Morg stand vor Conroyds Spiegel im Ankleidezimmer und bewunderte die Art, wie sein Morgenmantel aus blauem Brokat die Farbe seiner Augen unterstrich. Hinter ihm setzte Conroyds Gemahlin ihr Gejammer fort.

»Aber du kannst mich nicht wegschicken!«, protestierte Ethienne, die gefährlich nah daran war, mit dem Fuß aufzustampfen. »Ich bin jetzt die Königin, Conroyd! Ich gehöre in den Palast!«

Er seufzte und strich sein offenes, blondes Haar glatt. Sie gehörte in einen Sarg zwei Meter unter der Erde. »Meine Liebe, ich weiß. Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du auch im Palast sein. Wir werden beide dort sein, und der Falke des Hauses Jarralt wird stolz auf den Dächern wehen. Aber bis dahin möchte ich, dass du Dorana verlässt und auf unser Landgut gehst, wo du in Si– cherheit sein wirst und dich um unsere Söhne kümmern kannst.« »Warum wäre ich hier nicht in Sicherheit? Du bist der König!«

»Ich weiß«, sagte er und drehte sich lächelnd um. »Aber bis der Verräter Asher tot ist, wird die Stadt voller Olken aus allen Winkeln des Königreichs sein, die herkommen, um ihn sterben zu sehen, und sie alle werden zweifellos unglücklich mit den Sperrstunden und den anderen Einschränkungen sein, die ich aufgrund seiner Verderbtheit verhängen musste.«

Sie zog einen Schmollmund. »Wen schert es, ob sie unglücklich sind? Sie haben die Pflicht, dir ohne Frage zu gehorchen, und wenn sie es nicht tun, sollte man sie verhaften!«

»Und genau das wird auch geschehen, meine Liebe. Aber du hast mir selbst erzählt, dass diese Angelegenheit das Personal durcheinandergebracht hat, und es wird noch schlimmer werden, bevor es besser wird. Auf dem Land wird es einen solchen Aufruhr nicht geben. Außerdem«, fuhr er fort und tätschelte ihr die Wange, »muss ich mich auf meine neuen, wichtigen Pflichten konzentrieren, und du weißt doch, wie sehr du mich ablenkst.«

Diese Bemerkung war Wasser auf den Mühlen der dummen Kuh. »Oh, Conroyd, Liebster…«

»Also, mein Herz, du wirst gehen? Um mir eine Freude zu machen?« »Und was ist mit meiner Freude?«, gab sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich mag das Land nur im Sommer, außerdem will ich diesen schrecklichen Asher sterben sehen.«

Er verlor die Geduld und schnippte vor ihrem mürrischen Gesicht mit den Fingern. »Gehorsam.« All der lebhafte Protest verebbte, und sie wurde bleich und fügsam und vor allem still.

Wie schade, dass er nicht jeden anderen Doranen im Königreich auf diese Weise verzaubern konnte. Es hätte ihm die Dinge so viel leichter gemacht. Bedauerlicherweise war das unmöglich. Er würde einen anderen Weg finden müssen. Es war absolut unerlässlich, dass er so viele Doranen wie nur möglich aus der Stadt fortschaffte; je weniger Magier er um sich hatte, umso besser war es, denn selbst die Ungeübtesten unter ihnen würden den Verfall der Mauer langsam bemerken.

Vorausgesetzt natürlich, dass er ihren Untergang bewirken konnte. Ohne die Unterstützung durch Wettermagie würde die Mauer irgendwann fallen, aber das würde zu lange dauern. Und in der Zwischenzeit würden zu viele Fragen gestellt werden.

Die Doranen, seien sie nun Schafe oder nicht, würden bemerken, dass er sich nicht als Wettermacher betätigte. Holze würde gewiss aktiv werden und Beweise für seine Fähigkeiten und die Ernennung eines Ersatzes für den toten Durm verlangen. Und wenn er unzufrieden war, würde er zweifellos die Magier des Königreichs gegen ihn aufwiegeln.

Es gab nur eine einzige Lösung. Er musste einen Weg finden, um Barls Willen zu durchkreuzen. Um ihre elende Wettermagie in sich aufzunehmen und ihre Mauer von innen heraus zu zerstören.

Denn wenn er das nicht tat…

Doch immer eins nach dem anderen. Er wandte sich wieder zu Conroyds Gemahlin um. »Du brichst zu unserem Landsitz auf, Ethienne. Freiwillig und mit Begeisterung, erpicht darauf, Vorbereitungen für die Schaffung eines neuen doranischen Hofes zu treffen.« Ein glücklicher Gedanke kam ihm, und er lachte laut auf. »Und mehr noch: Sobald du auf dem Gut ankommst, wirst du so viele Doranen aus der Stadt dorthin einladen, wie du unterbringen kannst, damit sie dir bei diesen Vorbereitungen helfen. Mach einen königlichen Erlass daraus. Das wird dir gefallen, und sie werden es nicht wagen, die Einladung abzulehnen.« Ethienne nickte, vernunftlos und lächelnd. »Natürlich, Conroyd. Was immer du sagst, mein Lieber.«

Es würden natürlich nicht alle Doranen fortgehen. Einige der verdammten Ratsmitglieder würden bleiben, königlicher Erlass hin, königlicher Erlass her. Conroyds Freunde würden gewiss bleiben. Aber viele würden Ethiennes Ruf folgen, begierig auf die Chance, sich für das neue Herrscherhaus unverzichtbar zu machen.

Und das würde ihm die Zeit und den Raum geben, die er brauchte, um einen Weg zu ersinnen, wie er Barls Schutzwälle gegen ihn umgehen konnte. Wie er ihre Mauer und ihr Königreich ein und für alle Mal zerstören konnte. Veiras Küche war klein und behaglich. Die Wände waren in einem Buttergelb gestrichen, und die zugezogenen Vorhänge waren blau. Die Schränke, der Tisch und die Stühle waren allesamt aus einem weichen, braunen Holz gefertigt und geschmückt mit Schnitzereien, die Eicheln, Weizengarben und Lämmer darstellten. Von der Decke baumelten einladend Bündel getrockneter Kräuter herab, die die Luft mit einem angenehmen Duft erfüllten. Dathne, die am Tisch saß, atmete die miteinander vermischten Gerüche von Salbei, Dill, Rosmarin und Thymian ein und fühlte sich seltsam getröstet. Der Herd in der Ecke verströmte aus seinem mit Holz gefüllten Bauch angenehme Wärme. Matt stand davor, als sei er hier aufgewachsen, als gehöre er hierhin, und gab frische Teeblätter in eine alte, braune Kanne, bevor er sie aus einem auf dem Ofen kochenden Kessel füllte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und weigerte sich, sich umzudrehen.

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie, halb an die Wand gelehnt, halb auf den winzigen Tisch gestützt. Das Kissen auf dem Stuhl war nach dem harten Sitz auf Veiras Wagen ein wahrer Segen. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du hierherkommen würdest?«

Matt sagte nichts. Veira, die Teller aus dem Schrank holte, sah ihn an. Der Blick sagte so viel wie ein Stoß in die Rippen. Er zuckte die Achseln und bemerkte dann, über die Schulter gewandt: »Wir haben nicht mehr miteinander gesprochen, hast du das vergessen?«

Sie runzelte die Stirn, denn die Erinnerung an diesen Umstand gefiel ihr nicht. »Aber woher wusstest du, wo Veira lebt? Nicht einmal ich wusste es. Nicht bevor sie es mir erzählt hat!«

»Ich habe es ihm ebenfalls erzählt«, sagte Veira. Sie hatte ihren Kapuzenumhang abgelegt und wirkte rundlich und gemütlich in ihren Gewändern, die ein Flickenwerk aus blauer Baumwolle, schwarzem Filz und leuchtend roter Schafswolle waren; ihr langes, graues Haar hatte sie sich wie eine ältliche, schlafende Schlange mehrmals um den Kopf geschlungen. An ihren weichen Ohrläppchen baumelten Gehänge aus in Silber gefasstem Gagat, und ihre Finger waren schwer von Ringen. In ihren dunkelbraunen, lebhaften Augen stand jetzt ein scharfer, abwägender Ausdruck. »Hast du gedacht, du seiest die Einzige mit einem Zirkelstein, Kind?«

Dathne richtete sich erschrocken auf. »Nun, natürlich nicht, aber ich wusste nicht…« Sie sah Matts starren Rücken anklagend an. »Du hast mir nachspioniert?« »Ts!«, machte Veira verächtlich. »Niemand hat spioniert. Seit ihr beide euch zusammengetan habt, habe ich zweimal mit Matthias gesprochen. Ich habe ihn gerufen, um mich davon zu überzeugen, dass ich es konnte, und danach habe ich Schweigen bewahrt und kein Wispern von ihm gehört, bis er nach mir ausgriff und mir erzählte, dass er sich verstecken müsse.«

Sie starrte grüblerisch auf eine Stelle zwischen Matts Schulterblättern. Er sollte ihren Blick körperlich spüren können. »Und war das alles, was du ihr erzählt hast?«

Er drehte sich noch immer nicht um, sondern tat so, als müsse er die wartenden Becher bewachen, für den Fall, dass ihnen Flügel wuchsen und sie davonflogen. »Ich habe ihr alles erzählt. Ich musste es tun. Du wolltest es ja nicht tun.« Am liebsten wäre sie von ihrem Platz aufgesprungen und hätte mit den Fäusten auf ihn eingedroschen. »Du hattest kein Recht dazu! Ich bin die Erbin, nicht du. Es war an mir, davon zu erzählen, auf meine eigene Art und Weise und zu einem Zeitpunkt meiner Wahl! Du hast mir meine Gefühle für Asher verübelt, seit du davon erfahren hast. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht bist du eifersüchtig! Du…«

Jetzt drehte er sich doch um, und sein Gesicht war weiß vor Wut und Müdigkeit. »Eifersüchtig? Bilde dir nur ja nichts ein! Glaub mir, Asher kann dich mit Freuden haben, hochmütiges, überhebliches Weib, das du bist! So überzeugt davon, dass du unbesiegbar bist, nur weil du die Erbin bist! Nun, du bist nicht unbesiegbar. Dies hier hast du nicht kommen sehen. Du hast nicht gesehen, dass er ihre Magie in sich trug und vielleicht keinen Funken von unserer. Und du wolltest nicht zuhören, als ich wieder und wieder gesagt habe, dass man ihn einweihen müsse. Wenn wir ihn eingeweiht hätten, wäre er nicht in diesem Schlamassel!«

Einen Moment lang konnte sie kaum atmen. Matt hatte noch nie so mit ihr gesprochen. Niemand sprach so mit ihr. »Das kannst du nicht wissen!«, zischte sie ihn an. »Du weißt nicht alles! Wenn wir ihn eingeweiht hätten, hätten wir die Dinge nur schlimmer gemacht!«

»Wie hätten sie denn noch schlimmer werden können?«, rief er. »Asher wird sterben!«

»Das reicht jetzt«, sagte Veira und schlug scharf mit der Hand auf den Tisch. »Kein Wort mehr. Ich bin zu alt für diese Streitereien, und außerdem ändert es nichts daran, was geschehen ist.

Es hat Fehler auf beiden Seiten gegeben, die nicht ungeschehen gemacht werden können.« Ihr freundliches Gesicht war starr vor Missbilligung. »Dathne, du hast kein Recht, über Matthias herzufallen. Ja, er hat mir von all deinen wirrköpfigen Taten erzählt und dann die doppelte Zeit darauf verwandt, Entschuldigungen für dich vorzubringen. Er ist ein guter und treuer Freund, mein Mädchen. Ein besserer, als du ihn verdient hast.«

Heiß von Scham und wütender Verlegenheit, starrte Dathne auf den welligen Kiefernboden. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, Matt anzusehen. »Es tut mir leid.« Ihre Stimme klang sehr leise in der Küche des Steinhauses. Leise und wenig bemerkenswert. Ganz und gar nicht die Stimme einer alles sehenden Pro– phetin. Sie hob den Blick. »Ich bin einfach müde und mache mir Sorgen. Ich bin froh, dass Matt zu dir gekommen ist, Veira. Anderenfalls wäre er in Gefahr gewesen.«

Veira rümpfte die Nase. »Oh, er ist immer noch in Gefahr, Kind. Wir alle sind in Gefahr.« Sie wandte sich wieder zu Matt um. »Ist dieser Tee schon fertig, mein Junge?«

»Fast«, antwortete er und zog einen Stuhl für sie heran. »Setz dich. Ich werde den Rest erledigen. Möchtest du auch Kekse?«

Veira nahm mit einem Seufzer Platz. »Natürlich gibt es Kekse. Ohne Kekse wäre der Tee kein Tee.«

Mit einem flüchtigen Grinsen öffnete er einen Schrank und nahm einen großen, rotblau glasierten Tonkrug heraus. Aus einem anderen Schrank holte er ein Töpfchen Honig, nahm Teelöffel aus einer Schublade, zog einen Krug Milch unter der Spüle hervor und stellte alles auf den Tisch.

Dathne starrte ihn an. »Nun! Du fühlst dich hier ja ganz wie zuhause!« Er runzelte abermals die Stirn und wandte sich ab, um den Tee in der Kanne sanft hin und her zu schwenken. »Mir blieb nichts anderes übrig, oder? Nachdem ich aus meinem eigenen Haus hinausgeworfen wurde.«

Sie errötete. »Matt…«

Veira klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. »Genug, habe ich gesagt! Flüsse fließen nicht rückwärts.«

Solchermaßen zurechtgewiesen, presste Dathne die Lippen fest zusammen und beobachtete stattdessen Matt, wie er den Tee einschenkte. Trotz allem tat es gut, ihn zu sehen. Er hatte den Geruch von Pferden verloren und roch jetzt nach Honigkiefer und Bienenwachs. Sein Gesicht war schmaler geworden und von Linien durchzogen, die sie noch nie zuvor dort gesehen hatte. Außerdem verströmte er eine Traurigkeit, die ebenfalls neu war. Das war ihr Werk. Mit einem Mal war ihr die Kehle wie zugeschnürt, und sie drehte sich zu Veira um. »Also… weißt du alles?«

Veira zog die Augenbrauen hoch. »Alles, was Matthias wusste, ja. Was, wie ich vermute, nicht bedeutet, dass ich alles weiß, was es zu wissen gibt. Ich zweifle nicht daran, dass du manche Dinge nicht nur vor mir, sondern auch vor ihm verborgen gehalten hast.«

Sie wand sich unter Veiras Blick. »Nichts Wichtiges, das verspreche ich. Veira… was ich getan habe. Ich habe es nicht für mich getan.« Matt, der soeben die mit Tee gefüllten Becher verteilte, stieß einen leisen, ungläubigen Laut aus. Ihre Wangen brannten. »Also gut. Nicht nur für mich. Ich hatte gehofft, dass es helfen würde, wenn Asher und ich einander… näher kommen würden… wenn wir ein vertrautes Verhältnis eingingen… Wie dem auch sei, ich dachte, er würde sich mir dann endlich anvertrauen. Mir seine Geheimnisse gestehen. Dann hätte ich gewusst, wie wir vorgehen mussten. Die Prophezeiung hat sich als unverlässlich erwiesen, Veira. Als unklar und sogar als zweideutig. Und sie ist nie konstant gewesen. Ich konnte nicht sehen, wohin sie uns führte.«

»Also hast du dir eingeredet, dass sie dich auf die Matratze dieses jungen Mannes führen würde«, gab Veira zurück. »Und genau dort wolltest du immer hin.«

»Veira!«

»Sie hat Recht, Dathne, und du weißt es«, sagte Matt scharf. »Wir werden nicht ein einziges Problem lösen, wenn wir uns der Wahrheit nicht stellen.« Sie wollte nicht darüber nachdenken. »Du wirkst nicht besonders überrascht, Veira. Dass ich… dass wir… Asher und ich, dass wir…«

Veira blickte achselzuckend in ihren dampfenden Becher, bevor sie ein wenig Milch und einen Klecks Honig hineingab. »Es ist wahr, dass ich ebenso wenig die Erbin bin wie Matthias, aber ich habe trotzdem ein Paar gute Augen im Kopf und mache mir den einen oder anderen Gedanken«, erwiderte sie, während sie in ihrem Tee rührte. »Ich konnte erkennen, woher der Wind wehte.«

»Warum hast du mich dann nicht aufgehalten, wenn Matthias Recht hat und es so schrecklich war, was ich getan habe?«

»Habe ich gesagt, dass er Recht hatte?«, fragte Veira und tauschte einen Blick mit ihm, während er ihr einen Teller mit Mandelkeksen reichte. »Habe ich gesagt, dass es schrecklich war? Ich erinnere mich nicht daran, das gesagt zu haben. Wir wissen noch immer nicht, wo dies enden wird.«

»Wir haben aber eine ziemlich gute Vorstellung davon«, meinte Matt finster und lehnte sich gegen die Sitzbank.

Statt einer Antwort tunkte Veira einen Keks in ihren milchigen Tee und verzehrte ihn schmatzend und mit sichtlichem Genuss. »Trink aus, Kind«, sagte sie sanft. »Und dann wirst du eine Sehung machen, und wir werden feststellen, was wir sehen können.«

Sie spürte, dass sie ganz klein wurde vor Angst. Sie hatte nicht das geringste Verlangen nach ihrem Tee. »Hellsehen? Für Asher? Veira, das kann ich nicht. Nicht heute Nacht. Ich bin so müde. Vielleicht morgen…«

»Doch, heute Nacht«, sagte die alte Frau mit zusammengezogenen Brauen. »Vor Sonnenaufgang. Ich habe es versucht, aber irgendwie kann ich ihn nicht finden. Matthias sagt, dass du nie scheiterst, ganz gleich, wie groß die Entfernung ist.« Sie funkelte den hilfreichen Matt wütend an. Er zuckte mit kühlem Blick die Achseln und nahm einen Schluck von seinem Becher. Neben ihr war ein freier Stuhl; er hätte sich setzen können, wenn er gewollt hätte…

Ein Schmerz, schnell und scharf. Eine solche Kluft zwischen ihnen, größer als je zuvor. Konnten sie sie überwinden? Neue Brücken bauen? Oder war ihre Freundschaft tot und begraben, so wie Asher vielleicht bald tot und begraben sein würde?

Natürlich wollte sie sehen, wo Asher war. Wie es ihm ging. Sie wünschte sich verzweifelt, es zu erfahren…

Sie hatte eine entsetzliche Angst vor dem, was sie vielleicht entdecken würde. »Du musst es tun, Kind«, sagte Veira unbarmherzig. »Wissen ist Macht.« »Also gut«, entgegnete sie widerstrebend und versuchte nicht einmal, freundlich zu sein. »Wenn du darauf bestehst.«

Sie beendeten ihre Mahlzeit, und Veira holte ihre Sehschale heraus und bereitete das Wasser vor, die Tanalblätter, Blutkraut, Myrtes Tränen und Mondfäule. Als alles bereit war, sah Dathne sie und Matt an und sagte, immer noch gereizt: »Ich verspreche nichts. Es könnte gut sein, dass ich ihn nicht finde.«

»Ich bitte dich nur darum, es zu versuchen, Kind«, erwiderte Veira. »Das ist alles, worum ich jemals bitten werde. Dass du dein Bestes tust.«

Also versuchte sie es. Ein Teil von ihr war voller Angst, ein anderer Teil voller Hoffnung. Tief in der Dunkelheit, in die sie Tanalblätter hatten versinken lassen, rührte sie in ihrer Sehschale die drei wirkkräftigen Drogen ins Wasser und öffnete ihr Herz. Sandte ihren fragenden Geist aus.

Asher. Asher. Asher.

Nur Augenblicke später fand sie ihn. Er hockte in sich zusammengekauert da und hatte Schmerzen. Eingepfercht wie ein Tier und geschunden von eben den Menschen, die zu retten er geboren worden war. Weinend berichtete sie Veira und Matt, was sie in der Schale sah, und hörte sie aufkeuchen. »Wir müssen ihm helfen«, flüsterte sie, während ihr die Tränen übers Gesicht rannen. »Wir müssen ihn retten. Können wir ihn retten? Ist noch Zeit dazu?«

»Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann«, sagte Veira, während sie die Arme um Dathnes Schultern legte. »Noch nicht. Aber eines verspreche ich dir, Kind. Wir werden es versuchen.«

»Wir müssen ihn retten. Können wir ihn retten? Ist noch Zeit dazu?«

Aufgewühlt von Dathnes verzweifelten Fragen, stand Veira vor dem Morgengrauen auf und ging auf Zehenspitzen in ihre kleine Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen. Wie eigenartig, wie ein Dieb durch das Haus zu schleichen, in dem sie siebenundzwanzig Jahre lang abgeschieden gelebt hatte. Aber sie wusste bereits, dass Matthias einen leichten Schlaf hatte; die vielen Jahre, in denen er mit Pferden und ihren launenhaften Krankheiten gelebt hatte, hatten seine Sinne geschärft. Über Dathne konnte sie diesbezüglich noch nichts sagen, aber die Chancen waren groß, dass das Kind genauso hellhörig war. Und da sie im Augenblick dringend Stille brauchte und ein wenig Zeit für sich allein mit ihren trostlosen Gedanken, war es am besten, wenn sie sich mäuschenstill verhielt.

