Die Kälte war das Erste.
Zitternd stand Gar, die Schulterblätter an die schwere Tür des Raums gedrückt, da und hielt die Augen geschlossen. Ein Blick auf diese drei mit Leichentüchern bedeckten Gestalten war genug gewesen. Sie waren hier im Totenraum, aufgebahrt auf schlichten Holztischen. Was sonst musste er wissen? Musste er es wirklich sehen?
Ihre Gesichter, die nicht lächelten. Ihre Lippen, die sich nicht bewegten. Ihre reglosen Körper, die nicht atmeten.
Wenn er es nicht tat, würde er dann jemals glauben, dass dieser Albtraum wahr war? Oder würde er den Rest seines Lebens jeden Morgen aufwachen und denken, nein, nein, es stimmt nicht! Es war nur ein Traum!
Diese Vorstellung war unerträglich. Er musste hinschauen. Ganz gleich, wie schrecklich, wie quälend, wie unaussprechlich die Bilder sein mochten, er musste so lange hinschauen, bis die Wahrheit die Hoffnung überwand. Bis er anfangen konnte, die unausweichlich veränderte Landschaft seines Lebens zu akzeptieren. Langsam öffnete er die Augen. Das Erste, was er wirklich sah, waren Farben. In den in die weiß getünchten Mauern eingelassenen Nischen standen Vasen mit süßen, rosafarbenen Pamarandums. Ihr Duft tanzte in der Luft. Kitzelte ihn in der Nase. Verklebte ihm den Mund.
Er würde sich übergeben müssen.
Irgendwie gelang es ihm, die aufwogende Galle herunterzuschlucken, geradeso, wie er in der vergangenen Nacht Nix' ekelhaften Trank geschluckt hatte. Ah, die Dinge, die man tat, wenn man König war.
Wenn man fast König war.
»Ich weiß, du hast nie an mich geglaubt, Fane«, sagte er zu der Kleinsten der in Leichentücher gewickelten Gestalten vor ihm, »aber ich wollte wirklich nicht Wettermacher werden. Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, dich davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Glaubst du es jetzt, wo immer du bist?«
Schweigen.
Er trat von der Tür weg. Verschränkte die Arme vor seiner in schwarze Seide gewandeten Brust und schob die Finger in die Achselhöhlen. Dann machte er einen Schritt und noch einen, bis er knapp um Armeslänge entfernt von seiner Familie stand, die so reglos unter ihren Laken lag. Als Teil seiner rituellen Zeremonien hatte Holze jedem der Toten einen in sich gedrehten Strauß Barls– blumen auf die Brust gelegt. Dass jedes kleine Sträußchen reglos an seinem Platz lag, trieb ihm wie einen Nagel durchs Herz die Tatsache ins Bewusstsein, dass sie tot waren.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Vater. Mama. Kleine Schwester. Ihr seid gestorben und ich nicht. Was kann ich sagen, angesichts einer so hässlichen Wahrheit? ›Tut mir leid‹? Das scheint kaum passend zu sein.«
Irgendetwas war da… irgendetwas stimmte nicht… mit der Gestalt des verborgenen Körpers seines Vaters. Von den Schultern abwärts wirkte er eigenartig flach.
Seine Fantasie regte sich. Prallte zurück. Er würde nicht darüber nachdenken. »Durm hat ebenfalls überlebt«, fuhr er fort. »Nix meint, seine Hoffnungen seien gering, aber ich denke nicht, dass er sterben wird. Wenn er es täte, müsste ich Conroyd zu seinem Nachfolger ernennen, und diese Befriedigung würde Durm ihm nicht geben wollen. Ich weiß, dass ich es, verdammt noch mal, nicht will.« Dann hielt er den Atem an, wartete darauf, die liebevolle, tadelnde Stimme seiner Mutter zu hören. »Fluche nicht, Liebling. Das ist nicht schön.« Die Stille hielt an. Er starrte auf ihre unter Tüchern verborgene Silhouette hinab und wünschte von ganzem Herzen, sie möge sprechen. Eine Locke ihres Haares lugte unter dem Laken hervor. Sie schimmerte im Glimmfeuer des Totenraums, geradeso wie sie einst – erst gestern, vor so langer Zeit – im Sonnenschein geschimmert hatte, wenn sie lachte. Er sehnte sich danach, die Locke zu berühren. Sie sanft um die Finger zu schlingen und neckend daran zu ziehen, wie er es einst als Junge getan hatte.
