MONTAG, 14. DEZEMBER

1

»Tut mir leid«, sagte Lena. »Aber ich habe deine Nachricht erst gestern Abend bekommen.«

Gunnarstranda antwortete nicht.

»Mein Handy lag abgeschaltet zuhause, und ich war mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Ich habe eine Mutter, die ganz bestimmte Vorstellungen hat, wie Weihnachten ablaufen soll.«

Sie hätte sich nicht entschuldigen müssen, tat es aber trotzdem.

Eine freundliche Seele hatte am Wochenende zu viele Lussekatter gebacken und beschlossen, den Rest mit den Kollegen zu teilen. Ein roter Korb mit glänzenden kleinen Gebäckringen stand zwischen zwei halbvollen Kaffeetassen, die nicht mehr dampften. Lena sah zu, wie Gunnarstranda nach einem Gebäck griff und es in zwei Teile brach. Als er sah, dass es innen gelb war, legte er die beiden Teile wieder zurück.

»Das kannst du nicht machen«, sagte Lena.

»Eigentlich ging es grade darum, was du tun solltest«, sagte Gunnarstranda, gehorchte aber, griff nach den beiden Hälften und warf sie in den Papierkorb.

Lena hob eine der Kaffeetassen hoch und schwenkte die kalte Flüssigkeit herum. An den Rändern blieb Kaffeesatz hängen.

Es gab immerhin eine unbestreitbare Schlussfolgerung: Eine oder mehrere unbekannte Personen waren in dem Moment, als Adeler ins Wasser fiel, bei ihm gewesen. Nachdem das Labor seinen Teil der Arbeit erledigt hatte, stand das außer Frage. Das Brett, das neben der Leiche im Wasser trieb, wies Fasern von Adelers Hemd auf. Jemand hatte am Rand des Kais gestanden und es dem Mann, der da im Wasser zappelte, in den Nacken gedrückt. Entweder, um ihm zu helfen, oder, um ihn unter Wasser zu halten – oder aber, um die Leiche herauszufischen. Egal, was der Betreffende getan hatte, er hatte sich nicht gemeldet. In Lenas Kopf blinkten vier leuchtende Buchstaben: M-O-R-D.

»Die Zeit rennt«, sagte Gunnarstranda. »Und genau wie du will ich wissen, was an dem Morgen auf dem Kai passiert ist. Wir hatten einen Zeugen: Stig Eriksen. Freitagabend wurde er mit einer Maschinenpistole erschossen, zehn Minuten nachdem er behauptet hatte zu wissen, was Adeler und Nina Stenshagen passiert ist.«

Lena nickte. Der Fall nahm ganz neue Dimensionen an. Doch sie spürte das Bedürfnis, die Informationen gründlich zu analysieren, Zeit zu haben, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

»Aud Helen Vestgård lügt«, sagte Gunnarstranda.

»Danke, das weiß ich.«

»Vestgård hat den Tisch bestellt«, fuhr Gunnarstranda fort und trommelte mit den Fingern auf der Kopie der Reservierungsliste des Flamingo herum. »Du hast einen Zeugen. Außerdem hast du einen Beweis dafür, dass Vestgård auch bezüglich ihrer Beziehung zu Sveinung Adeler gelogen hat. Dadurch entsteht eine völlig neue Situation. Jetzt müssen wir herausfinden, was Adeler nach dem Essen am Mittwochabend und in der Nacht zum Donnerstag gemacht hat. Der unbekannte Dritte weiß möglicherweise, was Adeler nachts noch vorhatte. Möglicherweise war er es, der Adeler im Morgengrauen ins Wasser gestoßen und den armen Kerl dann mit dem Brett unter Wasser gedrückt hat.«

Lena nickte zustimmend.

»Vielleicht haben sich die beiden – der unbekannte Mann und Sveinung Adeler – von Vestgård verabschiedet, die dann mit dem Taxi nach Hause gefahren ist. Vielleicht sind die beiden zusammen in die Stadt gegangen, und es gab einen Streit?«

Lena schüttelte den Kopf. »Sveinung Adeler hatte null Promille im Blut, als er ertrank.«

Eine Weile schwiegen beide und dachten nach. Schließlich ergriff Gunnarstranda das Wort:

»Du weißt definitiv, dass drei Personen an dem Tisch im Flamingo saßen. Adeler ist tot. Nur Vestgård kann uns sagen, wer die dritte Person war.«

»Aber ich muss es erst mit Rindal besprechen«, sagte Lena. Gunnarstranda hatte Recht, aber Rindal hatte ihr sehr deutlich gemacht, dass er ein Wort mitzureden gedachte, wenn es um den Umgang mit Vestgård ging.

»Die Fasern an dem Brett auf dem Kai erklären alles«, sagte Gunnarstranda. »Jemand hat Adeler unter Wasser gedrückt und damit ertränkt. Das ist vorsätzlicher Mord. Nina Stenshagen hat das Ganze mit angesehen und ist geflohen. Der Täter lief hinter ihr her. Wäre Adelers Tod ein gewöhnlicher Unfall gewesen, hätte es keinen Sinn gemacht, hinter Nina herzulaufen und sie umzubringen.«

Lena griff nach ihrem Handy und rief zum dritten Mal Rindal an. Immer noch ging nur der Anrufbeantworter dran. Sie legte das Handy wieder weg.

Sie wechselten einen Blick. »Wir können beide mit Vestgård reden, wenn du es nicht im Alleingang machen willst«, sagte Gunnarstranda.

»Warum geht er nicht ans Telefon?«, fragte Lena leise.