Sie entzündete eine einzige Kerze, dann machte sie Feuer in ihrem Herd, um Wasser aufzusetzen. Draußen vor dem Fenster lagen ihr Garten, der Wald und die Berge noch immer im Dunkeln. Barls Mauer war ein Wispern von Gold, verloren zwischen den Sternen. Manchmal war es leicht zu vergessen, dass die Mauer dort war. Oder dass sie, Veira, ihretwegen hier war, gefesselt an eine versprengte Gruppe von nicht mehr ganz fremden Menschen, deren Leben sie mit einem einzigen gedankenlosen Fehler beenden konnte. Menschen, die sie kannten, ohne einander zu kennen, und die sich freiwillig in Gefahr begaben, um einer uralten Prophezeiung willen und um eines Lebens willen, das Jahrhunderte vor ihrer Geburt ein Ende gefunden hatte. Ihr Mut rührte sie zu Tränen, wenn sie es zuließ.

Die Wacht über den Zirkel war ihr drei Monate vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag zugefallen. Mit zwanzig hatte sie einen liebenswerten Jungen geheiratet, an dessen Gesicht sie sich nicht mehr erinnerte, mit dreiundzwanzig war sie eine kinderlose Witwe geworden, und sie hatte nicht den Mut gehabt, sich noch einmal auf eine Werbung oder eine Ehe einzulassen. Zumindest hatte sie für lange Zeit geglaubt, ihr Kummer sei die Ursache für ihre Zurückhaltung. Aber nachdem ihre Großtante Tilda gestorben war und ihr eine geheimnisvolle Schatulle und ein Vermächtnis hinterlassen hatte, das sie noch immer mit einigem Grund verfluchte, fragte sie sich, ob nicht die Prophezeiung ihre Wege bestimmt hatte. Ob sie ihr Leben und Schicksal nicht beeinflusst hatte, lange bevor sie sie brauchte. Um sie auf den Tag vorzubereiten, da sie sie brauchte. Auf diesen Tag, an dem finstere Entscheidungen getroffen werden mussten, damit nicht eine noch finsterere Zukunft Wirklichkeit wurde.

Der Kessel holte tief Atem und begann zu pfeifen. Sie riss ihn vom Herd und machte sich ihren Becher Tee. Während sie ihn zwischen den Fingern hielt und für einen Moment das Zwicken des Alters verspürte, ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch sinken, stützte die Ellbogen auf und grübelte über Dinge nach, die ihr das Herz brachen.

Nachdem sie Matthias und Dathne nur wenige Stunden zuvor zu Bett geschickt hatte, hatte sie nach einem anderen Mitglied des Zirkels ausgegriffen, Gilda Hartshorn, um sich die Wahrheit von Dathnes Sehung bestätigen zu lassen. Gilda, eine Schneiderin aus Dorana, nähte häufig für Angestellte des Palastes und der städtischen Wache. Sie besaß ein großes Talent, andere Menschen zu Klatsch und Vertraulichkeiten zu verleiten.

Es ist wahr, es ist wahr, alles wahr, hatte Gilda ihr geantwortet. Asher soll am Barlstag um Mitternacht sterben. Eine Proklamation des neuen Königs, Conroyd Jarralt. Getrieben von einem unergründlichen Instinkt und in dem Wissen, dass sie zu seiner Rettung alle Hilfe brauchen würden, die sie finden konnten, hatte sie Gilda die Wahrheit über Asher gesagt. Zuerst erschrocken, dann tränenreich hatte Gilda erwidert: Aber er wird Tag und Nacht bewacht, und ganz gleich, wie spät es ist, er ist ständig von einer Menschenmenge umgeben! Veira, Veira, was sollen wir tun? Gilda wusste nicht mehr über Dathne und Matt, als diese über sie wussten, und es war noch immer das Beste, wenn das auch so blieb. Also hatte sie die Ängste der Schneiderin mit einer Gelassenheit beruhigt, die zu drei Teilen eine Lüge gewesen war, dann war sie ins Bett gegangen, um zu schlafen. Sie war jetzt dreiundsechzig Jahre alt und alles andere als rüstig. Und nach der Ausfahrt, um Dathne abzuholen, taten ihr die Knochen weh.

Doch der Schlaf war nicht gekommen. Sie hatte Dathne erklärt, dass sie den Schimmer einer Idee habe, wie sie ihren Unschuldigen Magier retten konnten, und so war es tatsächlich. Aber diese Idee war grauenvoll. Unbarmherzig. Sie nahm keine Rücksicht auf gebrochene Herzen, vergeudetes Leben, eine zerstörte Zukunft. Zweifellos kam die Idee von der Prophezeiung selbst, was ihre Kälte erklärte. Die Prophezeiung erklärte vielleicht auch das Zusammentreffen von Zufällen: Dass von all den Menschen, die der Schlüssel zu Ashers Freiheit sein konnten, es gerade ihr eigen Fleisch und Blut traf. Den Sohn ihrer Schwester. Einen Jungen, der inzwischen zum Mann geworden war und den sie gegen ihren Willen in den Zirkel gebracht hatte. Gegen alle Familienbande. Gegen die Stimme in ihrem Herzen, die weinte: Nein. Tues nicht. Wähle einen anderen.

Sie hatte es nicht getan. Konnte es nicht tun. Wie Dathne, wie ihr Neffe Rafel war sie als Werkzeug der Prophezeiung erwählt worden. Sie mochte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit dem Schicksal hadern, aber es änderte nichts. Rafel war Teil des Musters, Teil der Prophezeiung. Und so hatte sie ihn zu sich gerufen, und er war willig gekommen. Hatte sich ihre fantastische Geschichte über Omen und Versprechungen und die Träume toter Männer angehört und gelächelt.

»Natürlich werde ich dir helfen, Veira. Was soll ich tun?«

Zu dem Zeitpunkt hatte sie es nicht gewusst und konnte ihm nichts erzählen. Jetzt, da sie eine Ahnung hatte… Sie konnte sich nicht dazu überwinden, den Gedanken zu Ende zu denken.

Aus dem Hühnerstall draußen im Hof ertönte das Gackern der Hennen und das kraftvolle Krähen des Hahns. Als sie den Kopf hob, stellte sie fest, dass der Himmel draußen heller geworden war. Dass zaghafte Sonnensänger in den Blättern des Waldes im Chor zwitscherten. Es war Tag, und sie musste gewisse Aufgaben erledigen. Entscheidungen treffen. Pläne ersinnen.

Der Prophezeiung gehorchen.

Sie war dreiundsechzig Jahre alt und der Prophezeiung beinahe müde. Ihr größtenteils unangerührter Tee war inzwischen kalt geworden. Naserümpfend kippte sie ihn in den Ausguss, dann schlich sie in ihr Schlafzimmer zurück. Zog dickere Socken und zusätzliche wollene Unterwäsche an und nahm ihren Mantel von seinem Haken auf der Rückseite der Tür. Matthias würde bald aufstehen und Dathne vielleicht ebenfalls. Sie war noch nicht bereit, ihnen gegenüberzutreten. Ein Spaziergang durch den Wald war genau das, was sie jetzt brauchte. Einsamkeit, um Herz und Willen zu stärken. Sie würde die Schweine mitnehmen.

Schweine waren gute Zuhörer, und sie gaben niemals Widerworte. Als Asher sich wieder rührte, ging gerade die Sonne auf, deren winterliche Strahlen seinen ausgekühlten, steifen Körper kaum wärmten. Er hatte den Punkt, an dem Annehmlichkeiten wie Privatsphäre oder Schamgefühl noch eine Rolle spielten, weit hinter sich gelassen und pisste ins Stroh. Die wenigen noch verbliebenen gelben Halme färbten sich rosig.

Auf dem Platz regte sich die kleiner gewordene Menge, murmelte und stampfte mit den Füßen. Einige halbherzig geworfene Eier zerbrachen auf dem Dach des Käfigs. Diese waren ganz und gar nicht faul. Hellgelbes Eigelb tropfte auf sein Gesicht. Er öffnete seinen ausgedörrten Mund und schluckte, weil sein Magen leer war und knurrte. Dieser kleine Akt der Selbsterhaltung erzürnte sein Publikum. Jemand schrie. Ein anderer warf einen Stein. Zwei Steine. Vier. Fünf. Einer traf ihn und fügte ihm eine blutende Wunde zu. Er warf den Stein fluchend zurück.

Kaum hatte er sich versehen, hagelte es Steine, bis die Wachen eingriffen und dem Treiben Einhalt geboten. Nicht aus Mitgefühl; sie wollten nur keinen Unfall, der die mit Leidenschaft erwartete Enthauptung verhinderte. Genauso wenig wollten sie, dass sie versehentlich selbst getroffen wurden.

Schwebend auf einem sich ständig verlagernden Meer von Erinnerungen, eingehüllt in eine scharfe Glasdecke aus Schmerz, ließ Asher sich treiben und betete, dass er, wenn er das nächste Mal die Augen aufschlug, tot sein würde. Gar wurde vom Klirren der Vorhangringe auf ihren dicken Messingstangen und einer unwillkommenen Stimme geweckt. »Eure Hoheit? Eure Hoheit.« Er drehte den Kopf auf dem Kissen und runzelte die Stirn. Was? Irgendetwas stimmte nicht. Seit wann war sein Kissen aus Holz? Irgendjemand war in sein Schlaf gemach geschlichen und hatte sein Kissen in Holz verwandelt. Und dann hatte er es flach gedrückt …

Er öffnete die Augen und blinzelte in den bleichen, morgendlichen Sonnenschein, der wie Gaze über seinem Gesicht lag. Oh. Er war nicht in seinem Schlafgemach, sondern in seiner Bibliothek. Das Kissen war tatsächlich sein Schreibtisch, an dem er irgendwann im Laufe der Nacht eingeschlafen war, während er seine Suche nach Barls Tagebuch fortgesetzt hatte.

Seine fruchtlose Suche. Wenn es das Tagebuch tatsächlich gab, hatte er es unter Durms Büchern nicht gefunden. Es musste in Durms Arbeitszimmer sein. Falls es existierte…

Langsam kamen ihm Zweifel daran. Er begann zu glauben, dass das Tagebuch nichts war als eine Ausgeburt von Durms sterbendem Geist. Dass alle Hoffnung für ihn, für Asher, für das ganze Königreich wahrhaft tot war.

Er richtete sich auf und stöhnte, als jeder Muskel gegen seine ungewöhnliche Matratze protestierte. Seine Augen brannten, er hatte einen Geschmack wie von alten Socken im Mund, und sein Kopf schmerzte, als steckten Nägel darin. Das Sonnenlicht war ein Hammer, der auf seinen Schädel einschlug…

»Wahrhaftig, Eure Hoheit«, sagte Darran aufgeregt. »Ihr habt Euer Abendessen kaum angerührt!«

Er rieb sich die Augen und betrachtete das unbeachtete Tablett mit kalt gewordenem, gebratenem Lamm und matschigen Karotten, das auf dem Boden stand. »Ich hatte keinen Hunger. Wie spät ist es?«

»Viertel nach sieben«, erwiderte Darran und hob das Tablett auf. »Ich habe Euch ein Bad eingelassen, Herr. Bitte, nehmt es, und bis Ihr fertig seid, wird Euer Frühstück bereit stehen.«

Sein Magen krampfte sich zusammen. »Ich habe immer noch keinen Hunger.« »Hunger hin, Hunger her, Eure Hoheit, Ihr dürft nicht das Abendessen und das Frühstück auslassen!«

Er stöhnte abermals. »Ihr verwandelt Euch direkt vor meinen Augen in ein altes Weib, Darran.«

Darran rümpfte die Nase. »Nun, wenn ich das tue, Herr, beschleunigt Ihr die Verwandlung. Und nun kommt! Hoch mit Euch! Euer Badewasser wird kalt.« Offensichtlich gab es kein Entrinnen, es sei denn, er entließ den alten Mann. Ein verführerischer Gedanke, aber er würde es nicht tun. Stattdessen stieß er mit finsterer Miene seinen Stuhl zurück und taumelte nach oben in sein Badezimmer, in dem tatsächlich ein heißes Bad wartete. Darran hatte ihm sogar frische Kleidung herausgelegt.

Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Dennoch. Das heiße, mit Duftölen versetzte Bad tat seinen verkrampften, müden Muskeln gut. Er ließ sich in das parfümierte Wasser sinken und wartete darauf, dass die Wärme ihn durchströmte. Dass seine Kopfschmerzen verebbten und seine Anspannung nachließ.

Aber nein. Jetzt, da er wach war und um ihn herum Stille herrschte, kamen noch mehr unangenehme Gedanken. Wenn Barls Tagebuch doch existierte und irgendwo in Durms Arbeitszimmer versteckt war, statt in seiner Büchersammlung, durfte er hoffen, es dort zu finden? Ohne mit Conroyd zusammenzustoßen? Ohne den Bastard auf seine verbotenen Wanderungen aufmerksam zu machen und zu riskieren, dass seine eingeschränkte Freiheit ihm zur Gänze genommen wurde? Er versuchte, sich Wachen in Conroyds Sold vorzustellen, die sich in seinem Turm zusammendrängten und jeden Schritt zählten, den er machte, jeden Atemzug, den er tat, und er musste sich von dieser Fantasie abwenden. Bei der bloßen Vorstellung wurde ihm übel.

Aber er musste das Risiko eingehen. Wenn er es nicht tat, würde er wahrhaft und für immer Gar der Magielose sein und ein Leben in Gefangenschaft in einem Königreich führen, das von dem falschen Mann regiert wurde. Ein Leben voller unerträglicher Schuld und Gram. Ganz gleich, was er tun, welchen Preis er zah– len musste, er musste glauben, dass es das Tagebuch wirklich gab und dass es eine Möglichkeit barg, die sie alle retten würde.

Sein Badewasser wurde kalt. Er stand auf, hüllte sich in ein Handtuch und stolperte in sein Schlafzimmer hinüber, in dem Darran sich an einem kleinen Esstisch zu schaffen machte. Seltsam. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass vor einer halben Stunde ein Esstisch in diesem Raum gestanden hatte. »Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, Herr«, bemerkte Darran, während er mit einem Leinentuch Silberbesteck polierte. »Aber ich dachte, wenn Ihr hier drin essen würdet, wären vielleicht nicht mehr so viele Räume sauber zu halten.« Er blickte erschüttert auf. »Nicht dass ich diese Arbeit widerwillig täte, Herr! So ist es nicht! Aber…«

»Ich weiß«, antwortete er. »Es ist ein vernünftiger Plan, Darran. Was immer ich tun kann, um Euch das Leben leichter zu machen, betrachtet es als getan. Und vergesst nicht, auch für Euch ein Gedeck aufzustellen. Wir sitzen im selben Boot, alter Freund.«

Eine schwache Röte trat in Darrans teigige Wangen. »Ich… ich dachte, ein Omelett wäre vielleicht das Richtige zum Frühstück, Herr. Mit Schinken und Spargel. Ein wenig Sahnekäse. Ich werde es gleich servieren, wenn es recht ist.« Gar seufzte. Darran gab sich solche Mühe, dabei war sein eigenes Leben ebenso sehr auf den Kopf gestellt worden. Lag genau wie das seine in schwelenden Trümmern. Ohne eigene Schuld war er dazu gezwungen worden, hausfrauliche Pflichten im Dienste eines in Schande gefallenen, ohnmächtigen Prinzen von Nichts zu tun. Nach einem Leben vorbildlicher Tätigkeit in königlichen Diensten hatte er etwas viel Besseres verdient als dieses unrühmliche Exil.

Mit plötzlich brennenden Augen lächelte er. »Es ist perfekt. Vielen Dank.« Das Lächeln verblasste jedoch schnell, als ihn ein weiterer unwillkommener Gedanke durchzuckte. »Ich kann nur beten, dass Asher genauso gut behandelt wird.« Etwas in der Art von Darrans Schweigen ließ ihn aufblicken.

»Was?«

»Oh, Herr.« Darrans Miene war gequält, und seine Stimme war nur ein ersticktes Flüstern. »Ich weiß nicht, wie ich es Euch sagen soll…«

»Mir was sagen?« »Es geht um Asher.«

Sein Herz hämmerte. »Um Barls willen, sagt es einfach, Mann.«

Darran wrang das Leinentuch, als sei es der Hals eines Huhns. »Ich bin gestern Abend bei ihm gewesen.« »Bei Asher?« »Ja.«

Seine leeren Lungen zogen sich schmerzhaft zusammen. »Warum?« Sehr vorsichtig strich Darran das zerknitterte Tuch glatt und legte es auf den Tisch. »Ich habe mir… Sorgen gemacht. Ich dachte, Ihr würdet wissen wollen, ob es ihm gut geht.«

Er wollte es nicht wissen – er musste es wissen. »Und? Ging es ihm gut?« Darran schüttelte in stummem Elend den Kopf. »Nein. Er befindet sich in einem Käfig auf dem Marktplatz, wo er öffentlich zur Schau gestellt wird wie ein Tier. Lord Jarralt – der König – hat ihm Schmerzen zugefügt.«

»Der König ist ein grausamer, verderbter Mann.«

»Ja, Herr«, flüsterte Darran. »Ich befürchte stark, dass Ihr Recht habt.« Das Handtuch immer noch um seinen langsam trocknenden Körper gehüllt, trat Gar ans Fenster, zog die Vorhänge auf und starrte auf das Grundstück unter ihm hinab, in dem keine wohlgelaunten Gärtner mehr arbeiteten. Mit Mühe gelang es ihm zu sprechen, ohne dass seine Stimme zitterte.

»Und Asher. Hattet Ihr Gelegenheit, mit ihm zu sprechen?«

»Kurz, Herr. Er hat mich gebeten, Euch eine Nachricht zu überbringen.« Eine Nachricht. Wieder hämmerte das Sonnenlicht auf ihn ein und trieb Nägel in sein Gehirn. »Ihr braucht mir nichts auszurichten, Darran. Ich kann mir vorstellen, was es war.«

»Nein, Herr«, entgegnete Darran. Seine Stimme klang näher. »Tatsächlich hat er mich gebeten zu sagen, dass er Euch verzeiht. Er versteht, dass das Königreich an erster Stelle vor allen persönlichen Erwägungen stehen muss und dass Ihr, indem Ihr ihn verleugnetet, das getan habt, was getan werden musste, damit der Friede in Lur gewahrt werden konnte. Er bittet Euch inständig, Euch keine Vorwürfe für seinen Tod zu machen.«

»Oh«, erwiderte er schließlich. »Ich verstehe.« Langsam wandte er sich vom Fenster ab und blickte in Darrans bleiche, gefasste Züge. »Das klingt nicht nach Asher. Hat er gelogen?«

Darran schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Herr. Jedes Wort, das er zu mir sagte, war die Wahrheit.«

Nun, wenn Darran es glaubte – und das tat er offenkundig –, dann würde er es ebenfalls glauben. »Wie ging es ihm?«

»Er war sehr niedergeschlagen«, gestand Darran widerstrebend. »Was nur zu erwarten war. Ich denke, er hat Angst, obwohl er es niemals zugeben würde. Aber er liebt Euch, Herr. Es war falsch von mir anzunehmen, dass er Euch nicht liebte.«

Ein großes Eingeständnis für Darran. Gar nickte und wandte sich wieder zum Fenster um, denn er wollte sich nicht dem forschenden Blick eines anderen aussetzen; er konnte nicht auf seine Selbstbeherrschung trauen.

Er vergibt Euch.

Und machte das die Dinge besser oder schlimmer? Er war sich nicht sicher. Würde sich vielleicht niemals sicher sein.

»Ihr solltet Euch ankleiden, Herr«, sagte Darran sanft. »Ich werde im Handumdrehen mit Eurem Omelett wieder da sein.«

Aber als er etwa zehn Minuten später zurückkam, brachte er statt des Frühstücks Willer mit. Grinsend und prächtig ausgestattet in himmelblauem, überall mit dem Falkenemblem des Hauses Jarralt besticktem Satin, kam der abscheuliche kleine Mann in den Raum stolziert, als gehörte ihm die ganze Welt. »Es tut mir leid, Herr«, erklärte Darran steif. »Er hat darauf bestanden.« Gar betrachtete seinen früheren Angestellten. »Was wollt Ihr? Ihr müsst wissen, dass Ihr hier nicht willkommen seid, Willer.«

Das Grinsen verwandelte sich in ein albernes Lächeln. »Im Gegenteil, Gar. Als Abgesandter des Königs bin ich überall willkommen. Seine Majestät schickt mich mit einer Botschaft: Gebt die Wetterkugel heraus, ebenso wie alle Bücher und Papiere, die unklugerweise aus den Gemächern des toten Durm entfernt wurden.« Mit einer schwungvollen Gebärde förderte er einen versiegelten Brief zutage und hielt ihn Gar hin. Gar, der gezwungen war, wie ein Bittsteller zurückzutreten, hob die Hand, als er Darrans empörtes Zischen hörte, und nahm das Schreiben kommentarlos entgegen. Er öffnete es und runzelte die Stirn. »Dies hier kommt von Conroyd?« »Vom König, ja. Und achtet darauf, dass Ihr ihn als solchen ansprecht und ihm all den Respekt zollt, der ihm zukommt.«

Ohne auf den hämischen, dreisten Tonfall der kleinen Schnecke zu achten, blickte er weiter mit zusammengezogenen Brauen auf das Schreiben. Es war mit Conroyd I. unterzeichnet. Um Euch selbst zu zitieren: »Wenn ich nicht gehorche, werden andere leiden. « Befolgt die Anweisungen meines Abgesandten ohne jeden Aufschub. Es war Conroyds Handschrift, daran bestand kein Zweifel. Und doch… und doch…

»Nun?«, fragte Willer, der vor lauter Arroganz und Stolz noch fetter wirkte als sonst. »Muss ich Seiner Majestät berichten, dass Ihr mich habt warten lassen? Holt sofort die Wetterkugel!«

»Ignoriert ihn, Darran«, sagte Gar, als sein Sekretär an einer atemlosen Verwünschung schier erstickte. »Er ist ein Straßenköter, der jault, wenn er den schützenden Schatten seines Herrn verlässt.«

»Eure Hoheit«, sagte Darran und gab nach, obwohl ihm sein Zorn noch immer deutlich anzumerken war.

Die Wetterkugel war hier, sicher versteckt in seinem Schlafgemach. Er hatte die Absicht gehabt, sie in Durms Quartier zurückzubringen, dann aber seine Meinung geändert, für den Fall, dass die Übertragung der Wettermagie auf Asher gescheitert wäre oder an Wirkung verloren hätte und sie sie noch einmal würden vollziehen müssen. Für den Fall, dass er Heilung fand und seine Rolle als Wettermacher wiederaufnehmen konnte.

Der eine Gedanke war überflüssig, der andere hoffnungslos. Er holte Barls Geschenk aus dem Versteck am Boden seines Bettkastens und hielt es Willer hin. »Durms Bücher und Papiere befinden sich nicht in einer Kiste, sondern liegen überall verstreut. Ich werde einige Zeit brauchen, um sie für… den König… zusammenzutragen.«

Willer nahm die Schatulle mit der Wetterkugel zaghaft entgegen, als sei sie lebendig und könne ihn beißen. »Eine Stunde. Dienstboten des Hauses Jarralt werden kommen, um sie abzuholen. Nehmt meinen Rat an – lasst sie nicht warten.«

Gar lächelte dünn. »Und wenn Ihr König Conroyd die Wetterkugel gebt, Willer, gebt ihm dazu auch diese Nachricht: Er würde gut daran tun, noch einmal zu überdenken, ob er Asher in einem Käfig halten soll. Ein solcher Mangel an Güte wirft ein Licht auf seine Herrschaft, das manche Menschen beunruhigend finden könnten.«

»Ihr seid der Einzige, der so denkt«, erwiderte Willer. »Hat Darran es Euch nicht erzählt? Die Menschen stehen in Zehnerreihen auf dem Marktplatz, um einen Blick auf den Verräter aus Restharven zu werfen und ihn mit Abfällen von ihren Esstischen und aus ihren Kuhställen zu bewerfen.«

Nur weil er ein Leben lang gelernt hatte, seine Gefühle in der Öffentlichkeit zu beherrschen, gelang es ihm, keinen Schmerz zu zeigen. Seine Verachtung ließ er sich jedoch mit Freuden anmerken. »Und ich nehme an, Ihr konntet es nicht erwarten, Euch anzuschließen, nicht wahr? Ihr müsst sehr stolz auf Euch sein.« Willer errötete und reckte sein Doppelkinn vor. »Durms Bücher und Papiere in einer Stunde – oder Ihr werdet es mit dem Zorn Seiner Majestät zu tun bekommen.«

»Es tut mir so leid, Herr«, sagte Darran, sobald Willer wieder gegangen war. »Ich hätte ihn nicht hereingelassen, wenn ich…«

Gar reichte ihm Conroyds Schreiben. »Was haltet Ihr davon?«

Verblüfft nahm Darran es entgegen und las es. »Ich… ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was…«

»Es ist Conroyds Handschrift. Nach zwei Jahren im Kronrat würde ich sie überall erkennen. Das Gleiche sollte mittlerweile für Euch gelten. Aber…« Er schüttelte den Kopf. »Meint Ihr nicht, dass etwas seltsam daran ist?«

Darran betrachtete das Schreiben noch einmal. »Es tut mir leid, Herr. Nein.« Er runzelte die Stirn. »Die Schrift ist vielleicht eine Spur unsicher…«

»Ihr seht es auch, nicht wahr?«, fragte Gar. »Es ist Conroyds Handschrift… und andererseits ist sie es doch nicht. Als ob…« Er brach ab. Die Idee war einfach zu fantastisch, um sie in Worte zu fassen.

»Ja, Herr?«, hakte Darran nach. »Als ob was?«

Er nahm das Schreiben wieder an sich. »Als ob ein anderer seine Hand über die von Conroyd gelegt hätte, während er die Feder hielt.«

»Oh«, sagte Darran. »Ich verstehe. Ja. Nun, das wäre sehr seltsam, Herr.« »Denkt nicht weiter darüber nach«, riet Gar und knüllte das Papier zusammen. »Ich bilde mir etwas ein. Darran, ich brauche Eure Hilfe.«

»Gewiss, Herr«, sagte Darran. Er klang erleichtert. »Was soll ich tun?« »Durms Bücher und Journale. Ich möchte sie ein letztes Mal durchgehen, bevor ich sie Conroyd überlasse. Ich weiß nicht. Es besteht nur eine geringe Chance, aber ich denke die ganze Zeit, dass ich es übersehen habe.«

»Was übersehen, Herr?«

Er holte tief Luft. Dieses Geheimnis war ein Luxus, den er sich nicht länger leisten konnte. »Als er starb, hat Durm mir erzählt, dass er ein Tagebuch gefunden habe. Barls Tagebuch. Er schien es für wichtig zu halten. Ich will es finden. Ich will dafür sorgen, dass es Conroyd nicht in die Hände fällt.« Darran riss die Augen weit auf. »Herr! Wenn das wahr ist… Es könnte alles ändern!«

»Das ist es, worauf ich hoffe«, entgegnete er und verzog das Gesicht. »Worum ich bete. Durm hat das Tagebuch als unsere einzige Hoffnung bezeichnet, und ich habe die Hoffnung, dass er Recht hatte. Er hat mich vor Conroyd gewarnt. Irgendwie denke ich, er wusste, dass sich eine Katastrophe zusammenbraute. Aber wir haben nur eine Stunde Zeit. Ich fürchte, das Frühstück wird warten müssen. Ihr habt Euch solche Mühe mit dem Kochen gegeben …« »Meinetwegen kann das Frühstück verbrennen, Herr«, erwiderte Darran entschieden. »Lasst uns diese Bücher herbeiholen.«

herum fühlte sich ungewohnt an. Während sie benommen blinzelte und versuchte, ihre zerfahrenen Gedanken zu sammeln, hörte sie das Krachen einer Axt, die irgendwo draußen auf Holz schlug.

Nachdem sie den Nachttopf benutzt und frische Kleidung übergezogen hatte, durchstreifte sie den Rest des Hauses, nur für den Fall, dass ihre Gefühle sie getäuscht hatten und Veira doch da war, sodass sie mit ihr reden konnte. Aber nein. Weder Veira noch Matt waren im Haus, daher ging sie durch die Küchentür hinaus in den von Bäumen gesäumten Hinterhof, wo Matt Feuerholz hackte.

Er sah sie an. Nicht wütend, aber auch nicht freundlich. »Veira ist mit den Schweinen spazieren gegangen«, sagte er, während er ein frisches Scheit auf den Block legte. »Wer weiß, wie lange sie fort sein wird. Ich habe für dich Haferbrei auf dem Herd gelassen.«

»Ich habe ihn gerochen«, erwiderte sie und hockte sich auf einen in der Nähe stehenden Baumstumpf. Der Gedanke an Essen war widerwärtig. Ihr war flau im Magen vor Übelkeit. »Vielleicht später.« Sie trat mit den Fersen gegen den Baumstumpf; die drei schwarzweißen Hühner, die in der Nähe im Gras scharrten, ergriffen erschrocken und gackernd die Flucht.

Er nickte.

Als Dathne in dem Bett erwachte, das Veira für sie hergerichtet hatte, sah sie durch die nur halb geschlossenen Esszimmervorhänge, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand.

Von tiefem Bedauern erfüllt, beobachtete sie ihn, wie er reserviert und ganz und gar mit sich selbst beschäftigt weiterarbeitete. Der Mann, den sie in Dorana gekannt hatte, war verschwunden. An seiner Stelle hatte sie diesen Fremden mit den grüblerischen Augen und dem grimmigen Mund vor sich, der keinen Gefallen an ihrer Gesellschaft fand. Im Licht des Vormittags wirkte die Kluft zwischen ihnen ebenso unüberbrückbar wie in der letzten Nacht in Veiras Küche.

Bevor sie eingeschlafen war, hatte sie im Geiste wieder und wieder die Abfolge von Ereignissen durchgespielt, die sie zu dieser Zeit an diesen Ort geführt hatten. Die Entscheidungen, die sie getroffen hatte, die Dinge, die sie zu Gunsten von Stillschweigen und List geopfert hatte.

Sosehr sie sich bemühte, sie hatte sich nicht vorstellen können, eine Alternative gehabt zu haben. Und ob das bedeutete, dass sie als Jervales Erbin Recht gehabt hatte und von der Prophezeiung geleitet worden war, oder ob sie nicht mehr gewesen war als ein halsstarriges Frauenzimmer, hatte sie nicht sagen können. In dem lastenden Schweigen schrumpfte der Holzstapel immer weiter, während Matt die Axt schwang, das wettergegerbte Gesicht ernst vor Konzentration. Der nützliche Stapel Feuerholz wurde größer und breiter, und Matt sprach immer noch nicht, ebenso wenig, wie sie es tat. Ihr Herz und ihr Kopf schmerzten; sie war sich nicht sicher, ob sie jemals im Leben solchen Kummer gehabt oder sich so hilflos gefühlt hatte.

Weil es so wehtat, diesen verschlossenen und neuerdings unbekannten Mann zu betrachten, besah sie sich stattdessen ihre Umgebung. Hinter dem Haus war ein ordentlicher Garten angelegt worden. In einem Gemüsebeet wuchsen sicherlich im Sommer Karotten und Tomaten und dergleichen mehr. Doch zu dieser Jahres– zeit war kaum noch etwas zu erkennen. Drei dürre Apfelbäume. Ein überraschend üppiger Kräutergarten und ein wildes Durcheinander von spätherbstlichen Blumen. Zwischen dem Haus und den Beeten lag eine von Kleeblättern überwucherte Wiese.

Veiras Pony graste auf einer kleinen Koppel, die auf der linken Seite an einen baufälligen Stall grenzte und auf der rechten an einen leicht stinkenden Schweinepferch. Daneben befand sich der Hühnerstall, dessen fröhlich rote Farbe verblasst war und abblätterte. Es war alles sehr… ländlich.

Abgesehen von dem Krachen von Matts Axt, den scharfen Rufen verborgener Vögel und dem Gegacker, mit dem Veiras Hennen antworteten, war die Stille im Wald absolut. Beunruhigend nach dem stetigen summenden Gewirr der Stadt. Aber es lag auch eine Art Friede darin, der Balsam für ihre wunde Seele war. An jedem anderen Morgen hätte sie die Abgeschiedenheit dieses Ortes genossen und dieses Zwischenspiel als einen Ferientag betrachtet, den sie voller Leidenschaft willkommen hieß.

Aber all ihre Leidenschaft war erstorben. Sie hatte sie mit Arroganz und Stolz getötet, ebenso wie mit der Weigerung, in Betracht zu ziehen, dass sie sich irren könnte. Dass Matt Recht haben könnte. Dass sie nicht unfehlbar war, nur weil sie Jervales Erbin war.

Sie hätte ihm das gern gesagt. Hätte gern gesagt, dass es ihr leidtat, und ihn um Verzeihung gebeten. Aber seine verschlossene Miene ließ das nicht zu. Machte sie noch wortkarger, als sie es sonst war, und ungerechterweise wütend. Also saß sie nur stumm da und beobachtete ihn beim Holzhacken.

Schließlich war kein Holz mehr übrig. Matt schlug die Axt mit einem einzigen mächtigen Schwung in den Hackblock und sagte schwitzend: »Es könnte sein, dass du doch Recht hattest.«

Einen Moment lang konnte sie ihn nur mit verblüfftem Schweigen ansehen. Dann fand sie ihre kärgliche Stimme wieder und fragte unsicher: »Wie meinst du das?«

Er untersuchte seine Hände auf Blasen, entdeckte eine und stach sie stirnrunzelnd auf. »Ich meine, dass du Asher nicht die Wahrheit gesagt hast.« Asher. Vor ihrem inneren Auge stiegen Bilder aus der Sehschale auf. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und ihr Mund war plötzlich trocken. »Wieso?« »Was man ihm angetan hat… die Art, wie dieser Jarralt ihn gefoltert hat…« Sie stieß das Blutvergießen und das quälende Echo von Schreien beiseite. »Was ist damit? Wie kann das bedeuten, dass ich Recht hatte?«

Matt wandte den Blick ab und schaute zu den dicht nebeneinander wachsenden Bäumen hinüber. »Die Frage ist doch die: Was kann ein Mensch wissen und für sich behalten, wenn man ihm etwas Derartiges antut? Selbst mit aller Willenskraft der Welt hätte er, wenn er gewusst hätte, wer er ist und was wir im Schilde führen, höchstwahrscheinlich diesem elenden doranischen Bastard davon erzählt, und wo wären wir dann?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Asher ist stark. Er wäre niemals gebrochen.« »Das kannst du nicht mit Bestimmtheit wissen. So, wie die Dinge sich entwickelt haben, ist es das Beste, dass du den Mund gehalten und von mir verlangt hast, das Gleiche zu tun.« Er sah sie an. »Wohlgemerkt, das ist der einzige Punkt, in dem du Recht hattest. Was den Rest betrifft…« Eine schwache Röte stieg ihm in die Wangen. »Das Kebsen…«

»Was ist damit?«, fragte sie müde, während ihr eigenes Gesicht heiß wurde. »Du leugnest Ashers Anschuldigung, dass du eifersüchtig bist, weil er mich berührt hat und du es nicht getan hast und niemals tun wirst. Aber wie kann ich dir glauben? Du benimmst dich wie ein Mann, der sich beraubt fühlt.« Für eine Weile blieb er still. Schließlich zuckte er mit den Schultern, sah sie wieder an und ließ den Blick wieder in Richtung Wald wandern. »Glaub mir, Dathne, falls ich dich jemals geliebt habe, habe ich das schnell genug überwunden.«

Und das schmerzte, nicht weil sie wollte, dass er sie liebte, zumindest nicht auf diese Art, sondern weil jetzt eine Härte in ihm war, die sie bis zu diesem Moment nur in sich selbst wahrgenommen hatte. Sie hatte ihm das angetan, und sie war nicht stolz darauf, es zu erfahren.

»Ich liebe ihn wirklich, Matt«, sagte sie, während sie sich an einem herausgezogenen Faden in dem Stoff zu schaffen machte, der sich über ihr Knie spannte. Er musste ihr glauben. »Das ist keine Entschuldigung für das, was ich getan habe, aber ich nehme an, es ist ein Grund.«

Er nickte. »Wahrscheinlich.«

»Wohlgemerkt, ich bin mir nicht sicher, warum ich ihn liebe. Ich spreche von dem Sinn hinter dem Ganzen, nicht von den einzelnen Eigenschaften an ihm, die mich schwach werden lassen. Und es muss einen Sinn geben, Matt. Nicht wahr? Die Prophezeiung hätte uns nicht für so lange Zeit und auf solche Weise zusammengeführt, wenn es keinen Sinn gäbe?«

»Du fragst den Falschen. Ich habe nie viel verstanden von der Prophezeiung oder davon, wie sie funktioniert.«

»Und doch bist du ihr dein Leben lang gefolgt. Bist du mir gefolgt. Warum?« Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln. »Warum jagt ein Hund Kaninchen, Dathne? Weil es seinem Wesen entspricht.«

In all den Jahren, die sie ihn nun kannte, hatte sie ihn niemals so mutlos erlebt. »Wir können uns jetzt keine Zweifel leisten, Matt. Wir sind zu weit gegangen. Haben zu viel riskiert und noch mehr geopfert. Wir müssen dies bis zum Ende durchführen, ganz gleich, wie bitter dieses Ende sein mag.«

»Das weiß ich«, erwiderte er. »Ich bin hier, nicht wahr?«

Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, fürchtete aber, dass er sie zurückweisen könnte. »Was ich mit Asher getan habe, war niemals eine Belanglosigkeit. Es war mir ernst, als ich sagte, dass wir miteinander den Ehebund eingegangen sind, ob nun mit Barlsmann oder ohne. Sein Herz gehört mir, Matt, und meins gehört ihm, ganz gleich, was kommt.«

»Ich weiß«, antwortete er. »Wenn ich dächte, dass es dir etwas bedeuten würde, würde ich sagen, dass ich dir Glück wünsche.«

Sie spürte, wie ihr brennende Tränen in die müden Augen stiegen. Vor der vergangenen Nacht hatte sie niemals vor Matt geweint. Es war eine Frage des Stolzes gewesen und, wie sie dachte, der Notwendigkeit. Aber solche Dinge schienen jetzt sinnlos zu sein, daher ließ sie sie fallen. »Es bedeutet mir etwas«, flüsterte sie und krampfte die Finger in den Stoff ihres Rockes. »Du darfst nie– mals denken, dass es mir nichts bedeuten würde.«

»Gut«, sagte er. »Das freut mich.«

»Ich kann nicht glauben, dass er ihre Magie hat«, erwiderte sie. »Er hat es schneien lassen, direkt unter meinem Dach. Wie kann ein Olk das tun?« Matt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es sei denn…« »Es sei denn, was?« »Könnte er doranisches Blut in sich haben?«

Der bloße Gedanke war ungeheuerlich. »Wie? Unsere Völker mischen sich nicht miteinander, es ist verboten!«

Matt schnaubte. »Olkische Magie ist verboten, Dathne, und doch besitzen wir sie. Bist du nicht diejenige, die immer sagte, dass mit der Prophezeiung alles möglich sei?«

»Ja, aber…« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wichtig. Er besitzt ihre Magie, und ich habe es nicht gespürt. Wie ist das möglich? Es ist meine Aufgabe, den Unschuldigen Magier besser zu kennen, als er selbst sich kennt! Und jetzt wird er vielleicht sterben, weil ich versagt habe!«

Nun kam Matt doch noch auf sie zu und nahm sie in seine starken, schützenden Arme. Er roch nach Schweiß und Leder, und seine Weste fühlte sich warm an unter ihrer Wange, während er sie an die Brust gedrückt hielt. »Du darfst den Glauben nicht verlieren, Dathne. Wir müssen auf die Prophezeiung vertrauen.« »Das tue ich«, schluchzte sie. »Das tue ich. Oh, Matt, ich bedauere so sehr, dass ich dich fortgeschickt habe. Ich bedauere, dass ich immer so schroff zu dir war und dich auf Abstand gehalten habe. Ich dachte, es sei das Beste. Ich dachte, ich würde dich damit beschützen.«

»Das weiß ich«, sagte er und legte die Wange auf ihr ungebändigtes, offenes Haar. »Ich habe es immer gewusst. Und obwohl es mich manchmal geärgert hat, habe ich dir deine Barschheit nie übel genommen. Es ist eine unerbittliche Last, die du in all diesen Jahren getragen hast, Dathne, und mein einzig echter Kummer war der, dass ich dir davon nicht mehr habe abnehmen können.« »Du hast mir eine Menge abgenommen, Matt. Du wirst niemals wissen, wie viel. Es gab Zeiten, da dachte ich, ich könnte nicht weitermachen. Wärest du nicht bei mir gewesen, um mich zu ermutigen, wäre ich verzweifelt. Ich verdanke dir so viel. Ich verdanke dir meinen gesunden Verstand, und ich habe es dir nie gesagt. Es tut mir leid.«

»Seht, seht«, schalt er sie, während er sie sanft in den Armen wiegte. »Du bist Jervales Erbin, auf dir ruht eine Last wie auf sonst keinem. Vor allem jetzt, in den Letzten Tagen.«

Sie rückte ein wenig von ihm ab und blickte in sein Gesicht. »Ich mag die Erbin sein, aber du bist das Gewissen der Erbin, ihre Weisheit und ihre Stärke. Gibt es irgendetwas, das du mir erzählen kannst, Matt? Gibt es irgendetwas, mit dem du mir einen Ausweg aus dieser Falle weisen kannst?« Sie stieß bebend den Atem aus. »Aus der Falle, in die ich uns geführt habe?«

Er strich ihr eine verhedderte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich wünschte, ich wüsste einen solchen Ausweg. Was verraten dir deine Visionen?« »Nichts«, flüsterte sie. »Seit ich bei Asher gelegen habe, hatte ich keine Visionen mehr, und ich weiß nicht, warum. Ich war noch nie im Leben so blind, und es macht mir Angst.«

»Nun«, sagte Matt langsam, »es könnte sein, dass die Visionen ausgeblieben sind, weil sie dich dorthin geführt haben, wo du sein musstest. Zu ihm. Es könnte sein, dass du Recht hast und die Prophezeiung es die ganze Zeit über so wollte.« »Zu welchem Zweck? Inwiefern führt es uns durch die Letzten Tage, dass ich bei Asher gelegen habe? Sie müssen jetzt nah sein, denn Asher ist als unser Unschuldiger Magier enthüllt worden. Oh, Matt, bist du dir sicher, dass du nichts weißt?«

»Veira hat mir die gleiche Frage gestellt«, sagte er, »und ich kann nicht mehr tun, als dir die gleiche Antwort zu geben wie ihr. Irgendetwas stimmt nicht mit den magischen Flüssen, aber ich weiß nicht, wie oder warum. Es muss in der Stadt sein, denn sobald ich sie verlassen hatte, verebbte das Unbehagen. Aber darüber hinaus … Wenn ich nach Dorana zurückkehrte, würde ich dir vielleicht mehr erzählen können.«

Sie legte die Arme fester um ihn. »Nein. Du darfst nicht dorthin zurückkehren. Nachdem Asher verhaftet wurde, werden sie auch seine Freunde suchen, und wir stehen ihm am nächsten. Du bist hier in Sicherheit.«

»Für wie lange?« Er löste sich sanft von ihr und begann auf und ab zu gehen. »Es gibt in ganz Lur keinen Mann, keine Frau und kein Kind, die in Sicherheit sein werden, wenn die Prophezeiung sich endlich erfüllt, Dathne, und deine Träume unsere Wirklichkeit werden. Unsere Arbeit ist noch nicht vorüber. Wir müssen immer noch dieses Königreich vor der Zerstörung retten.«

»Aber wie?«, rief sie. »Dafür brauchen wir Asher, und ich kann ihm nicht helfen! Kannst du ihm helfen? Kann irgendjemand ihm helfen?«

»Ich kann es«, erklang Veiras Stimme hinter ihnen.

Sie drehten sich mit großen Augen um. Dathne verschränkte die Arme vor der Brust und grub die Finger in ihr Fleisch. »Wie?«

Veira trat aus dem Wald und kam über den Hof auf sie zu; ihre braunen Wollhosen waren bis zu den Knien durchweicht und ihre kräftigen Lederstiefel schlammverkrustet. In einer knorrigen Hand hielt sie einen alten Wanderstock, und zu ihren Füßen schnüffelten zwei riesige, ebenfalls mit Schlamm bedeckte Schweine, so zahm wie Hunde. Veiras Gesicht, das wie ein verrunzelter Apfel wirkte, war grimmig.

»Mit Herzensleid und Opfern und tödlichen Gefahren«, antwortete sie. »Aber wir müssen schnell handeln. Ich habe gestern Nacht eine Nachricht vom Zirkel bekommen: Ashers Verabredung mit dem Henker ist um Mitternacht am nächsten Barlstag.«

Dathne wandte sich zu Matt um. »Ich kann nicht glauben, dass der König das tut. Asher ist sein liebster Freund!«

»Wenn du mit König Gar meinst, dann gibt es noch mehr schlechte Neuigkeiten«, sagte Veira. »Lur hat jetzt einen neuen König.«

»Nicht Conroyd Jarralt?«

Veira nickte. »Doch.«

»Barl schütze uns«, sagte Matt und legte Dathne eine Hand auf die Schulter. »Es wird kein Olk mehr sicher sein, nirgendwo.«

»Nur wenn wir scheitern«, warf Veira entschlossen ein. »Aber wenn wir verhindern wollen, dass der Unschuldige Magier stirbt und uns alle mit ins Grab nimmt, müsst ihr tun, was ich sage, fraglos und ohne zu zaudern. Was kommen soll, wird kommen. Muss kommen. Die Prophezeiung verlangt es.« Matt runzelte die Stirn. »Es gefällt mir gar nicht, wie das klingt.«

»Das muss es auch nicht«, blaffte Veira. »Dathne, bring die Schweine in den Stall, Kind, und sorge dafür, dass sie ein ordentliches Frühstück bekommen. Und du, Matthias, hol mir Messer und Schale aus der Küche. Schneide zwei Zweige von jedem Kraut und jeder Pflanze in der letzten Reihe des Gartens dort ab. Binde dir ein Stück Tuch über Mund und Nase, und zieh Handschuhe an, und was immer du über das denkst, was du siehst und schneidest, behalte es für dich. Bring die Pflanzen auch nicht ins Haus, sondern lass sie neben der Hintertür auf dem Boden liegen. Wenn ihr beide fertig seid, amüsiert euch in der Küche, indem ihr eine Suppe fürs Mittagessen kocht. Alles Notwendige findet ihr in der Speisekammer.«

Dathne blickte verwirrt zu dem Kräuterbeet hinüber. »Tuch und Handschuhe?« Veiras strenge Miene entspannte sich ein klein wenig. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich will Matthias nicht in Gefahr bringen.« Sie verzog das Gesicht. »Zumindest nicht in eine Gefahr durch Kräuter.«

Als sie an ihnen vorbei zurück ins Haus stapfte, sagte Matt: »Und es gefällt mir noch weniger, wie das klingt.«

Dathne nickte beunruhigt und beobachtete, wie die Tür hinter der alten Frau zufiel. »Mir auch nicht. Aber ich denke, wir tun am besten, was man uns aufgetragen hat. Was immer sie plant, es reißt ihr beinahe das Herz aus der Brust.«

Trotz ihres abgeschiedenen Lebens bewahrte Veira ihre Zirkelsteine in einem Versteck auf, einem kleinen Loch, das sie unter dem Boden ihres Schlafzimmers gegraben und mit weggeworfenen Ziegeln aus der Dorftöpferei ausgekleidet hatte. Die säuberlich wieder zusammengefügten Dielenbretter mit ihren verräterischen Fingerlöchern lagen verborgen unter einem alten, ausgefransten Teppich.

Allein in ihrem Schlafzimmer, nachdem sie die Tür geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, rollte sie den Teppich zurück, hob den Deckel des Verstecks an und lehnte ihn gegen das Bett. Vierzig Zirkelsteine blinkten ihr in dem flackernden Lampenlicht entgegen und wirkten dabei nicht wichtiger als eine willkürliche Ansammlung hübscher Quarzkristalle, Spielsachen für eine Elster. Vierzig Steine, vierzig Freunde – nein, Familienangehörige –vierzig feierlich geleistete Eide. Es waren so wenige, um sich gegen die kommende Dunkelheit zu stemmen.

Sie ging neben dem Versteck in die Hocke und verzog das Gesicht, als ihre Knie protestierten. Rafels Stein, der von einem so hellen Blau war wie frisch entrahmte Milch, zog ihren Blick an wie ein Magnet. Sie griff nach dem Stein, schloss die Finger darum und rief nach Rafel. Als er antwortete, schössen ihr Tränen in die Augen.

»Die Zeit ist gekommen.«

Mehrere Herzschläge lang sagte er nichts. Dann spürte sie, dass er seufzte. Als wir von Ashers Verhaftung hörten, habe ich mir so etwas schon gedacht. Er ist es, nicht wahr? Er ist der Unschuldige Magier?

Sie hatte es niemandem außer Gilda erzählt. Es war typisch für Rafel, dass er die Wahrheit erriet. »Ja«, sagte sie. »Er ist es. Liebling…«

Sprich es nicht aus. Sie dachte, sein Lächeln werde sie töten. Du weinst… und außerdem hatte ich seltsame Träume.

»Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe…«

Dann wäre ich vielleicht nicht geboren worden.

»Wir haben wenig Zeit«, sagte sie unter Tränen. »Wir müssen uns morgen an der Kreuzung treffen, an der die Weststraße auf die Straße zum Schwarzen Wald trifft. Wie bald kannst du dort sein?«

Am Vormittag oder nicht viel später.

»Du musst dir einen Grund ausdenken, warum du fortgehst. Erzähl es so wenig Menschen wie möglich und brich ohne Publikum auf; gib als Ziel alles andere an, nur nicht die Stadt. Reise mit leichtem Gepäck und so schnell du kannst, ohne ungebührliche Aufmerksamkeit zu erregen. Lass niemanden deinen Kummer sehen.«

Ich verstehe.

»Dann sehe ich dich morgen.«

Morgen, sagte er immer noch lächelnd, und aus Liebe war er derjenige, der die Verbindung unterbrach.

Einige Zeit später, nachdem sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte, griff sie abermals durch den grünen Stein, der sie miteinander verband, nach Gilda aus. Fast zehn lange Minuten verrannen, bevor ihre Verbindung hergestellt wurde. Tut mir leid, tut mir leid, sagte Gilda aufgeregt. Ich war bei einem Kunden und konnte nicht weg.

»Unwichtig, Gilda. Meine Freundin, ich habe eine Aufgabe für dich. Und ohne dich in tiefes Ungemach stürzen zu wollen, muss ich dies doch sagen: Von deinem Erfolg hängt die Zukunft unseres Königreichs ab.«

Die Verbindung zwischen ihnen erzitterte unter Gildas Unsicherheit und wurde dann wieder kräftiger. Natürlich, Veira. Was brauchst du?

»Ich komme zu der Hinrichtung in die Stadt, und du musst mir auf der Bank direkt in der vordersten Reihe für drei Personen neben dir einen Platz frei halten. Einen Platz unmittelbar vor dem Henkersblock.«

Neben mir?, fragte Gilda stockend. So nah?

»Ja. Kannst du das tun?«

Natürlich.

»Vielen Dank, meine Liebe. Ich sehe dich dann vor Mitternacht an diesem Barlstag.«

Sie legte Gildas Stein zurück und wählte einen anderen aus, diesmal einen von einem dunklen Blauschwarz.

»Rogan. Ich habe eine Aufgabe für dich.«

Rogan stimmte zu, ohne Fragen zu stellen, genau wie Veira es erwartet hatte. Als Nächstes setzte sie sich mit Laney Treadwell in Verbindung, deren Familiengeschäft überaus nützlich war, und schließlich griff sie nach den zehn bestplatzierten und stärksten Magiern in der Gruppe, auf deren Schultern sie eine schwere Last legen musste. Entschlossen versprachen sie ihr, sich in Dorana zu ihr zu gesellen und ihre Aufgabe zu erfüllen.

Mochte Jervale sie alle segnen. Ohne solch getreue Helfer hätte sie nicht den Mut gehabt weiterzumachen.

Nachdem alle Vorkehrungen getroffen waren, legte sie, beinahe unaussprechlich müde, den letzten Stein zurück, verschloss das Versteck wieder und schob den Teppich darüber. Dann erhob sie sich stöhnend und ging in die Küche.

Die Suppe stand wohlduftend und blubbernd auf dem Herd. Dathne und Matt saßen schweigend am Tisch, ein jeder tief versunken in seine eigenen Überlegungen.

»Bitte, Veira, was geht hier vor?«, fragte Dathne und blickte auf. »Die Kräuter, die du von Matt hast schneiden lassen…«

»Sind tödlich«, erwiderte sie knapp. »Ich weiß.«

Matt richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Warum brauchst du sie dann?« Sie trat ans Küchenfenster und blickte in den Garten mit seinen wild wuchernden Winterrosen und der Fülle von Rabenbeeren hinaus. »Um der Prophezeiung zu dienen.«

»Inwiefern willst du ihr dienen?«, fragte Dathne.

»Das werde ich für mich behalten. Je weniger ihr wisst, umso besser. Zumindest solltet ihr möglichst wenig wissen, bevor es unbedingt sein muss.« »Und wer entscheidet, wann diese Zeit gekommen ist? Ich bin kein Kind, Veira, auch wenn du mich so nennst! Ich bin Jervales Erbin, und…«

»Und du wirst lernen, den Anweisungen eines anderen zu folgen!«, fuhr sie sie an und wandte sich vom Fenster ab. Als sie Dathnes angespanntes, spitzes Gesicht und ihre nur unvollkommen unterdrückte Angst sah, wurde ihre Miene weicher. »Kind, Kind – denn genau das bist du für mich, ob du nun eine verheira– tete Dame bist oder nicht –, hör auf, dich um Dinge zu sorgen, die nicht in deiner Macht liegen. Wir haben genug Würmer im Apfel, auch ohne dass du Platz für weitere machst.«

Dathne sah Matthias an, der den Kopf schüttelte und sie mit einem kurzen Lächeln bedachte. »Kein Zaudern, kein Fragen, erinnerst du dich?« Solchermaßen besiegt, ließ Dathne die Schultern sinken. »In Ordnung.« »Gut«, sagte Veira entschieden und trat an den Herd. »Jetzt lasst uns essen.« Nachdem sie schweigend die Suppe verzehrt hatte und Matthias hinausgeschickt worden war, um nach Bessie zu sehen und ihre Hufe und das Geschirr zu überprüfen, half Dathne ihr beim Abwasch.

»Ich will nichts in Frage stellen«, sagte sie, die Hände im Seifenwasser. »Ich wünschte nur, du würdest mir sagen, für wen diese Kräuter sind.« Veira seufzte. Sie ließ das Geschirrtuch von ihren Fingern baumeln und sagte: »Für niemanden, den du kennst, Kind. Ich verspreche es.«

»Aber für jemanden, den du kennst?«

Grimmig hielt sie die Tränen unter der Oberfläche. »Ja. Für jemanden, den ich kenne.«

»Dann lass mich den Trank brauen.«

Oh, es war ein verlockender Gedanke. Ein freundlicher, liebevoller Gedanke. »Nein«, erwiderte sie und strich Dathne kurz über die Schultern. »Obwohl ich dir für das Angebot dankbar bin.«

Dathne, die sich wie immer in alles einmischen musste, wertete die Ablehnung als Kritik. »Ich bin durchaus in der Lage dazu! Ich verfüge über größere Kenntnisse in der Kräuterkunde als…«

»Die Kräuterkunde hat nichts damit zu tun. Keine Frau, die ein Kind erwartet, sollte diese Pflanzen berühren.«

Dathne starrte sie in erschrockenem Schweigen an. Dann nahm sie die Hände aus dem Seifenwasser und legte sie flach auf ihren Leib. »Ein Kind? Wie meinst du das?«

Veira schnaubte. »Ich bin alt, Kind, nicht blind oder taub oder dumm. Ich mag selbst kein Kind geboren haben, aber ich habe im Laufe der Jahre etliche Male als Hebamme gearbeitet. Schwangere Frauen haben einen ganz bestimmten Blick. Und ich habe gespürt, dass eine Veränderung mit dir vorgegangen ist.« Dann seufzte sie. »Du wusstest es nicht?«

Dathne schüttelte den Kopf. »Nein. Das heißt… Ich habe mich gefragt… Für einen Moment lang… Aber ich kann nicht schwanger sein. Wir haben nur zweimal zusammen gelegen, und ich habe beide Male Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.« »Dann könnte es sein, dass die Prophezeiung andere Vorstellungen hatte.« »Warum? Wozu könnte das gut sein?«

Veira griff nach einem weiteren Teller, der abgetrocknet werden musste. »Die Geburt eines Kindes ist immer zu etwas gut.«

»Wenn unsere Welt kurz davorsteht, in Fluten und Feuer zu enden? Wie?« »Vielleicht soll es uns daran erinnern, dass wir nicht so leicht aufgeben dürfen.« »Ich gebe nicht auf!«, sagte Dathne und trat einen Schritt zurück. Die Seifenlauge tropfte unbeachtet auf den Boden. »Ich weiß nicht mehr weiter! Ich habe Angst! Früher habe ich mir vertraut, habe der Prophezeiung vertraut und geglaubt, dass mir alles gegeben wurde, was ich brauchte, um den Sieg davonzutragen! Statt– dessen bin ich ein Flüchtling, und der Mann, den zu leiten und zu schützen ich geboren wurde, wartet auf den Tod. Und jetzt kommt ein Baby?«

Das Kind verlor die Hoffnung. Es wurde Zeit für eine gewisse Schärfe. »Mit anderen Worten, du gibst tatsächlich auf.«

Dathne wandte sich ab. »Vielleicht tue ich das«, flüsterte sie rau. »Vielleicht ist es das Beste, das ich für uns alle tun kann. Aufgeben. Fortgehen. Sein Schicksal jenen überlassen, die nicht solch schreckliche Fehler gemacht haben.« »Ich bezweifle, dass das das Beste für Asher oder sein Kind wäre«, erwiderte Veira mit einem barschen Unterton. »Du bist Jervales Erbin, Dathne. Du kannst nicht fortgehen. Und außerdem, wer unter uns hätte nie einen Fehler gemacht? Ich bin es gewiss nicht. Ebenso wenig Matthias. Fehler zu machen, ist nicht das Problem, Kind. Das Verderben kommt erst dann, wenn wir nicht unser Bestes geben, um sie anschließend wieder in Ordnung zu bringen. Und wir wissen nicht, ob du irgendwelche Fehler gemacht hast. Es könnte sein, dass die Prophezeiung all dies von Anfang an so geplant hat.«

»Dann hätte die Prophezeiung sich einen anderen Plan ausdenken sollen!«, gab Dathne zurück, und eine zornige Röte stieg ihr in die Wangen. Dann drehte sie sich wieder zu der Spüle um und suchte Zuflucht in hausfraulicher Betätigung. »Du hast Matt doch nichts davon gesagt, oder?«

Veira zog eine Augenbraue hoch und streckte die Hand nach der nächsten tropfnassen Schale aus. »Es könnte sein, dass er es bereits weiß. Er hat schließlich schon mit vielen schwangeren Stuten gearbeitet, nicht wahr?«

»Nun, mit mir hat er nicht gearbeitet!«

»Immer mit der Ruhe. Ich habe es ihm nicht erzählt, Kind«, sagte sie sanft. »Und ich werde es auch nicht tun. Die Zeit und dein Bauch werden es ihm bald genug verraten. Und er hat ohnehin schon viel um die Ohren, denke ich. Ich brauche ihm nicht mit Gewalt zusätzliche Probleme aufzudrängen.«

Dathne nickte stirnrunzelnd und griff nach dem Suppentopf, um ihn zu schrubben. »Wir gehen zurück in die Stadt, nicht wahr?«, fragte sie nach einem kurzen Moment des Schweigens. »Um zu versuchen, Asher zu retten.« Nun, nicht »wir«. Aber sie war zu müde für weitere Auseinandersetzungen, zumindest in diesem Augenblick. Also antwortete sie, statt Dathne die Wahrheit zu sagen: »Ja. Später heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit. Aber wir werden es nicht nur versuchen. Der Unschuldige Magier wird gerettet werden – und die Prophezeiung wird sich fortsetzen.«

Das Geräusch von auf Holz schlagenden Hämmern riss Asher aus einem wunderbaren Traum von Dathne. Fluchend rollte er sich schmerzhaft auf die andere Seite, schloss die Augen und versuchte, sich den Schlaf von Neuem zu erobern.

Sie war an einem grünen, süß duftenden Ort gewesen, das wohlriechende Haar offen, und ein Lächeln hatte ihr mageres Gesicht leuchten lassen. Überall um sie herum waren Bäume und Schweine und Hühner.

Er schlug die Augen auf.

Schweine und Hühner?

Barl rette ihn. Er verlor endgültig den Verstand.

Nachdem sich der Reiz des Neuen gelegt hatte, waren viele Menschen in ihre Häuser oder in ihre Quartiere in den Herbergen und Hotels der Stadt zurückgekehrt, sodass er sehen konnte, worum es bei dem Gehämmer ging. Muskulöse Angestellte des Palastes errichteten auf der linken Seite des Marktplatzes ein Podest. Ox Bunder, der zum Wachdienst verdammt worden war, bekam mit, dass er es bemerkt hatte, und grinste ihn höhnisch und auf die für ihn typische unfreundliche Art an. Wahrscheinlich war er voller Groll, weil er jetzt die drei Trin, die Asher ihm nach ihrem letzten Pfeilwurfspiel unten in der Gans schuldete, niemals bekommen würde.

Hah! Gerühmt sei Barl für kleine Freuden.

Ox kam herbeigeschlendert, wobei er sich auf seine Pike stützte wie auf einen Wanderstock. »Es werden viele Menschen kommen, um morgen um Mitternacht zu sehen, wie du deine gerechte Strafe erhältst«, bemerkte er. »Ich höre, die Mitglieder des Großrats stehen kurz davor, Stöckchen zu ziehen, um zu entscheiden, wer von dem Podest, das sie gerade bauen, die beste Aussicht haben wird. Ich höre, Gildemeister Roddle bietet Geld an, um sicherzustellen, dass er einen Platz direkt in der ersten Reihe bekommt.«

Wenn er nichts sagte, würde Ox sich nicht länger auf seine Pike stützen, sondern ihn damit schlagen. Wenn er etwas sagte, irgendetwas, würde Ox sich nicht länger auf seine Pike stützen und…

Er seufzte.

»Morgen um Mitternacht, hm?«, antwortete er, als hätte er es nicht gewusst. »Meinst du, es wird regnen?«

Ox hörte auf, sich auf seine Pike zu stützen, und schlug ihn damit. Asher spuckte Blut und einen abgebrochenen Zahn aus, schlang die Arme ums Gesicht und suchte abermals Zuflucht im Schlaf. Diesmal träumte er nicht, weder von Schweinen noch von Hühnern noch von Dathne oder von irgendjemandem sonst.

Endlich allein in Conroyds Stadthaus, nachdem Ethienne unter großem Gelärme aufgebrochen war, die Angestellten entlassen waren und Willer ausgeschickt, um Vorkehrungen für die bevorstehende Sperrstunde der Olken zu treffen, saß Morg in einem Sessel in Conroyds Bibliothek und überließ sich seinen Gedanken. Auf dem Tisch vor ihm stand die pflichtschuldigst ausgehändigte Wetterkugel. Sie foppte ihn. Verhöhnte ihn. Verlockte ihn. All diese Magie, die nur durch eine dünne Membran von ihm getrennt war.

Es musste eine Möglichkeit geben, an sie heranzukommen.

Der in seinem eigenen Körper eingekerkerte Conroyd tobte. Im Gegensatz zu Durm, dessen von Schuldgefühlen befleckte Seele geweint und gejammert und Barl um Barmherzigkeit und Hilfe angefleht hatte, schien Conroyd vor allem daran Anstoß zu nehmen, dass er in seinem eigenen Leib gefangen gehalten wurde. Nachdem der erste Schock verstrichen war, plapperte er jetzt endlos im Hintergrund vor sich hin, verlangte Erklärungen, bestand auf Antworten, bot Hilfe an.

Hilfe…

Was für ein Narr zu denken, dass Morg die Hilfe eines Schafs benötigte. Dass er in der Position war, einen Handel anzubieten, sich einzuschmeicheln. Morg streckte die Hand aus und strich über die Wetterkugel. Ihre ruhigen Farben begannen sich kreiselnd zu bewegen, weil sie ihn spürten. Ihn ablehnten. Sein Fleisch gehörte Conroyd, aber der Geist darin war sein eigener. Die Wetterkugel würde ihm niemals Zugang gewähren. Niemals.

Es sei denn…

Eine Idee glomm auf. Ein flackernder Funke der Eingebung. Er hielt den Atem an, aus Furcht, dass selbst die leiseste Bewegung die Hoffnung zunichte machen konnte. Ließ es sich bewerkstelligen? War es möglich? Konnten Morg und Conroyd gerade lange genug zu einem einzigen Wesen verschmelzen, um zu verhindern, dass die Wetterkugel Barls erbittertsten Feind erkannte? Um ihm ihre Wettermagie zu gewähren, die er vielleicht benutzen konnte, um ihre Mauer zu Fall zu bringen?

Wenn er Durm benutzt hätte, hätte es niemals funktioniert. Trotz all seiner weinerlichen Verzweiflung war der fette Narr viel zu stark gewesen. Und ihre Geister waren im Kern absolut unvereinbar gewesen. Er hatte ihn nur dadurch unter Kontrolle halten können, dass er ihn unbarmherzig in seinem Gefängnis festhielt. Hätte er ihn hinausgelassen, und sei es auch nur ein klein wenig, wäre es fatal gewesen.

Aber Conroyd? Ah, Conroyd. Dies war eine Seele aus anderem Holz. Eine mit schwachen Echos seiner eigenen Dunkelheit. Und besser noch, er und Conroyd waren Blutsverwandte, und Familienbande wisperten über die Jahrhunderte hinweg. Sie gehörten zusammen, wie er und Durm niemals zusammengehört hatten.

Und Conroyd wurde von Barl akzeptiert.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, griff in sich hinein und berührte den Geist des kleinen Conroyd, so sanft wie Sonnenschein.

Es ist dein Wunsch, mir zu helfen, Cousin? Du möchtest einen Schluck aus dem Kelch der Macht, den nur ich an deine Lippen halten kann?

Conroyd wimmerte, plötzlich unsicher.

Habe keine Furcht, Blut von meinem Blut. Du wurdest zu Größe geboren. Geboren, um die Doranen auf den Höhepunkt aller bekannten Meisterschaft zu erheben. Hilf mir, und wir werden gemeinsam ein Zeitalter des Ruhms hervorbringen, wie dieses Land es zuvor nie gekannt hat!

Die Habgier und der Ehrgeiz des kleinen Conroyd loderten auf wie eine Fackel um Mitternacht.

Komm zu mir, Conroyd, flüsterte er. Wir wollen uns für einen Moment miteinander vermischen.

Ohne nachzudenken, ohne Verdacht zu schöpfen, kam Conroyd zu ihm. Morg ließ die Gitterstäbe des Käfigs um ihn herum sinken. Ließ ihn heraus. Ließ ihn atmen…

… und atmete ihn im selben Augenblick ein. Schmolz Conroyd wie Butter, sog ihn mit allen Poren seines Wesens in sich auf und würzte seinen Geist mit der Essenz Jarralts. Dann versteckte er sich wie ein Fuchs, der im fließenden Wasser den Jagdhunden auswich.

Conroyd kreischte ein einziges Mal auf und schwieg dann.

Die Zeit verstrich. Schließlich richtete sich etwas, das nicht ganz Conroyd war und nicht ganz Morg, im Sessel auf, nahm die Wetterkugel aus ihrer hölzernen Schatulle und hielt sie hoch. Seufzend lächelte das Wesen angesichts des herrlichen Kreisels von Farben. Des Versprechens von Tod und Zerstörung, das diese Kugel barg.

Der Zauber, der notwendig war, um die Magie aus der Kugel in den wartenden Geist zu übertragen, war noch da, ein Vermächtnis Durms. Jetzt brauchte das Wesen nur noch die Worte zu rezitieren und den Akt der Übertragung auszulösen. Die kostbare Macht der Hure zu stehlen.

Der Teil dieser neuen Kreatur, die Morg war, brauchte einen Moment, um sich vorzubereiten. Um sicherzustellen, dass er auch weiterhin eins war mit Conroyd. Als er sich davon überzeugt hatte, ließ er sich wieder tief unter die Oberfläche sinken und hielt sich die Wetterkugel vor die leuchtenden Augen. Sprach die Worte des Übertragungszaubers…

… und wartete auf seinen Sieg.

Die Farben in der Wetterkugel wirbelten durcheinander. Vertieften sich. Nahmen Glanz und Leben an. Die Kreatur sah voller Jubel zu, während sie aus der Kugel und über ihre Hände glitten. In ihre Hände hinein. Während sie das taten, füllten sie die Kreatur mit Wissen, mit Macht. Mit dem Schlüssel zur Zerstörung dieses Königreichs.

Und dann… ein Zögern. Die pulsierende Kugel erzitterte, die Farben verlagerten sich. Wurden dunkler. Blutrot und Gold verwandelten sich in Purpur und Schwarz und begannen sich zu krümmen, als lebten sie, als seien sie zornig und voller Schmerz.

Barls lange tote Stimme rief: Nein! Nein! Dies ist nicht für dich bestimmt, Morg! Niemals für dich!

Aber die Wetterkugel versuchte noch immer, sich ihrer Magie zu entleeren, spürte die Gegenwart eines unbesudelten Gefäßes. Die Kreatur sprang heulend auf, während das Fleisch ihrer Finger kochte. Brannte. Während die Dunkelheit in der Kugel nach außen flutete, die Arme der Kreatur hinauf und über ihren Leib, wie eine Woge verdorbener, schwarzer Tinte.

Morg riss sich von Conroyds klebriger Gegenwart los, warf den Kopf in den Nacken und schrie in zorniger Verzweiflung auf. »Miststück! Hure! Du wirst mich nicht noch einmal von ihnen fernhalten, Barl! Ich werde sie bekommen!« Nein, Morgan, antwortete ihre wispernde Stimme. Nein, das wirst du nicht. Die Wetterkugel ging in Flammen auf. Binnen weniger Herzschläge war die Luft in der Bibliothek durchdrungen vom Gestank verkohlten Fleisches und verkohlter Magie.

Morg schrie auf und warf die zerstörte Kugel von sich. Sie fiel auf den Boden und zersprang in Stücke. Er brach einen Moment später zusammen und zerdrückte die geschwärzten Splitter unter seinem zuckenden Körper zu Pulver, während ihn Bewusstlosigkeit umfing.

Es war Darran, der das Tagebuch fand. Der Pedant Darran mit seiner Leidenschaft für Ordnung und Symmetrie, seinem Beharren darauf, dass alles genauso sein musste, wie es sich gehörte. Seine flinken Finger ertasteten die Unregelmäßigkeit in der alten Lederbindung eines Textes, Übungen für junge Magier. Mit seinem kritischen Blick entdeckte er den Unterschied zwischen der Dicke des vorderen und des hinteren Einbands – und wurde nachdenklich… Gar, der neben ihm auf dem Boden im Arbeitszimmer saß, schlitzte die scheinbar unberührte Naht des Buches mit seinem Dolch auf und zog das Tagebuch aus seinem Versteck. Dann hielt er es mit zitternden Händen umfangen und fragte sich, ob er träumte.

»Barl rette uns«, flüsterte Darran erstaunt. »Es gibt tatsächlich ein Tagebuch!« Barl rette sie, in der Tat. Und mit nichts Geringerem als ihren eigenen Worten, wenn das Tagebuch wirklich einmal ihr gehört hatte. War das das Wunder, auf das er gewartet hatte? Gehofft hatte? Das Wunder, an das er gegen alle Erwartung geglaubt hatte?

Wenn es das nicht war, würde er zumindest nichts Besseres finden als dies hier. Er klappte das Tagebuch auf und betrachtete die schnelle, unordentliche Handschrift, die verblasste Tinte, die Abdrücke der Geschichte. Mühsam gelang es ihm, die ersten Zeilen zu entziffern.

Es bekümmert mich, an die Magie zu denken, die wir zurücklassen müssen, aber in diesem neuen Land muss Magie Ordnung und Disziplin besitzen, darf kein alltäglicher Luxus sein, oder…

»Meine Güte«, sagte Darran, der ihm über die Schulter blickte. »Das sieht aus wie alter Hühnerdreck! Glaubt Ihr, dass Ihr es lesen könnt, Herr?«

Gar strich liebkosend mit den Fingerspitzen über die Seite, atmete den Duft von modrigem Staub und Zeit ein und spürte, wie die Kerze der Hoffnung aufloderte. Er lächelte. »Ja. Ich kann es lesen.«

Darran stieß einen hörbaren Seufzer aus. »Gerühmt sei Barl für kleine Vergünstigungen«, sagte er. »Aber dürfte ich vorschlagen, dass Ihr es später lest? Die Männer des Königs werden bald hier sein und diese Bücher haben wollen. Und ausnahmsweise einmal bin ich geneigt zu glauben, was Willer sagt: Wir sollten sie nicht warten lassen.«

Also versteckte er das Tagebuch hinter einem Bücherregal und beeilte sich, Darran zu helfen, den Rest von Durms gesammelten Leben und Lehren zusammenzupacken. Als sie fertig waren und die Bücher, Papiere und Journale säuberlich in Kisten aufgestapelt neben den Vordertüren des Turms lagen, zwang er sich, mitten in der Eingangshalle für einen Moment still dazustehen und zu atmen, einfach nur zu atmen.

»Was jetzt, Herr?«, fragte Darran.

»Jetzt?« Er schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Dann wischte er sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht. »Jetzt habe ich Arbeit, Darran. Und wenn Barl barmherzig ist und unsere Gebete wahrhaft erhört, wird es in diesen Seiten irgendetwas geben, das nicht nur das Königreich, sondern auch Asher retten kann.«

»Dann solltet Ihr besser gleich anfangen, Herr«, sagte Darran. »Und keine Bange. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr nicht abgelenkt oder gestört werdet.« Gar schenkte ihm ein schnelles Lächeln. »Guter Mann.«

Während auf Darrans müdem, ausgezehrtem Gesicht ein Lächeln aufleuchtete, drehte Gar sich um und ging auf die Wendeltreppe zu. Er nahm immer drei Stufen gleichzeitig und dachte: Bitte, Barl. Bitte. Sei barmherzig, nur dieses eine Mal.

Pellen Orrick saß an seinem Schreibtisch und blickte stirnrunzelnd auf die vor ihm ausgebreiteten Berichte. Keine Spur… keine Spur… keine Spur… Dathne, die Buchhändlerin, und Gars ehemaliger Stallmeister, Matt, waren nirgends zu finden.

Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und zog die Brauen noch fester zusammen. Was hatte ihr Verschwinden zu bedeuten? War es ein Zufall? Unwahrscheinlich. Waren sie lediglich entsetzt darüber, dass ihr Freund als Verräter überführt worden war? Möglich. Oder waren sie ebenfalls verwickelt in diese Ketzerei und jetzt verzweifelt darauf bedacht, ihr eigenes verkommenes Le– ben zu retten? Ebenfalls möglich. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Was bedeutete, dass König Conroyd Recht hatte und dies eine Verschwörung war. Es war ein furchtbarer Gedanke mit Konsequenzen, die zu schrecklich waren, um sie sich auszumalen. Nur dass er der Hauptmann der Stadt war und es seine Aufgabe, seine Pflicht war, sich solche Dinge auszumalen. Fröstelnd lehnte Orrick sich auf seinem Stuhl zurück und blickte aus dem Fenster zum Marktplatz hinüber. Er konnte über dem Gedränge von Menschen, die sich nach wie vor dort versammelten, um zu staunen und sich an dem Spektakel zu weiden, gerade noch die obere Kante von Ashers Käfig sehen. Jetzt, da praktisch jeder von seinem Verbrechen und seinem unmittelbar bevorstehenden Tod wusste, befanden sich in der Stadt ebenso viele Besucher wie während des Trauermonats für die verstorbene Königsfamilie. Die Gasthäuser waren wieder voll. Die Hotels und alle ländlichen Herbergen ebenfalls. Der Tod war heutzutage ein blühendes Geschäft. Verschwörung. Wie weit reichten ihre Tentakel? Wie tief hatte sich ihr fauliger Abszess ins Fleisch der olkischen Gesellschaft eingegraben, und wie viel Blut würde vergossen werden müssen, um das Geschwür herauszuschneiden? Würde Ashers Blut genügen? Oder mussten die Wachleute des Königreichs sich vereinen, um genug Blut zu vergießen, um einen Fluss zu schaffen?

Angefangen mit dem Blut von Dathne und Stallmeister Matt.

Von jäher Übelkeit befallen, verließ Orrick seine Amtsstube und das Wachhaus und ging über den Platz zu Asher in seinem Käfig. Die vier diensthabenden Wachen neigten zu einem höflichen Gruß den Kopf und zogen sich so weit wie möglich zurück, damit er ungestört war.

Er sprach den Gefangenen ohne Vorrede an. »Eure Freunde, Dathne und Matt, sind verschwunden. Wenn Ihr sie liebt, sagt mir, wohin sie gehen würden, damit ich sie herbeischaffen und sie fragen kann, inwiefern sie Euch in Euren Verbrechen unterstützt haben.«

Ashers Augen waren umringt von dunklen Schatten und eingefallen, und all seine Wunden hatten zu eitern begonnen. Ohne sich die Mühe zu machen, den Kopf zu heben oder auch nur aufzublicken, krächzte er: »Verzieht Euch, Pellen.« Trotz des widerwärtigen Gestanks des Käfigs, des Strohs und Ashers ungewaschenen Leibs trat Orrick näher. »Wenn ich dem König mitteile, dass ich sie nicht finden kann, wird er eine unbarmherzige Suche anordnen. Es könnten unschuldige Menschen verletzt oder aus falschen Gründen verhaftet werden. Am Ende wird man sie finden, Asher. Sie können nirgendwohin fliehen, sich nirgendwo verstecken, wo nicht ich oder jemand wie ich sie finden wird. Und dann werde nicht ich es sein, der die Fragen stellt, es wird Seine Majestät sein… und Ihr wisst am besten, was dann geschehen wird. Also, sagt mir, wo sie sind. Nicht um meinetwillen oder um seinetwillen. Um ihretwillen.«

Jetzt blickte Asher doch auf. »Ich weiß nicht, wo sie sind, außerdem hatten sie niemals etwas damit zu tun, und Jarralt weiß es. Wenn er sie haben will, dann nur, um mich zu verletzen. Nicht dass Euch das interessieren würde.« »Das ist nicht wahr!«

Asher lachte, ein raues, schnarrendes Geräusch. »Ach nein?«

»Ihr denkt, Ihr hättet Grund zur Klage?«

Asher hob eine aufgerissene, eitrige Hand, ließ die Ketten, mit denen er gefesselt war, klappern und sah ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Würdet Ihr das nicht tun?«

»Ihr glaubt nicht, dass Ihr dies hier verdient habt? Ihr haltet es nicht für gerecht? Warum nicht? Ihr wart durchaus erpicht auf Gerechtigkeit, als es Timon Spake war, der auf die Axt wartete!«

Asher zuckte zusammen. »Timon Spake ist niemals mit Magie verletzt worden. Ihr habt ihn nicht wie ein Tier angekettet oder ihn zur Schau gestellt. Obwohl er ein Verbrecher war, habt Ihr Timon Spake anständig behandelt!«

Orrick biss die Zähne zusammen, und mehr als nur der Gestank setzte ihm zu. »Ich nehme meine Pflicht ernst, Asher. Eure Verhaftung entspricht dem Gesetz, Eure Schuld ist über jeden Zweifel hinaus erwiesen. Ihr habt Euer Verbrechen gestanden. Allerdings …« Er verschränkte die Hände hinterm Rücken und senkte die Stimme. »Wenn die Entscheidung bei mir gelegen hätte, hättet Ihr im Wachhaus auf die Hinrichtung gewartet.«

»Wirklich?«, fragte Asher. »Nun, ich schätze, das bedeutet, dass wir wieder Freunde sind, hm?«

Orrick wandte den Blick ab. »Wir waren niemals Freunde!«

»Ich weiß«, sagte Asher leise. »Aber wir hätten es sein können.«

Das war ein Fehler. Orrick strich seine Robe glatt und erwiderte energisch: »Bedenkt Euer Schweigen noch einmal, was Dathne und Matt betrifft. Je länger sie sich versteckt halten, umso gründlicher muss ich nach ihnen suchen und umso schlimmer werden die Dinge sein, wenn sie gefunden werden. Wenn sie unschuldig sind…«

»Unschuldig?«, wiederholte Asher. »Es gibt hier keine Unschuld mehr, Pellen. Unser neuer König Conroyd schwebt auf ein einziges Ziel zu: Er will alle Olken zu Vieh machen, und wenn Ihr das nicht seht, seid Ihr blinder, als ich gedacht hätte. Wenn Ihr zulasst, dass er Dathne oder Matt in die Hände bekommt, wird das nur der Anfang sein. Als Nächstes wird jeder, der ihnen jemals ein Lächeln geschenkt hat, unter Verdacht stehen. Wartet nur ab. Es wird eine Lawine werden.«

»Und wenn es so ist?«, fragte Orrick. »Wer trägt daran die Schuld? Wer war derjenige, der dabei ertappt wurde, wie er mit Magie herumpfuschte?« Asher ließ sich in das schmutzige Stroh fallen und betrachtete stirnrunzelnd seine gefesselten Hände. »Ich weiß.«

»Um der Liebe Barls willen, Asher, sagt mir, wo sie sind. Ihr könntet ihnen das Leben retten!«

»Ihr seid blind«, erwiderte Asher und schloss die blutunterlaufenen Augen. »Blind und verflucht dumm. Sie können nichts Besseres hoffen, als dass ich ihre Namen nie wieder erwähnen werde. Also werde ich es nicht tun. Und nun verzieht Euch, ja? Ich bin ein sehr beschäftigter Mann.«

Verblüfft, widerstrebend gerührt und ärgerlich darüber, stand Orrick einen Moment lang da und starrte ihn nur an. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und kehrte zum Wachhaus zurück.

Der neue König wartete auf seinen Bericht, und er musste noch entscheiden, was darin stehen würde.

Conroyds Stadthaus füllte sich bereits mit Schatten, als Morg zu sich selbst zurückkehrte. Er empfand Schmerz. Verwirrung. Eine bizarre Orientierungslosigkeit, als versuche er, gleichzeitig zwei Personen zu sein. Für eine Weile blieb er auf dem Boden liegen und mühte sich, sich einen Reim auf das zu machen, was geschehen war. Die Erinnerung an Barls Stimme seufzte durch seinen hämmernden Kopf.

Er hob die Hände und starrte sie an. Verkohltes Fleisch. Blasiges Fleisch. Angewidert heilte er sich mit einem kurzen Wort und richtete sich auf. Barls Stimme verklang, verjagt von dem summenden Conroyd. Er ließ sich in sich hineinsinken, raffte die geschmolzenen Überreste seiner selbst zusammen und verbannte Conroyd tief in sein Gefängnis.

Und fühlte sich… anders.

So erschrocken, wie er es seit Jahrhunderten nicht mehr gewesen war, betrachtete er den Unterschied. Was war es? Was bedeutete es? War er noch er selbst? Oder hatte Barls Angriff ihn irgendwie beschädigt?

Verfluchte Barl. Hatte er sie geliebt? Sie angebetet? Sich gewünscht, die Ewigkeit mit ihr zu verbringen? Er musste wahnsinnig gewesen sein.

Er drängte das fleischliche Gefühl zurück und wartete darauf, dass seine Erschrockenheit sich legte. Dann beschwor er Glimmfeuer herauf und betrachtete sich selbst. Seine Umgebung. Seine schönen Gewänder waren fleckig und beschmutzt und…

Die Wetterkugel!

Zu Asche und Erinnerung zerfallen, zermalmt in dem Teppich unter ihm. Beinahe hätte er geweint.

Mehr Zeit verstrich. Er fand seine Selbstbeherrschung wieder und klares Denken. Ja, die Kugel war zerstört und mit ihr seine Hoffnung auf einen schnellen Sieg. Aber zumindest würde jetzt auch kein anderer Dorane mehr die Wettermagie haben und sie benutzen, um Barls goldene Mauer stark zu halten. Und wenn Asher starb, würde die letzte lebende Wettermagie mit ihm sterben. Aber sein Unvermögen, sie für sich selbst und für seine eigenen Zwecke zu gewinnen, bedeutete, dass er nach wie vor hier gefangen war. Dass er Wochen, Monate darauf warten musste, bis die Magie verblasste und die Mauer unter der Last ihres allmählichen Verfalls zusammenbrach. Und das Warten bedeutete, dass er die anderen Doranen irgendwie im Zaum halten und seinen geborgten Körper bewahren musste, bis der Sieg auf ihn zugehumpelt kam. Sein Verstand wehrte sich dagegen, erzitterte bei der bloßen Vorstellung. Es war unerträglich. Unerträglich. Er erhob sich taumelnd, die geheilten Hände zu Fäusten geballt. Dann öffnete er den Mund, um seinen Zorn, seine Ohnmacht und den lauernden Schmerz herauszuschreien – und keuchte auf. In seinem Geist war neue Magie.

Zaghaft griff er danach, ließ seine Sinne darüber hinweggleiten, spürte, wie sie sich langsam entfaltete, und lachte. Wettermagie.

Nicht vollständig. Nicht alles, was die Kugel enthalten hatte, war auf ihn übergegangen. Und das, was Barls Fängen entronnen war, war jetzt durch schwarze Flammen beschädigt. Aber es war dennoch Wettermagie. Dies musste der Unterschied sein, den er wahrgenommen hatte. Dies war sein ersehnter Sieg. »Siehst du, Hure?«, rief er in den leeren Raum, rief es ihrer erloschenen Erinnerung zu. »Du hast mich nicht geschlagen! Du hast nicht gesiegt!«

Er besaß jetzt genug Wettermagie, um in das Herz ihrer kostbaren Mauer zu blicken. Um Kette und Schuss zu erkennen und zu wissen, wie er die Fäden auseinanderziehen konnte, das Gewebe ihres Genies. Wie er es ausfasern konnte, um damit die Welt auszufasern, die sie geschaffen hatte, um ihm und den heiligen Eiden zu trotzen, die sie einander geschworen hatten.

Aber nicht hier. Um so tief in das Gewebe der Mauer hineinzublicken, musste er sich in die Wetterkammer begeben.

Er ritt auf dem Rücken von Ashers silbernem Hengst dorthin. Wie sein ehemaliger Herr widersetzte das Tier sich ihm zuerst, aber nicht lange. Nichts und niemand konnte sich ihm lange widersetzen.

Eingehüllt in einen Ablenkungszauber, ritt er unbemerkt durch die Straßen der Stadt und auf das Palastgelände, hinüber zum alten Palast, wo Barls letzte Monstrosität zwischen den Bäumen lag. Je näher er der Wetterkammer kam, umso deutlicher konnte er sie riechen. Sie war seit sechs Jahrhunderten tot, und ihre Magie hatte noch immer Bestand. Er hasste sie, hasste sie und staunte über ihre überlegene Macht.

Als er durch die Bäume brach, fand er sich endlich auf einer Lichtung wieder, von Angesicht zu Angesicht mit der uralten Wetterkammer. Der Bastion von Barls Magie, die Zeuge von deren Vernichtung durch ihn werden würde. Mit zusammengebissenen Zähnen saß er ab und hängte die Zügel des Hengsts über einen nahen Ast. Das Tier, dessen Flanken von Sporenabdrücken aufgerissen waren, ließ den Kopf sinken und keuchte, während ihm blutiger Schweiß übers Fell rann.

Nachdem er Glimmfeuer heraufbeschworen hatte, öffnete er die widerstrebende Tür und und eilte die Treppe hinauf, wobei er in vollen Zügen die Mühelosigkeit genoss, mit der er sich bewegte. Die Tür im oberen Stockwerk stand offen. Er trat in die Kammer und wurde abermals eingehüllt von dem alles durchdringenden Gestank von Barls Wettermagie. Schwache Echos ihrer Gegenwart wehten um ihn herum wie verblassendes, abgestandenes Parfüm.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte durch die kristallene Decke in dem goldüberhauchten Himmel. »Siehst du mich, Hure?«, flüsterte er. »Ich bin es, Morgan, Liebste. Dein Gemahl ist zu Hause.«

Ohne dass ihm eine Antwort zuteil wurde, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Mitte des Raums und auf das Modell von Lur, das so kunstvoll auf das Gewebe des Königreichs eingestimmt war. Ein unvertrautes Gefühl regte sich in ihm: Bedauern. Die Karte war ein Wunder, das nur Barl hatte zuwege bringen können. Oh, was sie zusammen hätten erreichen können, wäre sie ihm nur treu geblieben.

Er ließ sich auf den Parkettboden sinken und hielt die Hände über das Modell. Dann schloss er die Augen und öffnete seinen Geist den gestohlenen Beschwörungen, die sich wie goldene Schlangen in seinem Kopf wanden, und ließ sich von Barls stinkender Magie durchtränken.

Und dann, endlich, verstand er. Alles, was bis zu diesem Moment undurchdringlich gewesen war, war mit einem Mal absolut und auf wunderschöne Weise klar. Er verstand alles…

In diesem fruchtbaren Land fließt Macht durch alle lebenden Dinge, ist ein Teil von ihnen und untrennbar. Nicht hart und scharf und leuchtend wie doranische Magie, die sich zu Waffen und Knechtschaft schmieden lässt. Olkische Magie ist sanft und gleitend und nahrhaft wie Blut. Dazu bestimmt, einem jeden durch die Finger zu schlüpfen, der glaubt, sie mit grobem Griff fassen zu können. Barl sieht dies. Akzeptiert es. Begreift, dass ihr wahres Ziel eine Ehe verschiedener Arten von Magie ist. Tag und Nacht arbeitet sie, um der Vereinigung Leben zu geben und auf diese Weise ihr neues Heim bis in die Ewigkeit zu schützen. Im Wetter liegt der Schlüssel. Sie webt Magie wie einen Wandteppich, verbindet olkische und doranische Macht zu einem einzigen Tuch. Dieser Faden für Regen, jener Faden für Schnee. Hier die Farbe von Sonnenschein, dort die Schatten des Windes. Die Macht baut sich auf, speist sich in die Mauer, die sie schafft, fließt aus der Mauer in die fruchtbare Erde und wieder zurück in die Mauer hinein. Es ist ein endloser Kreislauf von Geben und Nehmen, Auffüllen und Abziehen und abermaligem Wiederauffüllen. Ein nimmer endender Akt, der ein endloses Opfer verlangt. Und in seinem Herzen steht der Wettermacher, das lebende Rohr von Macht und Schmerz. Der Wettermacher ist der Weber, und die voneinander getrennten, zarten Garnstränge fädeln sich durch zerbrechliche Finger aus Fleisch und Knochen. Der Wettermacher kontrolliert die Magie, ist die Magie, webt den Wandteppich. Speist die Mauer. Schafft stetig neu und hält das Gleichgewicht zwischen olkischen und doranischen Kräften. Und wehe Barls geliebtem Königreich, sollte der Wettermacher einen Faden durchtrennen…

Morg öffnete die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, wie man atmete. Blinzelte und blinzelte und blinzelte abermals, bis die Wetterkammer wieder ihre vertrauten harten Linien annahm. Vor ihm pulsierte die Karte des Königreichs, ihr schlagendes, verletzbares Herz.

Das zu zerquetschen er jetzt die Möglichkeit hatte.

Da die gestohlene Wettermagie nur unvollständig war, würde er gezwungen sein, langsam vorzugehen. Folter! Nach endloser Wartezeit sehnte er sich danach, Barls Mauer mit Zähnen und Klauen in Stücke zu reißen. Seine Macht in ihre Gedärme zu schlagen und sie auszuweiden wie ein Kaninchen. Über die magiedurchtränkte Modellkarte herzufallen und sie mit den Fäusten zu zersplittern. Sie mit den Füßen zu zermalmen.

Aber nein. Gefangen im Fleisch und ohne Zugang zu haben zu seinen uneingeschränkten Kräften und ihren vollständigen Beschwörungen, musste er nach wie vor warten. Er musste den Wandteppich seiner lieben Barl langsam, einen klebrigen Faden nach dem anderen, auseinanderzupfen. Musste noch ein Weilchen länger warten, bis er mit dem Besten und Größten seiner selbst wiedervereint wurde, jenem Teil seiner selbst, der jenseits der Mauer schwebte. Morg lächelte und besänftigte sich. Geduld… Geduld… Was bedeuteten nach diesen sechs Jahrhunderten noch einige weitere Wochen?

Als die Stunde kam, das kleine Steinhaus zu verlassen und nach Dorana und zu Ashers Rettung aufzubrechen, war Dathne beinahe taub von Müdigkeit und Furcht. Erfüllt mit Übelkeit erregendem Grauen hatte sie an Timon Spake und die Orriswurzel gedacht, während sie in der Küche gesessen und Veira dabei beobachtet hatte, wie sie ihren giftigen Trank zusammenbraute. Sieben verschiedene Pflanzen wurden benutzt: Drögel, Hexenauge, Lanzin, Hundsgift und Blutkraut kannte sie; die anderen drei hatte sie noch nie zuvor gesehen, und sie wagte es auch nicht, danach zu fragen. Ein falsches Wort, und sie wusste, dass Veira sie aus der Küche verbannen würde. Und dies war etwas, das die alte Frau nicht allein tun sollte, obwohl sie keine Hilfe annehmen wollte und Dathne nur stumm und mitfühlend dasitzen konnte. Sobald das Gift gemischt war, goss Veira es vorsichtig in einen kleinen Krug, verschloss ihn mit einem Stöpsel und wickelte ihn in zwei Tücher, falls etwas von seinem Inhalt verschüttet wurde. Dann schaffte sie die Überreste der Pflanzen fort und brach abermals in den Wald auf. Da Matt noch immer draußen herumwerkelte und keine Hilfe benötigte, wie er sagte, ging Dathne wieder hinein, nahm sich ein Buch aus einem von Veiras überfüllten Regalen und zog sich damit in einen Sessel zurück.

Aber sie konnte nicht lesen. Ihre Hand wanderte immer wieder zu ihrem Bauch, und ihre Gedanken konnten sich nicht von dem Wunder abwenden – dem Fehler, was immer Veira auch sagen mochte –, das jetzt tief in ihr heranwuchs. Ein Baby… ein Baby… ein Baby…

Was dachte die Prophezeiung sich nur?

Was dachte sie?

Als Jervales Erbin hatte sie nie damit gerechnet, Mutter zu werden. Nicht einmal Ehefrau, angesichts der Gefährlichkeit des Lebens, das sie führte. Die letzte verheiratete Erbin war vor fast zweihundert Jahren unglücklich gestorben; Dathne hatte sich diese Lektion zu Herzen genommen und geschworen, weder sich selbst noch ihre Pflicht jemals im Namen frivoler Liebe zusätzlich zu gefährden.

Aber dann war Asher gekommen, und plötzlich war die Liebe nicht mehr so frivol erschienen. Die Liebe war ohne Vorwarnung so notwendig geworden wie Luft zum Atmen.

Würde er sich freuen, wenn er entdeckte, dass er bald Vater werden würde? Würde sie überhaupt die Chance haben, es ihm zu sagen? Wenn dieser Rettungsversuch scheiterte, wenn das Böse triumphierte …

Nein. Sie weigerte sich, sich von Zweifeln berühren zu lassen. Sie würden Asher unversehrt retten – die Prophezeiung würde nichts anderes zulassen. Sie hatte ihn gesehen, und er würde ihr die Lügen und das Schweigen verzeihen, und wenn seine Arbeit für die Prophezeiung getan war, würden sie sich irgendwo niederlassen und in dem brandneuen Lur, bei dessen Schaffung sie geholfen hatten, eine Familie sein.

Tränen brannten in ihren Augen und trübten ihre Sicht. Sie würde ein Baby bekommen.

Draußen vor dem Haus wurden die Schatten länger. Die Abenddämmerung senkte sich über das Land. Matt kam auf der Suche nach etwas Essbarem herein. Sie stellte das Buch wieder auf das Regal und gab Matt einige Karotten zu schälen. Veira kehrte mit zwei frischen Kaninchen zurück, die bereits ausgeweidet und gehäutet waren. Sie machte sich daran, sie in Butter und Salbei zu braten, und so brach die Nacht herein.

Nachdem sie gegessen und den Abwasch erledigt hatten, erklärte Veira, dass sie um Mitternacht aufbrechen würden, dann zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Matt ging ebenfalls in sein Zimmer. Dathne setzte sich abermals ins Wohnzimmer, um zu lesen, gab den Versuch auf und blies die Laterne aus, um ein wenig zu schlafen, bevor sie aufbrechen mussten.

Der Schlaf entzog sich ihr. Ob mit geöffneten oder geschlossenen Augen, sie konnte nur diese Giftflasche sehen und den Ausdruck auf Veiras Gesicht, als sie sie verschlossen hatte. Schrecklicher Kummer. Furchtbare Entschlossenheit. Um Asher zu retten, musste jemand sterben.

Der Gedanke war entsetzlich und verfolgte sie so unbarmherzig, dass sie alle Hoffnung auf Schlaf aufgab und stattdessen in die Küche zurückkehrte. Veira packte gerade Brot, Käse und Kekse in einen grob gewebten Korb. »Da bist du ja, Kind. Ich wollte dich gerade wecken. Matt ist draußen und schirrt Bessie an.«

»Gut«, sagte sie und hielt Ausschau nach einem Becher. »Haben wir noch Zeit für eine Tasse Tee?«

Sie nahm einen Anflug von Zögern bei der alten Frau wahr, während Veira in der Schublade nach einem Brotmesser suchte. »Nicht für mich und Matthias. Wir müssen in der nächsten Viertelstunde aufbrechen.«

Sie blickte auf. »Das muss ich ebenfalls.«

Veira richtete sich, das Messer in der Hand, auf und schüttelte den Kopf. »Nein, Dathne. Du bleibst hier.«

»Hier? Ich denke, nicht! Ich soll allein bleiben, während du und Matt alle Risiken einer Rettung auf euch nehmt?«

»Du wirst nicht allein sein«, entgegnete Veira. »Du wirst die Schweine zur Gesellschaft haben. Und die Hühner ebenfalls. Vergiss nicht, sie zu füttern, oder sie werden mächtigen Lärm schlagen. Es gibt nur wenige Geschöpfe, die so reizbar sind wie Schweine und Hühner, wenn man sie zwingt, ohne ihr Abendessen ins Bett zu gehen.«

»Veira!«

»Es ist zu gefährlich, Kind. Du weißt, dass sie nach dir suchen werden.« »Und nach Matt!«, protestierte sie. »Aber wenn er in die Stadt zurückkehrt, warum kann ich es dann nicht?«

Veira atmete tief durch und schob das Brotmesser in den Korb. »Es ist besser, wenn du hierbleibst. Ich habe ein kleines Kunststück eingeübt, um die Wachen daran zu hindern, Matthias zu entdecken. Aber ich bin nicht stark genug, um das für euch beide zu tun.«

»Dann zeig es mir, und ich werde es selbst tun!«

»Nein«, sagte Veira entschieden und packte weiter den Korb.

»Nein?«, wiederholte sie und spürte, wie Zorn in ihr aufbrandete. »Ich bin Jervales Erbin! Du sagst nicht ›nein‹ zu mir, alte Frau!«

Die Küchentür wurde geöffnet, und Matt trat ein. »Hadere nicht mit ihr, Dathne. Wenn sie sagt, dass du nicht mitkommen darfst, dann akzeptier es einfach.« Sie drehte sich mit giftiger Miene zu ihm um. »Nicht ohne einen verdammt guten Grund!«

Dies trug ihr einen sengenden Blick von Veira ein. »Ich sage es, und das ist Grund genug! Du magst Jervales Erbin sein, aber die Prophezeiung hat dich hierhergebracht, und hier habe ich das Sagen! Also halt den Mund, wenn du nichts Nützliches damit anzufangen weißt, und pack die restlichen Dinge in diesen Korb. Es ist eine lange Reise zurück in die Stadt, und wir werden keine Zeit haben, um unterwegs Halt zu machen.«

Nach diesen Worten stolzierte Veira aus der Küche. Leise fluchend warf Dathne Kekse und Früchtebrötchen aus ihrer Dose auf ein sauberes Tuch und dann in den Korb. Anschließend nahm sie die hartgekochten Eier aus dem Topf auf dem Herd und warf sie hinterher. Da ihr heiß bewusst war, dass man sie beobachtete, schaute sie auf und begegnete Matts verständnisvollem Blick.

»Veira hat Recht«, sagte er; er stand immer noch in der Tür und ließ die kalte Luft herein. »Sie ist die Hüterin des Zirkels. Wir müssen uns von ihr leiten lassen, ganz gleich, wie hart das ist.«

»Veira ist ein tyrannischer alter Besen, und versuch nicht, mir etwas anderes zu erzählen!«

Um seine Lippen zuckte ein winziges Lächeln. »Tatsächlich erinnert sie mich an dich.«

»Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt?«

Er seufzte. »Nein. Also werde ich sie dir auch nicht geben. Und da der Wagen fertig beladen ist, gehe ich jetzt Bessie anschirren.«

»Schön«, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während die Tür hinter ihm zufiel. »Ich hoffe, sie steht auf all deinen Zehen und bricht sie.« »Kein sehr freundlicher Wunsch, Kind«, tadelte Veira sie aus der offenen Tür. Sie hatte einen wattierten, dunkelblauen Mantel überm Arm. »Du bist diesem jungen Mann gegenüber viel zu rücksichtslos.«

Dathne spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. »Er hat breite Schultern«, verteidigte sie sich. »Er kann ein paar harte Worte von mir aushalten.« »Es geht nicht darum, ob er es kann«, versetzte Veira. »Es geht darum, ob er es sollte, und wir beide kennen die Antwort auf diese Frage.«

Dathne ließ den Korb stehen und warf sich auf den nächstbesten Küchenstuhl, von wo aus sie beobachtete, wie Veira den Mantel niederlegte und nach der eingewickelten Giftflasche griff. Der Gesichtsausdruck der alten Frau war unerträglich traurig.

Plötzlich war aller Ärger erloschen. »Veira… nimm das nicht mit. Rette Asher ohne das Gift.«

»Das können wir nicht«, sagte Veira, ohne sich umzudrehen. »Genauso muss es sein. Ein Leben… für ein anderes.«

»Warum? Es ist Mord!«

Drei von Veiras Haarnadeln lösten sich. Sie legte das Gift beiseite und steckte die Nadeln wieder fest. »Es ist ein Opfer. Das ist ein Unterschied.«

»Es würde Asher nicht gefallen, was du vorhast, Veira. Er würde so nicht gerettet werden wollen. Ich kenne ihn, und er würde es nicht wollen!«

Veira drehte sich um, und auf ihrem freundlichen, runzeligen Gesicht stand jetzt harte Entschlossenheit. »Es kümmert mich nicht, was er will, Kind. Oder was du willst. Hier geht es um die Prophezeiung, nicht um persönliche Wünsche. Du magst das vergessen haben, aber andere haben es nicht vergessen.« Der Tadel kam unerwartet; einen Moment lang konnte sie kaum atmen, geschweige denn sprechen. »Das ist ungerecht.«

Ein geringschätziges Schnauben. »Das Leben ist ungerecht, Kind.« Was bedauerlicherweise der Wahrheit entsprach. Sie griff ihren ursprünglichen Einwand wieder auf. »Als Jervales Erbin sollte ich Euch begleiten. Bitte, Veira, zwing mich nicht zurückzubleiben!«

Veira schüttelte den Kopf. »Du wirst hierbleiben, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Ein weiterer Einwand war so, als befehle man einem Baum, nicht zu wachsen, oder der Sonne, verkehrt herum über den Himmel zu wandern: sinnlos. Doch das hinderte sie nicht daran, es zu versuchen. »Aber Veira, ich muss dort sein. Asher wird dir oder Matt vielleicht nicht vertrauen. Mir wird er vertrauen.« Veira trat mit einem scharfen Seufzer einen Schritt näher. »Kind, Kind, deine Gefühle benebeln deinen Verstand. Welche kluge Haus frau legt all ihre Eier in einen einzigen Korb? Sollte dieser Rettungsversuch scheitern, sollten wir entdeckt oder die Prophezeiung durch die Dunkelheit, die unsere Niederlage will, durchkreuzt werden, musst du die Trümmer des Zirkels zusammenflicken. Dann musst du sowohl die Erbin als auch die Hüterin sein. In meinem Schlafzimmer, auf meiner Ankleidekommode, habe ich dir Anwei– sungen hinterlassen. Sollte es zum Schlimmsten kommen, befolge sie aufs Wort. Tu, was du kannst, um so viele wie möglich zu retten. Dich selbst zu retten. Dein Kind zur Welt zu bringen. Denn auch das Kind ist ein Teil der Pläne der Prophezeiung und hat zweifellos ein großes Schicksal, dessen Ziel wir noch nicht kennen.«

Ohne jede Vorwarnung kamen Dathne die Tränen. »Verdammt …« Auch Veiras Augen waren feucht. »Du darfst deinen Glauben nicht verlieren, Kind. Vertraue auf die Prophezeiung. Matthias, Rafel und ich werden es schon schaffen, dir deinen Asher wiederzubringen.«

»Rafel?«, flüsterte sie.

Veira nickte. »Der Mann, den wir unterwegs treffen werden.«

Der Mann, der schon bald sterben würde. Hatte sie wirklich einen Namen wissen wollen? Ja, aber jetzt bedauerte sie, ihn erfahren zu haben. Namen waren real. Namen gehörten den Lebenden und erinnerten an die Toten. Unsicher zog sie sich auf die Füße. »Wenn ihr diesen Rafel erreicht, sagt ihm, dass ich ihm dankbar bin. Sagt ihm, dass es mir leidtut. Sagt ihm, ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben.«

Feierlich und voller Trauer streckte Veira eine Hand aus und strich ihr mit kalten Fingern über die Wange. »Das werde ich tun, Kind. Und ich werde für uns alle sprechen.«

Dathne wirkte so verloren, so mutlos, als sie ihnen vom vorderen Tor aus zum Abschied nachwinkte, dass Matt Veira beinahe gebeten hätte, ihre Meinung noch einmal zu überdenken und sie doch mitkommen zu lassen.

Aber nur beinahe. Denn in Wahrheit war er froh darüber, dass sie nicht mitkam, sondern sicher im Herzen des Schwarzen Waldes zurückblieb, wo ihr nichts zustoßen konnte, falls dieser verrückte Plan zu Ashers Rettung doch scheiterte – was höchstwahrscheinlich der Fall sein würde. Gleichermaßen tief versunken in Decken und Schweigen, saß Veira neben ihm auf dem Bock des kleinen Wagens. Sie hatte ihm die Zügel überlassen. Bessie, ein gutmütiges Tier, schien es recht zufrieden zu sein, sich in die Dunkelheit hinauszuwagen. Das Fahren kostete praktisch keine Mühe; ein gelegentliches Zungenschnalzen und Klatschen mit den Zügeln genügte, um sie die verlassene Straße entlang traben zu lassen. Er bedauerte diesen Umstand. Wenn er sich mehr auf das Fahren hätte konzentrieren müssen, hätte er weniger Zeit gehabt, um über Dinge nachzudenken, von denen er lieber nichts wissen wollte. Veira hatte die Einzelheiten dieser Reise noch immer nicht preisgegeben. Sie hatte lediglich gesagt, dass sie ohne Pause reisen würden, bis sie Dorana erreichten. Sie würden unterwegs lediglich jemanden vom Zirkel auflesen. Jemanden, bei dem er, wie er vermutete, keine Chance haben würde, ihn gründlicher kennen zu lernen.

Es war nur eins von vielen Dingen, über die er nicht nachdenken wollte. Langsam und stetig bezwangen sie Meile um Meile. Die Nacht wurde kälter, während sich der Sonnenaufgang näherte, und er legte sich eine zusätzliche Decke um die Schultern. Er hielt auch die Zügel nur in einer Hand, sodass er die andere unter der Achsel wärmen konnte, und wechselte die Hände von Zeit zu Zeit.

Schließlich kam der Morgen. Veira holte etwas zu essen aus dem Korb. Sie hatten inzwischen einen großen Teil der Schwarzwaldstraße hinter sich gebracht. Jetzt weideten zu beiden Seiten des Weges Schafe, und Kaninchen mit weißen Schwänzen huschten umher. Davon abgesehen waren sie jedoch nach wie vor noch keiner Menschenseele begegnet. Veira schickte ihn auf die Ladefläche des Wagens, um sich auszustrecken und zu schlafen. Nur allzu glücklich, ihr zu gehorchen, legte er sich nieder, hüllte sich in die Decken und versank in einen traumlosen Schlummer.

Kurze Zeit später weckte sie ihn, und er richtete sich auf, steif und gähnend. Sie machten lange genug Halt, um abwechselnd hinter einigen Büschen zu verschwinden, noch ein wenig zu essen und dem Pony eine kurze Rast zu erlauben, dann setzten sie ihre Reise fort.

Es war fast zehn Uhr, als sie die Kreuzung mit der Weststraße erreichten, wo geduldig ein Mann stand, der die Augen mit der Hand beschattete und in ihre Richtung blickte. Zuerst dachte Matt lächerlicherweise, es sei Asher, und seine Hände krampften sich fester um die Zügel.

Veira, die mit halb geschlossenen Augen dösend neben ihm saß, klopfte ihm aufs Knie und sagte: »Nein. Er ist es nicht. Aber vom Aussehen her könnte er es sein.« Er nickte, überwältigt von plötzlicher Übelkeit. Langsam ahnte er, worauf es bei dieser Rettung hinauslief. »Und das ist der Grund, warum du ihn erwählt hast?« »Die Prophezeiung hat ihn erwählt, Matthias. Nicht ich.« Veira seufzte. »Gefriert dir manchmal das Blut, wenn du darüber nachdenkst? Dass wir in ernsten Schwierigkeiten stecken und eine Art Wunder brauchen – und hier ist ein junger Mann, der einem anderen jungen Mann so sehr ähnelt, dass er sein Spiegelbild oder ein Bruder sein könnte und dass er einer von uns ist und bereit zu sagen: ›Ich werde tun, was notwendig ist‹?«

Er schluckte Galle. »Alles an dieser Angelegenheit lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich bezweifle, dass Staunen der Grund ist. Wie gut kennst du ihn, diesen jungen Mann?«

Veira brauchte ein Weilchen, um zu antworten. Sie strich mit den Fingern über die Ärmel ihres wattierten Mantels, schob sich das Haar hinter die Ohren und zog es wieder hervor. Dann kaute sie an einem abgerissenen Fingernagel und machte es damit nur schlimmer. Er wartete, nicht geduldig, aber wohl wissend, dass er keine andere Wahl hatte.

»Sein Name ist Rafel, und ich kenne ihn recht gut. Seine Mutter war meine jüngste Schwester«, sagte Veira schließlich und mit einem neuerlichen Seufzen. »Als zuerst Timon Spake und dann sein Vater, Edvord, starben, benötigte der Zirkel ein neues Mitglied. Die Prophezeiung zeigte auf Rafel.«

Erschrocken starrte er sie an. »Und du hast gehorcht? Dieser Mann ist dein eigen Fleisch und Blut, Veira. Und in deiner Tasche trägst du…«

Der Seitenblick, mit dem sie ihn bedachte, war trostlos und tadelnd. »Ich weiß, was er ist, Matthias, und was ich bei mir trage. Er weiß es ebenfalls, und er ist durchaus bereit, dies hier zu tun.«

»Und du?«, flüsterte er. »Wie bereit bist du, Veira, ihn zu töten…« »Sei still!«, befahl sie. »Verstehst du immer noch nicht? Der Prophezeiung muss ohne Furcht oder Zaudern gedient werden, oder man kann ihr überhaupt nicht dienen. Hast du gedacht, dies hier würde leicht werden? Hast du gedacht, wir würden unseren Unschuldigen Magier retten, ohne einen Preis dafür zu zahlen?« Er legte die Finger um ihr Handgelenk und schob sie sachte von sich. »Ich habe nicht gedacht, dass der Preis so hoch sein würde.«

»Dann bist du ein Narr, Matthias, und ich frage mich, ob du mir überhaupt von Nutzen sein kannst!«, gab sie zurück.

In ihren Augen standen Tränen. Als er sie sah, fühlte er sich beschämt. Er war ein Narr zu glauben, sie wüsste nicht, was sie tat, zu glauben, sie sei blind gegen die Konsequenzen ihrer Handlungen. Sie hatte länger damit gelebt, als er auf der Welt war. Er griff nach ihrer Hand und küsste sie.

»Es tut mir leid. Ich werde nicht noch einmal an dir zweifeln.«

Diese Bemerkung entlockte ihr ein Lächeln. »Natürlich wirst du das tun. Ich denke, das ist der Grund, warum die Prophezeiung dich erwählt hat. Es ist deine Aufgabe, und du erfüllst sie gut. Aber nun still. Rafel ist nahe genug, um uns zu hören, und er soll nicht sehen, dass wir miteinander streiten. Was in Dorana auf ihn wartet, wird hart genug sein. Er soll nicht denken, dass uns irgendetwas anderes bewegt als das Geschenk, das uns zu machen er sich bereiterklärt hat.« Rafel, der Asher auf so unheimliche Weise ähnelte und der ein Blutsverwandter von Veira war, wirkte bemerkenswert wohlgelaunt für einen Mann, der in den Tod ging. Aus der Nähe konnte Matt erkennen, dass er vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als Asher war und nicht gar so muskulös. Er fragte sich, ob das einen Unterschied machen würde. Rafel schwang sich mitsamt seinem Rucksack mühelos in den Wagen, nachdem sie neben ihm stehen geblieben waren, und nahm hinter dem Fahrersitz Platz. Veira küsste ihn mit ernster Miene auf die Wange. »Rafel.« Er nickte, und in seinen Augen stand ein warmer Ausdruck der Zuneigung. »Veira.« »Du bist bereit?«

»Ich bin bereit.« Er hatte eine klare, helle Stimme. Ganz anders als die von Asher, die eher ein heiseres Knurren war. Keine seiner Augenbrauen war vernarbt. Hoffentlich hatte Veira eine Schere mitgebracht, um einige schnelle Korrekturen vorzunehmen. »Also. Weißt du schon, wie…«

Sie drückte einen Finger auf seine Lippen. »Lass uns im Moment nicht darüber nachdenken. Es ist besser, wenn du die Einzelheiten erst dann erfährst, wenn du sie brauchst.«

Sein Lächeln war schnell und schief. »Vielleicht hast du Recht.«

Matt wusste, dass er ihn anstarrte, aber er konnte nicht dagegen an. »Ich bin Matt.«

»Es freut mich, einen anderen Zirkler kennen zu lernen, Matt.«

Zögernd schüttelte er Rafels dargebotene Hand. »Die Freude ist ganz meinerseits.«

»Hast du Hunger, Rafel?«, fragte Veira. »Gib mir die Zügel, Matthias, und hol etwas zu essen aus dem Korb. Ich werde ein Ei nehmen. Gepellt, wenn du so lieb sein möchtest.«

Also gab er Bessies Zügel an die alte Frau weiter und schälte ihnen beiden ein Ei. Eins bot er Rafel an, doch dieser lehnte ab.

»Eigenartige Zeiten«, sagte der junge Mann kopfschüttelnd. »Ich hätte nie gedacht, dass ich sie erleben würde.«

»Keiner von uns hat damit gerechnet, Rafel«, erwiderte Veira bekümmert und leckte etwas Salz von ihren Fingern. »Aber das ist der Grund, warum wir hier sind. Warum der Zirkel gegründet wurde. Früher oder später mussten diese Tage anbrechen.«

»Das ist wahr«, pflichtete Rafel ihr bei. Für eine Weile herrschte lastendes Schweigen, bis er es schließlich brach und fragte: »Und er ist es wirklich? Der Unschuldige Magier?«

»Ja, Rafel«, sagte Veira. »Er ist es wirklich.«

Matts Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt. Er konnte sich nicht vorstellen, was dieser junge Mann empfinden musste, ebenso wenig wie er das Ausmaß seines Mutes erahnen konnte. Seiner Ehrenhaftigkeit. Er drehte sich ein wenig zur Seite, sodass er in dieses beunruhigende Gesicht blicken konnte, dann sagte er: »Ich würde dir gern danken, Rafel.«

Der junge Mann betrachtete die an ihnen vorübergleitende, sonnenbeschienene Landschaft. »Das ist nicht nötig. Wir sind alle für verschiedene Aufgaben geboren worden. Dies ist meine.«

»Es ist durchaus nötig. Asher – der Unschuldige Magier – ist mein Freund«, erwiderte Matt. »Du rettest meinen Freund. Ich wollte, dass du das weißt, mehr nicht.«

»Ah«, sagte Rafel und lächelte. »Das ist gut. Das ist schön. Es ist eine großartige Sache, ein Königreich zu retten, aber es fühlt sich eine Spur unpersönlich an. Aber ich rette deinen Freund. Das bedeutet viel.«

»Man wird dich nicht vergessen«, sprach Matt weiter. »Er wird dich nicht vergessen, auch wenn ihr einander niemals begegnen werdet.«

»Niemand wird unseren Rafel vergessen«, erklärte Veira mit einem warnenden Unterton in der Stimme. »Ich werde das Pony jetzt übernehmen, Matthias. Du kannst derweil noch einmal in diesem Korb kramen und mir ein Stück süßen Pflaumenkuchen heraussuchen. Und von hier an, denke ich, sollten wir uns daran gewöhnen, dich mit einem anderen Namen anzusprechen. Es hat keinen Sinn herauszuposaunen, wer du bist.«

»Es ist einfach, meinen Namen zu ändern«, sagte Matt. »Aber was ist mit meinem Gesicht? Ich bin in der Stadt wohlbekannt.

Selbst mit einem Kapuzenumhang und bei Dunkelheit besteht das Risiko, dass man mich erkennt. Ich habe gehört, wie du Dathne erzählt hast, dass du dir irgendetwas überlegt hast, um diese Schwierigkeit zu meistern?«

Veira nickte. »So ist es. Aber ich werde noch ein Weilchen warten, bevor ich diese Trumpfkarte ausspiele. Ich bin mir nicht sicher, wie lange die Wirkung halten wird.«

Das klang nicht gerade ermutigend, doch sie wirkte so traurig, dass er es nicht übers Herz brachte, weiter in sie zu dringen. »Was immer deiner Meinung nach das Beste ist, Veira.«

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Ich denke, Pflaumenkuchen wäre das Beste. Habe ich das nicht gesagt? Du bist ein wenig jung, um taub zu sein, oder?« Während Rafel kicherte und Veira die Gekränkte spielte, reichte Matt ihr die Zügel und nahm den Korb auf den Schoß. »Bitteschön, Herrin«, erwiderte er mit geheuchelter Unterwürfigkeit und reichte ihr einen feuchten Klumpen Kuchen. »Oh, danke, Meister… Meister…« Sie schürzte die Lippen, während sie darüber nachsann. »Maklin, denke ich«, beendete sie ihren Satz schließlich. »Ich habe einmal einen Maklin gekannt. Ein rechter Narr, der Mann, und eindeutig schwerhörig.«

Matt schluckte ein Schnauben herunter, tauschte einen erheiterten Blick mit Rafel und nahm Veira die Zügel wieder ab, damit sie sich ihren Kuchen schmecken lassen konnte.

Darran war eifrig damit beschäftigt, das Treppenhausgeländer zu wienern, als Willer in den Turm zurückkehrte. Die Türen der Eingangshalle wurden ohne auch nur ein Klopfen aufgerissen, und der abscheuliche kleine Mann, der nach Arroganz und Selbstherrlichkeit stank, kam hereingeschlendert.

Darran warf sein Poliertuch beiseite und machte sich nicht die Mühe, seine Verachtung zu verbergen. »In Barls süßem Namen, Willer, was wollt Ihr jetzt? Wir haben Euch Durms Bücher samt und sonders ausgehändigt, das verspreche ich!«

»Ich habe eine Nachricht für Gar«, sagte Willer grinsend. »Von Seiner Majestät, König Conroyd.«

Er hätte dem blasierten Gesicht vor ihm um ein Haar einen Schlag versetzt und musste hinterm Rücken die Finger ineinander–krallen, um sich daran zu hindern. »Nicht Gar«, erwiderte er eisig. »Seine Königliche Hoheit, der Prinz. Wenn Ihr ihn noch einmal wie einen gewöhnlichen Mann beim Vornamen nennt, werdet Ihr es bereuen.«

Willers Augen zogen sich zu hässlichen Schlitzen zusammen. »Wenn Ihr mir noch einmal droht, wird das Euer Ende sein«, zischte er. »Bolliton spielt keine Rolle mehr. Ihr seid ein alter Mann, der in Diensten eines mittellosen, irregeleiteten, verkrüppelten Ausgestoßenen steht, während ich der persönliche Gehilfe des Königs bin. Sein starker rechter Arm. Sein vertrauter Gefährte.« »Ihr meint, sein Lakai«, höhnte Darran. »Sein katzbuckelnder Laufbursche. Also, was ist nun mit der Nachricht? Gebt sie mir, und ich werde sie Seiner Hoheit bringen.«

Will schob sich an ihm vorbei. »Ich werde mich selbst darum kümmern. Tretet beiseite, alte Krähe. Mischt Euch nicht in die Angelegenheiten des Königs ein, es sei denn, Ihr hättet Lust, Ashers kaltes Stroh zu teilen.«

Darran versperrte ihm den Weg und beugte sich vor. »Seine Hoheit schläft, und ich werde nicht zulassen, dass er geweckt wird. Nicht von Euresgleichen. Und was Drohungen betrifft, Willer? Ich mache keine Drohungen. Nur dieses Versprechen. Peinigt meinen Prinzen über Gebühr – verursacht ihm nur für einen Herzschlag weiteren Schmerz –, und Ihr werdet nie wieder einen Tag Frieden haben. Ich werde Euch vernichten, und niemand wird mir dafür auch nur ein Haar krümmen.«

Was immer Willer in diesem Moment in seinem Gesicht sah, es musste überzeugend gewesen sein. Der kleine Wurm wurde totenbleich und trat einen Schritt zurück. »Also schön. Überbringt ihm die Nachricht selbst, mir ist es gleich. Seine Majestät befiehlt, dass Prinz Gar an der Hinrichtung des Verräters Asher teilnimmt. Heute Abend, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wird eine Kutsche vorfahren. Der Prinz wäre gut beraten, pünktlich zur Stelle zu sein.« »Ich werde Seine Hoheit davon in Kenntnis setzen«, sagte Darran. »Und nun verschwindet.«

Noch lange nach Willers verschnupftem Abgang stand Darran in der Halle und fühlte sich krank. Fühlte sich alt und hilflos. Dann ging er, weil eine Verzögerung fruchtlos war, die Treppe zu Gars Gemächern hinauf und betete, dass er nicht weinen würde.