Er konnte es nicht tun. Was war, wenn dieses prächtige, goldene Haar sich tot anfühlte, geradeso, wie sie tot war? Was, wenn er es ihr vom Kopf zog wie Stroh, das man aus der lebenden Erde zog? Es wäre eine Schändung…
Er stieß schluchzend den angehaltenen Atem aus und sog kalte, von Paramandumduft geschwängerte Luft ein. Die scharlachroten Flecken, die vor seinen Augen tanzten, verblassten, und sein hektisches Herz schlug langsamer. Da wusste er, dass er die Laken, die sie verbargen, nicht wegziehen würde. Er konnte es nicht ertragen, lebendige Erinnerung mit totem Fleisch zu vergiften. Er konnte nur eines tun, ihr Dahinscheiden akzeptieren. Und ihre Hoffnungen und Träume für ihn erfüllen, für ihn und für das Königreich, das sie ihr Leben lang geliebt hatten, und er konnte sein eigenes Leben für den unablässigen Dienst an diesem Königreich verpfänden. »Pellen Orrick untersucht das Geschehene, aber ich denke, es war einfach ein schrecklicher Unfall«, sagte er ihnen. »Barl hätte etwas anderes niemals zugelassen. Seit sechseinhalb Jahrhunderten hat sie über uns gewacht. Uns beschützt. Es gibt keinen Grund, warum sie uns jetzt im Stich lassen sollte. Es war ein Unfall.«
Durch die massive Tür des Raums hörte er schwache Stimmen. Den schweren Tritt von Stiefeln. Der Schichtwechsel der Stadtwache. Vier Seelen unter den Tausenden, die jetzt in seiner Hand lagen. Aber war seine Hand groß genug, um sie alle sicher darin zu bergen? Mit abermals hämmerndem Herzen betrachtete er diese Hand. Betrachtete jede einzelne Linie ihrer Innenfläche. Jede Falte. Und dachte… vielleicht nicht.
Die Hand wurde zur Faust, die Faust geschüttelt. In seinem Blut brannte die Macht, sehnte sich nach Freiheit, jammerte nach Freiheit.
Sie war groß genug. Sie musste es sein. »Und es war ein Unfall«, sagte er. »Nicht wahr?« Die unter ihren Tüchern verborgenen Gestalten vor ihm antworteten nicht.
Er seufzte. Entspannte seine Faust und schob die kalten Finger wieder unter die Achseln. Der Hunger in seinem Blut verebbte, und er konnte wieder klarer denken.
Er weinte nicht.
Dies war seine Familie, auf Holztischen ausgebreitet wie die Ware eines Schlachters, damit die Hausfrauen sie begutachten konnten. Warum war er so ruhig? So losgelöst? Das konnte doch nicht richtig sein. Kein Schock hielt so lange, nicht wahr? Hier stand er, von Angesicht zu Angesicht mit den zerstörten Leibern seiner Familie, die bereits in diesem Augenblick verwesten. Sollte er nicht irgendetwas fühlen? Etwas anderes als fleischliche Kälte?
Und oh, die liebe Barl bewahre ihn, er fühlte die Kälte. Er fror bis in die Fingerspitzen, fror bis ins Mark. Fror bis tief ins Herz hinein.
Ist es das, was aus seinen Tränen geworden war? Waren sie gefroren? Außerstande zu fließen? Als er das letzte Mal geglaubt hatte, sein Vater sei tot, hatte er gewiss geweint. Er konnte sich genau daran erinnern, damals geweint zu haben. In der Scheune. Vergraben im Stroh. Ja, ja, damals hatte er geweint. Leise, damit Asher ihn nicht hörte.
Sollte er jetzt also nicht heulen wie ein Hund? Jetzt, da sein Vater, seine Mutter und seine Schwester an einem Berghang zerschmettert waren und man sie hier in diesen kalten, weißen Raum des Todes gebracht hatte, sollte er jetzt nicht heulen? »Es tut mir leid«, flüsterte er seinem verwesenden Fleisch und Blut zu. »Ich weiß nicht, was los ist mit mir.«
In weniger als zwei Stunden würde er im Kronrat Conroyd Jarralt gegenübertreten. Würde alles, was mit diesen Todesfällen zusammenhing, endgültig regeln, damit seine Familie Ruhe finden konnte. Frieden. Für immer. In weniger als zwei Stunden würde er zum nächsten König von Lur bestimmt werden.
So bald. So schrecklich bald. Furcht, sanft und geheim, flatterte in den Tiefen seines Magens.
»Kann ich das schaffen, Vater? Bin ich auch nur ein Schatten des Mannes, der du warst? Wenn nicht, liegt die Schuld bei mir. Alles, was gut und wahr ist an der Königswürde, habe ich gelernt, indem ich dich beobachtet habe. Ich werde mein Bestes geben, dieses Vermächtnis nicht zu verraten. Ich verspreche es.« Aber was war, wenn er dieses Versprechen nicht halten konnte? Was, wenn er sich trotz seiner besten Bemühungen der Aufgabe nicht gewachsen zeigte? In seiner Fantasie hörte er Fanes Gelächter, hämisch und verletzend. »Dann, liebster Bruder, werden unsere Eltern und ich nicht lange allein sein.« Schaudernd ließ er sich auf die Knie sinken. Umfasste mit verzweifelten Fingern das Ende des Holztisches, auf dem sein Vater lag.
»Nein«, wisperte er. »Du irrst dich, Fane. Du hast dich immer geirrt. Ich werde nicht scheitern. Barl sei meine Zeugin… ich werde nicht scheitern.«
In dem von Sonnenstrahlen durchdrungenen Saal des Kronrats sah Conroyd Jarralt Pellen Orrick mit wachsamer Abneigung und nur unvollkommen verborgener Enttäuschung an. »Ein Unfall? Seid Ihr sicher?« Sein Tonfall deutete an, dass nur ein Idiot etwas Derartiges glauben konnte.
Asher ließ den Blick durch den Saal wandern. Armer Orrick. Sein Rücken war so steif und gerade, dass man einen Baumstamm mit einem einzigen Schlag in sein Rückgrat hätte entzweibrechen können, und sein Gesicht war ausdruckslos, dichtgemacht wie der Hafen von Restharven bei Sturm. Anscheinend liebte der Hauptmann Zusammenkünfte des Kronrats genauso sehr wie er selbst. »So sicher, wie ich sein kann, Mylord. Gewiss habe ich keinerlei Beweise für eine vorsätzliche Tat gefunden«, erwiderte Orrick.
Asher sah ihn an und staunte, dass der Mann angesichts Jarralts Feindseligkeit so ruhig bleiben konnte. Vielleicht irgendetwas in den Augen. Eine kleine Flamme oder ein Aufflackern von Abscheu.
Jarralt lachte höhnisch. Er war anscheinend von allen Anwesenden der Einzige, der in der Nacht friedlich geschlafen hatte. Immer noch gutaussehend, immer noch arrogant, gebeugt weder von Gram noch von Verzweiflung, war selbst seine Kleidung demonstrativ leuchtend: waldgrün statt schwarz. Er trug einen Spitzenkragen um den Hals, und in einem Ohr blinkte ein Diamant wie bei einer Dirne. »Wie gründlich habt Ihr nachgeforscht? Es ist noch kein ganzer Tag vergangen, seit es geschehen ist. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Ihr so schnell zu dem Schluss gekommen sein könnt, es sei ein ›Unfall‹ gewesen.« »Mylord, ich habe alle Möglichkeiten der Untersuchung ausgeschöpft«, antwortete Orrick gelassen. »Es gibt schließlich nur zwei mögliche Erklärungen für das Geschehene. Entweder war es ein Unfall, oder es war Mord. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass niemand, der noch recht bei Verstand ist, versuchen würde, unsere gesamte Königsfamilie niederzumetzeln, war der Horst gestern für die Öffentlichkeit geschlossen. Es gibt nur eine einzige Straße, die dorthin führt, und zwei meiner Wachen waren an der Abzweigung postiert, um gewöhnliche Bürger wegzuschicken. Niemand ist an sie herangetreten.«
Holze sagte: »Warum haben sie nicht Alarm geschlagen, als die Familie nicht nach angemessener Zeit zurückkehrte?«
»Weil Ihre Majestät sie entlassen hat, Herr«, antwortete Orrick.
»Der Verbrecher oder die Verbrecher könnten sich bereits am Horst oder irgendwo in der Nähe versteckt haben«, warf Jarralt ein.
Asher räusperte sich. »Das glaube ich nicht, Mylord. Das Picknick entsprang einer Eingebung des Augenblicks. Niemand wusste vorher Bescheid.« Jarralt verbrannte ihn mit einem Blick. »Das behauptet Ihr.«
»Und ich«, sagte Gar. »Falls das für Euch auch nur von geringstem Interesse sein sollte, Conroyd.«
»Alles an dieser Angelegenheit interessiert mich«, erwiderte Jarralt. Dann fügte er nach einer Pause, die gerade lang genug war, um beleidigend zu sein, hinzu: »Eure Hoheit.«
Nun war es an Pellen Orrick, sich zu räuspern. »Außerdem versichern mir sowohl Barlsmann Holze als auch der Königliche Pother Nix, dass weder in noch auf den Leichen Spuren magischer Einwirkung zu finden sind.«
»So ist es«, meldete Holze sich zu Wort. »Nix und ich haben sie überaus gründlich untersucht. Es waren keine Spuren von Magie zu entdecken.« Jarralt runzelte die Stirn. »Ich wünsche sie selbst zu untersuchen. Als Mitglied des Kronrats habe ich das Recht dazu.«
Eine erstarrte Pause folgte. Asher wagte es nicht, Orrick oder Gar anzusehen. Dann legte Holze tadelnd die Fingerspitzen auf den ungehörig schmuckvollen Ärmel des Lords. »Es mag durchaus Euer Recht sein, Conroyd, aber ich bezweifle, dass es klug wäre. Oder dass man es gut aufnehmen würde.« Jarralt, dem das Blut ins Gesicht geschossen war, entriss Holze seinen Ärmel. »Ist das eine Anklage?«
Der Barlsmann seufzte. »Nein, alter Freund. Es ist eine Warnung.« »Wovor?«, verlangte Jarralt zu wissen. »Bin ich Mitglied des Kronrats oder bin ich es nicht? Habe ich das Recht, mich mit eigenen Augen von Dingen zu überzeugen, die mich durchaus etwas angehen, oder habe ich dieses Recht nicht? Der König ist tot, Holze!«
Der Geistliche errötete. »Das weiß ich, Conroyd. Ich habe seinen armen, gebrochenen Leib in meinen eigenen Händen gehalten! Habe mit meinen eigenen Lippen seine kalte Stirn geküsst! Ich weiß, dass er tot ist!«
»Dann solltet gerade Ihr den Wunsch haben, dass diese Angelegenheit gründlich untersucht wird!«
»Ich bin davon überzeugt, dass das bereits geschehen ist«, sagte Holze erschöpft. »Aber ich…«
»Denkt nach, Conroyd! Es gibt nur zwei Menschen im ganzen Königreich, die als würdig erachtet werden können, die Krone des Wettermachers zu tragen. Ihr und Prinz Gar. Gewiss seht Ihr ein, dass Ihr Euch unmöglich selbst an irgendwelchen Untersuchungen beteiligen könnt. Stattdessen müsst Ihr darauf vertrauen, dass ich, Pother Nix und unser braver Hauptmann Orrick hier der Wahrheit der Angelegenheit auf den Grund gekommen sind. Ohne Furcht oder Voreingenommenheit.«
Asher warf einen Seitenblick auf Orrick. Die Züge des Mannes waren schärfer denn je, während er die Auseinandersetzung beobachtete, mit Augen, die jede Geste in sich aufsogen, jedes Zögern. