in die Gerichtsmedizin zu bringen, hatten zwei Männer von der Spurensicherung den Kai in Besitz genommen. Lena und Emil schlenderten zurück zum Wagen.

Hinter der Absperrung warteten schon die Presseleute auf sie. Lena holte tief Luft und sagte: »Wir wissen nicht mehr, als Sie gesehen haben. Es handelt sich um einen Mann, offensichtlich Norweger, wahrscheinlich im Laufe der Nacht verunglückt. Sobald wir weitere Informationen haben, werden wir eine Pressemeldung herausgeben.«

Sie eilte an der Gruppe vorbei.

Da hielt sie eine Hand am Arm fest. Lena drehte sich um.

Der Mann war um die vierzig, hatte lange braune, gewellte Haare, ein ansprechend unrasiertes Gesicht, graue Augen, die ihren Blick suchten, und ein Lächeln, das einen kleinen Spalt zwischen den Schneidezähnen entblößte.

»Ein Foto von Ihnen?« Er winkte mit seiner Kamera. Seine Augen blitzten schelmisch, und sie lächelte zurück.

»Nein, danke«, sagte sie, öffnete die Wagentür und stieg ein.

»Hier!«

Sie nahm die Visitenkarte, die er ihr reichte, und zog die Tür hinter sich zu.

Emil setzte sich ans Steuer. Die Journalisten entfernten sich langsam. Lena sah der Gestalt hinterher, die lässig davonschlenderte, den Schal fester um den Hals zog und eine Mütze aufsetzte. Steffen Gjerstad, Journalist las sie auf der Karte.

»Den Kerl kenn ich ein bisschen«, sagte Emil. »Das heißt, meine Freundin kennt ihn. Sie sitzt an der Rezeption im Zeitungshaus von Dagens Næringsliv. Er arbeitet da.«

»Knackiger Hintern«, sagte Lena.

»Lena«, sagte Emil grinsend und schüttelte den Kopf. Dann startete er den Wagen und legte schwungvoll den Gang ein.

3

Fartein Rise war ein großer, hagerer Typ mit langem Haar, das er ständig mit zwei Fingern nach hinten strich und sich hinter die Ohren zu klemmen versuchte. Die Frisur musste ein Relikt aus alten Zeiten sein, als Fartein Rise noch Motorradstreife fuhr, eine imposante BMW ritt und mit seinem Hippiestil Frauen betörte. Seine kurze Lederjacke passte vom Stil her immer noch dazu, sein Haar war mit den Jahren allerdings dünner und grauer geworden.

»Es ist einfach unglaublich«, sagte Rise mit Bergenser Dialekt. »Einer der T-Bahn-Fahrer sieht einen Menschen auf den Schienen in den Tunnel laufen. Er schlägt Alarm. Die Zentrale in Tøyen stoppt den gesamten Verkehr und schickt Suchtrupps raus. Sie durchkämmen die Tunnel und finden keine Menschenseele – behaupten sie. Dann wird der Verkehr wieder frei gegeben. An der Haltestelle Grønland steht die Grorudbahn. Die schafft gerade mal zweihundert Meter. Und rate, was dann passiert? Diese Lady steht hinter einer der Säulen da unten und wirft sich einfach vor den Zug.«

Gunnarstrandas Kugelschreiber gab den Geist auf. Er hob den Blick und sah Rise an. Es schien, als warte Rise auf einen Kommentar. Gunnarstranda versuchte es noch einmal mit dem Kugelschreiber – ohne Erfolg. »Hast du einen Stift?«, fragte er.

Rise fischte einen silbernen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Motorradjacke.

»Die Frau wurde vollkommen zerfetzt. Hätte alles in eine IKEA-Tragetasche gepasst«, sagte Rise. »Wenn’s nicht so eine Sauerei gewesen wäre. Zwanzig Minuten Hochdruckwasserstrahler sind bei dieser Kälte für alle die Hölle.«

Gunnarstranda interessierte sich nicht für Rises Auftrag in der T-Bahn. Aber sein Gerede brachte ihn aus dem Konzept. Er hatte die Lottoscheine erst zur Hälfte ausgefüllt. In welcher Spalte war er grade gewesen?

Emil Yttergjerde kam zur Tür herein und setzte sich neben Gunnarstranda.

»Was für ein Morgen«, sagte Rise.

Gunnarstranda gab auf, legte den Haufen Lottoscheine zur Seite und gab den Kugelschreiber zurück. »Wovon redest du, Rise?«

»Eine Frau hat sich vor einen T-Bahnzug geworfen«, sagte Fartein Rise. »Das ist natürlich tragisch, und Selbstmörder sind ja ganz schön clever. Aber wie kann das sein? Die Leute von der T-Bahn behaupten, sie hätten die Tunnel durchsucht, aber niemanden gefunden. Sogar ich als normaler Fahrgast sehe doch, dass es da unten viele Verstecke gibt. Nischen in der Tunnelwand, mit Gittern abgesperrt. Aber Gitter kann man aufbrechen.«

»Jedes Mal, wenn ich von Selbstmord höre, wird mir schlecht«, sagte Yttergjerde.

»Ich begreife nicht, wie das passieren konnte«, wiederholte Rise. »Die Leute, die den Tunnel durchsuchen, müssen doch kapieren, dass sie gründlich vorgehen müssen. Nach einem Selbstmord steht der Verkehr doch noch viel länger still.«

»Das ist denen sicher klar«, sagte Gunnarstranda trocken. Er mochte es gar nicht, wenn Leute sich über die Arbeit von anderen beklagten. Das klang wie das Tratschen von Waschweibern.

»War sie jung?«, fragte Yttergjerde.

Rise zuckte mit den Schultern. »Fast zahnlos und mit einem Spritzbesteck in der Tasche, Altjunkie. Typisch Bahnhofsszene. Wenn die wüsste, wie viel Trouble sie verursacht hat. Warum sollte sie sich da unten umbringen? Hätte sie sich nicht genauso gut eine Überdosis spritzen können?«

»Altjunkie?«, fragte Yttergjerde. »Kannten wir sie?«

Rise zuckte wieder mit den Schultern. »Sie hieß Nina Stenshagen.«

Yttergjerde schüttelte den Kopf.

»Wie ist das möglich«, fing Rise wieder an, »mit Scheinwerfern einen Tunnel zu durchsuchen, ohne …«

Gunnarstranda, der beschlossen hatte, seine Lottoscheine woanders auszufüllen, hörte nicht mehr zu. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

4

Lena fand eine Parklücke zwischen halbmeterhohen Schneewällen in der Vogts Gate. Einparken mit wenig Spielraum – das konnte sie gut. Sie blinkte und fuhr seitlich neben das vordere Auto, ignorierte die Schlange von Autos, die hinter ihr bremsten, und setzte problemlos rückwärts in die Lücke, schwang das Lenkrad herum und zog die Handbremse an. Der Wagen rutschte an seinen Platz, als wäre die Parklücke für ihn gemacht. Lena stieg aus und überprüfte das Ergebnis, dann ging sie die wenigen Meter auf den Hauseingang zu. An den Schildern neben den Klingelknöpfen konnte sie ablesen, dass Sveinung Adeler im zweiten Stock wohnte.

Lena klingelte und wartete, während sie die Schlüssel am Schlüsselbund durchging, den sie in seiner Tasche gefunden hatte.

Aus dem Lautsprecher neben den Klingelknöpfen kam kein Ton; niemand öffnete. Kein Türsummen.

Sie drückte noch zweimal auf die Klingel, dann schloss sie die Haustür auf. Sie fand den Namen S. Adeler an einem der Briefkästen. Steckte den richtigen Schlüssel ins Schloss und öffnete ihn. Reklame ohne Adressat. Kein Brief. Sie schloss den Briefkasten wieder und ging die Treppen hinauf.

Nur Sveinung Adelers Name stand an der Tür. Wahrscheinlich hatte er allein gelebt. Sie versuchte, das Sicherheitsschloss zu öffnen. Musste den Schlüssel dreimal herumdrehen, bevor die Wohnungstür aufging.

Im Flur blieb sie stehen und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Es war ganz still in der Wohnung, nur das Brummen des Kühlschrankes war von irgendwoher zu hören. Lena schnupperte und nahm einen schwachen Geruch nach Grüner Seife wahr.

Links stand eine Schiebetür offen. Sie führte in ein Schlafzimmer. Ein weißes Doppelbett dominierte den Raum. Es war ordentlich gemacht. An der Wand hing ein Plakat von Rihanna in einem weißen Ganzkörpertrikot. Die Dame hätte sich genauso gut nackt fotografieren lassen können. Lena ging weiter ins Wohnzimmer. Eine Wand war fast vollständig mit DVD-Covern tapeziert. Ein riesiger Flachbildschirm beherrschte eine andere Wand. Surround-Anlage. Sie las die Filmtitel. Viel Action. Einige Titel waren ihr bekannt: Pulp Fiction, Fargo, die Filme mit Jason Bourne. Außerdem Hongkong-Filme und amerikanische Unterhaltungsfilme mit Travolta und Cage. Auf dem untersten Regal standen ein paar Cover mit dem Kaninchenlogo des Playboy auf dem Rücken. Hier wohnte ganz offensichtlich ein Junggeselle. Auf dem Tisch standen zwei leere Flaschen mexikanisches Bier. Keine Aschenbecher.

In einer Ecke des Wohnraums befand sich eine Küchenzeile. Auf der Anrichte lag ein Zettel. Eine Nachricht in zierlicher Schönschrift:

Brauche neues Waschpulver und Scheuermittel.

Die Nachricht war mit Pamina unterschrieben. Wahrscheinlich eine Putzhilfe. Diese Pamina war möglicherweise vor kurzem da gewesen. Es standen keine Töpfe mit Essensresten auf dem Herd.

Lena öffnete den Kühlschrank. Ganz oben stand ein Sechserpack mit noch vier Flaschen. Außerdem enthielt der Kühlschrank zwei Tomaten, ein Fertiggericht von Fjordland, einen Karton Apfelsaft und eine ungeöffnete Packung mit zwei eingeschweißten Hähnchenbrüsten. Offensichtlich der Kühlschrank eines Singles.

Lena ging in den Flur zurück. Öffnete einen Schrank. Haufenweise Joggingschuhe und Skistiefel. Sveinung Adeler war offenbar ein Sportfreak gewesen.

Der Spiegelschrank im Badezimmer quoll fast über. Eine elektrische Zahnbürste und ein Rasierapparat zwischen modischen Flaschen mit Rasierwasser und Deos: Dolce & Gabbana, Armani, Hugo Boss, Tommy Hilfiger. Hier standen fast mehr solcher Fläschchen als bei Lena zuhause.

Sie wandte sich dem vollgestopften Wäschekorb zu: Jeans, Sportzeug, Unterwäsche.

Diese Wohnung erzählte nicht viel. Kein Nachschlagewerk, nicht einmal ein Schreibtisch. Kein PC. Warum nicht? Hatte er letzte Nacht einen Laptop dabeigehabt? Wenn ja, dann würde der im Schlamm des Osloer Hafenbeckens liegen bleiben, bis dieses irgendwann in ferner Zukunft von Archäologen durchkämmt würde.

Lena musste die Angehörigen informieren und brauchte deshalb persönliche Informationen. Sie schaute wieder ins Schlafzimmer. Kein Schreibtisch, keine persönlichen Ordner – nichts.

Sie verließ die Wohnung, schloss ab und verplombte die Tür mit dem Polizeisiegel. Ging die Treppen hinunter und trat auf die Straße. Die Kälte zog ihr die Nasenschleimhäute zusammen.

Eitelkeit und Winterwetter passen nicht zusammen, dachte Lena, als sie in ihrer dicken, langen Daunenjacke vorwärtsstolperte und die Schnüre ihrer Pelzmütze unter dem Kinn zusammenband. Sie fühlte sich wie ein Pinguin und dachte, dass sie auch wie einer aussah, aber das spielte keine Rolle. Gesundheit ging vor Schönheit bei dieser Eiseskälte. Die Menschen auf dem nicht geräumten Gehweg führten eine breite Palette verschiedener Mützen, langer Mäntel und klobiger Winterstiefel spazieren – auch der Mann, der ein paar Meter vor ihr ging. Lotsenjacke und Strickmütze. Fausthandschuhe.

Dieser Mann hielt sich die Fausthandschuhe an beide Seiten des Kopfes und spähte durch das Fenster ihres Wagens.

Sie räusperte sich laut.

Der Mann richtete sich auf. Sie erkannte ihn wieder, trotz der Mütze. Es war Steffen Gjerstad, der Journalist.

Gjerstad lächelte, als er sie erkannte. »Und schon treffen wir uns wieder.«

»Offensichtlich«, sagte sie, zog sich einen Handschuh aus und holte ihren Autoschlüssel aus der Jackentasche.

»Ich habe Sveinung erkannt, als er am Kran hing«, sagte Gjerstad. »Hab ihn ein paar Mal interviewt. Sie haben seine Wohnung durchsucht?«

»Wir müssen noch die Angehörigen benachrichtigen«, sagte Lena.

Sein Eisatem legte sich wie Raureif auf die Haarspitzen, die unter dem Rand seiner Mütze hervorlugten. »Er kam aus dem Vestland. Aus Jølster, glaube ich. Hat einen ziemlich breiten Dialekt gesprochen und den Ort mal erwähnt. Da wohnen also bestimmt seine Eltern – in Jølster.«

Unwillkürlich strich Lena sich mit der unbehandschuhten Hand durchs Haar und schob die Spitzen unter den Schal. »Und Sie haben den Mann interviewt? In welchem Zusammenhang denn?«

Steffen Gjerstad grinste. »Wir könnten Informationen tauschen«, sagte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »War es ein Unfall?«

»Sieht so aus.«

»Aber Sie sind nicht sicher?«

Sie mochte Steffen Gjerstad und lächelte hinter ihrem Schal. »Es wäre falsch, etwas zu behaupten, bevor wir ausführlich untersucht haben, wie er ins Wasser fiel. Wissen Sie, wo er gearbeitet hat?«

Steffen Gjerstad klemmte sich die Handschuhe unter die Achseln, zog eine Dose aus der Jackentasche und nahm eine Prise Schnupftabak. »Beim Staat. Finanzministerium.« Er wischte sich den Tabak von den Händen und sprach mit ausgebeulter Lippe.

Tabak zu schnupfen war nicht gerade der beste Anmachtrick, dachte Lena. Dann rief sie sich sofort zur Räson: Anmache? Jetzt reiß dich aber mal zusammen!

Steffen fuhr fort: »Ich hab nichts Gedrucktes. Die Interviews, zwei davon – also das waren Recherchen – für Storys, an denen wir arbeiten. Wir, also die Zeitung.«

»Aber Sie kannten Adeler?«

»Nein. Ich wusste, wer er war, sozusagen. Er traf sich mit Maklern und Finanziers. Die Zeitung, für die ich arbeite, beschäftigt sich vor allem mit Wirtschaftsfragen, und die entsprechenden Kreise sind nicht groß.« Gjerstad schwieg ein paar Sekunden und dachte nach. »Sveinung Adeler war so eine Art Streber.« Er grinste. »Wollte an Orten wie dem Beach Club interviewt werden, ein richtiger Namedropper: Gestern hab ich den und den Star getroffen … immer nach dem letzten Schrei gekleidet. Er trug die Nase ziemlich hoch, aber er war auch irgendwie in Ordnung. Machotyp, hat viel Sport getrieben, auf ziemlich hohem Niveau, glaube ich, hat LAUT UND DEUTLICH erzählt, dass er das Birkebeiner-Rennen und den Vasaloppet gelaufen ist und das da unten in Italien …« Gjerstad schnippte mit den Fingern und suchte nach dem Namen. »Marcialonga.« Wieder dachte er einen Moment nach. »Nicht wirklich mein Stil.«

Lena schloss das Auto auf. Sie war selbst auch drei Jahre hintereinander das Birkebeiner-Rennen gelaufen. »Nett, Sie getroffen zu haben, Gjerstad.«

»Steffen.« Er zwinkerte ihr zu.

Wieder musste sie lächeln und wiederholte: »Steffen.«

»Und du?«, fragte er.

»Was ist mit mir?«

»Wie heißt du?«

»Lena.«

Er wartete auf eine Fortsetzung, mit einem lauernden Lächeln um die Mundwinkel.

»Stigersand«, fügte sie hinzu.

»Und hast du vielleicht auch eine Telefonnummer?«

Der geht aber ran, dachte sie, aber es gefiel ihr. Der Subtext gefiel ihr. Sie forcierte die Stimmung noch ein wenig und fragte: »Was willst du mit meiner Telefonnummer?«

Sie standen sich gegenüber und sahen sich verschmitzt in die Augen.

Dann sagte er: »Für den Fall, dass mir noch etwas einfällt, wie sie in den Krimis im Fernsehen immer sagen.«

Sie nickte, wortlos.

Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. Mit den Handschuhen unter dem Arm notierte er sich ihre Telefonnummer auf dem Handrücken. Seine beiden Handrücken waren voller Kugelschreibernotizen. Der Anblick hatte etwas kindlich Jungenhaftes, und Lena spürte einen Hauch von Zärtlichkeit in der Brust. Jetzt reicht’s aber, dachte sie und setzte sich in ihr Auto.

Sie fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Hielt vor der roten Ampel bei Soria Moria. Da summte ihr Handy, eine SMS:

Hab vergessen, dir einen schönen Tag zu wünschen. Steffen

Er machte ihr gute Laune. Das musste sie ihm lassen.

5

Gunnarstranda hatte sich kaum hingesetzt, da ging die Tür auf.

Rindal stand in der Türöffnung und betrachtete ihn stumm.

»Meine Frau hat mich auch immer so angesehen«, sagte Gunnarstranda und stieß dabei seine Schreibtischschublade zu. »Wenn ihr der Weihnachtsbraten angebrannt war oder sie am Samstag vergessen hatte, zum Weinmonopol zu gehen.«

Rindal verzog keine Miene. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Könntest du dir die Mühe machen und mit der Betriebszentrale der T-Bahn sprechen?«

»Worüber?«

»Hab grade einen Anruf bekommen«, sagte Rindal. »Von deren Sicherheitsdienst.«

Gunnarstranda legte fragend den Kopf schief.

»Es geht um den Unfall heute Morgen. Scheint doch mehr dahinter zu stecken, als wir zunächst vermutet haben.«

Wir?, dachte Gunnarstranda, sagte aber nichts. Er wartete auf die Fortsetzung.