»Was gibt es?«, fragte Gar, ohne von Barls Tagebuch aufzublicken. Er war über und über voller Tinte: Seine Finger, sein Gesicht. Sein Haar durchzogen blaue Strähnen. Er hatte sich die Hände an seinem hübschen, rosafarbenen Seidenwams abgewischt und es für immer verdorben. Auf dem Schreibtisch lagen vollgekritzelte Blätter, und der Boden war übersät von beiseitegeworfenen Notizen. Er wirkte so angespannt wie ein Stück Draht.

Darran, der in der Tür stehen geblieben war und Angst hatte, näher heranzutreten, räusperte sich. »Eine Nachricht, Herr. Von Seiner Majestät.« Gar schrieb weiter, während er mit einem tintenbeschmierten Finger eine Zeile in dem Tagebuch verfolgte. »Ich bin beschäftigt. Erzählt es mir später«, erwiderte er mit gerunzelter Stirn.

»Ich denke, Herr«, sagte er vorsichtig, »ich sollte es Euch sofort erzählen.« »Dann tut es und geht weg! Seht Ihr nicht, was ich tue?«

Darran erzählte es ihm. Schnell, um es hinter sich zu bringen. Dann beobachtete er voller Widerstreben, wie Gar langsam die Bosheit von Jarralts Befehl aufging. Die Finger des Prinzen begannen zu zittern, und er ließ die Feder fallen. »Aha«, murmelte er ins Leere starrend. »Es ist nicht genug, dass ich ihn verdamme. Ich muss ihn auch sterben sehen. Oh, Conroyd, Conroyd… Hasst Ihr uns wirklich so sehr?«

Darran zog sich zurück und schloss die Tür, bevor es ihm unmöglich wurde, so zu tun, als habe er Gars Trauer nicht bemerkt.

Bis zum frühen Nachmittag hatte Bessie sie mit ihrem gleichmäßigen Trab ohne Zwischenfall bis zu der Abzweigung auf die Hauptstraße der Stadt gebracht. Jetzt herrschte durchaus Verkehr. Kutschen, Einspänner und Sattelpferde mit Olken, die sich alle in einem steten Strom in Richtung Dorana bewegten. Matt, dem inzwischen der Rücken schmerzte, starrte sie an, und immer wieder durchzuckte ihn zorniges Entsetzen. »Was ist nur los mit ihnen?«, fragte er Veira leise. »Wissen sie nicht, dass das, was sie sehen werden, Blutvergießen und Mord ist?«

»Ein vom Gesetz abgesegneter Mord«, sagte Veira. »Das ist ein Unterschied.« »Was für ein Unterschied?«, gab er zurück. »Ist das Blut, das vergossen wird, nicht genauso rot?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist überhaupt nicht rot, Meister Maklin. Es ist schwarz. So schwarz wie das Herz des bösen Mannes, der stirbt.« »Das glaubst du nicht wirklich!«

»Natürlich nicht. Aber sie glauben es.« Sie tätschelte sein Knie. »Sie müssen es glauben. Wenn sie sich auch nur für einen Moment gestatten würden zu denken, dass dies kein… nun. Die Menschen betten des Nachts gern einen sorglosen Kopf auf ihr Kissen, nicht wahr? Und für uns Olken ist es noch schwerer. Wenn wir einen Mann, der sich an Magie versucht hat, nicht verurteilen, könnten wir geradeso gut laut herausschreien, dass wir es gern selbst versuchen würden.« Es machte ihn so wütend, dass er ohne weiteres seinerseits hätte schreien mögen. Hinter ihnen, auf der Ladefläche des Karrens, schnarchte Rafel leise, zusammengerollt unter einer Decke. Es hatte keinen Sinn; er musste fragen. »Wenn die Zeit kommt, Veira, wie wirst du es machen?«

»Sanft«, antwortete sie nach einem kurzen Moment des Schweigens. »In dem Gebräu, das ich zusammengemischt habe, finden sich Kräuter, die ihn behutsam auf die Reise schicken werden. Unterm Strich, Matthias, ist es nicht so viel anders als bei einem Hund oder einer Katze, die zu alt sind, um sie noch zu retten.« Nur dass es etwas anderes war, und sie wusste es, und er wusste es. Es war auch nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte, aber er brachte es nicht über sich, weiter in sie zu dringen. Diesmal war er es, der ihr Knie tätschelte, dann griff er ihre Hand und drückte sie. Sie entzog sie ihm nicht.

Er lenkte Bessie auf die Stadtstraße, und schweigend legten sie weitere drei Meilen zurück. Dann sagte er, wobei er noch immer ihre Hand hielt: »Ich mag mich irren, Veira, aber ich fand, dass Dathne nicht ganz sie selbst ist.«

Veira brummte etwas Unverständliches und machte sich daran, in dem Korb nach einem Krümel Kuchen zu stöbern, den sie bei ihren letzten sechs Versuchen übersehen hatte.

»Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hatte sie mehr Farbe in den Wangen«, fügte er hinzu. »Natürlich könnte es einfach an der Sorge liegen…« »Möglicherweise«, pflichtete Veira ihm bei. »Es gibt eine Menge Grund zur Sorge, so viel weiß ich jedenfalls.«

»Und sie hat nichts gegessen.«

»Sorgen können einem den Appetit verschlagen, habe ich mir erzählen lassen.« Verflixte alte Frau. Sie würde es nicht sagen. Wenn er sich seinen Verdacht, was Dathnes Zustand betraf, bestätigen lassen wollte, würde er direkt danach fragen müssen, und selbst dann glaubte er, dass sie wahrscheinlich plötzliche Taubheit vortäuschen würde. Stattdessen entschied er sich für ein anderes Gesprächsthema, eins, das ebenso ärgerlich war. »Wenn wir dies hier schaffen, Veira, wenn dein verrückter Plan funktioniert und wir Asher aus Dorana herausschaffen und er den Kopf noch auf den Schultern trägt –und wir unseren, was das betrifft…«

Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Er wird dankbar sein.« »Für wie lange? Wird er immer noch dankbar sein, wenn er die Wahrheit erfährt und herausfindet, dass wir sie ihm all die Zeit über vorenthalten haben? Wenn er erfährt, dass wir gelogen haben, dass Dathne gelogen hat – und das alles nur, um eine Prophezeiung, von der er noch nie gehört hat, wahr werden zu lassen?« »Er ist der Unschuldige Magier«, sagte Veira grimmig. »Er trägt die Prophezeiung in seinem Blut und seinen Knochen, ob er sie nun kennt oder nicht. Und keine Bange, er wird tun, wofür er geboren wurde.«

Sie war die Hüterin des Zirkels und wusste Dinge, von denen er niemals auch nur gehört hatte, aber trotzdem fühlte er sich gezwungen, ihr zu widersprechen. »Wir waren alle so erpicht auf das, was wir wollen. Wie er in unsere Pläne passt. Aber Veira, was ist mit seinen Plänen, was ist mit der Frage, was er will? Die Magie hat für Asher bisher nichts bedeutet als Elend und Leid. Sieh dir nur an, was sie ihm angetan hat! Ich weiß nicht, ob es genug Dankbarkeit im ganzen Königreich gibt, geschweige denn, im Herzen eines einzigen Mannes, um den Schmerz dieser vergangenen Tage zu dämpfen. Oder seinen Ärger zu löschen, wenn er herausfindet, wie er übertölpelt wurde – und wer dafür verantwortlich ist.«

Er machte sie wütend. Ihre Lippen wurden schmal, und sie ballte die Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten. »Er liebt sie, Matthias.«

»Und sie liebt ihn, ich weiß«, seufzte er. »Aber sie hat ihn belogen, bevor sie ihn geliebt hat, während sie ihn geliebt hat und nachdem sie ihn geliebt hat. Liegt es daran, dass ihr beide Frauen seid, dass ihr nicht sehen könnt, welchen Schlag ihr seinem Stolz versetzen werdet?«

Sie richtete den Blick auf die Kutsche vor ihnen. »Stolz ist ohne Belang, wenn es um die Prophezeiung geht.«

Er schloss den Mund. Es konnte sein, dass sie Recht hatte und er Unrecht. Es konnte sein, dass Asher dies alles gut aufnehmen und die Lügen und die Manipulationen verzeihen würde. Es konnte sein, dass er die Prophezeiung und all ihre rätselhaften Wege ebenso bereitwillig willkommen heißen würde, wie er Dathne willkommen geheißen hatte, als er glaubte, sie sei nur eine Frau, die in einer Buchhandlung arbeitete.

Wenn er es tat, gut und schön. Und wenn er es nicht tat… was konnten sie diesbezüglich unternehmen? Sie lebten ihr Leben in der Gnade der Prophezeiung, und die Prophezeiung würde wie immer wahr werden lassen, was ihr gefiel.

»Wir werden nicht weiter darüber sprechen«, erklärte Veira. »Was geschehen ist, ist geschehen, und es gibt kein Zurück. Warum steigst du nicht rüber zu Rafel und machst ein wenig die Augen zu? Für das, was vor uns liegt, musst du ausgeruht sein.«

»Was ist mit dir? Du brauchst ebenfalls Ruhe, und…«

Er sah ein winziges Aufblitzen weißer Zähne, als sie lächelte. »Und ich bin alt? Durchaus zutreffend, Meister Maklin. Aber ich bin auf die gleiche Weise alt, wie Bessies Geschirrleder alt ist. Zäh, gut gepflegt und schwer zu brechen. Ruh dich aus. Ich werde dich wecken, wenn wir näher bei der Stadt sind und es Zeit wird, unsere Trumpfkarte auszuspielen.« Sie würde ihren Kopf durchsetzen, das war unzweifelhaft, daher stieg er über den Kutschbock in das vollgestopfte Innere des Wagens und versuchte, dabei nicht auf den schnarchenden Rafel zu treten. Wie der Mann schlafen konnte, obwohl er wusste, was auf ihn wartete, war ihm ein Rätsel.

Obwohl sie Recht hatte und er sehr müde war, bezweifelte Matt, dass er schlafen würde. Aber kaum hatte er die Augen geschlossen, um über Veiras Worte nachzudenken, rüttelte die alte Frau ihn auch schon an der Schulter und flüsterte ihm dringend ins Ohr: »Meister Maklin! Meister Maklin, kommt jetzt! Dorana ist in Sicht. Wacht auf, es ist an der Zeit, Euer Gesicht herzurichten.« Sie war hinten im Wagen bei ihm. Er öffnete die Augen, richtete sich auf und sah, dass die Sonne untergegangen war. Das zuckende Licht von Fackeln erhellte den Abend. Vier Fackeln brannten an jeder Ecke ihres Wagens. Rafel, der die Zügel hielt, hatte sie an den Rand der Straße geführt; der Verkehr war nur noch ein dünnes Tröpfeln, und sie waren für den Moment allein. Beleuchtet von Glimmfeuer, glänzten in der Ferne die Mauern der Stadt, die nur noch eine halbe Stunde entfernt waren. Er hatte nicht gedacht, dass er so lange schlafen würde. »Leg dich auf den Rücken, und halt den Kopf unten«, befahl Veira ihm leise. »Und ganz gleich, was geschieht, gib keinen Laut von dir. Dies sollte nicht direkt schmerzhaft sein, aber es könnte ein wenig kribbeln.«

»Warum?«, flüsterte er und ließ sich auf den Boden des Wagens nieder. »Was hast du vor? Was ist das für ein Trick, den du ersonnen hast?«

»Um die Wahrheit zu sagen, mein Lieber, ich bin mir nicht ganz sicher. Etwas, das dein gutes Aussehen ein klein wenig beeinträchtigt, wie ich hoffe.« Sie ging neben ihm in die Hocke. »Jetzt schließ die Augen, und wehr dich nicht. Du musst vollkommen offen sein für dies hier.«

Nervös, aber vertrauensvoll griff er in sich hinein, löste die Fesseln, mit denen er seinen Geist umgeben hatte, verschmolz mit dem Gewebe der Welt um sich herum… und erstickte beinahe an einem Aufschrei des Schmerzes und der Überraschung. Es war so, als atme man Feuer oder Gift ein oder etwas von beidem.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Rafel und blickte über seine Schulter. »Matthias? Matthias!«

Veiras Stimme war ein Anker, etwas, woran er sich festhalten konnte. Er klammerte sich an sie, erfüllt von der verzweifelten Sehnsucht nach der Berührung unversehrten Fleisches unter seinen Fingern. Sein Geist fühlte sich besudelt an, als sei er mit etwas Bösem verseucht worden. Keuchend widerstand er dem Drang, seinen Magen über ihr zu entleeren. »Es ist wieder da! Veira, kannst du es nicht spüren? Dunkel – klebrig – verkommen! Schlimmer, als ich es zuvor gespürt habe. Stärker – beinahe lebendig.« Er presste beide Fäuste auf den Mund, um das Grauen in sich festzuhalten. Dann kämpfte er darum, das Gleichgewicht wiederzufinden, die Gelassenheit, obwohl das Ding, das er im Herzen der Magie Lurs pulsieren spüren konnte, nichts mehr wünschte als Chaos und Zerstörung.

Veira hielt seinen Kopf an ihren Bauch gedrückt und wiegte ihn hin und her. »Es ist alles gut, alles gut, atme nur tief durch, Kind. Sorge dafür, dass du deinen Geist wieder verschließt. Vielleicht ist es lebendig, vielleicht auch nicht, aber wir wollen ihm nicht mit den Händen vorm Gesicht herumwedeln, nicht wahr?« Herzschlag um Herzschlag verebbte das furchtbare Gefühl, und er konnte sich wieder aufrichten. »Das war grauenvoll.«

»So hat es auch ausgesehen«, sagte Rafel erschüttert. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Ich komme schon zurecht.« Er starrte Veira an. »Ich denke, es ist das, wovor die Prophezeiung uns gewarnt hat. Das Ding, gegen das wir in den Letzten Tagen kämpfen müssen.«

Sie verzog das Gesicht. »Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.« »Ich glaube nicht, dass wir dagegen kämpfen können, Veira«, flüsterte er und begann zu zittern. »Nicht dagegen. Es ist zu groß.

Zu schwarz und zu hungrig. Wenn es dies ist, wovon Dathne geträumt hat…« Eine Woge des Abscheus schlug über ihm zusammen. »Ich weiß nicht, wie sie damit leben kann. Ich weiß nicht, warum sie nicht wahnsinnig geworden ist!« »Sie ist Jervales Erbin«, erwiderte Veira. »Es ist das, wofür sie geboren wurde. Und die Rettung Ashers ist es, wofür wir geboren wurden, daher sollten wir uns nun am besten ans Werk machen. Leg dich wieder nieder, Matthias, und diesmal öffne deinen Geist nicht. Ich werde es auf eine andere Weise versuchen.« Widerstrebend tat er wie geheißen. Mit geschlossenen Augen spürte er, wie sie die Finger über seinem Gesicht ausbreitete. Unter ihrer Berührung wurde seine Haut warm. Heiß. Sie begann zu brennen, dann zuckte sie und schien zu sieden. Er konnte sie wimmern hören. Wimmerte selbst ein wenig.

»So«, sagte sie endlich mit erschöpfter Stimme und zog die Hände weg. »Ich nenne es verschleiern, Rafel, was hältst du davon?«

»Jervale rette uns«, sagte Rafel leise und angsterfüllt. »Wie hast du das gemacht? Das ist nicht sein Gesicht!«

»Genau das war der Sinn der Sache«, entgegnete Veira schneidend. »Matthias, kannst du mich hören?«

Er ächzte. »Ja, und sehen kann ich dich auch. Deine Nase blutet. Was hast du mit meinem Gesicht gemacht?«

»Nicht viel«, antwortete sie und angelte ein Taschentuch aus ihrer Tasche. »Ich habe die Möbel ein wenig umsortiert. Und dafür gesorgt, dass niemand in dieser Stadt dich eines zweiten Blickes würdigen wird.«

»Wie? Ich konnte spüren, dass du Energie kanalisiert und mich geformt hast, aber…«

Veira tupfte sich mit dem Taschentuch die Lippen ab und betrachtete stirnrunzelnd die Blutflecken auf dem Baumwollstoff. »Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht ganz sicher, wie es gemacht wird. Die Idee kam mir in einem Traum. Ich habe einige Male an meinem eigenen Gesicht geübt und mir beim Blick in den Spiegel einen gehörigen Schrecken eingejagt. Normalerweise benut– zen wir unsere Magie nicht auf diese Weise, und ich würde es nicht als einen Salontrick empfehlen. Aber für heute Nacht wird es seinen Zweck erfüllen, und das ist alles, was mich interessiert. Rafel? Bring diesen Karren wieder auf die Straße, junger Mann. Auf uns wartet Arbeit.«

Während Rafel ihr gehorchte, richtete Matt sich auf und erkundete mit den Fingerspitzen sein Gesicht. Es war eindeutig… anders. Pockennarbig. Fetter. Seine Lippen fühlten sich gummiartig an, und seine Nase hatte eine eigenartige Form.

Er seufzte. »Hättest du mich nicht gut aussehend machen können?« Veira lachte nur und tätschelte sein Knie.

Den Rest der Reise legten sie in vollkommenem Schweigen zurück. Irgendwann erreichten sie die äußere Steinmauer der Stadt und durchfuhren ihre dunklen Tore. Als sie unerkannt und ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden an Pellen Orricks Wachen vorbeiholperten, verebbte ein wenig von Matts überwältigender Furcht, sodass er wieder atmen konnte.

»Wir haben einen Pferdestall in einem privaten Hof unten beim Viehmarkt reserviert«, erklärte Veira. »Matt, von hier an solltest du besser fahren. Du weißt, wo es langgeht.«

Also nahm er Rafel die Zügel ab und leitete Bessie durch die überfüllten, von Glimmfeuer erhellten Straßen zum Viehmarkt, vorbei an übel riechenden Pferchen mit Ziegen und Schafen und Höfen, auf denen sich Rinder und Pferde dicht zusammendrängten. Schließlich erreichten sie ihr Ziel, einen leeren Doppelstall, der mit einem in der Brise hin und her wehenden grünen Band ge– schmückt war. Mit steifen Gliedern und hungrig schoben sie den Wagen in das Versteck, schirrten das Pony ab und versorgten es mit Heu und Wasser. »Also«, sagte Veira, während sie ihren Beutel auf die Schulter hievte, »ich suche mir jetzt einen Nachttopf, weil meine Blase sonst platzt, und ich wette, euch geht es genauso. Danach gehen wir auf den Marktplatz und machen uns auf eine lange, zermürbende Wartezeit gefasst.«

Matt sah ihr nach, als sie davonstapfte, und fühlte sich plötzlich seltsam taub. Dann drehte er sich zu Rafel um, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen eigenen Rucksack vom Wagen zu nehmen. Nun, warum sollte er auch? Er würde ihn nicht wieder brauchen. »Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte er Veiras gelassen dreinblickenden Neffen. »Es ist noch nicht zu spät, um deine Meinung zu ändern.«

Rafel lächelte ein sanftes, trauriges Lächeln. Es war ganz anders als jedes Lächeln, das er je auf Ashers Gesicht gesehen hatte. »Danke, Matthias. Aber es war schon immer zu spät, um meine Meinung zu ändern.«

Danach gab es nichts mehr zu sagen. Ohne nachzudenken, umarmte Matt ihn. Spürte Rafels Furcht und seinen zitternden Mut. Dann gingen sie Seite an Seite schweigend hinter Veira her.