MONTAG, 21. DEZEMBER
1
Erst als sie am Montagmorgen im Bus saß, dachte Lena wieder an Sveinung Adeler und die Frau, mit der er in der Nacht, bevor er ertrank, zusammen gewesen war. Sie war gerade in den Bus gesprungen, da klingelte ihr Handy.
Es war Gunnarstranda.
»Hast du den Zettel gesehen, den ich in Adelers Wohnung gefunden habe?«, fragte Lena. »Die mysteriöse L., die ihn unterschrieben hat, heißt Lisbet Enderud und wohnt in der Bygdøy Allé. Sie und Adeler …«
»Ich wusste doch, dass ich die Handschrift schon mal irgendwo gesehen hatte!«, unterbrach sie Gunnarstranda.
Lena schwieg und fiel auf den Sitz, als sich der Bus in Bewegung setzte.
»Ich habe ihre Notizen gesehen. Lisbet Enderud ist die Frau, die den Drohbrief an Vestgård unterzeichnet hat. Ich habe ihre Notizen mit dem Drohbrief verglichen, um zu sehen, ob es ihre Handschrift war.«
Lena wurde schwindelig.
Gunnarstranda lachte glucksend. »Das Mädel wohnt in der Bygdøy Allé? Blond und süß und mit vielen Lehrbüchern überall in der Wohnung?«
»Genau.«
»Das ist sie«, sagte Gunnarstranda.
Lena schluckte. Die Spur, die sie am Samstagabend verfolgt hatte, wurde immer heißer.
Die Stille am anderen Ende der Leitung sagte ihr, dass Gunnarstranda dasselbe dachte.
»Ich rufe dich wieder an«, sagte Lena und sah auf die Uhr. »Nein. Wir sehen uns in zehn Minuten.«
Danach rief sie Lisbet Enderud an. Es klingelte zweimal, dann meldete sich Lisbet.
»Hallo, ich bin’s, Lena Stigersand.«
»Hei«, sagte Lisbet. »Was gibt es?«
»Ich rufe an, weil ich Sie etwas fragen muss. Letzten Freitag hat sich ein kleiner, kahlköpfiger Bulle mit Holzschuhen an den Füßen bei Ihnen gemeldet und Sie wegen eines Drohbriefs befragt, stimmt das?«
Lisbet konnte das bestätigen.
»Hat Sie sonst noch jemand nach diesem Brief gefragt?«
»Nein. Ich war total baff, erstmal natürlich wegen des Briefes, aber auch, weil der komische Typ behauptet hat, er sei Polizist.«
Lena dankte ihr.
»Kann ich Sie noch etwas fragen?«, fragte Lisbet.
»Ja.«
»Haben Sie mit Olaf gesprochen?«
»Wenn wir das tun, werden wir Ihnen Bescheid geben.«
Lena beendete das Gespräch und konzentrierte sich darauf, mögliche Ursachenketten zu durchdenken:
Gunnarstranda war am Freitag, dem 11. Dezember, bei Lisbet Enderud aufgetaucht. Zwar hätte Fartein Rise das eigentlich schon am Donnerstag tun sollen, aber der hatte den Auftrag nicht ausgeführt. Rindal musste diesen Auftrag also wenige Stunden, nachdem Sveinung Adelers Leiche gefunden wurde, vom Sicherheitsdienst im Parlament bekommen haben.
Wann konnte der Brief im Parlamentsgebäude eingegangen sein? Da der Brief eine Drohung gegen eine Abgeordnete enthielt, war er sofort dem Sicherheitsdienst übermittelt worden, der ihn wahrscheinlich schnell begutachtet und dann an Rindal geschickt hatte, der wiederum …
Der Brief musste am Donnerstag morgens oder vormittags im Stortinget angekommen sein – am selben Tag, an dem Sveinung Adelers Leiche gefunden wurde. Das war nicht nur wahrscheinlich. Es konnte gar nicht anders gewesen sein. Wenn der Brief am Tag davor, am Mittwoch, angekommen wäre, dann wäre noch am selben Abend oder in der Nacht zum Donnerstag jemand bei Lisbet Enderud aufgelaufen.
Lena konzentrierte sich darauf, den Handlungsverlauf zu rekonstruieren:
Am Mittwochabend geht Sveinung Adeler mit Aud Helen Vestgård und Asim Shamoun aus. Um 23 Uhr gehen sie wieder auseinander. Eine halbe Stunde später kommt Sveinung Adeler in Lisbet Enderuds Wohnung an. Sie verbringen die Nacht miteinander, und er verlässt die Wohnung erst gegen fünf Uhr morgens. Höchstens eine halbe Stunde später wird er vom Kai gestoßen, mit einem Brett unter Wasser gedrückt und ertrinkt. Der Täter folgt der Augenzeugin Nina Stenshagen in die T-Bahn, in einen Zug, wieder heraus und dann in einen Tunnel. Er erschießt Nina, täuscht einen Unfall vor und verschwindet spurlos.
Kurz darauf, wahrscheinlich gegen neun Uhr morgens, wird die Post im Parlament geöffnet, und Aud Helen Vestgård erhält eine Morddrohung, die mit Lisbet Enderud unterzeichnet ist.
Gunnarstranda meinte, Lisbet könne den Brief nicht geschrieben haben. Er vertrat die Theorie, dass die Morddrohung ein Hinweis war – ein Brief von einer unbekannten Person an Vestgård im Parlamentsgebäude adressiert –, um Lisbet zu diskreditieren.
Mit anderen Worten: Jemand – der Briefschreiber – wollte die Polizei auf Lisbet Enderud ansetzen. Warum? Weshalb ausgerechnet Lisbet? Und warum bekam ausgerechnet Aud Helen Vestgård diesen Drohbrief?
Drei Fragen. Lena kannte die Antworten nicht. Aber ihr war klar, was diese Fragen und deren Antworten in jedem Fall bedeuteten: Die Morddrohung musste mit Sveinung Adelers Tod in Verbindung stehen.
Selbstverständlich musste sie noch das Alibi von Lisbets Verlobtem überprüfen. Das ist ein Job für Yttergjerde, dachte sie und rief Emil sofort an.
Mit dem Handy am Ohr ließ sie ihren Blick über die Werbeplakate im Bus wandern. Nächste Haltestelle. Es wurde voller.
Auf dem Sitz vor ihr saß ein Mann und las eine Zeitung mit rosa Seiten, Dagens Næringsliv.
Lena reckte den Hals und sah ihm über die Schulter. Sie sah ein Foto von Aud Helen Vestgård und Asim Shamoun.
Der Passagier blätterte um.
Ihr brach der Schweiß aus. Was hatte die Zeitung wohl diesmal zu berichten?
2
Lena stieg am Jernbanetorget aus und ging gegen den Strom in die Halle des alten Ostbahnhofs, um eine Zeitung zu kaufen.
Der Fall wurde mit einem kleinen Teaser am Rand der Titelseite erwähnt: Vestgård entdramatisiert umstrittenes Treffen.
Lena wunderte sich über Steffens defensive Wortwahl. Was er zuvor als politische Konspiration dargestellt hatte, wurde jetzt zu einem umstrittenen Treffen reduziert. Lena kaufte die Zeitung und blätterte sofort zu der Seite, auf der der Artikel stand. Der Teaser stellte sich außerdem als irreführend heraus. Vestgård entdramatisierte gar nichts. Sie war weder interviewt noch über irgendetwas befragt worden. Der Journalist, Steffen Gjerstad, war es, der entdramatisierte, und das mit einer – in Lenas Augen – ungewöhnlich hässlichen Enthüllung: Dagens Næringsliv hatte erfahren, dass die Parlamentsabgeordnete Aud Helen Vestgård ein Kind mit dem Mann hatte, der in Skandinavien die zivile Fassade einer militärischen und sehr umstrittenen Widerstandsorganisation vertrat. Auch hier hatte Steffen seine Wortwahl gedämpft. Das Wort Terrorist tauchte nicht mehr auf.
Was Lena jedoch Magenschmerzen bereitete, war, dass Steffen offenbar von Aud Helen Vestgårds höchst geheimer Erklärung erfahren hatte. Das war alles andere als eine gute Nachricht. Sie hatten ein Leck im Team. Daran bestand kein Zweifel. Irgendjemand informierte Steffen über den Stand der Ermittlungen. Lena hatte keinen Zweifel daran, wer es war. Sie wusste, wen Steffen kannte und wer ihm willig Bericht erstattete. Aber etwas zu wissen oder konkrete Beweise zu haben waren zwei verschiedene Dinge.
Als sie den Weg zum Polizeipräsidium hinaufging, rief sie Steffen an.
»Hei Lena, hab mir gedacht, dass du anrufen würdest.«
Lena kam sofort zur Sache: »Von wem hast du die Information, dass Vestgård und Asim Shamoun ein gemeinsames Kind haben?«
»Du weißt doch, ich bin Journalist, Lena. Ich verrate meine Quellen nicht.«
Mistkerl, dachte Lena.
»Ich wollte dich etwas ganz anderes fragen«, sagte Steffen.
Lena unterbrach die Verbindung, bevor er ausgeredet hatte, ging durch die Tür und die Treppe hinauf.
Auf der fünften Stufe schon rief Steffen zurück.
Im dritten Stock angekommen, ging sie direkt in Rindals Büro.
Die Zeitung lag auf seinem Schreibtisch.
Rindal stand am Fenster und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Auch wenn es ziemlich offensichtlich ist, muss ich dich trotzdem fragen«, sagte er. »Bist du seine Quelle?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich will deine Antwort hören«, sagte Rindal kalt.
»Nein«, sagte sie. »Ich habe ihm nichts erzählt.«
»Irgendjemand hat es aber getan«, sagte er. »Jemand hat diesem Journalisten Informationen weitergegeben, die dir und mir höchst vertraulich übermittelt wurden. Du kennst diesen Journalisten persönlich, das hast du schon zugegeben.«
Lena zuckte zusammen, als er zugegeben sagte. War das hier ein Verhör?
Sie wappnete sich und antwortete ruhig: »Zugeben ist das falsche Wort. Ich habe dir im Vertrauen erzählt, dass ich diesen Journalisten kenne. Aber du kannst dir einer Sache ganz sicher sein: Ich bin nicht seine Quelle.«
Rindal betrachtete sie einen Moment lang stumm. Dann räusperte er sich. »Du und ich hatten ein vertrauliches Gespräch mit Irgens und Vestgård. Wir haben ihnen Diskretion versprochen.«
»Alle Mitglieder der Ermittlungsgruppe wurden hinterher darüber informiert«, wandte Lena ein. »Es gibt viele, die es wissen, viele, die mit Steffen Gjerstad gesprochen haben können und …«
Er hob abwehrend eine Hand.
Sie schwieg. Sie redete Blödsinn. Es gab nicht viele, die Kontakt zu Steffen Gjerstad hatten. Es gab nur zwei. Sie und Fartein Rise. Da Lena nicht die Quelle war, musste es Fartein Rise sein. Aber sie brachte es nicht über sich, das laut auszusprechen. Sie war keine Verräterin. Sie würde Fartein Rise persönlich darauf ansprechen.
Rindal griff nach einem Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch lag.
»Wir sind wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses verklagt worden. Genauer gesagt, du bist verklagt worden.«
»Ich?«
»Von Irgens.«
»Von Irgens?«
»Er sagt, dass Vestgårds Aussage unter der Bedingung äußerster Diskretion gemacht wurde. Er verlangt, dass wir untersuchen, wer das Leck ist, und hat den Internen Sicherheitsdienst darüber informiert, dass du eine intime Beziehung zu dem Journalisten pflegst, der diese Dinge veröffentlicht hat. Die wiederum haben angeordnet, dich zu überprüfen.«
»Was sagst du da?«, rief Lena ungläubig.
»Lena, du hast Recht. Es gibt viele, die als Quelle dieses Journalisten in Frage kommen. Aber du leitest die Ermittlungen. Du warst dabei, als Vestgård bei Irgens die Aussage gemacht hat, und du kennst den Journalisten. Ihr habt ein Verhältnis, stimmt’s?«
»Ein Verhältnis?«
»Wach auf, Mädel. Du kennst doch die Buschtrommeln. Es ist im ganzen Haus bekannt, dass du was mit diesem Journalisten laufen hast. Sogar Irgens weiß das!«
Lena schwieg und dachte: Woher kann Irgens so etwas wissen?
»Ich bin gezwungen, dich vom Dienst freizustellen, solange die Ermittlungen laufen«, sagte Rindal.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um mit klarer Stimme zu sprechen. »Hör mir zu«, sagte sie konzentriert. »Wir machen Fortschritte. Ich habe am Samstag bis Mitternacht eine Verdächtige beschattet. Ich weiß jetzt, wo sich Adeler nach dem Essen mit Vestgård und die ganze Nacht zum Donnerstag aufgehalten hat. Ich brauche nur etwas Zeit …«
»Du kannst über diese Dinge einen Bericht schreiben und dann Gunnarstranda darüber informieren.«
»Hör mir zu«, bat sie ihn erneut.
»Ich kann nicht, Lena. Es liegt eine Anklage vor. Gegen dich wird gerade wegen eines möglichen Dienstvergehens ermittelt. Ich kann nichts anderes tun, als dich so lange zu suspendieren, wie die Ermittlungen laufen. Es muss sein. Und das verstehst du auch, wenn du mal nachdenkst!«
Lena wollte nichts mehr hören. Sie ging zur Tür. Hielt inne. Drehte sich auf dem Absatz herum und sagte: »Du warst auch dabei.«
Rindal sah sie an, ohne etwas zu sagen. Sie senkte den Blick.
Die Stille dauerte an. Sie holte tief Luft und begegnete seinem Blick erneut. Er sagte nichts. Sein Blick war unmöglich zu deuten. Aber er wollte ihr offensichtlich nicht antworten.
»Was machst du, wenn weiter Informationen durchsickern, nachdem ich draußen bin?«, fragte sie.
Er schüttelte leicht den Kopf, als würde er gerade aus einer tiefen Gedankenversunkenheit auftauchen. »Was meinst du?«
»Wen feuerst du, wenn weiter Informationen durchsickern?«, fragte sie mit fester Stimme.
Falsches Wort, dachte sie im selben Moment. Jetzt kann er sich rausreden.
Rindal atmete tief durch. »Du wirst doch nicht gefeuert. Du wirst suspendiert, weil gegen dich ermittelt wird. Niemand verurteilt dich wegen irgendetwas!«
Lena ging wortlos hinaus.
Sie marschierte den Korridor entlang, ohne nach links oder rechts zu schauen. Sie hatte Krebs. Sie musste sich auf Dinge konzentrieren, die sie verändern konnte. Was Hackman Rindal tat oder nicht tat, lag nicht in ihrer Hand.
Plötzlich stand sie direkt vor Fartein Rise und blieb abrupt stehen. Er hielt ebenfalls inne.
Sie sahen einander in die Augen. Rises Blick flackerte.
»Soll von Steffen grüßen«, sagte Lena.
»Ach ja, grüß zurück.«
»Eigentlich triffst du Steffen doch viel öfter als ich, oder?«
Er antwortete nicht.
»Gestern zum Beispiel – weißt du, dass sie mir die Schuld dafür geben?«
»Was meinst du überhaupt?«, fragte Fartein Rise bedächtig.
Lena trat ganz dicht an ihn heran. »Du bist seine Quelle hier im Haus, ich weiß das«, sagte sie leise. »Wenn du Manns genug bist, dann gibst du es jetzt zu«, fuhr sie fort. »Ich muss die Schuld sowieso auf mich nehmen. Warst du’s?«
Er schüttelte herablassend den Kopf. »Ich? Ob ich es war? Bist du übergeschnappt? Kehr vor deiner eigenen Tür und versuch nicht, andere in dein persönliches Chaos zu verwickeln. Halt jedenfalls mich da raus!«
Sie hatte nicht die Kraft, mit ihm zu streiten, und zwängte sich an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Du hast Probleme«, rief er hinter ihr her. Den Rest hörte sie nicht mehr. Seine Worte ertranken in ihren eigenen chaotischen Gedankenwirbeln.
Vor ein paar Wochen wäre es eine Katastrophe für sie gewesen, vom Dienst suspendiert zu werden. Keine Sekunde lang hätte sie es ausgehalten. Jetzt war es ihr egal.
Ihre Gedanken kreisten angestrengt um das Gespräch mit Rindal: Es ist im ganzen Haus bekannt, dass du ein Verhältnis mit diesem Journalisten hast. Steffen hatte sich nach ihrer Begegnung im Asylet nicht mehr bei ihr gemeldet. Stattdessen hatte er einen Artikel geschrieben, der sie ihren Job gekostet hatte, was sie in den Augen einiger Kollegen sehr angreifbar machen würde. Der so genannte ›Anhänger‹ schrieb so, dass andere ihren Job verloren.
Doch das konnte Steffen nicht wissen. Schließlich war sie nicht seine Quelle.
Und jetzt? Ich bin suspendiert. Ich werde niemals diesen Täter hinter Schloss und Riegel bringen.
Doch, dachte sie sofort darauf. Das hier geht über meinen Job hinaus. Ich werde es herausfinden!
Ihr Ansatzpunkt war, dass Sveinung Adeler seine letzte Nacht mit einer Frau verbracht hatte. Und irgendjemand hatte dieser Frau einen Drohbrief an eine Parlamentsabgeordnete untergeschoben. Wozu? Und was steckte dahinter?
Lena wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste jedes einzelne Ereignis für sich betrachten – als lägen sie alle auf einem Tisch ausgebreitet. Es war, wie in einen flimmernden Sternenhimmel zu schauen. Als würde man Punkte sehen, die eigentlich keine Punkte waren. Es kam ausschließlich darauf an, lange genug hinzuschauen, immer nur ein Element zu betrachten. Dann würden irgendwann die richtigen Bilder, die Verbindungslinien und das System aus dem Chaos hervortreten. Sie spürte es ganz deutlich. Sie hatte alle Informationen. Es ging nur darum, sie richtig zu sortieren.
Die Suspendierung – das, was in Rindals Büro geschehen war – war auch ein Teil der noch unerkannten Logik dieses Falles. Ein fingierter Drohbrief an Aud Helen Vestgård.
Ein Zeitungsartikel, der sie – eine Polizeikommissarin – vorsichtig ausgedrückt in ein schlechtes Licht setzte.
Das war alles. Die Antwort lag vor ihr. The big what’s it. Es ging nur darum, sie herauszufiltern.
3
An der Haltestelle Frogner Kirche stieg sie aus dem Bus. Der Verkehr strömte dicht und laut an ihr vorbei, als sie an der Fußgängerampel auf Grün wartete. Es dauerte. Als sie sich umdrehte, begegnete sie dem Blick des Weihnachtsbaumverkäufers.
»Wie geht’s dem Verkehr?«, rief er.
Sie verstand nicht, was er meinte, und hielt fragend den Kopf schief.
»Haben Sie nicht eine Verkehrszählung gemacht?«
»Doch, ja.« Lena wies mit dem Arm auf den vorbeirauschenden Verkehr. »Dem geht’s nicht schlecht«, rief sie zurück. »Er nimmt zu.«
Der Weihnachtsbaumverkäufer grinste und hob fragend seine Thermoskanne.
Sie lächelte zurück und schüttelte den Kopf.
Grün. Lena überquerte die Straße und stellte sich vor den Hauseingang, aus dem Sveinung Adeler am Donnerstagmorgen gekommen sein musste, eine halbe Stunde, bevor er starb.
Wenn Adeler von hier aus zu Fuß gegangen war, wie lange hätte er wohl bis zum Rathauskai gebraucht?
Sie nahm sich vor, die Strecke abzulaufen und die Zeit zu stoppen.
Sie warf einen prüfenden Blick auf die Uhr und ging mit raschen Schritten die Bygdøy Allé entlang. Es war eine extrem kalte Nacht gewesen, und Sveinung Adeler hatte nur sein weißes Hemd und den Anzug angehabt. Keinen Mantel, keine Skiunterwäsche unter der Anzughose, kein Unterhemd aus Wolle, nicht einmal Winterstiefel. Er musste sehr schnell gegangen sein, in der Hoffnung, sich warm zu laufen.
Warum war er zu Fuß gegangen? Wahrscheinlich hatte er gehofft, unten am Solli Platz eine Straßenbahn oder einen Bus zu erreichen.
Als Lena die Gabels Gate überquerte, warf sie einen Blick nach rechts. Ihr Auto stand immer noch da. Ein weiterer Strafzettel leuchtete gelb unter dem Scheibenwischer. Der Strafzettel war ihr egal, nur würde sie später Hilfe brauchen, um den Wagen wieder zu starten.
Sieben Minuten mit schnellen Schritten, und sie erreichte Lapsetorvet. Sie folgte den Straßenbahnschienen nach links – blieb aber nach wenigen Metern stehen.
Das hier war nicht der kürzeste Weg zum Rathauskai. Am schnellsten wäre es, von hier aus geradeaus zu gehen.
Warum hatte sie beschlossen, links abzubiegen?
Die Antwort lag auf der Hand: Sie war links abgebogen, weil das auch für Adeler der logische Weg gewesen wäre, wenn er nach Hause wollte. Wenn eine Straßenbahn herangeschaukelt gekommen wäre, hätte er nur hineinspringen müssen. Aber das Wichtigste war: Der Weg über den Hafen war ein Umweg.
Lena blieb stehen und dachte nach.
Es war also nicht logisch, dass Sveinung Adeler den Weg am Hafen entlang gewählt hatte. An jenem Morgen war es so kalt gewesen, dass jeder Mensch, der einigermaßen bei Sinnen war, ein Taxi angehalten hätte oder in Straßenbahn oder Bus gestiegen wäre – auch wenn er noch so durchtrainiert und sportlich war.
Warum also hatte Sveinung Adeler einen Umweg gewählt?
Die Antwort lag auf der Hand: Sveinung Adeler wollte gar nicht nach Hause.
Lena stand reglos da und sah die Szene vor sich:
Es ist zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Fast noch Nacht. Sveinung Adeler hat gegessen, getrunken, geliebt. Es ist mitten in der Woche. Zwei, drei Stunden später muss er bei der Arbeit sein. Es wäre logisch, wenn er nach Hause ginge, um sich umzuziehen.
Plötzlich war die Gewissheit da: Sveinung Adeler war auf dem Weg zur Arbeit!
Jetzt war sie auf der richtigen Spur, das spürte sie im ganzen Körper. Das Büro lag in der Rådhusgata. Der Weg dorthin war nicht weit von Lisbets Wohnung in der Bygdøy Allé. Er brauchte nur zum Solli Platz zu gehen, dann einige hundert Meter weiter geradeaus und dann schräg an den Rathauskais vorbei. Es hätte keinen Sinn gehabt, ein Taxi zu nehmen. Sveinung Adeler war fit und zielstrebig nach einer durchfeierten Nacht.
Er ging direkt zur Arbeit – natürlich! Er wäre zu früh gewesen, aber was machte das schon? Beamte hatten Gleitzeit. Adeler wäre ein paar Stunden früher gekommen und hätte natürlich auch ein paar Stunden früher wieder gehen können.
Doch Adeler kam gar nicht dort an. Er traf unterwegs jemanden, landete im Hafenbecken und ertrank.
Lena konzentrierte sich. Sveinung Adeler war allein die Bygdøy Allé hinuntergegangen. Unterwegs hatte er seinen Mörder entweder getroffen, oder der hatte ihn eingeholt.
Eine Verabredung? Das war unwahrscheinlich. Wenn eine zufällige Begegnung zu dem Mord geführt hatte, dann eher als Ergebnis eines Raubüberfalls. Doch die Leiche hatte ihre Brieftasche mit Scheckkarte, über tausend Kronen und eine wertvolle Armbanduhr bei sich gehabt.
Adeler wurde eingeholt. Jemand hatte vor dem Haus in der Bygdøy Allé gewartet, war ihm gefolgt und hatte bei den Kais zugeschlagen. Genauso, wie jemand auf mich gewartet hatte, dachte Lena düster.
Es vibrierte in ihrer Tasche. Das Handy. Sie zog es heraus. Das Display zeigte die Nummer von Gunnarstranda.
»Ich möchte dir vor allem mein Beileid aussprechen«, sagte Gunnarstranda. »Ich weiß, dass Rindal einen Fehler gemacht hat, du brauchst mir also nicht zu erzählen, dass er ein Arschloch ist. Aber ich werde deine Arbeit übernehmen, während du rumsitzt und Däumchen drehst, und dafür brauche ich ein Briefing.«
4
Sie fand Gunnarstranda im Café Justisen mit einer Tasse schwarzen Kaffees vor sich.
Lena setzte sich.
Sie sahen sich an.
Er sagte kein Wort. Umständlich pulte er das Papier von einem Stück Würfelzucker.
Ab und zu konnte das Schweigen dieses Mannes einem auf die Nerven gehen. »Du wolltest ein Briefing?«, sagte sie, während er eingehend den Würfelzucker studierte. Lena winkte ärgerlich der Kellnerin.
Diese verschwand hinter dem Tresen. Das machte Lena noch ärgerlicher. Wo hatte die Frau ihre Augen? Im Hinterkopf?
»Ich glaube, die Zeit ist reif, dass du Otta hinter dir lässt«, sagte Gunnarstranda geistesabwesend.
»Hm?«
Plötzlich stand die Kellnerin am Tisch. Sie hielt eine dampfende Tasse Tee in den Händen und stellte sie vor Lena.
»Tee«, sagte Gunnarstranda. »Ich habe für dich bestellt. Grüner Tee mit Apfelgeschmack. Den trinkst du doch immer, oder? Ich weiß, dass du außerhalb der Mahlzeiten nichts isst. Deshalb habe ich nichts zu essen bestellt. Sieh dich um.«
Lena sah sich um. Ein paar müde Bierbäuche saßen mit braunen Gläsern vor sich an der Fensterfront. Am Nachbartisch hockten drei Jugendliche, die über irgendetwas diskutierten. Hinter ihnen saß ein adrett gekleideter Herr und aß eine so genannte Portion, Brot mit Schinken und Ei.
Gunnarstranda ließ den Würfelzucker langsam die Kaffeeoberfläche durchbrechen. Als der Würfel sich mit Kaffee vollgesogen hatte, steckte er ihn in den Mund und nippte an der Tasse. Setzte sie wieder ab. »Edel, meine Frau, die vor ein paar Jahren gestorben ist«, sagte er, »Edel und ich, wir haben immer eine Hütte im Gudbrandsdal gemietet. Jedes Mal, wenn wir etwas brauchten, mussten wir nach Otta hinunter fahren, um einzukaufen. Tja, Otta ist ein kleiner Ort, und das Gudbrandsdal ist eine populäre Touristenfalle. An den Wochenenden und zu Ostern gab es sicher genauso viele Autos in den engen Straßen wie in halb Oslo. Die Leute waren stinksauer. Sie fuhren in der Schlange, standen Schlange, kauften in der Schlange ein, aßen in der Schlange. Eine solche Einkaufstour konnte bei manchen so viel Adrenalin und Stress mobilisieren, dass es Schlägereien gab, wenn sich jemand in der Schlange an der Kasse oder bei der Post vordrängelte. Edel hat solche Dinge immer klarer erkannt als ich. Irgendwann sagte sie, sie hätte keine Lust mehr dazu. – Okay, sagte ich – wo wollen wir uns stattdessen eine Hütte mieten, oder willst du vielleicht, dass wir eine kaufen? – Nein, sagte sie. – Aber wir kaufen lieber woanders ein. Sie hatte natürlich Recht.«
Gunnarstranda lächelte sanft und rührte in seiner Tasse. »Wir ließen Otta hinter uns und fuhren nie wieder hin.«
Dann hob er seine Tasse und sah Lena in die Augen.
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte Lena und begegnete seinem Blick ohne zu blinzeln.
Gunnarstranda stellte seine Tasse ab, ohne daran zu nippen, und suchte nach Worten. »Edel konnte keine Kinder bekommen. Das war der größte Schmerz ihres Lebens, ein Schmerz, den sie mitnahm, als sie krank wurde. Es wurde auch mein Schmerz, eine lange Zeit. Aber jetzt ist das mit den Kindern nicht mehr so wichtig. Edel ist schon lange tot, und ich bin über das Kinderthema hinweggekommen.«
Lena arbeitete schon einige Jahre mit diesem Mann zusammen, aber sie hatte noch nie erlebt, dass er sich öffnete. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er verheiratet war. Allerdings war sie sich gar nicht sicher, ob sie solche Dinge überhaupt wissen wollte. »Vielleicht solltest du nicht so persönlich werden«, sagte sie langsam. »Wir, deine Kollegen, sind daran nicht gewöhnt.«
»Wenn du mal innehältst und dich umsiehst«, sagte Gunnarstranda, »und dich dann selbst betrachtest, was erscheint dir dann wichtig?«
»In meinem Leben? Es zu schaffen. Wenn du meine Arbeit meinst, dann ist die Antwort dieselbe – sie zu schaffen.«
Endlich nippte Gunnarstranda an seinem Kaffee. »Aber wenn du etwas weiter denkst als an deine Arbeit und den heutigen Tag. Was erscheint dir dann wichtig?«
Lena sah auf die Tischdecke. Gesund zu werden, dachte sie, aber darüber wollte sie nicht sprechen. Nicht jetzt. Egal, wie persönlich Gunnarstranda werden wollte. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Ich möchte darüber nicht sprechen.«
»Ich meine jetzt nicht die eine konkrete Krankheit – oder die Todesangst – oder die Bedrohungen außerhalb deiner selbst.«
Lena hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Wusste er es? Nein. Gunnarstranda konnte es nicht wissen. Außer ihr selbst konnte es niemand wissen.
Gunnarstranda begegnete ihrem Blick, lächelte leicht und schüttelte ein wenig herablassend den Kopf. »Hab keine Angst«, sagte er dann. »Ich weiß nichts, von dem du nicht willst, dass ich es weiß. Aber ich habe dich hierhergebeten, weil ich sehe, dass etwas los ist. Ich mag dich, Lena. Aber ich bin mein ganzes erwachsenes Leben lang ein Bulle gewesen, und jetzt sitze ich hier und sehe eine Kollegin vor mir, die dabei ist, die Kontrolle zu verlieren, oder nennen wir es, auf den falschen Zug aufzuspringen. Deshalb möchte ich, dass du innehältst und dich umsiehst. Etwas oder jemand nimmt dich gerade heftig mit. Gerade in solchen Situationen ist es wichtig innezuhalten, den Kopf zu heben und sich vorzustellen, man sei ein Vogel, der irgendwo da oben schwebt und hinunterschaut. Der Vogel sieht eine große Landschaft mit endlosen Möglichkeiten. Aber genau da unten liegt dieser kleine Ort, wo ein Haufen Menschen sich zusammendrängen und rempeln und knuffen und fluchen und schreien, nur um ein Brot oder eine Zeitung zu kaufen. Mitten in der schwitzenden Horde verärgerter Menschen stehst du und trittst auf der Stelle und verbrauchst einen Haufen Kräfte an den völlig falschen Stellen. Es ist so unglaublich einfach. Man muss nur einen Schritt zur Seite treten, einen neuen Blickwinkel finden. Du musst dich selbst zur Hauptperson deines Lebens machen und dich nicht zur Statistin im Leben anderer reduzieren. Um das hinzukriegen, musst du dich in einem Zusammenhang sehen, der etwas größer ist als nur dieser eine Fall oder die eine konkrete Krankheit oder die Todesangst, die dich gerade erfasst hat und die dich blind macht.«
Er schwieg.
Sie schwieg.
Sie sahen einander lange an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, aber es gefiel ihr, was er gesagt hatte. Es gefiel ihr, dass er da saß und verstand.
Schließlich brach Gunnarstranda das Schweigen. Er entblößte seine Zähne zu einem breiten Grinsen. »Das hier war unser erstes und hoffentlich auch das letzte Raus-aus-Otta-Gespräch«, sagte er. »Jetzt bin ich bereit für dieses Briefing.«
5
Sie ging die Internetzeitungen durch. Zwang sich dazu, nach Todesfällen, Ertrunkenen, Unfällen zu suchen. Sie fand nichts. Die Nachricht von dem Mann, der bei Kattertangen draußen vor Sandvika tot an Land geschwemmt worden war, hatte die Zeitungen noch nicht erreicht.
Also hatte der Geheimdienst den Fall offensichtlich vertuscht.
War das möglich? Lena stand vom Küchentisch auf. In der Pfanne zischte es. Die Küche begann nach frisch gebratenem Speck zu duften. Lena gab Zwiebeln und Knoblauch dazu. Der Duft, der sich jetzt ausbreitete, erinnerte an Ferien in Italien. Als die Nudeln kochten, hatte sie noch ein paar Minuten Zeit und manövrierte den Weihnachtsbaum durch die Terrassentür nach draußen. Lehnte ihn an die Wand. Er blieb nicht von allein stehen. Sie ging in die Hocke und hielt ihn gerade. Es war wirklich ein kleiner Weihnachtsbaum. Aber mit Mamas altem Weihnachtsbaumständer würde er etwas erhöht stehen und perfekt in ihre Wohnung passen. Lena nahm einen Tonkrug als Stütze, so dass der Baum einigermaßen sicher stand.
Sie ging wieder hinein, fischte eine Spaghetti aus dem Topf und probierte. Al dente. Perfekt. Sie schreckte die Nudeln ab.
Lena gönnte sich ihr Lieblingsessen, Spaghetti alla Carbonara: Nudeln, Schinken, gebratene Zwiebeln und Knoblauch, das Ganze gekrönt mit rohem Eigelb. Dazu: ein Vollkornbrötchen von der Åpent Bakeri. Zu trinken: reines norwegisches Wasser.
Lena aß konzentriert. Als äße sie zum ersten Mal. Zum Schluss tunkte sie den Rest der Sauce mit einem Stück Brötchen auf und steckte es in den Mund. Sicher, sie war krank, aber an ihrem Appetit war nichts auszusetzen.
Als ihr Teller leer war, hatte sie Lust auf mehr, beherrschte sich aber. Goss sich statt dessen eine Kanne grünen Tee auf und setzte sich noch einmal an den Laptop.
Jetzt öffnete sie das Lesezeichen, das sie gesetzt hatte, als sie nach Steffen Gjerstads Zeitungsartikeln gesucht hatte. Zielbewusst ging sie Artikel für Artikel durch. Sein Spitzname ›Der Anhänger‹ passte tatsächlich. Der Name Steffen Gjerstad wurde oft neben anderen Namen erwähnt. Sie reduzierte die Suche auf Artikel, die er allein verfasst hatte. Begann zu blättern. Sie gähnte vor Langeweile, richtete sich aber plötzlich auf, als sie auf einen Artikel über Obdachlose in Oslo stieß.
Das Foto war an einem Sommertag bei Spikersuppa aufgenommen worden. Zwei Menschen auf einer Bank: Nina Stenshagen und Stig Eriksen.
Lena betrachtete das Foto lange. Nachdem sie den Artikel einmal gelesen hatte, las sie ihn sehr aufmerksam noch ein zweites Mal.
Der Sternennebel war nicht mehr nur ein Nebel. Sie hatte Abstand zu den Dingen bekommen und erkannte die Konturen eines Systems im Chaos. Sie hob den Kopf und schloss die Augen, spürte nach, wie es sich anfühlte, die Verbindungen hervortreten zu sehen.
Mit diesem Mann war ich im Bett, dachte sie, und ihr wurde speiübel. Sie schluckte und stand auf. Stand mit der Stirn an die Wand gelehnt und schluckte, bis ihr nicht mehr übel war. Versuchte, normal zu atmen. Das war leichter gesagt als getan. Aber es musste gehen. Sie fühlte sich leer wie nach einer erschöpfenden Skitour. Hob ihre Hände und betrachtete sie. Wartete, bis ihre Finger nicht mehr zitterten. Erst dann griff sie nach dem Telefonhörer und wählte Steffens Nummer.
Es klingelte und klingelte. Endlich nahm er ab. »Hier Gjerstad.«
Sein formeller Ton klang so künstlich, dass es fast peinlich war. Sie räusperte sich, unsicher, ob ihre Stimme tragen würde. »Sie haben mir die Schuld gegeben«, sagte sie. Ihre Stimme trug. Trotzdem räusperte sie sich noch einmal und fragte: »War das der Sinn der Sache?«
»Oh, du bist es. Wovon redest du?«
»Ich rede von deinem letzten Artikel. Man hat mich bezichtigt, deine Quelle zu sein, und es wird gegen mich ermittelt. Hat dich noch niemand dazu vernommen?«
»Suspendiert?«
»Ja, suspendiert. Soll ich es dir buchstabieren?«
Jetzt dauerte die Stille einige Sekunden länger. »Kann ich dich zum Lunch einladen?«
Lena sah auf den Artikel mit den Fotos von Nina Stenshagen und Stig Eriksen hinunter. Sie lächelte still vor sich hin.
»Unter einer Bedingung«, sagte sie.
6
Gunnarstranda öffnete Rindals Bürotür einen Spalt und wurde hineingewunken.
Auf dem Flachbildschirm an der Wand lief eine Sondernachrichtensendung.
»Ich habe lange und ausführlich mit Lena gesprochen«, sagte Gunnarstranda. »Sie macht gute Arbeit. Ich wollte dich bitten, dir das mit der Suspendierung noch mal zu überlegen.«
»Pssst«, sagte Rindal und zeigte auf den Bildschirm.
Frikk Råholt gab eine Pressekonferenz. Er bestätigte, dass er eine Stelle als Medienberater bei der PR-Firma First in Line angenommen hatte.
Frikk Råholts fein geschnittenes Gesicht füllte den Bildschirm aus. Er erzählte, wie froh er sei, dass der heutige Presseartikel die Wahrheit über die Beziehung seiner Frau Aud Helen zum Stockholmer Büro von Polisario zur Sprache gebracht hatte. Die Wahrheit sei etwas Schönes und Wertvolles. Die Wahrheit sei also, dass seine Frau weder politisch subversiv agiert habe noch an irgendwelchen anderen phantastischen Szenarien beteiligt gewesen sei. Die Sache wurde undramatisch eingekocht, bis schließlich etwas so Einfaches herauskam wie die Fürsorge für ein gemeinsames Kind und die Verantwortung zweier Menschen, die durch eine Liebesbeziehung in Paris vor etwas über zwanzig Jahren zu Eltern geworden waren. Leider habe die Presse wilde Behauptungen aufgestellt bezüglich irgendwelcher dubioser Dinge, die sich zwischen dem Ölfonds und einer völlig legalen politischen Organisation abspielten! Die Zeitungsartikel seien der eigentliche Skandal! Der arme Staatssekretär, der bedauerlicherweise ertrunken sei, habe schließlich nur seine Arbeit gemacht! Wer wüsste, wie die Segregation im besetzten Westsahara abliefe, der könne nicht fassen, wie es möglich gewesen sei, die politische Situation dieses bedauernswerten Landes dazu zu benutzen, die einfache Tatsache, dass eine norwegische Politikerin mit einem früheren Partner essen geht, zu einem Medienereignis aufzublasen!
Frikk Råholt hob den Kopf und starrte direkt in die Kamera. Das hier sei ein Skandal, aus dem die norwegische Presse ihre Lehren ziehen müsse.
»Viele Redakteure und Journalisten sollten einmal in sich gehen«, sagte Råholt. »Der norwegischen Presse fehlt es an Selbstkritik. Die Schwelle für das, was sich die Presse erlaubt, wird immer niedriger. Nur die Presse selbst kann an dieser Situation etwas ändern. Wir brauchen Meinungsfreiheit, aber noch mehr brauchen wir eine Diskussion über Medienkultur«, sagte Frikk Råholt, den Blick weiterhin fest auf die Kamera gerichtet. »Meine Frau ist ein lebendes Beispiel dafür, was für eine schwere Belastung es ist, in der Öffentlichkeit die Politik zu vertreten«, fügte er noch hinzu. Dann musste er der nächsten Nachricht den Platz räumen: welche enormen Geldsummen die Norweger für Weihnachtsgeschenke ausgaben.
Gunnarstranda sah zu Rindal hinüber, der nahm die Fernbedienung und regelte die Lautstärke herunter.
»Was meinst du?«, fragte Rindal.
»Ich glaube, dass die Information über die Vergangenheit dieser Dame und Herrn Shamoun überhaupt nicht von uns durchgesickert ist.«
Rindal lugte skeptisch über seinen Schreibtisch. »Warum glaubst du das?«
»Weil Råholt sich da einfach so ausbreiten kann, ganz ohne Sicherheitsnetz. Der wird jetzt zum fettesten Lobbyisten, den dieses Land jemals hervorgebracht hat.«
Rindal saß ein paar Sekunden lächelnd da und schüttelte dann den Kopf. »Ich verstehe den Gedankengang nicht.«
»Es kann kein Zufall sein, dass das gerade jetzt passiert«, sagte Gunnarstranda. »Ich spüre es im Bauch und im Rückenmark gleichzeitig. Da kommt bestimmt noch mehr. Wir haben noch nicht die ganze Geschichte gehört. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass dieser Mann das Schiff selbst schaukeln will. Da kommt noch mehr, glaub mir.«
»Und was zum Beispiel?«
»Der tote Sekretär hat Informationen über eine Bergbaugesellschaft gesammelt, die aus ethischer Sicht in Grauzonen operiert.«
Rindal lächelte herablassend. »Soll jetzt Sveinung Adelers Job damit zu tun haben? Tickst du noch ganz richtig?«
Gunnarstranda nickte und tippte mit dem Zeigefinger auf seinen Bauch.
Rindal schüttelte den Kopf. »Dein Bauch lügt. Behalte die Füße auf dem Boden und benutze deinen Kopf.«
»Glaubst du wirklich, dieser Lobbyist da gibt ohne Grund eine Pressekonferenz?«, fragte Gunnarstranda rhetorisch.
Rindal seufzte. »Nun hör mir mal zu: Frikk Råholt ist Politiker. Das ist alles. Natürlich macht er Stimmung. Er nutzt die Situation aus. Er ist ein Matador, der in der Arena tanzt. Er ist ein Winner. Es ist ganz einfach so: Die Informationen kommen von hier.« Rindal tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Wir sind beide erwachsene Menschen. Wir sehen nicht am helllichten Tag Gespenster.«
»Wem hat dieser Fall bis jetzt genützt?«, fragte Gunnarstranda düster. »Sowohl Frikk Råholt als auch Aud Helen Vestgård. Es gibt nur eine einzige Verliererin, und das ist Lena.«
Rindal sah Gunnarstranda mit dunklem Blick an. »Wir wissen beide, dass Lena mit diesem Journalisten im Bett war.«
»Lena ist loyal. Sie ist nicht seine Quelle.«
»Ich kann verstehen, dass du für eine Kollegin kämpfst, die du magst«, sagte Rindal. »Ich mag Lena auch. Aber es muss nicht einmal eine bewusste Illoyalität von ihr gewesen sein. Der Journalist kann an ihren PC gegangen sein oder ein Telefongespräch mit angehört haben. Der Punkt ist, dass Lena an irgendeiner Stelle schlechte Menschenkenntnis bewiesen hat. In der momentanen Situation müssen du und ich die Schlussfolgerungen dem Internen Sicherheitsdienst überlassen. Die Welt ist nicht für Verschwörungstheorien gemacht, und das weißt du, wenn du ein wenig nachdenkst. Jetzt hör mir mal ernsthaft zu: Wir haben eine Anzeige wegen Veröffentlichung vertraulicher Informationen am Hals. Ich habe eine Ermittlungsleiterin, die mit dem Journalisten ins Bett geht, der eben diese Informationen veröffentlicht. Da muss ich handeln. Ich kann es mir nicht leisten, die Kontrolle zu verlieren! Capisci?«
Gunnarstranda sah ihn an und sagte: »Sayonara.«
»Wie bitte?«
»Du musst Lena nicht suspendieren. Du kannst sie von dem Fall abziehen und ihr zwei Wochen lang administrative Aufgaben geben, bis es vorbei ist.«
Rindal betrachtete Gunnarstranda mit einer ärgerlichen Falte zwischen den Brauen.
»Wir denken hier bei der Polizei viel zu konventionell«, sagte Gunnarstranda. »Wir sind viel zu sehr mit Strafe oder Belohnung beschäftigt, statt uns über Führungsqualitäten Gedanken zu machen.«
»Jetzt reicht’s«, sage Rindal scharf. »Tu du deine Arbeit, und ich mache meine.«
»Es gibt übrigens noch jemanden, der von diesem Fall profitiert«, sagte Gunnarstranda und stand auf. Er ging zur Tür, öffnete sie und verließ den Raum.
»Wer?«, tönte es hinter ihm.
Gunnarstranda hielt inne, drehte sich noch einmal um und lehnte sich in den Türrahmen. »Eine dieser Firmen, über die Adeler Informationen gesammelt hat, heißt McFarrell. Aber den Namen findest du weder in den Zeitungen noch sonst irgendwo.«
»Und woher hast du den Namen?«
»Von der Verliererin. Von Lena. Der Einzigen, die nicht klug genug war, diesen Namen zu verschweigen.«
7
Lena verließ ihre Wohnung und trat hinaus in den Tag, der schon so dunkel war, wie er im Winter nur sein kann. Sie überquerte die Salz-Schneeschicht auf der Stortingsgata und lief weiter den Bürgersteig entlang in Richtung Hotel Continental.
Lenas Geburtstag war der erste April – der Tag der Scherze in aller Welt. Die meisten Lehrer, Freunde, Trainer, Liebhaber hatten im Laufe der Jahre Anspielungen darauf gemacht. Nur ein Mensch hatte niemals Witze über ihren Geburtstag gemacht.
An dem Tag, als sie vierzehn wurde, wartete ihr Vater auf die Röntgenbilder. Er hustete oft, aber das war auch alles. An dem Tag feierten ihre Mutter, ihr Vater und sie im Theatercafé. Lena hatte sich einen Sony-Walkman gewünscht und ihn auch bekommen. Sie hatten Walnusskuchen zum Nachtisch bestellt. Als der Kellner kam, ging im Restaurant das Licht aus. Das Orchester spielte das Geburtstagslied. Der Kellner servierte den Kuchen mit sprühenden Wunderkerzen.
In den Jahren danach waren sie immer nur zu zweit gewesen, um ihren Scherztag zu feiern.
Das Theatercafé hatte Lena wohlweislich gemieden. Sie hatte immer wieder neue Argumente dafür gefunden, dort nicht hingehen zu müssen Das Theatercafé ist ein teures Lokal. Ein Lokal, wo Leute aus der Provinz hingehen in der Hoffnung, einen Promi zu Gesicht zu bekommen. Das Theatercafé ist ein Treffpunkt für Banker, Presseleute, Stars und Groupies in allen Schattierungen. Jetzt trat sie zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder durch das klassische Portal. Ihr graute davor, die bekannten Dinge wieder zu sehen: die hohen Fenster, das Mezzanin mit dem Orchester, die Rotunde, den Buffettresen.
Doch zugleich war Lena ein wenig stolz. Sie war zufrieden damit, dass die Gedanken an das Wiedersehen mit diesem Ort sie aufwühlten, nicht aber die Gedanken an den Mann, den sie hier treffen sollte.
Zielstrebig ging sie auf die Garderobe zu, zog sich den roten Wollmantel aus und reichte ihn dem Mann hinter dem Tresen.
Alle Modeblogger schworen auf das kleine Schwarze. Lena war dem Tipp gefolgt. Ihr kleines Schwarzes reichte bis eine Handbreit überm Knie, wo es schwarze Strümpfe ablösten, die sich weiter unten in knöchelhohe Stiefeletten mit leichtem Absatz schmiegten. Sogar die kleine Handtasche passte zum Kleid, ein Kleinod, das sie an ihrem dreißigsten Geburtstag in Paris gekauft hatte – Chanel 2.55 – schwarz und chic.
Sie drehte sich um und betrat das Restaurant, genau zehn Minuten verspätet.
Ein paar Sekunden lang stand sie nur da und schaute. Es fühlte sich an, wie einen steilen Berg ihrer Kindheit hinaufzugehen. Die Steigungen der Realität sind oft kürzer und sanfter als man glaubt.
Das hier war nur ein Lokal, ein Raum voller Menschen.
Die Gespräche der Gäste versammelten sich zu einem lauten Summen unter der Decke. Der Lärm war eingepackt in konzentrierten Weihnachtsduft: ein Bouquet, das den Geruch parfümierter Menschen mit einen kräftigen Dunst von Aquavit, Lutefisk, Erbsenpüree, gebratenem Bauchspeck, Schweinerippchen und Hammelrippchen verband, das stundenlang auf Birkenholz gezogen hatte, dazu der Duft von Sauerkohl mit Kümmel und Steckrübenmus und mit Ingwer gewürzte Medisterwürstchen, abgerundet mit mehligen Kartoffeln, das Ganze gekrönt durch den Duft frischen Kaffees und einen feinen Hauch von exklusivem Cognac. Es war brechend voll. Es musste sein Presseausweis gewesen sein, der Steffen zu einem Tisch verholfen hatte. Der Oberkellner begegnete ihr mit einem breiten Lächeln. Sie übersah ihn und reckte den Hals, um Steffen ausfindig zu machen. Entdeckte ihn an einem der Vierertische, die an den Fenstern zur Stortingsgata standen. Er kehrte ihr den Rücken zu, sprang aber vom Stuhl auf, als sie sich neben den Tisch stellte. Sein Blick bestätigte ihr, dass sie mit ihrem Outfit ins Schwarze getroffen hatte. Als er sich anschickte, sie zu umarmen, trat sie einen Schritt zurück.
Er ließ sich die Zurückweisung nicht anmerken, sondern hielt ihr galant einen freien Stuhl hin, als habe er sein ganzes Leben nichts anderes getan, als Frauen zu Diensten zu sein.
Sie setzten sich.
Ein Kellner kam an den Tisch. »Möchten Sie schon etwas trinken?«, fragte er höflich.
»Ich habe einen Chablis bestellt.« Steffen hob sein Glas am Stil hoch.
Sie zögerte. Sowohl der Kellner als auch Steffen sahen sie geduldig an.
Sie zeigte auf die Karte. »Sancerre.«
Als der Kellner ihr eingeschenkt hatte, hoben sie ihre Gläser.
»Chablis, süß und fies«, sagte Lena.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Sancerre, bös und unfair.«
Sie drehte das Glas zwischen ihren Fingern.
Er sah sie nur an.
»Wir hatten eine Verabredung«, fuhr sie fort. »Ich bin unter der Bedingung gekommen, dass du mir sagen würdest, wer deine Quelle ist.«
»Fartein Rise«, gab er unumwunden zu.
»Beweise es«, sagte sie.
»Was soll ich beweisen?«
»Gib mir einen Beweis dafür, dass es Rise war, der dir den Tipp mit Shamoun, Vestgård und dem gemeinsamen Kind gegeben hat! Wegen dieser Sache bin ich suspendiert worden. Deine Behauptung reicht nicht. Ich brauche Beweise.«
Steffen fuhr mit der Hand in die Innentasche seines Jacketts, zog ein Dokument heraus und reichte es ihr.
Lena faltete die Papiere auseinander. Es war Vestgårds Aussage. Der gleiche Text, den sie Lena und Rindal bei Rechtsanwalt Irgens vorgelesen hatte.
»Du lügst schon wieder«, sagte Lena.
Er sah sie nur an.
»Das Dokument, das ich ins Archiv gegeben habe, wurde von mir persönlich abgestempelt. Diese beiden Seiten sind blank. Kein Stempel. Das hier ist keine Kopie meines Dokuments. Fartein Rise kann dir das hier nicht gegeben haben.«
Er sah auf die beiden Seiten hinunter, ohne etwas zu sagen.
Lena faltete die Papiere wieder zusammen und steckte sie in ihre Tasche.
»Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat«, sagte Steffen. »Aber ich weiß jedenfalls, von wem ich sie habe. Von Rise.«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie kühl.
Er hob resigniert beide Arme. »Dann eben nicht!«
Als wäre ich hier diejenige, die gelogen hat, dachte Lena und sagte: »Dann erzähl mir von Rises Vorgeschichte. Warum füttert er dich mit Informationen? Was hast du gegen ihn in der Hand?«
»Fartein Rise hat ein krankes Kind.«
Endlich sagte er etwas Wahres.
»Es gibt eine Klinik in Deutschland«, sagte Steffen und rieb Zeigefinger und Daumen aneinander. »In der Nähe von Frankfurt. Naturtherapie. Blutreinigung und alles. So genannte umstrittene Medikamentierung. Keine Unterstützung durch die Krankenkasse. Das Ganze muss Rise selbst bezahlen. Diese Klinik kostet Geld.«
»Du bezahlst Rise für die Informationen?«
Er antwortete nicht.
»Weiß dein Chefredakteur davon?«
Steffen sah sie nur weiter stumm an. Seine Hand suchte nach ihrer. Eine kurze Sekunde lang sah sie auf diese Hand hinunter. Grüne und blaue Zahlen und Buchstaben, mit Kugelschreiber geschrieben. Das erinnerte sie an etwas, das sehr lange her war. Sie lächelte leicht. Wollte schon wegsehen, schaute aber noch einmal auf die Hand:
Ein Handrücken voller Kugelschreiberschrift. Zahlen und Buchstaben in blauer und grüner Tinte. Zahlen, die sie schon einmal gesehen hatte. Wo hatte sie diese Zahlen gesehen? Es war eine Telefonnummer. Es war eine Nummer, die sie selbst schon gewählt hatte.
Es war die Nummer von Bodil Rømer – der Mutter des Mannes, der versucht hatte, sie zu töten.
Eine Sekunde lang stand die Welt um sie herum still. Die Geräusche verstummten. Der Kellner, der auf den Nachbartisch zu ging, bewegte sich nicht.
Der Moment dauerte nur eine Sekunde. Aber er musste es bemerkt haben. »Was ist los?«, fragte er.
Lena stand auf. »Bin gleich wieder da«, sagte sie, schob sich die Tasche unter den Arm und ging durch die Glastür. Dahinter blieb sie stehen und holte tief Atem. Steuerte dann direkt auf die Garderobe zu. Gab dem Mann hinter dem Tresen eine Münze, griff ihren Mantel mit beiden Händen und wankte hinaus.