»Die Verkehrsleitung hatte eine Warnung bekommen, dass Leute im Tunnel herumliefen, also stoppten sie den Verkehr. Sie haben den Strom abgeschaltet und Leute losgeschickt, um den Tunnel zu durchsuchen. Das Ganze wurde dann als falscher Alarm abgeblasen, man hat keine Personen gefunden. Die Züge bekommen grünes Licht, der Verkehr läuft wieder. Und dann passiert dieser Unfall. Das hat es früher auch schon gegeben. Selbstmörder sind schlau. Die verstecken sich. Ich bin selbst mehrmals die Strecke zwischen Grønland und Tøyen abgelaufen. Du sicherlich auch. Da unten gibt’s Bombenschutzräume und Gänge. Die betreffende Person hat es geschafft, sich zu verstecken, und ist dann vor den ersten Zug gesprungen, der kam. Aber jetzt ruft mich der Sicherheitsdienst der T-Bahn an und sagt, sie hätten einen Alarm an einem Notausgang registriert. Und zwar nach dem Unfall. Jemand hat also den Tunnel nach dem Selbstmord durch diesen Notausgang verlassen, und es war ganz sicher niemand von den Angestellten.«

»Und was ist mit Fartein Rise?«

»Wieso?«

»Ich dachte, das wäre sein Fall.«

Rindal holte tief Luft. »Was Fartein Rise angeht, musst du Folgendes wissen«, sagte er leise.

Gunnarstranda stand auf und zog sich die Winterjacke an, die über seinem Stuhlrücken hing.

»Rise und seine Partnerin haben vor zwei Jahren einen Sohn bekommen. Dieser Junge hat ein Syndrom, einen Hirnschaden oder irgendwelche Schleimgeschichten. Der Junge braucht 24 Stunden Betreuung, rund um die Uhr, muss beatmet werden und kriegt ständig zusätzliche Sauerstoffinfusionen. Er lebt zwar zuhause, aber das bedeutet Nachtwachen und Alarme und sofort ab ins Krankenhaus, wenn der Kleine im Bett anfängt zu schnaufen, und das passiert offenbar ziemlich häufig.«

Gunnarstranda sank wieder auf seinen Stuhl zurück. »Armer Mann«, murmelte er.

»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Rindal fort. »Ein krankes Kind zu haben ist eine Sache, aber es belastet auch die Beziehung des Paares, kein Privatleben zu haben und Tag für Tag, Monat für Monat von ständig wechselnden Krankenschwestern und Pflegern umgeben zu sein. Noch schwieriger ist es, dabei eine berufliche Karriere im Auge zu behalten, besonders als Polizeibeamter. Rise hat sich um den Job hier beworben, um mal Atem zu holen. Aber er fährt jedes Wochenende und ein- bis zweimal unter der Woche nach Bergen. Die Zeit, die er nicht arbeitet und Wache hält, hat er ein schlechtes Gewissen. Was ich sagen will ist: Rise ist nicht unbedingt der richtige Mann, um in einem Fall wie diesem vernünftige Schlüsse zu ziehen.«

»Verstehe. Aber es klingt auch nicht besonders schlau, in Oslo zu arbeiten, wenn man Frau und Kind in Bergen hat, die einen rund um die Uhr brauchen.«

»Das ist, streng genommen, nicht unsere Sache«, sagte Rindal. »Aber du wirst verstehen, dass es die Psyche ganz schön belastet, ein Kind zu haben, das 24 Stunden am Tag gepflegt werden muss, oder? Der Mann braucht ein bisschen Fehlertoleranz von uns.«

Gunnarstranda blieb sitzen und sah Rindal schweigend an.

»Ich möchte nur, dass du weißt, was Sache ist«, sagte Rindal. »Ich bitte dich und die anderen, nicht so streng mit Rise zu sein. Deshalb möchte ich, dass du dir die Extraarbeit machst. Überprüf diesen Alarm, und beruhige die Leute in der Verkehrsleitung. Sie sind ziemlich aufgewühlt und wollen wissen, was da los war.«

*

Gunnarstranda war noch nie in der neuen Betriebszentrale der T-Bahn gewesen. Aber er konnte sich gut an die alte erinnern. Dort hatten analoge Glühbirnen geblinkt, eine Schaltfläche war auf einer Pappwand montiert, und alles war an klobige Schalter und graue Telefone angeschlossen, die einen in die 1960er Jahre zurückversetzten.

Die neue Zentrale war vom Rest der Welt durch eine riesige Schiebetür aus Glas getrennt. Der Raum war beeindruckend. An einer Längswand befand sich ein gigantischer Monitor, auf dem das digitale T-Bahnnetz mit sämtlichen Stationen in Farbcodes aufleuchtete: Wendeschleifen, Wegmarkierungen, Weichen und die Bewegungen der einzelnen Züge von Station zu Station. Es erinnert an Bilder aus dem Pentagon, dachte Gunnarstranda, als er dem breiten Bildschirm den Rücken zukehrte und zu den Männern hinüberging, die die Überwachungskameras steuerten. Auf den Monitoren an der Wand leuchteten Aufnahmen von fünfzehn der mehreren Hundert Überwachungskameras. Die Bilder zeigten Zugstrecken, Tunneleinfahrten, Ticketautomaten, Bahnsteige und einen Zug, der in eine Station einfuhr, die Gunnarstranda als Majorstua zu erkennen meinte.

Gunnarstranda kannte die meisten der Angestellten der Verkehrsleitung vom Sehen. Diese Leute hatten schon viele Jahre bei der T-Bahn gearbeitet, als Fahrer, Schrankenwärter oder Zugführer angefangen, als der Betrieb noch Oslo Sporveier hieß. Wer hier in der Zentrale arbeitete, kannte die T-Bahn in- und auswendig.

Er nickte dem Dienst habenden Wachmann zu, den er zwar kannte, an dessen Namen er sich aber nicht erinnern konnte.

Zwei Minuten später hatte der Wachmann die Aufzeichnung von der Haltestelle Grønland auf sechs Uhr dreißig zurückgespult. Das Bild war farbig, mit hoher Auflösung.

»Was suchen wir?«, fragte er.

»Eine Frau in einem roten Jogginganzug.«

Das Bild zeigte Menschen, die still dastanden, andere gingen hin und her.

»Sie war Junkie und gehörte zur Szene vom Bahnhofsplatz«, fügte Gunnarstranda hinzu, »aber das sieht man möglicherweise auf der Aufnahme nicht.«

Kein Ergebnis. Sie hatten den Eingang der Station Grønland im Bild, auch die so genannte Junkietreppe, sie hatten die Gänge, die Bahnsteige, aber keinen roten Jogginganzug. Die Minutenanzeige auf dem Überwachungsbild tickte dahin.

»Mein Fehler«, sagte der Wachmann. »Der Fahrer, der Alarm schlug, meinte, sie sei auf dem Weg nach Süden, von Tøyen.«

Sie riefen neue Bilder auf. »In Tøyen gibt es mehrere Bahnsteige.«

Auf dem Bildschirm gingen Leute hin und her, stiegen aus und ein.

Doch auch hier gab es keinen roten Jogginganzug.

»Vielleicht ist sie mit der Bahn gekommen«, sagte Gunnarstranda.

»Wir haben dasselbe Bild, das der Zugführer sieht, wenn sich die Türen schließen«, sagte der Wachmann.

»Wenn die Person auf den Schienen um sechs Uhr dreißig gesehen wurde, dann suchen wir einen Zug, der kurz davor gehalten hat«, sagte Gunnarstranda.

Weitere Bilder erschienen auf dem Schirm. Züge in voller Länge. Leute stiegen aus. Die Türen wurden geschlossen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Der nächste Zug fuhr ein. Die Türen öffneten sich. Passagiere stiegen aus.

Da. Ein Mensch in einem roten Jogginganzug sprang heraus, als die Türen sich schon wieder schlossen.

»Das ist sie.«

Die Person verschwand aus dem Bild.

»Die Tunneleinfahrt«, sagte Gunnarstranda.

Sie sahen dieselbe rot gekleidete Gestalt den Bahnsteig entlanglaufen, sich umdrehen und auf die Schienen springen. Dann verschwand sie im Dunkel des Tunnels.

Gunnarstranda und der Wachmann starrten auf den Monitor. »Da«, sagte Gunnarstranda lächelnd. »Sie waren zu zweit.«

Bilder lügen nicht. Es war ganz deutlich zu sehen. Eine Person in einer kurzen Jacke mit einer Kapuze über dem Kopf lief hinter Nina Stenshagen her, sprang über die Plastikschranke am Ende des Bahnsteigs, lief die Treppe hinunter und verschwand ebenfalls im Tunnel.

»Der Mann weiß, was passiert ist«, sagte Gunnarstranda. »Er muss nach dem Unfall durch den Notausgang raus sein.«

»Das hilft uns wenig«, sagte der Wachmann düster. »Das bedeutet, dass unsere Leute die beiden einfach übersehen haben, als sie den Tunnel durchsuchten. Das darf eigentlich nicht passieren.«

»War das Licht eingeschaltet, als sie den Tunnel durchsucht haben?«

Der Wachmann nickte. »Aber im Tunnel sind keine Kameras.«

Gunnarstranda schwieg nachdenklich. Dieser Fall begann ihn zu interessieren. Der Mann auf den Bildern folgte Nina Stenshagen in den Tunnel. Warum? Was hatte er getan, als sie sich vor den Zug warf? Warum hatte er sich die ganze Zeit versteckt? Warum verließ er den Tunnel erst nach dem Unfall?

»Können Sie versuchen, das Gesicht des Mannes im Kapuzenpulli heranzuzoomen?«

Der Wachmann spulte zurück.

Er schüttelte den Kopf. »Sieht aus, als hätten wir nur seinen Rücken.«

»Er muss irgendwo eingestiegen sein«, sagte Gunnarstranda.

»Da gibt es viele Möglichkeiten.«

Gunnarstranda stand auf. »Können Sie ein bisschen weitersuchen und mich anrufen, wenn Sie etwas finden?«

6

Lena setzte sich an einen Tisch im Pausenraum, auf dem die aktuelle Boulevardpresse auslag. Mehrere leere und halbleere Tassen standen auf dem Tisch herum. Auf den Zeitungen stand eine Plastikdose mit Pfefferkuchen. Daneben ein Weihnachtsstern. Sie steckte eine Fingerspitze in die Blumenerde. Trocken. Sie griff nach einer halbvollen Teetasse und kippte den Inhalt in den Topf, dann stellte sie die Keksdose weg und griff nach der obersten Zeitung. Nichts über die Wasserleiche vom Rathauskai. Und die Internetzeitungen?

Lena stand auf, ging zurück in ihr Büro und holte ihren Laptop aus der Tasche, die über dem Stuhl hing.

VG-Nett und Dagbladet.no hatten Fotos vom Krankenwagen und dem Personal in Reflexwesten. Aftenposten hatte ein altes Archivfoto von Lena ausgegraben. Sie gefiel sich nie auf Fotos. Auf diesem hatte sie außerdem eine scheußliche Frisur. Die Artikel sagten nichts aus, nur dass eine männliche Leiche gefunden worden war.

Lena konnte sich nicht zurückhalten. Sie ging auf die Startseite des Birkebeiner-Rennens und suchte den Namen Sveinung Adeler. Der Mann war gut in Form gewesen. 2:57:06 Stunden. Das war unglaublich gut! 54 Kilometer von Rena bis Lillehammer auf Skiern in unter drei Stunden! Ihre persönliche Bestzeit war 3:48:24 Stunden. Da war sie auf den letzten zehn Kilometern so fertig gewesen, dass sie allein aus Willenskraft durchgehalten hatte. Abzubrechen hätte bedeutet, bis in alle Ewigkeit von ihren männlichen Kollegen im Allgemeinen und von Emil Yttergjerde im Besonderen verspottet zu werden.

Sie beschloss, den Journalisten Steffen Gjerstad zu googeln, und fand zahlreiche Einträge. Offensichtlich nutzte er mehrere soziale Netzwerke. Sie wurde eingeladen, sich bei Twitter, Facebook und LinkedIn einzuloggen. Stattdessen suchte sie bei Google nach Fotos. Sie blätterte eine Weile. Ziemlich attraktiver Typ. Irgendwie authentisch. Auf zwei der Fotos war er zusammen mit einer Gruppe gleichaltriger Frauen zu sehen. Sie lachten. Es gefiel ihm offenbar, der einzige Mann unter lauter jungen Frauen zu sein. Auf einem Foto sah er mit einem leicht unsicheren Blick zum Fotografen auf. Das gefiel ihr. Das Lächeln auch.

Sie rief die Internetseiten von Dagens Næringsliv auf und gab seinen Namen ein. Schon erschien eine Liste mit Titeln der Artikel, die er geschrieben hatte: Wirtschaftsthemen und Features, ein Artikel über Segelboote, einer über den modernen Dresscode für Männer und einer über Trends und mechanische Schweizer Uhren. Nicht wirklich ihr Interessengebiet.

Aber was für ein Mensch war Steffen privat? Mochte er zum Beispiel Tom Waits? Hatte er auch Plakate von aufreizend gekleideten Sängerinnen an der Schlafzimmerwand?

Sie versah die Seite mit einem Lesezeichen und klappte den Laptop zu.

Das Telefon klingelte. Es war Ragnhild vom Polizeidistrikt Sogn og Fjordane. Lena und Ragnhild hatten zusammen die Polizeischule besucht. Sie plauderten eine Weile, bevor Ragnhild zur Sache kam. Sveinung Adelers Angehörige in Jølster waren vom dortigen Pfarrer benachrichtigt worden, und Ragnhild bot an, den Eltern einen Besuch abzustatten.

Lena nahm dankend an. »Frag sie, ob sie die Telefonnummer seiner Putzhilfe haben. Außerdem wüsste ich gern, mit wem er hier in Oslo so unterwegs war«, sagte sie. »Wäre schön, wenn die Eltern uns da weiterhelfen könnten. Frag, ob er eine Freundin hatte oder ob es Exfreundinnen gibt. Frag sie, wann sie zuletzt mit ihrem Sohn gesprochen haben und ob sie wussten, was er am Mittwochabend vorhatte. Und – warte.«

»Ja?«

»Kannst du sie um ein Foto bitten? So neu wie möglich am besten.«

Dann saß sie eine Weile reglos da. Dachte wieder an Steffen Gjerstad. Gleichzeitig klingelte ihr Handy.

Zwei Leute – ein Gedanke, dachte Lena. Es war Steffen. Sie griff nach dem Telefon. Es vibrierte in ihrer Hand wie ein kleines Herz. Sollte sie drangehen? Er gefiel ihr. Aber es sollte nicht zu schnell gehen.

Emil Yttergjerde kam herein und ging zielstrebig auf den Teller mit Pfefferkuchen zu. »Lena, dein Handy klingelt.«

Lena nickte und steckte es in die Tasche. »Lass es klingeln.«

7

»Ich bin die ganze Zeit davon ausgegangen, dass ich mit der Vermisstenabteilung zusammenarbeiten soll«, sagte Fartein Rise.

Sein Vorgesetzter Rindal sagte nichts. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete Rise mit gesenkten Lidern.

»Ich habe mich auf die Stelle von Frølich beworben«, erklärte Rise. »Und Frølich war für Vermisstenanzeigen zuständig.«

»Frank Frølich wurde suspendiert«, sagte Rindal. »Sein Fall ist noch nicht abgeschlossen. Und bis auf Weiteres wird die Vermisstenabteilung umorganisiert.«

»Aber in der Stellenbeschreibung …«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, unterbrach ihn Rindal. »Die Verantwortung liegt bei mir. Vermisstenanzeigen werden von mir delegiert.«

Rise schien gekränkt.

Rindal holte tief Luft. »Du hast einen guten Job gemacht heute Morgen in der T-Bahn, aber es gab da offenbar irgendwelche Probleme mit den Notausgängen.«

»Gut, dann kümmere ich mich darum.«

»Gunnarstranda ist schon da.«

Rises Gesicht erstarrte.

»Ich habe dich nicht gefunden«, sagte Rindal und nahm sich ein Kaugummi aus der Extra-Packung auf seinem Schreibtisch.

»Du hast zuhause eine schwierige Situation und viel Fahrerei«, sagte Rindal. »Aber manche Fälle verlangen nun mal vollen Einsatz fast rund um die Uhr.«

Bevor Rindal fortfahren konnte, strich sich Rise die Haare hinter die Ohren und unterbrach ihn:

»Der Grund dafür, dass ich mich hier beworben habe, war, dass ich mehr Verantwortung wollte. Ich brauche etwas, woran ich wachsen kann. Das weißt du. Ich habe keine Lust, wöchentlich zwischen Bergen und Oslo hin und her zu pendeln und mich dann nur mit Peanuts zu befassen.«

Rindal lehnte sich zurück und dachte nach. Schließlich griff er nach einem Papier auf seinem Tisch. »Ich habe hier etwas vom Polizeilichen Sicherheitsdienst PSD. Ein verwirrter Brief an eine Parlamentsabgeordnete, wahrscheinlich ein Bluff. Aber überprüfe es. Den Brief soll eine Frau geschrieben haben. Die Parlamentsverwaltung findet den Brief bedrohlich.«

Rindal schob das Papier über den Tisch, und Rise sah es sich missbilligend an.

Rindal musterte ihn.

Fartein Rise nahm das Papier und ging.

»Rise«, sagte Rindal.

Er drehte sich vor der Tür noch einmal um.

»Ich möchte, dass du Gunnarstranda kennen lernst.«

»Und warum?«

Rindal sah zu Boden. »Darüber reden wir später.«

Er drehte seinen Stuhl herum und konzentrierte sich auf seinen Computerbildschirm.

Rise betrachtete ihn einige Sekunden, dann ging er hinaus.

8

Auf dem Weg zu Rindals Büro traf Gunnarstranda Lena Stigersand. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragte er.

Lena sah ihn fragend an.

»Ruf mich in acht Minuten an.«

Lena sah auf die Uhr. »Ab jetzt?«

Gunnarstranda nickte und ging weiter. Er wollte diesen Fall nicht ohne Weiteres aus der Hand geben. Es gab eine Reihe unbeantworteter Fragen zu dem Selbstmord in der T-Bahn.

Rindal hörte schweigend zu, während Gunnarstranda referierte, was er in der Verkehrszentrale der T-Bahn gesehen hatte.

Als Gunnarstranda fertig war, sagte er: »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat der mysteriöse zweite Mann etwas mit dem Geschehen zu tun, oder nicht.«

Es gelang Gunnarstranda tatsächlich, der Versuchung zu widerstehen, darauf etwas zu erwidern.