»Stig Eriksen hat angerufen und wollte mir erzählen, wer die beiden umgebracht hat. Aber ich kam zu spät. Erst hat der Mörder Stig erschossen. Als ich dazukam, wollte er mich auch töten. Es war reines Glück, dass ich den Betonblock nicht direkt auf den Schädel bekam.«

»Was?! Und das sagst du erst jetzt?«

»Bang!«, sagte Gunnarstranda und klatschte mit der Handfläche auf den Tisch. »Der Zement hat nur so gespritzt.«

»Warte«, sagte Lena.

Sie konnte nicht mehr stillsitzen und stand auf.

Gunnarstranda schwieg.

Ihr wurde klar, dass sie eine gute Strategie brauchte, um mögliche Nachbeben zu verhindern, wenn sie noch einmal mit der Parlamentsabgeordneten sprechen wollte. Dann hatte sie eine Idee. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie, »aber anschließend möchte ich allein mit Vestgård reden.«

2

Lena beschloss, vorher keine taktischen Überlegungen anzustellen. Sie ging direkt in die Höhle der Löwin – unangemeldet. Zwar waren Parlamentsferien, aber sie nahm an, dass im Storting trotzdem gearbeitet wurde.

Die erste Überraschung erwartete sie bereits an der Rezeption: Der Eingang von Norwegens Nationalversammlung wurde an diesem Tag von Ståle Sender bewacht.

Lena hatte nicht mehr mit Ståle gesprochen, seit sie per SMS mit ihm Schluss gemacht hatte, bevor er mit seiner Frau in den Sommerurlaub fuhr. Auch jetzt sah sie keinen Grund, mit ihm zu reden. Also nickte sie ihm nur kurz zu und teilte ihm mit, dass Vestgård vermutlich auf sie wartete. Ståle seinerseits nahm sich Zeit und machte sich die Mühe, Lena hineinzubegleiten.

»Und was läuft so bei dir?«, fragte er.

»Nichts Besonderes«, sagte Lena. »Wir haben wenig Leute, viele Überstunden, wie immer halt.«

»Ich meine privat«, sagte Ståle.

Lena zögerte. »Geht so, wenn ich nicht so genau in mich hineinhöre.«

Ståle schwieg. Gott sei Dank, sie waren da. Lena las den Namen von Aud Helen Vestgård an der Tür und klopfte.

Ståle wartete ebenfalls.

»Danke, Ståle«, sagte Lena.

»Wie wär’s mit einem Weihnachtsessen vor den Feiertagen?«, fragte er schnell.

Warum machte Vestgård die Tür nicht auf? Sie warf einen Blick auf Ståle. »Du und ich, meinst du?«

Er nickte.

Sie antwortete nicht, er machte sie sprachlos.

»Ich lade dich ein«, sagte Ståle. »Theatercafé, Gamle Rådhus, Annen Etage, you name it. Ein Vorteil bei diesem Job ist, dass man die richtigen Leute mit Vornamen kennt.« Ståle grinste und ließ seine Muskeln spielen. »Was hältst du von einem Date? Just you and me?«

»Es ist bald Weihnachten«, sagte Lena kühl. »Gib das Geld lieber für was Vernünftiges aus, kauf was Schönes für deine Frau.«

Da wurde die Tür geöffnet. Aud Helen Vestgård trug diesmal ein schmal gestreiftes Kostüm, das ihr gut stand.

»Sie?«, sagte Vestgård mit einer ärgerlichen Falte auf der Stirn.

Lena nahm Anlauf. »Es geht um den Drohbrief, den Sie bekommen haben.«

»Ja?«

»Können wir das in Ihrem Büro besprechen?«

Vestgård warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe gleich eine wichtige Sitzung, ich weiß nicht …«

»Es wird nicht lange dauern«, sagte Lena.

»Na dann«, sagte Vestgård und hielt ihr die Tür auf.

Das Büro war riesig. Mit hoher Decke. Akustik. Die Absätze klackerten wie auf einer Bühne. Als die Tür ins Schloss fiel, hallte es im Raum wider. Von den Fenstern hatte man Aussicht auf den Wessels Plass und Halvorsens Conditori.

Wie um zu unterstreichen, wie unpassend dieser Besuch war, blieb Vestgård mitten im Raum stehen. Sie warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Der Drohbrief war ein falscher Alarm. Jemand hat ihn geschrieben, um die Absenderin in Verlegenheit zu bringen. Sie ist offensichtlich Studentin, interessiert sich wenig für Politik und überhaupt nicht für Sie, keine Vorstrafen, nicht politisch aktiv. Unsere Leute vermuten, dass der Täter dieser Frau schaden wollte. Ihr Name hat in dieser Sache überhaupt keine Bedeutung.«

»Das ist beruhigend zu hören«, sagte Vestgård kurz. »Ich danke Ihnen.«

Sie war wieder auf dem Weg zur Tür, wartete aber darauf, dass Lena vorginge.

Jetzt oder nie, dachte Lena und nahm wieder Anlauf: »Aud Helen Vestgård, Sie haben die Polizei belogen. Wir haben Zeugen, die bestätigen, dass sie am Mittwochabend zusammen mit Sveinung Adeler im Flamingo Restaurant in Grefsen gewesen sind.«

Vestgård blieb ein paar Sekunden reglos mit dem Rücken zu Lena vor der Tür stehen. Dann drehte sie sich langsam um und sah ihr in die Augen. »Ich habe gleich eine Sitzung. Bitte entschuldigen Sie mich, aber ich muss gehen.« Sie streckte den Arm aus und umfasste den Türgriff.

Lena trat einen Schritt vor. »Ich rate Ihnen, sich jetzt Zeit zu nehmen, um die Sache zu klären. Wenn nicht, muss ich rechtliche Schritte einleiten, um Sie später offiziell zu verhören.«

Vestgård trat ein wenig zurück, als würden Lenas Worte sie schockieren. »Was erlauben Sie sich? Sie haben in diesem Haus keine Autorität. Sie befinden sich im Parlamentsgebäude, in der Norwegischen Nationalversammlung. Wenn Sie sich nicht benehmen, dann lasse ich Sie rauswerfen.«

»Ich kann gehen, wenn Sie darauf bestehen«, sagte Lena leise. »Aber das ändert nichts an der Situation. Es ist eine Tatsache, dass Sie bei einem Polizeiverhör die Unwahrheit gesagt haben. Ich biete Ihnen an, Ihre Aussage hier und jetzt zu widerrufen, dann wird das, was Sie mir sagen, protokolliert, und Unrichtigkeiten werden korrigiert. Es ist Ihr gutes Recht, ihre frühere Aussage zu korrigieren. Wenn nicht …« Lena ließ die Alternative unausgesprochen in der Luft hängen.

Vestgård trat dicht an sie heran. »Drohen Sie mir?«

Lena wich zurück.

»Glauben Sie, ich hätte etwas zu verbergen? Was sollte das sein? Oder ist das Ihre Arbeitsmethode – Presseleuten etwas ins Ohr zu flüstern, damit sie Ihnen helfen, ehrbare Menschen anzuprangern, jedes Mal, wenn die Wirklichkeit nicht so aussieht, wie Sie sie gern hätten?«

Lena wusste, dass sie nah am Ziel war. Und sie wusste auch, dass sie dem Druck jetzt standhalten musste. »Absolut nicht«, sagte sie so ruhig sie konnte. »Sie hören mir nicht zu. Ich biete Ihnen an, Ihre Aussage zu revidieren.«

Aud Helen Vestgårds Augen blitzten immer noch. Aber sie dachte offensichtlich darüber nach, was Lena gesagt hatte. Schließlich ließ sie die Schultern sinken, trat an ihren Schreibtisch und bewegte ein paar Papiere hin und her, während sie weiter nachdachte.

»Sveinung«, sagte sie endlich. »Sveinung und ich waren bei einem Weihnachtsessen. Lassen Sie mich Folgendes unterstreichen, damit es in Ihren lästigen Berichten korrekt festgehalten wird. Sveinung und ich hatten keine Affäre. Es war eine professionelle Beziehung, aus der sich eine Freundschaft entwickelt hat. Ich war eine … nennen Sie es Mentorin für Sveinung. Er war noch nicht so lange Parteimitglied. Wir haben uns im Wahlkampf kennen gelernt. Ich stand da draußen an einem Stand«, sie zeigte aus dem Fenster, »und Sveinung blieb stehen und verwickelte mich in eine Diskussion über die Ölbohrungen vor den Lofoten.« Vestgård lächelte schwach bei der Erinnerung. »Es hat geregnet, ein ekliges Wetter, aber wir haben uns die Köpfe heiß diskutiert. Er hatte starke Positionen, und er konnte sie gut vorbringen. Tja, jedenfalls stellte sich heraus, dass Sveinung Parteimitglied war, und wir trafen uns in dem Zusammenhang kurz darauf wieder. Wurden Freunde. Wir mochten uns einfach. Am Mittwoch waren wir in diesem Restaurant in Grefsen essen, weil es das einzige Lokal war, wo man noch einen Tisch bekam. Er wollte nämlich Lutefisk essen.« Vestgård zuckte mit den Schultern. »Das Weihnachtsessen war der Grund, warum wir in dieses Lokal mussten. Alle anderen bekannten Restaurants im Zentrum waren ausgebucht. Wenn er Sushi oder Tapas hätte essen wollen, oder thailändisch von mir aus, hätten wir im Zentrum etwas finden können.«

Lena musste fragen: »Aber warum haben Sie beim letzten Mal behauptet, Sie würden ihn nicht kennen?«

Aud Helen Vestgård wandte sich von Lena ab und starrte stattdessen nachdenklich aus dem Fenster. »Das war natürlich dumm von mir. Aber Sie haben mich so überrumpelt. Ich habe auf die Aufklärung der Morddrohung gewartet. Als Sie dann plötzlich mit Sveinung ankamen – tja, ich wollte keine Presse und keine Spekulationen. Und es hätte eine Lawine davon gegeben. Immerhin war Sveinung fünfzehn Jahre jünger als ich.«

»Den Zeugen zufolge waren sie zu dritt bei dem Essen in Grefsen. Wer war der Dritte?«

Die Stille danach war ohrenbetäubend. Aud Helen Vestgård sah Lena scharf an.

Die Sekunden tickten.

Lena konnte förmlich die Zahnräder im Kopf der Frau rotieren hören.

»Ihr Zeuge irrt sich«, sagte Aud Helen Vestgård schließlich. Ihre Stimme zitterte. »Wir waren nicht zu dritt. Wir waren nur zu zweit. Sveinung und ich. Das Lokal war brechend voll, und Ihr Zeuge hat es sicher falsch gedeutet, dass irgend jemand von einem anderen Tisch mit uns gesprochen hat. Es war ein typisch norwegischer, feuchtfröhlicher Lutefisk-Abend. Die Leute haben sich von Tisch zu Tisch zugeprostet, und das haben wir auch getan. Aber wir waren nur zu zweit. Gerade deswegen wollte ich ja nicht über dieses Treffen sprechen, weil die Tatsache, dass Sveinung und ich allein zu Abend aßen, zu Missverständnissen eingeladen hätte.«

»Ist das Ihr letztes Wort?«, fragte Lena.

»Natürlich«, gab Vestgård zurück.

Lena wählte ihre Worte mit Bedacht, bevor sie antwortete: »Wir versuchen nachzuvollziehen, was Adeler in den Stunden vor seinem Tod tat. Wohin sind Sie nach dem Essen gegangen?«

»Ich bin nach Hause gefahren. Keine Ahnung, was er gemacht hat.«

»Könnte er mit dieser unbekannten dritten Person gefahren sein?«

»Hören Sie schlecht? Es gab keine dritte Person!«

Lena sah ein, dass Vestgård nicht darauf eingehen würde, und fragte stattdessen: »Wie sind Sie nach Hause gekommen?«

»Ich habe ein Taxi genommen. Sveinung hat sich wahrscheinlich auch eins bestellt.«

»Nach Aussage der Angestellten des Restaurants wurde nur ein Taxi bestellt.«

»Sveinung ist ein moderner Mensch und kann gut auf sich selbst aufpassen.«

»Haben Sie gesehen, dass er in ein Taxi gestiegen ist?«

»Nein. Aber ich nehme an, dass er das getan hat. Er war gut gelaunt. Als der Wagen kam, hat er ihn mir überlassen. Er sagte, er würde einen anderen nehmen. Er war ein erwachsener Mann über dreißig, also hatte ich keine Bedenken, ihn sich selbst zu überlassen. Es war erst elf Uhr abends.«

»Hat er Ihnen gesagt, wohin er nach dem Essen wollte, nach Hause zu sich oder zu jemand anderem?«

»Nein. Aber ich habe angenommen, dass er zu sich nach Hause wollte.«

»Warum haben Sie das angenommen?«

Vestgård wurde wieder ärgerlich. »Weil es mitten in der Woche war? Keine Ahnung. Hören Sie mal: Ich habe das Lokal vor 23 Uhr verlassen. Ich habe eine Quittung für das Taxi, die ich Ihnen zeigen kann. Mein Mann und meine zwei Töchter waren noch wach und können bestätigen, wann ich nach Hause gekommen bin.«

Bevor Lena protestieren konnte, hatte sie nach dem Telefonhörer gegriffen und wählte eine Nummer:

»Vestgård an Frikk Råholt … Frikk? Ich bin’s. Ich habe wieder Besuch von dieser Polizistin. Ja, ich habe erzählt, dass ich Mittwochabend mit Sveinung unterwegs war. Jetzt will sie wissen, wann ich nach Hause gekommen bin. Kannst du ihr das sagen?«

Vestgård reichte Lena den Hörer. »Fragen Sie Frikk, meinen Mann.«

Lena gefiel die Situation gar nicht, aber sie gehorchte.

»Hier ist Lena Stigersand …«

Mehr konnte sie nicht sagen, bevor Frikk Råholts Stimme sie unterbrach: »Ihre Vorgesetzten haben mir versichert, dass alle Anfragen an meine Frau oder andere Mitglieder unserer Familie diskret und über gesicherte Kanäle erfolgen würden. Im Parlament eine Aussage von Aud Helen aufzunehmen, kann man wohl kaum diskret nennen. Deshalb sehe ich mich gezwungen, diese Situation mit Ihrem Vorgesetzten zu besprechen, was Sie sicherlich verstehen werden. Der Ordnung halber bitte ich Sie, sich Folgendes zu notieren: Meine Frau ist am Mittwoch, dem 9. Dezember, eine halbe Stunde vor Mitternacht mit dem Taxi nach Hause gekommen. Wenn Sie auf meine Unterschrift unter dieser Aussage bestehen, bitte ich Sie, ein entsprechendes Dokument an das Justizministerium zu faxen – nachdem Sie vorher mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen haben.«

Das Gespräch wurde beendet, und das Freizeichen dröhnte an Lenas Ohr.

Sie sah Aud Helen Vestgård an, die ihr den Telefonhörer abnahm und wieder an seinen Platz legte.

3

Außer Lena saß nur noch eine weitere Patientin im Wartezimmer, eine blonde Frau Mitte zwanzig. Die Frau las in einem dicken Buch und reagierte nicht, als Lena hereinkam und sich setzte. Lena betrachtete sie verstohlen. Formvollendete Figur und enge Jeans, die in hohen schwarzen Stiefeln mit Absatz verschwanden.

Auf einem flachen Tisch lagen ein Stapel alter Wochenzeitschriften und einzelne Gesundheitsmagazine mit farbenfrohen Titelblättern. An den Wänden hingen Informationsplakate über die Schädlichkeit von Rauchen und übermäßigem Alkoholkonsum.

Lena beugte sich vor und griff nach einer Wochenzeitschrift. Die Frau sah von ihrem Buch auf. Sie nickten einander kurz höflich zu.

Lena blätterte. Die Zeitschrift war mehrere Monate alt, und die Fotos stammten von einer Kinopremiere, wo junge, schöne Menschen auf einem roten Teppich posierten. Die Kleider wurden kommentiert und vom »Experten« des Blattes mit Würfelpunkten bewertet. Lena war froh, dass dieser »Experte« nicht ihre Garderobe zu bewerten hatte. Außerdem bedauerte sie, keinen anderen Lesestoff mitgenommen zu haben.

Sie schielte wieder zu der anderen Frau hinüber. War neugierig, was diese wohl las. Es war ein dickes Buch. Ein Roman. Was für Romane las eine junge Frau mit Stundenglasfigur und Solariumhaut? Wahrscheinlich einen Arztroman, dachte Lena, jedenfalls nichts, was viele Jahre in den Bücherregalen überleben würde – wie die Erzählungen von Jane Austen.

Die Blondine mit dem Buch hob den Kopf und sah sie an.

Lena vertiefte sich wieder in die unkomplizierten Liebesaffären der TV-Stars. Es war ihr unangenehm, die Fotos zu betrachten. Sie legte das Blatt weg, streckte die Beine aus und lehnte sich zurück.

Die andere Frau legte ein Lesezeichen in ihr Buch und schlug es zu.

Der Titel war Moby Dick.

Lena musste über sich selbst lächeln.

Endlich ging die Tür auf. Eine füllige Frau in grünem Arztkittel stand vor ihnen. Sie sah erst die Blondine und dann Lena an und sagte: »Stigersand?«

Lena stand auf und folgte ihr.

Eine Stunde später stieg sie in ihr Auto. Saß da und schaute durch die Windschutzscheibe, nachdenklich und verwirrt. Zum ersten Mal war sie in einer Arztpraxis gewesen, ohne dass ihr egal war, was passierte. Gleichzeitig gelang es ihr nicht, die Situation wirklich an sich heranzulassen. Sie wollte nicht daran denken. Trotzdem öffnete sie ihre Umhängetasche. Darin lag ein Briefumschlag, den sie ihr mitgegeben hatten. Sie wog den Umschlag in der Hand. Fasste einen Entschluss. Riss den Umschlag auf und zog das Papier heraus. Las den ersten Satz: Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht allein sind, wenn Sie anrufen, um das Resultat der Untersuchungen zu erfahren. Es kann hilfreich sein, dann mit jemandem sprechen zu können.

Der Ernst des Textes überwältigte sie. Ein paar Sekunden saß sie mit geschlossenen Augen da. Doch dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab. Sie musste sich bewegen.

Ziellos wanderte sie umher und landete schließlich bei Steen & Strøm, ging in ihrem gefütterten Wintermantel durch die beheizten Verkaufshallen und fühlte sich wie ein Astronaut, der in einer fremden Welt umhertappte. Sie befand sich in der Parfümabteilung. Wie war es möglich, dass Frauen, die in Parfümerien arbeiteten, immer gleich aussahen? Wie brachten sie es fertig, immer so flott und zeitgemäß auszusehen, in allen Ländern, in allen Städten der Welt? Als Lena ein kleines Mädchen war, war sie hierhergekommen und hatte mit großen Augen die schönen Frauen mit den rosa Schürzen angeschaut, die nach Parfüm und Puder dufteten. Sie hatte davon geträumt, auch einmal eine von ihnen zu sein, eine duftende Schönheit in einer Parfümerie, umgeben von Cremes und Schminke und aufreizender Unterwäsche.

Was geschah gerade mit ihr?

Sie hatte etwas begriffen.

Ich bin sterblich.

Ich bin 33 Jahre alt und habe mir das eigentlich vorher nicht klargemacht. Ich habe 33 Jahre mit nichtssagendem Zeug vertan. Ich habe meine Mutter verachtet und meinen Vater vermisst und über eine lächerliche Liebe geweint, als ich aufs Gymnasium ging. Warum bin ich Polizistin geworden? Weil es schwer war. Weil es gute Noten erforderte und eine bestandene Aufnahmeprüfung. Weil Kenneth, meine lächerliche Jugendliebe, auch Polizist werden wollte. Er schaffte es nie. Erfüllte die Aufnahmebedingungen nicht. Ich habe es geschafft. Aber was ist der Sinn des Ganzen? Warum dieses Schichtarbeiten und endlose Überstundenschieben? Warum den Körper quälen, ihm den Schlaf rauben, warum sich auspowern, das tun, was man für richtig hielt, wenn man dafür dann nur Undankbarkeit und böse Worte erntete? Warum habe ich mich um die Stelle als Ermittlerin beworben? Kleine Lena, Streberin.

Sie ließ sich langsam von der Rolltreppe nach oben tragen. Auf der Stufe vor ihr stand eine ungewöhnlich schöne, asiatisch aussehende Frau, die einen übergewichtigen Mann gleichen Alters an der Hand hielt. Lena folgte ihnen. Sie sahen sich Damenunterwäsche an. Die dunkle Schönheit warf sich durchsichtige Slips und aufreizende Korsetts über den Arm, zeigte sie ihrem dicken Geliebten, der ermunternd nickte. Lena ging an ihnen vorbei und fuhr die Rolltreppe wieder nach unten. Sie passte nicht unter diese Menschen, die keine Sorgen hatten. Sie war sterblich.

Heute noch zur Arbeit zurückzufahren kam nicht in Frage. Sie ging fast blind zurück zu ihrem Wagen. Setzte sich hinein und fuhr los. Sie dachte an ihre Mutter, dachte an ihren toten Vater und zuckte zusammen, als eine Hupe ertönte.

Sie war bei Rot über die Kreuzung gefahren! Reiß dich zusammen, Lena!

Sie nahm sich zusammen und fuhr konzentriert weiter. Dann fasste sie sich an die Brust. Warum fasste sie sich an die Brust? Sie verspürte ein Stechen.

Sie fuhr an den Straßenrand und hielt an. Löste ihren Sicherheitsgurt. Das half. Das leichte Stechen verschwand. Auf der anderen Straßenseite thronte ein Wohnblock mit vielen Stockwerken. Im dritten wohnten Menschen mit großem Weihnachtsenthusiasmus. Die Veranda war üppig mit roten, gelben und grünen Lichtern behängt. Über dem Ganzen leuchtete eine Nachricht an die Welt, wie eine Reklametafel in Rot und Weiß: Frohe Weihnachten.

Lena blinkte und fuhr wieder auf die Fahrbahn. Sie wollte nach Hause, weg von allem und in Träume eintauchen, Teelichte anzünden und Räucherstäbchen abbrennen. Sie hatte immer noch drei Episoden von Stolz und Vorurteil vor sich. Lizzy war noch nicht mit Tante und Onkel nach Blenheim gefahren. Mister Darcy war noch nicht auf seinem weißen Pferd geritten gekommen, und Lydia war noch nicht mit Wickham weggelaufen.

4

Durch die scheppernde Tür des Asylet zu treten war wie in eine längst vergangene Zeit einzutauchen. Wand- und Bodenbretter sahen aus wie mit der Motorsäge geschnitten. Das Winterholz stand gestapelt an der Wand. In dem riesigen Kamin brannte ein gemütliches Feuer, und Frank Frølich hatte sich an einen der langen Tische im Barraum gesetzt.

Frølich kannte offenbar die Bedienung, die sich mit einem Kaffee neben ihn gesetzt hatte. Als Gunnarstranda erschien, stand sie sofort auf. »Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Gunnarstranda.

»Besser nicht, wenn Sie etwas zu trinken haben möchten«, sagte sie grinsend. »Außerdem hab ich für heute genug mein Herz ausgeschüttet.«

»Was nimmst du?«, fragte er Frølich, der mit dem Rücken an der Wand lehnte. Er hatte eine dicke Pelzmütze und zwei große Pelzhandschuhe neben sich auf den Tisch gelegt.

»Pils und Gammel Dansk.«

»Für mich das Gleiche«, sagte Gunnarstranda zur Bedienung. »Wie geht’s?«, fragte er.

»Geht so«, sagte Frølich. »Hab zwei Angebote, einen Job als Weihnachtsmann und einen als Wachmann am Hauptbahnhof. Kann mich nicht richtig entscheiden.«

»Es hat keinen Sinn zu versuchen, mich zum Lachen zu bringen«, sagte Gunnarstranda. »Ich lache nie.«

Die Frau kam mit Bier und Schnaps. Gunnarstranda und Frølich hoben ihre Schnapsgläser und leerten sie.

»Noch einen«, sagte Frølich.

»Gibt’s keine kleineren Gläser?«, fragte Gunnarstranda vorsichtig.

Die Kellnerin schüttelte den Kopf.

»Okay, noch einen.«

»Es ist bald Weihnachten, und ich lebe von Erspartem«, fuhr Frølich fort. »Habe beschlossen, morgens länger liegen zu bleiben, das geht leicht, bei dem jahrelang angestauten Bedürfnis durch die Nachtschichten. Jetzt bin ich schon bei zehn Stunden Schlaf jede Nacht. Kann bald zum Arzt gehen und mir eine neue Krankheit attestieren lassen: Narkolepsie. Dann geh ich zur Rentenkasse, beantrage Frührente, kaufe mir ein Segelboot auf Raten und fahre um die Welt. Ich bin wie der Löwe im Tierpark von Kabul. Hab genug zu essen, genug Freizeit, ich hab alles.«

»Nur keine Löwenfreunde«, sagte Gunnarstranda.

»Wie ist der Neue?«, fragte Frølich.

»Fartein Rise arbeitet zwar hier, wohnt aber in Bergen und hat eine tragische Familiengeschichte.«

Frølich nahm einen Schluck Bier, statt einen Kommentar dazu abzugeben.

»Wusstest du, dass sich Bergen Die Stadt zwischen den sieben Bergen nennt?«, fragte Gunnarstranda. »Aber sie können sich nicht darüber einigen, welche Berge das sind. Es gibt nämlich nicht nur sieben Berge. Es sind mehr, zehn, vierzehn, vielleicht noch mehr. Ist es da nicht etwas merkwürdig, wenn sie die Anzahl auf sieben reduzieren, um ihre eigene Stadt zu verorten?«

»Skål«, sagte Frølich.

»Ich hab ein Rätsel für dich«, sagte Gunnarstranda und stellte sein Glas ab.

»Schieß los.«

»Also – Folgendes: Um acht Uhr am Donnerstagmorgen geht in der Zentrale die Nachricht ein, dass vor dem Rathauskai ein Mensch im Wasser treibt. Lena fährt hin, und es sieht aus wie ein Unfall, ist wahrscheinlich aber mehr.«

»Er wurde reingestoßen?«

»Nicht nur das, der Täter hat auf dem Kai ein Brett gefunden und den armen Kerl damit unter Wasser gedrückt – bei 25 Grad unter null. Jedenfalls hat Lena herausgefunden, dass dieser Typ, Sveinung Adeler, ungefähr um sechs Uhr morgens ertrunken ist. Und dann landet am selben Morgen eine Frau, Nina Stenshagen, unterm Triebwagen der Grorudbahn und stirbt. Sie gehört zur Junkieszene vom Bahnhof. Da war es halb acht.«

»Selbstmord?«

»Sie ist in den Tunnel gelaufen und wurde von einem Mann verfolgt. Drei Minuten nachdem Nina unter dem Zug gelandet ist, verlässt eine unbekannte Person den Tunnel durch einen der Notausgänge ganz in der Nähe.«

»Also nicht unbedingt Selbstmord. Was sagt der Zugführer?«

»Die Frau stand zu dem Zeitpunkt unter Schock und hat nichts gesehen. Hat nur den Knall gehört – meinem Kollegen Rise zufolge, der ihre Aussage aufgenommen hat.

Diese Nina war offenbar mit einem anderen Junkie befreundet, Stig Eriksen. Am Tag danach habe ich mit diesem Stig gesprochen. Erst wollte er nichts sagen, ruft mich aber eine halbe Stunde später an und erzählt – also am Telefon –, dass Nina ermordet wurde und dass er gesehen hat, wer den Mann vom Kai gestoßen und ertränkt hat.«

Gunnarstranda holte Atem und trank einen Schluck Bier.

»Verhafte Stig Eriksen. Bring ihn in eine Ausnüchterungszelle, bis sich Entzugserscheinungen melden, dann sagt er dir alles, was du wissen willst«, sagte Frølich.

»Das Problem ist, dass Stig Eriksen tot ist«, sagte Gunnarstranda kurz. »Mit einer Maschinenpistole erschossen, wenige Minuten bevor ich genau das tun wollte, was du vorgeschlagen hast.«

Frølich stieß einen Pfiff aus.

»Genau wie in einem amerikanischen Film«, sagte Gunnarstranda. »Einschussloch in der Stirn und eine Riesenschweinerei.«

Gunnarstranda bemerkte, dass die Bedienung eine neue Runde Gammel Dansk serviert hatte. Frølichs Glas war schon wieder leer.

Gunnarstranda nippte an seinem Glas und spülte den bitteren Schnaps mit Bier herunter. »Nun ist es aber so, dass ich Nina Stenshagens Handy habe. Und das wurde nicht benutzt – weder am Mittwoch noch am Donnerstagmorgen. Das letzte Mal wurde es Dienstagabend benutzt, und da hat sie mit Stig Eriksen telefoniert.

Also: Ein Mann wird Donnerstagmorgen im Hafenbecken ertränkt. Nina Stenshagen sieht, was passiert. Sie bekommt Angst und läuft vom Tatort weg, der Täter hinterher. Sie hat in ihren glücklicheren Jahren bei der T-Bahn gearbeitet und beschließt, ihren Verfolger abzuhängen, indem sie in den Tunnel läuft. Ich glaube, er hat sie eingeholt und ermordet. Das Rätsel, was ich zu lösen versuche, ist folgendes:

Woher konnte Stig Eriksen wissen, dass Nina Stenshagen ermordet wurde, weil sie beobachtet hatte, wer Adler umgebracht hat – wenn sie nicht miteinander gesprochen haben

»Du hast immer gesagt, das Einfache sei das Beste«, sagte Frølich.

Gunnarstranda nickte.

»Das Einfachste ist, dass dieser Stig geblufft hat. Er wusste gar nichts.«

»Daran hab ich natürlich auch schon gedacht«, sagte Gunnarstranda. »Aber mein Bauchgefühl sagt, dass er was wusste. Vergiss nicht, dass er sich zuerst geweigert hat, mit mir zu reden. Dann ruft er an und will, dass ich zurückkomme. Er hätte alles Mögliche behaupten können, um mich dazu zu bewegen, umzukehren. Er hätte behaupten können, zu wissen, wer hinter Nina Stenshagen her in den Tunnel gelaufen ist, oder dass er wüsste, was tatsächlich passiert ist. Ich wäre umgekehrt und sofort zu ihm gerannt. Stattdessen spricht er vom Motiv für den Mord an Nina – er sprach von dem Mann, der im Hafenbecken ertrunken ist. Ich hatte weder Adeler noch sein Ertrinken mit einem Wort erwähnt. Ich spüre es. Stig hat die Wahrheit gesagt. Nina hat gesehen, was auf dem Rathauskai passiert ist. Und ich will das Rätsel gelöst haben. Du bist schlau, Frølich, und du liest Detektivromane. Hilf mir. Woher konnte Stig wissen, was Nina an dem Morgen beobachtet hat?«

»Das liegt doch auf der Hand«, sagte Frølich lächelnd. »Stig war selbst dabei und hat es auch gesehen.«

Gunnarstranda runzelte skeptisch die Stirn.

»Wenn Stig die Wahrheit gesagt hat«, sagte Frølich, »dann muss er dabei gewesen sein. Er muss es selbst gesehen haben.«

»Möglicherweise ist da was dran«, sagte Gunnarstranda nachdenklich. »Die beiden waren ein Paar. Zwei Obdachlose, die jede Nacht nach einem neuen Schlafplatz gesucht haben. Es war bitterkalt in der Nacht. Vielleicht hatten sie einen Unterschlupf in der Nähe des Rathauskais gefunden. Es war früh am Morgen. Das Opfer und der unbekannte Täter kommen an, sie gehen auf den Kai. Der eine schubst den anderen ins Wasser. Nina und Stig werden Augenzeugen, aber der Täter entdeckt nur Nina, die daraufhin wegrennt.«

Frølich nickte. Gunnarstranda war immer noch skeptisch. Gleichzeitig merkte er einen leichten Schwindel im Kopf. Zwei Gläser Schnaps und anderthalb Pils spielten Pingpong mit seinen Hirnzellen.

»Das Spannendste ist ja, was Stig dazu gebracht hat, Kontakt mit dir aufzunehmen«, sagte Frølich grinsend. »Warum wollte er dir erst nichts erzählen und nach einer halben Stunde dann doch alles verraten?«

Gunnarstranda versuchte sich zu konzentrieren.

»Stig hat dich angerufen, weil er Angst bekommen hat«, fuhr Frølich fort. »Er hatte eine Riesenangst und wollte deine Hilfe. Und warum hatte er solche Angst?«

»Sag du’s.«

»Weil er Kontakt zum Täter aufgenommen hat, nachdem du gegangen warst«, sagte Frølich.

»Genau das passt für mich irgendwie nicht zusammen«, sagte Gunnarstranda. »Wenn du Recht hast und Nina und Stig beide zugesehen haben, wie der Täter unseren Bürokraten ins Wasser geworfen hat, und wenn du auch Recht damit hast, dass Stig mit demselben Täter Kontakt aufgenommen hat, nachdem ich wieder weg war – warum hat er so lange gewartet? Warum hat er nicht schon am Tag zuvor Kontakt zum Täter aufgenommen, warum erst, nachdem ich mit ihm gesprochen hatte?«

»Vielleicht hat er ja schon vorher Kontakt aufgenommen. Hast du sein Handy?«

Gunnarstranda schüttelte den Kopf. »Der Täter war gründlich. Er hat es mitgenommen. Hab versucht, es zu orten, aber ohne Erfolg. Das Handy ist höchstwahrscheinlich zerstört worden, sagt Telenor.«

Frølich schlürfte die letzten Tropfen seines Gammel Dansk in sich hinein.

»Du siehst miesepetrig aus«, sagte Frølich. »Ich glaube, du brauchst noch einen.«

Gunnarstranda sah auf. Ein neues Halbes und ein neuer Schnaps standen auf dem Tisch. Er lächelte matt. »Den noch«, sagte er, »aber dann ist Schluss.«

»Ich vermute, dass Stig überlegt hat, wie er den Täter erpressen konnte, ohne etwas zu riskieren. Versetz dich mal in seine Lage: Er wird Zeuge eines Mordes. Er könnte Geld verdienen mit seinem Schweigen. Aber wie? Er weiß ja, dass der Täter ein Mörder ist. Wenn er einen falschen Schritt macht, springt für ihn nur eine Todesanzeige im Namen der Freunde heraus. Er muss heftig gegrübelt haben. Als du kamst, sah er seine Chance. Vielleicht hat er dich als Versicherung benutzt. Erst ruft er den Täter an, verlangt Geld und verabredet ein Treffen. Dann ruft er dich an und bittet dich zu kommen. Für den Fall, dass der Täter ihn überrumpeln wollte, hat er dich – die Polizei – als Backup.«

Gunnarstranda nickte. Das klang einleuchtend. Er erinnerte sich an die Schritte. Den Schatten auf der Treppe. Es war sehr knapp gewesen. Wenn er nicht unten im Treppenschacht auf Stig gewartet hätte, wäre möglicherweise … Nein, so durfte er nicht denken. Stig war von einem unbekannten Täter ermordet worden. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Gunnarstranda hob sein Glas. Das Bier schmeckte ihm nicht.

»Du weißt, dass du vor einem noch größeren Rätsel stehst, oder?«, fragte Frølich.

»Welchem?«

»Du hast es mit zwei verschiedenen Vorgehensweisen zu tun«, sagte Frølich. »Ein Mann wird ins Wasser gestoßen, Nina wird vor einen Zug gestoßen. Aber Stig Eriksen wird erschossen. Der Mord an Stig unterscheidet sich von den anderen. Dass Stig erschossen wurde, spricht dagegen, dass es derselbe Täter war, der alle drei umgebracht hat.«

Gunnarstranda nickte. »Meinst du, ich hätte darüber noch nicht nachgedacht?«, murmelte er. »Ich habe veranlasst, dass Nina Stenshagen obduziert wird. Aber auch wenn sich herausstellen sollte, dass sie ebenfalls erschossen wurde, bin ich nicht viel weiter. Adeler ist ertrunken, da besteht kein Zweifel. Irgendwas krieg ich da noch nicht zu fassen. Mir fehlen Informationen.«

»Nina ist weggelaufen«, sagte Frølich. »Der Täter ist hinterher. Aber Stig blieb zurück. Warum ist er nicht hin und hat den Mann gerettet, der im Wasser zappelte?«

»Stig war behindert. Hatte ein Bein amputiert. Durchaus möglich, dass er es versucht hat. Das werden wir wohl niemals herausfinden.«

Gunnarstranda räusperte sich und dachte wieder laut. »Stig und Nina waren beide totale Drogenwracks. Sie haben alles versucht. Stig hätte sogar die Goldkronen aus dem Mund seiner eigenen Großmutter geklaut, um Geld für Stoff zu haben. Wenn Stig wusste, wer der Täter ist, dann besaß er wertvolle Informationen. Ich glaube, dass er versucht hat, den Täter zu erpressen.«

»Oslo hat eine halbe Million Einwohner. Wie ist er an den Namen und die Telefonnummer gekommen?«

»Hm …«, sagte Gunnarstranda und hatte plötzlich eine Idee. »Der Täter könnte eine bekannte Persönlichkeit gewesen sein.«

Frølich grinste. »Ein VIP?«

»Immerhin ist schon eine VIP in die Sache verstrickt«, sagte Gunnarstranda düster. »Eine Parlamentsabgeordnete.«

Frølich schüttelte den Kopf. »Jetzt verrennst du dich, alter Knabe. Die ganze Stig-Geschichte ist irgendwie verrückt. Stig wurde erschossen. Das macht einen Unterschied, wie gewisse Politiker sagen würden. Möglicherweise war Stig zusammen mit Nina auf dem Kai und hat beobachtet, wer diesen Adeler ins Wasser geworfen hat. Aber Stig wurde von einer bewaffneten Person erschossen. Leute, die in diesem Land Junkies erschießen, sind Dealer, die ihr Geld nicht kriegen – oder Auftragskiller, die sie anheuern, um den Job für sie zu erledigen.«

Gunnarstranda blieb stumm. In seinem Kopf drehte sich alles, und er protestierte nicht.

»Das ergibt doch ein wahrscheinlicheres Szenario«, fuhr Frølich fort.

Die Idee mit dem Auftragskiller gefiel Gunnarstranda nicht. Er wusste, dass es einen Zusammenhang zwischen den drei Morden gab. Das sagte ihm sein Bauchgefühl.

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Die kleinen Grauen sagen, dass du Recht hast«, sagte er und klopfte sich auf den Bauch. »Aber der hier sagt, dass du dich irrst.«

»Follow the money«, sagte Frølich grinsend. »Schade, dass hier kein Geld im Spiel ist, dem man folgen könnte.«

»Follow the white rabbit«, sagte Gunnarstranda und stand auf. »Ich brauche was zu essen.«