»Es gibt also zwei Personen, die sich vor den Suchmannschaften verstecken«, wiederholte Rindal, »und weil die Suchtrupps niemanden finden, wird der Strom wieder eingeschaltet, das Licht ausgeschaltet, die Züge fahren weiter und die Frau wirft sich vor den Zug. Wieder wird alles gestoppt und Alarm geschlagen. Die Passagiere werden evakuiert?«

Gunnarstranda nickte. »Sie mussten auf die Schienen runterklettern und wurden zur Haltestelle Grønland zurückgeleitet.«

»Wann war das?«, fragte Rindal.

»Der Unfall passierte um 7.19 Uhr.« Gunnarstranda holte seine Notizen hervor. »Es muss ungefähr so abgelaufen sein: Ein Zugführer sieht eine Person von der Haltestelle Tøyen auf den Schienen in Richtung Grønland laufen und meldet das. Der Strom wird sofort abgeschaltet. Da ist es 6.37 Uhr. Um 6.43 Uhr fangen die Suchmannschaften an, die Strecke abzusuchen. Sie brauchen etwas mehr als zwanzig Minuten, weil da unten Bombenschutzräume und Gänge und sowas sind – das dauert seine Zeit. Sie leuchten durch die Gitter und sehen nach, ob sich jemand dort versteckt. Sie sehen niemanden. Die Strecke ist ungefähr 800 Meter lang. Als sie um 7.03 Uhr durch sind, stellen sie fest, dass der Zugführer sich entweder geirrt hat oder die betreffende Person wieder nach draußen gelaufen ist. Deshalb schicken sie zwei Mann zurück, einen auf jeder Spur, um die Strecke sicherheitshalber noch einmal zu checken. Diese beiden gehen etwas schneller und brauchen ungefähr zehn Minuten. Um 7.17 Uhr melden sie freie Bahn. Der Strom wird wieder eingeschaltet. Die Grorudbahn, die an der Haltestelle Grønland steht, fährt los, und um 7.19 Uhr kommt es zu dem Unfall.«

»Und der Alarm, der angezeigt hat, dass ein Notausgang geöffnet wurde?«

»Der wurde um 7.22 Uhr ausgelöst. Da waren alle Türen des Zuges noch geschlossen, und der Zugführer sprach gerade mit der Verkehrszentrale, um zu berichten, was geschehen war. Die Evakuierung der Passagiere begann erst eine halbe Stunde später.«

Rindal und Gunnarstranda sahen sich einen Moment stumm an.

»Es war jemand im Tunnel, der zusah, als sie sich das Leben nahm«, sagte Rindal mit zweifelnd gerunzelter Stirn.

Gunnarstranda berichtigte seine Schlussfolgerung. »Es war jemand im Tunnel, der weiß, was passiert ist.«

Rindal hob abwehrend beide Hände. »Jetzt geht deine Phantasie mit dir durch. Das hier war ein Selbstmord. Case closed.«

»Sie war ein Hardcore-Junkie. Warum hat sie sich nicht eine Überdosis gesetzt, wenn sie sterben wollte?«

Rindal schloss die Augen. »Ich will gar nicht hören, was du sagst.«

Gunnarstrandas Handy klingelte. Er sah auf das Display und stand auf. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich muss dran gehen.« Er verließ mit dem Telefon am Ohr den Raum. »Einen Moment«, sagte er dann, drehte sich noch einmal zu Rindal um und ließ das Handy sinken. »Zwei Personen, Rindal. Beide verstecken sich. Wie kann es sein, dass der Sicherheitsdienst sie nicht entdeckt? Das ist eine riskante Situation für die T-Bahn, aber auch für die Polizei. Und genau diese Spur gedenke ich zu verfolgen.«

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, bedankte er sich bei Lena und legte auf.

9

Lena hatte Gunnarstranda von der Schlange vor Mikkels Kebab-Bude im Grønlandsleiret aus angerufen. Sie bat den Mann hinter dem Tresen, ihr Essen einzupacken. Die tief stehende Sonne warf lange Schatten und ließ die beißende Luft noch kälter erscheinen, als sie zum Polizeipräsidium zurückstapfte. Am Eingang traf sie auf Fartein Rise, der das Gebäude gerade verlassen wollte.

»Stigersand?«

Sie blieb stehen.

»Sie bearbeiten doch den Fall mit dem Typen, der aus dem Hafenbecken gefischt wurde – Sveinung Adeler, oder?«

Fartein Rise blieb stehen und wickelte sich einen langen Schal um den Hals. Als er fertig war, sah er sie erwartungsvoll an.

»Sieht aus wie ein Unfall. Wahrscheinlich kam er betrunken von einer Weihnachtsfeier und ist auf dem Nachhauseweg ausgerutscht«, sagte sie, um das Schweigen zu beenden. »Wenn ich mit den Pathologen gesprochen habe, weiß ich vielleicht etwas mehr.«

Rise betrachtete sie stumm und mit ernstem Blick.

Die eisige Luft biss in Lenas Ohren, sie war hungrig und wollte ins Haus.

Als sie sich anschickte, weiterzugehen, sagte Fartein Rise schnell: »Was die Weihnachtsfeier gestern Abend angeht: Sveinung Adeler war mit einer Parlamentsabgeordneten essen.«

»Mit wem?«

»Aud Helen Vestgård.«

Lena wartete auf die Fortsetzung, auf einen Zusammenhang. Der kam aber nicht. Mit dem Kerl zu sprechen ist wie mit einem viel zu breiten Messer altes Wachs aus einem Kerzenhalter zu pulen, dachte sie, man kriegt es einfach nicht raus.

»Woher wissen Sie das?«

Rise zwinkerte nur schlau, drehte sich um und wollte schon den Weg hinuntergehen.

Verwirrt stand Lena ein paar Sekunden lang da und sah ihm nach, bevor sie ihm mit schnellen Schritten folgte. »Sie haben doch mehr als nur einen Namen, oder?«

Rise blieb stehen. »Was brauchen Sie denn noch?«

Lena suchte in ihrem Kopf nach einer vernünftigen Antwort. »Egal, irgendwas. Es muss überprüft werden, ob sie überhaupt etwas mit dem Fall zu tun hat.«

»Na klar«, sagte Rise grinsend. »Fragen Sie sie doch. Ist gar nicht so schwer.« Fartein Rise entblößte beim Lächeln eine gleichmäßige Zahnreihe. »Haben Sie Angst, mit Vestgård zu sprechen? Wenn Sie Hilfe brauchen, stehe ich zu Diensten.«

Lena spürte, wie ihr Ärger wuchs. »Wir beide sind Kollegen, wir informieren einander über das, was wir wissen, wir sitzen nicht auf Geheimnissen oder kaufen und verkaufen einander Informationen.«

Fartein Rise legte den Kopf schief, als wüsste er nicht, was sie meinte. »Was wollen Sie damit sagen? Wir arbeiten in einem Team, ja. Und ich habe Ihnen gerade einen Tipp für Ihren Fall gegeben und biete Ihnen meine Hilfe an, oder?«

»Sie könnten ja damit anfangen, mir zu sagen, woher Sie den Tipp haben.«

Rise schwieg beharrlich. Er wollte nicht noch mehr preisgeben, das war offensichtlich. Lena drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen. Sie riss die Tür auf und ging ins Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Aber sie machte sich schon wieder Vorwürfe. Sie hätte nicht so wütend auf Rise werden dürfen. Sein Tipp war nützlich. Sveinung Adeler arbeitete im Finanzministerium. Nicht unnatürlich, dass er mit einer lokalen Politikerin zu Abend aß. Aber Rise hatte irgendwie den Anschein erweckt, als wären die beiden allein gewesen. Aud Helen Vestgård war eine verheiratete, attraktive Politikerin. Ab und zu trat sie im Fernsehen auf. Sie bezog Stellung zu brisanten Themen und gab immer sehr schlagfertige Antworten, wenn sie zur besten Sendezeit zu Politshows eingeladen wurde. Wenn sie mit einem jüngeren Angestellten essen gegangen war – würde das die Dinge komplizierter machen?

Lena schob die Gedanken beiseite. Sie musste sowieso mit Aud Helen Vestgård sprechen.

10

Der Spiegel hatte Form und Größe eines Din-A4-Blattes. Der Rahmen war schmal, aber fein gearbeitet. An den Rändern war die Fläche ein wenig gesprungen. Der ist richtig alt, dachte Gunnarstranda. Das Alter hat sich an den Rändern des Spiegels festgesetzt, es sieht ein bisschen aus wie Kopfsteinpflaster. Als er sich darin betrachtete, erkannte er sich kaum wieder. Die Wangen waren ausgebeult, und seine Nase bekam langsam die Form einer Kartoffel. Der Spiegel war mit anderen Worten unbrauchbar. Trotzdem überlegte er, ihn zu kaufen. Er wusste, dass Tove diesen Spiegel lieben würde. Er war das perfekte Weihnachtsgeschenk für jemanden, der sich für Antiquitäten interessierte. Und dennoch. Auch wenn der Spiegel ein richtiges Kleinod war, so konnte er sich doch nicht überwinden, ihn zu kaufen. Er stellte ihn zurück, vermied es, dem Verkäufer in die Augen zu schauen, und verließ den Gebrauchtwarenladen.

Draußen war es dunkel geworden. Er war überhaupt nur hier vorbeigegangen, weil er nach dem Bus suchte, in dem die Heilsarmee besonders bedürftige Drogenabhängige betreute. Er musste mehr über die tote Nina Stenshagen in Erfahrung bringen. Das bedeutete, dass er jemanden finden musste, der etwas wusste und außerdem auch noch glaubwürdig war. Das war in Nina Stenshagens Kreisen gar nicht so einfach.

Er ging in Richtung Jernbanetorget und entdeckte den Bus, als er in die Dronningens Gate einbog. Der Bus war alt, aus den 80er Jahren, und spuckte dicke schwarze Dieselschwaden aus. Gunnarstranda winkte, und der Bus hielt am Straßenrand. Die vordere Tür wurde geöffnet, und Gunnarstranda stieg ein.

Es war fast niemand an Bord. Nur drei, vier erschöpfte Junkies saßen ganz hinten und aßen ihre Lunchpakete.

Der Bus fuhr weiter. Gunnarstranda lehnte sich an eine Haltestange und zeigte dem Fahrer seinen Ausweis. Der Mann war in den Vierzigern, hatte langes graues Haar und einen Pferdeschwanz und trug die Uniform der Heilsarmee.

»Es geht um Nina Stenshagen«, sagte Gunnarstranda.

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist tot.«

»Überdosis?«

Gunnarstranda schüttelte den Kopf. »Sie ist heute Morgen im Tunnel zwischen Tøyen und Grønland unter einen T-Bahnzug geraten. Ich versuche, die Umstände zu klären.«

»Tja, da können wir Ihnen wohl leider nicht weiterhelfen.«

»Kannten Sie sie?«

»Man kennt Leute wie Nina nie wirklich, aber ich weiß, wer sie war. Hab ein paar Mal mit ihr zu tun gehabt.«

Gunnarstranda hielt sich fest, als die Ampel auf Grün sprang und der Mann Gas gab. »Hatte sie Feinde?«

»Nina? Kann ich mir kaum vorstellen. Sie hatte genug damit zu tun zu überleben, die Arme. Keine Feinde – wenn sie nicht irgendjemandem den Morgenschuss geklaut hat.«

Gunnarstranda schaute nach hinten. Einer der Passagiere ließ einen Karton Kakao herumgehen.

»Ist das wahrscheinlich?«

»Was?«

»War Nina der Typ, der anderen Stoff klaut?«

Der Mann am Steuer lächelte Gunnarstranda an, als sei die Antwort völlig klar.

»Wissen Sie, mit wem sie unterwegs war?«, fragte Gunnarstranda weiter.

»Sie hatte einen Freund, Stig. Schon ziemlich lange sogar. Das ist auch eine tragische Geschichte. Irgendwann war Nina mal auf Methadon. Vor fünf, sechs Jahren. Sie hat versucht, rauszukommen. Stig war nie auf Metadon. Also kam es, wie es kommen musste. Warten Sie, ich frag mal nach.« Er drehte sich um und rief nach hinten in den Bus: »Weiß jemand von euch, wo Stig ist, Stig Eriksen, der mit Nina zusammen war?«

Keiner antwortete. Aber einer von ihnen stand auf und stolperte nach vorn.

»Ist das alles?«, fragte Gunnarstranda den Fahrer. »Sie hatte einen Freund, hat versucht, rauszukommen, aber sonst? Wie ist sie an der Nadel gelandet? Woher kam sie? Hat sie zum Beispiel Dialekt gesprochen?«

»Nina war ein Oslomädel.«

»Und ihre Vergangenheit? Irgendwelche Jobs?«

Der Fahrer zuckte mit den Schultern. Wieder hielt er vor einer roten Ampel. »Keine Ahnung.«

»Aber ich weiß es«, sagte der Typ, der sich von hinten zu ihnen nach vorn gesellt hatte. Er war mager und hatte ein runzliges Gesicht. An einen der Sitze gelehnt drehte er sich mit zitternden Händen eine Zigarette.

Gunnarstranda beobachtete schweigend, wie er die Zigarette zwischen die Lippen schob und den Tabak in die Hosentasche steckte. Rød Miks. Die Marke hatte er früher selbst einmal geraucht.

»Nina hat bei der T-Bahn gearbeitet«, sagte der Typ. »Als sie noch eine ruhige Hand hatte, hat sie mehrere Jahre lang die Østensjøbahn gefahren. Schichtarbeit natürlich. Ist doch immer das Gleiche: Sie kriegen Schlafprobleme, fangen an, Pillen zu nehmen, fangen an zu mixen, irgendwann kriegen sie keine Rezepte mehr. Tja, und dann müssen sie die Pillen auf der Straße kaufen. Und am Ende landen sie bei uns.« Er grinste und entblößte eine Reihe dunkler Zahnstummel im Unterkiefer. »So schief kann es laufen.«

Der Fahrer öffnete ihm die Tür, und der Mann sprang hinaus. »Passt auf eure Kinder auf«, rief er Gunnarstranda und dem Fahrer zu und verschwand.

11

Es war so kalt, dass der Winterdienst kein Salz streuen konnte. Leichter Schnee, der sich mit älterer, gefrorener Salzlake mischte, machte die Fahrbahn auf dem Drammensveien glatt und rutschig. Lena fuhr vorsichtig und blieb den ganzen Weg stadtauswärts auf der rechten Spur. Der Schnee lag grau und braun am Straßenrand. Bei Lysaker bog sie ab. Je weiter sie nach Bærum hineinfuhr, umso sauberer und weißer wurde der Schnee.

Die Straßenlaternen entlang des von Villen gesäumten Weges tauchten die Landschaft in ein dunkelgelbes Licht. Lena parkte vor einem Schneewall am Straßenrand.

Das Haus, in dem Aud Helen Vestgård und ihre Familie wohnten, thronte wie eine Burg ein paar Meter hinter dem Maschendrahtzaun im Winterdunkel. Alle Fenster waren erleuchtet, aber kein Bewohner war zu sehen.

Lena hatte den Zeitpunkt mit Bedacht gewählt. Die wichtigsten Nachrichtensendungen waren vorbei, und es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis die Talkshows begannen. Also würde sie vermutlich nicht weiter stören.

Zwei Gestalten kamen den Hügel herauf. Es waren zwei junge Frauen. Die eine hatte lange blonde Locken, die beim Gehen wippten. Die andere hatte einen breiten Schal um Kopf und Schultern geschlungen. Beide verschwanden durch das Tor zu Vestgårds Haus. Die Töchter des Hauses, dachte Lena, oder die Tochter des Hauses mit einer Freundin. Lena sah ihnen nach, wie sie die Tür aufschlossen und ins Haus gingen. Sobald die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, stieg sie aus ihrem Wagen.

Sie drückte die Klingel. Von drinnen war nichts zu hören. Es vergingen ein paar lange Sekunden, dann wurde die breite Eingangstür von einem Mann in den Fünfzigern geöffnet. Lena kannte sein Gesicht. Es war Frikk Råholt, Aud Helen Vestgårds Mann und Staatssekretär in irgendeinem Ministerium. Sie hatte sein Gesicht schon häufig im Fernsehen gesehen. Trotzdem war sie überrascht, wie klein er war. Sein Gesicht war fein geschnitten und ansprechend, das nach hinten gekämmte Haar wurde an den Schläfen grau. Fragend schaute er sie an.

Lena zeigte ihren Ausweis. »Lena Stigersand, Kriminalpolizei Oslo. Ich würde gern mit Aud Helen Vestgård sprechen.«

Frikk Råholt schien überrascht, aber seine gute Erziehung siegte. Er hielt ihr die Tür auf und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.«

Er schloss die Tür hinter ihr. »Warten Sie hier, ich werde Bescheid sagen.« Er ging.

Der Flur war groß und einladend. An der Wand befand sich eine breite Garderobe mit Schiebetüren, und der Boden war schwarz gefliest.

Aus der Tiefe des Hauses erklang eine Radiomelodie: Dean Martin sang Let it snow.

Dean Martin wurde leiser, und die Stimme eines Radiomoderators ertönte.

In Lenas Körper machte sich schleichend das Gefühl breit, einen Fehler gemacht zu haben. Sie sah auf die Uhr. Es waren mehrere Minuten vergangen, seit Råholt sie hereingelassen hatte. Was machte das Ehepaar nur so lange?

Ein neues Weihnachtslied ertönte. Ich sah, wie Mama den Weihnachtsmann küsste.

Lena setzte sich auf eine Bank neben der Eingangstür. Wenn Aud Helen Vestgård gestern Abend mit Sveinung Adeler essen gegangen war, hatte sie selbstverständlich auf dem Präsidium Bescheid gesagt. Herrgott noch mal, der Name des Ertrunkenen war vor vielen Stunden bekannt gegeben worden, und wenn Parlamentsmitglieder etwas regelmäßig taten, dann war das doch wohl das Verfolgen von Nachrichten, sei es im Fernsehen, Radio oder Internet.

Lena drehte den Kopf und zuckte zusammen.

Auf der Türschwelle stand Aud Helen Vestgård und betrachtete sie.

Lena sprang auf wie ein Schulmädchen, das auf frischer Tat beim Schlafen im Unterricht erwischt wird.

»Frau Stigersand?« Aud Helen Vestgård reichte ihr die Hand. Für eine Frau über vierzig hatte sie sich sehr gut gehalten. Sie verbrachte garantiert viel Zeit beim Sport. Ihr ganzer Stil war ein anderer als der ihres Ehemannes. Vestgård trug Jeans und ein knallrotes Oberteil, das ihre Figur betonte und sie gleichzeitig jugendlich lässig aussehen ließ.

»Ich bin, wie Sie sicher verstehen, ziemlich gespannt«, sagte Vestgård mit ihrer angenehmen Stimme. »Haben Sie etwas herausgefunden?«

Lena hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, und musste dies mit einem unsicheren Lächeln um die Lippen zugeben.

Vestgård betrachtete Lena verwundert, erklärte aber: »Die Parlamentsverwaltung hat die Polizei über einen Brief informiert, den ich im Parlament bekommen habe. Es war ein verwirrter Brief, aber der Inhalt war eigentlich nicht misszuverstehen. Es war eine Morddrohung. Sehe ich es richtig, dass Sie nicht wegen dieses Briefes hier sind?«

Lena konzentrierte sich auf ihre Wortwahl, als sie antwortete: »Von einem Brief weiß ich leider nichts. Ich erforsche die Umstände um den Tod von Sveinung Adeler.«

Aud Helen Vestgård sah sie immer noch freundlich, aber fragend an: »Ach so?«

Lena zögerte und wählte ihre Worte mit Bedacht: »Ich dachte, Sie kennen ihn?«

»Das tue ich nicht.«

Aud Helen Vestgård schob ihre Hände in die Hosentaschen. Die Hose war so eng, dass nur ihre Fingerspitzen in die Taschenöffnung passten. »Entschuldigen Sie die Frage, aber woher glauben Sie zu wissen, dass ich diesen Mann kenne?«

Dieses Treffen nahm eine völlig andere Wendung als erwartet. Lena schwitzte in ihrer dicken Kleidung und öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke. »Ihr Name wurde erwähnt, und dann sind wir verpflichtet, die Zusammenhänge zu überprüfen. Wir versuchen, alle Umstände um Adelers Tod zu erfassen und …«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen.

»Können Sie mir bitte sagen, worum es eigentlich geht? Wer ist dieser Adeler, und was ist passiert?«

Lena ließ die Worte auf sich wirken. Die Frage stand der Parlamentsabgeordneten außerordentlich schlecht zu Gesicht. Ein Angestellter des Finanzministeriums war am Morgen im Hafenbecken aufgefunden worden. Der Tod des jungen Mannes war in aller Munde, und sie, die Parlamentsabgeordnete, wollte nicht wissen, was geschehen war?

»Er ist ertrunken«, sagte Lena mit Pokerface. »Letzte Nacht oder heute Morgen. Tragische Geschichte. Sveinung Adeler starb, nachdem er vor dem Rathauskai ins Wasser fiel. Aber es haben sich noch keine Zeugen gemeldet, und bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen, müssen wir versuchen, nachzuvollziehen, was tatsächlich geschehen ist. Er war angezogen, als wäre er gestern bei einer Feier gewesen, und wir haben einen Hinweis bekommen, dass er tatsächlich gestern bei einer Weihnachtsfeier war, auf der Sie auch anwesend waren. Das ist also nicht der Fall?«

»Nein, das ist nicht der Fall.«

Lena wartete. Aber es kam nichts mehr. »Wo waren Sie gestern Abend?«

Vestgård lächelte schwach, fast ein wenig anerkennend. »Zuhause.« Sie fügte hinzu: »Hier, bei Mann und Kindern.«

Lena beschloss zu gehen.

»Sie verstehen sicher, dass ich das alles merkwürdig finde«, sagte Vestgård, noch immer mit den Fingerspitzen in den Hosentaschen. »Der Sicherheitsdienst meldet der Polizei einen Drohbrief. Obwohl ich vorher nicht ängstlich war, habe ich doch Todesangst bekommen. Das ist schließlich etwas over the top, dass jemand einen tot sehen möchte und dass der Sicherheitsdienst die Sache ernst nimmt, nicht wahr?«

Lena nickte. Das verstand sie.

»Und dann kommt die Polizei und fragt mich stattdessen etwas ganz anderes?«

Die Frau hielt Lenas Blick stand.

»Ich kann mich nur entschuldigen«, sagte Lena mitfühlend. »Andererseits bin ich natürlich froh, dass ich in meinem Fall etwas weitergekommen bin.«

Lena zog sich die Handschuhe an und griff nach der Türklinke hinter sich. »Ich bedanke mich trotzdem, dass Sie sich Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen.«

Vestgård sagte gar nichts.

»Schönen Abend noch«, sagte Lena und stolperte hinaus.

Lena ging mit raschen Schritten die Auffahrt hinunter und zum Tor hinaus. Ihre Hände wollten ihr nicht gehorchen, als sie den Wagen aufschloss. Ihr kleiner Micra war ebenso fehl am Platz in dieser Umgebung wie sie selbst.

Sie hob den Kopf ein wenig und atmete die frische kalte Luft ein. Dabei entdeckte sie ein anderes kleines Auto, das ein paar Meter weiter parkte. Ein schwarzer Fiat 500.

Lena fand den Wagen total cool, perfekt und schick, original dasselbe Design wie der alte Klassiker. Dieser hier hatte sogar ein Klappverdeck – ein Cabrio! Sie hätte sich zu gern selbst so eins gekauft, wenn sie sich nur ein neues Auto leisten könnte. Bis es so weit war, musste es genügen, davon zu träumen.

Als Lena klein war, hatte ihr Vater ein Fiat 500 Originalmodell in der Garage stehen gehabt. Der Oldtimer war sein großes Hobby, und jeden Winter brachte er ihn in Schuss, um im Sommer damit fahren zu können. Er hatte das Auto geliebt, und er hatte es geliebt, daran herumzuschrauben. Das Auto war auch für sie ein Abenteuer gewesen. Klein und eng – man fühlte sich, als führe man mit einem Spielzeugauto durch die Straßen. Und jedes Mal, wenn Lena das Foto eines Fiat 500 sah, dachte sie an das Kopfkissen, das sie als kleines Mädchen gehabt hatte. Ein weißes Kissen mit einem schwarzen Fleck. Sie lächelte bei dem Gedanken. Es war nicht ihre Schuld gewesen. Sie hatte vergessen, dass sie schmutzig war. Papa hatte Öl auf ihre Nase gerieben, als er auf dem Rücken lag und schraubte und sie sich hinunterbeugte, um ihm zu sagen, dass es Abendessen gab.

Sie öffnete die Fahrertür ihres Micra und wollte sich gerade hineinsetzen, da bemerkte sie, dass in dem Fiat unter der Straßenlaterne jemand saß.

Lena stieg ein, warf den Motor an und drehte die Heizung auf. Der Person in dem Fiat musste eiskalt sein. Der Wagen hatte offensichtlich schon eine Weile so gestanden, denn auf der Innenseite der Windschutzscheibe hatte sich eine Eisschicht gebildet. Warum hatte die Person nicht den Motor und die Heizung laufen?

Sie warf einen letzten Blick auf das Haus. An einem Fenster im ersten Stock standen Vestgård und ihr Mann und betrachteten sie. Sie dachte daran, was Vestgård über die Drohungen gesagt hatte. Was es in dieser Welt alles gibt, dachte Lena. Aber schließlich bin ich Polizistin. Sie öffnete ihre Tasche, zog einen Stift und einen Zettel heraus und notierte sich die Autonummer.

Den ganzen Weg zum Drammensveien hinunter war Lena in Gedanken versunken. Wie im Schlaf fuhr sie nach Hause und überlegte dabei, was sie noch tun wollte: zum Beispiel Ski laufen. Genau! Sie würde auf jeden Fall Ski laufen gehen.

Blind tastete sie nach einer CD im Stapel und legte sie ein. Sogleich erklang Tom Waits’ Stimme, begleitet von Leierkastentönen, Rain Dogs zu singen.

Lenaversank in Gedanken, bis sie ihren Wohnblock im Tvetenveien erreichte und in die Tiefgarage fuhr. Zufällig warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Ein Auto fuhr langsam hinter ihr die Straße entlang. Ein schwarzer, moderner Fiat 500 mit Klappverdeck.

War das möglich? Sie hielt an. Noch ein solches Auto? Irgendwie erschien ihr das unwahrscheinlich. Nachdenklich saß sie da und sah zu, wie das Garagentor hinter ihr herunterrollte.

Zwei Fiats 500 im Abstand von zwanzig Minuten – na gut. Aber beide schwarz und beide Cabriolets?

Konnte das ein Zufall sein?

Sie schob den Gedanken beiseite und fuhr auf ihren Parkplatz.

12

Der Schnee auf der beleuchteten Loipe war bestimmt ziemlich hart. Bei der Kälte würden die meisten Skiläufer wahrscheinlich zuhause bleiben, deshalb war er möglicherweise sogar gefroren, was die Loipe immer schwergängig machte. Dann würde sie nicht viel Haftwachs brauchen, dafür umso mehr Gleitwachs. Sie holte ihre Skier aus dem Flurschrank, lehnte sie mit der Unterseite nach vorn an die Küchenanrichte und fuhr prüfend mit der Hand darüber. Was für ein Wachs hatte sie zuletzt benutzt? Lila? Oder Blau? Jedenfalls musste es herunter. Sie holte das Wachseisen heraus und schaltete es ein. Dann legte sie Löschpapier auf und strich das heiße Eisen hin und her, so dass das Papier die Reste des alten Wachses aufsaugte. Die letzten Reste ließen sich leicht mit dem Messer entfernen. Anschließend rieb sie die Skier kräftig mit neuem Wachs ein und schmolz das Gleitwachs mit dem heißen Eisen fest. Sie schaute auf das Thermometer vor dem Fenster. Minus achtzehn Grad. Also konnten in der Loipe unter minus zwanzig Grad sein. Hellblaues VR 30 müsste passen. Noch einmal strich sie die Skier unter den Bindungen zweimal leicht ein und verteilte das Wachs langsam mit dem Korken. So. Perfekt. Wenn Lena das Birkebeiner-Rennen fahren wollte, musste sie jede Woche trainieren. Langsam sowohl die Länge der Strecke als auch das Tempo erhöhen. Sie zog sich Wollunterwäsche und Skihosen an, gönnte sich einen extra Wollpullover unter der Jacke und lief die Treppen hinunter zum Auto.

Sie fuhr nach Ellingsrud und lief ihre gewohnte Runde bis Mariholtet und zurück. Die Loipe war wie erwartet hart und vereist. Der Schnee war grenzwertig. Der Untergrund klebte. Sogar bei ein paar leichten Abfahrten musste sie Kraft aufwenden, um nicht langsamer zu werden. Dafür konnte sie sogar die steilsten Hänge leicht hinauflaufen, ohne ein einziges Mal auszurutschen. Die Kälte biss ihr in Zehen und Kinn, und ihr Atem kondensierte im Haar zu Raureif. Aber sie lief sich warm. Die Scheinwerfer entlang der Loipe warfen eine Art Bühnenlicht auf den Schnee und ließen die Dunkelheit ringsherum noch kompakter erscheinen. Das einzig vernehmbare Geräusch war das trockene Einstechen der Stöcke und das leise Surren der Skier auf dem Schnee. Ab und zu war es so still, dass sie das Knistern der Scheinwerfer hören konnte. Unter diesen Bedingungen wäre es durchaus möglich gewesen, die Tour auch im Dunkeln zu laufen, aber das Licht machte es zu einem angenehmeren Erlebnis.

Nach dem Duschen stand sie vor dem Spiegel und trocknete sich ab. Die Haut unter ihren Augen hatte einen dunklen Ton bekommen. Ich sehe erschöpft aus, dachte sie. Ich bin fast 34 und sehe erschöpft aus. Sie richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Betrachtete ihren nackten Körper, drehte und streckte sich. Dann spannte sie den Bauch und die Muskeln der Oberarme an.

Ihre Brüste waren etwas zu schwer.

Sie legte das Handtuch weg und hob ihre Brüste an. Da spürte sie mit dem Zeigefinger eine Verhärtung in der Nähe der Brustwarze.

Einen kurzen Moment lang begegnete sie ihrem eigenen angstvollen Blick im Spiegel. Dann umfasste sie noch einmal mit beiden Händen ihre Brust.

Tastete erneut. Ja, sie hatte richtig gefühlt. Da war ein Knoten.

Zum Vergleich tastete sie ihre rechte Brust ab. Diese war ganz weich, keine Verhärtung.

Lena war plötzlich wieder genauso heiß wie nach der Skitour. Der Dampf und die Stille in ihrem Kopf nahmen ihr den Atem. Sie öffnete die Tür zum Flur, ging nackt ins Wohnzimmer und starrte eine Weile ins Leere. Bilder flimmerten durch ihren Kopf.

Sie sah ihren geliebten Vater, der im Laufe weniger Wochen alle möglichen Nebenwirkungen einer Chemotherapie bekommen hatte: enormen Gewichtsverlust und eine Lungenentzündung nach der anderen, bis er die Kontrolle über seine Beine verlor. Er bekam eine Infektion und Probleme mit den Zähnen, schließlich verlor er auch noch seine Haare, bis nur noch wenige Strähnen an seinem Kopf herabhingen, die er sich trotzig nach hinten kämmte. Ihr Vater hatte sich in einen Schatten seiner selbst verwandelt. Er war gefangen in den Krallen des Todes, die ihn zerquetschten und seinen mageren Körper quälten und ihn mit jedem Tag, den er durchlitt, dem Ende etwas näher brachten.

Lena war jetzt fast ebenso kalt, wie ihr vorher heiß gewesen war.

War das möglich? Dass man einfach seine Brust berührte, und schon stand das ganze Leben auf dem Kopf?

Nein, sagte sie sich, ich bin stark! Sie starrte ihr Spiegelbild im Fenster an. Ein geschmeidiger Körper, durchtrainiert und muskulös.

Ja, sie war stark, aber was würde in ein paar Monaten sein? Wenn ihr Körper geschwächt wäre von Bestrahlung und Chemotherapie und keine Immunabwehr mehr besaß?

Sie sank auf einen Sessel und ermahnte sich: Bleib ruhig. Es kann auch ein ungefährlicher Fettknoten sein, oder ein Splitter, auf den du mit vier Jahren getreten bist, der sich eingekapselt hat und im Körper umhergewandert ist und jetzt an einer völlig anderen Stelle wieder auftaucht. Plötzlich war sie sich sicher. Das war die Erklärung. Genau das war nämlich schon einmal passiert, als sie sechzehn war und einen Knoten am Arm hatte. Nach ein paar Wochen hatte sie ein ungefährliches, winziges Sandkorn herausgepult.

Plötzlich schienen ihr all die Gedanken an Krankheit absurd. Sie war gesund. Es gab keinen Knoten. Es konnte einfach nicht sein. Es musste etwas anderes sein.

Sie ließ ihre Finger aufmerksam die linke Brust entlangwandern und fühlte nichts. Wurde übermütig und drückte fester zu. Da spürte sie ihn wieder, aber er war klein – klitzeklein. Eine winzige Verhärtung. Sie sah auf, sah sich plötzlich wieder im Spiegel der Fensterscheibe und ertappte sich bei einem Selbstbetrug.

Am ganzen Körper glühend, stand sie auf und zog sich an. Ihr Körper hatte auf Autopilot geschaltet. Sie ging hinunter in den Kellerverschlag und holte den Karton mit dem Weihnachtsschmuck. Wieder im Wohnzimmer kramte sie Weihnachtsmänner und Kerzenhalter heraus, während sie an etwas ganz anderes dachte. Hier sitze ich mit einer Weihnachtsfrau in der Hand. Lena betrachtete das schrumplige Gesicht und dachte: Herrgott noch mal, was tue ich denn hier?

Sie ließ die Weihnachtsfrau wieder in die Kiste fallen und ging in die Küche. Im untersten Fach des Kühlschranks standen acht kleine Flaschen Sekt und Prosecco. Ihre Freunde wussten, dass Lena Perlwein mochte und ihn in kleinen Flaschen sammelte. Sie brachten sie ihr als Geschenk mit, wenn sie ins Ausland reisten. Lena betrachtete die Auswahl und entschied sich für einen Prosecco. Sie las das Etikett: Villa Sando Fresco, öffnete die kleine Flasche und goss sich ein Sektglas ein. Anschließend holte sie die Packung mit den Crackern aus dem Schrank und dazu Käse. Chèvre. Der Käse unter der Käseglocke hatte seine besten Tage hinter sich. Aber mit Honig und Nüssen war es der herrlichste Luxus der Welt. Drei dünne Cracker, auf jedem ein Stück Chèvre, jedes Stück Käse mit einer Haselnuss verziert, die wiederum mit Honig glasiert war.

Sie drapierte alles auf einem Teller und trug ihn ins Wohnzimmer. Zappte durch die Kanäle. Ernste Männergesichter redeten – schnell ein neuer Kanal. Eine Reality-Show mit blonden Mädchen, die tiefe Dekolletees entblößten …

Aber Lena wollte etwas Lustiges sehen. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer, wo das Regal mit den DVDs stand. Ihr Blick fiel auf Das Piano. Sie liebte diesen Film. Die Beziehung zwischen der stummen Ada und dem tätowierten George lebte von Begehren und verbotener Liebe. Aber Das Piano lud auch nicht gerade zum Lachen ein. Lena schob den Film zurück und suchte stattdessen nach Notting Hill.

Kurz darauf saß sie wieder vor dem Fernseher und sah Hugh Grant als attraktiven Buchhändler und die Märchenprinzessin, wie sie Bücher anschaute. Lena konnte sich nicht auf den Film konzentrieren. Ihr fiel auf, dass das Proseccoglas leer war. Sie ging in die Küche. Der Prosecco war alle. Die Flaschen klirrten, als sie einen Henkell Trocken herausnahm. Sie setzte sich wieder vor den Fernseher. Spulte den Film vor bis zu der Stelle, wo Hugh Grant sich als Journalist ausgibt und sich als Vertreter der Zeitschrift Horse and Hound vorstellt. Aber die Szene kam ihr gar nicht mehr lustig vor.

Sie verspürte den Drang, noch einmal ihre linke Brust abzutasten, zwang sich aber, es zu lassen.

Lena legte die Füße auf den Tisch, deckte sich mit einem Plaid zu und starrte an die Decke. Als sie aufwachte, war der Film vorbei. Sie fror unter dem Plaid.

Mühsam stand sie auf, trottete ins Schlafzimmer und kuschelte sich unter ihre Bettdecke.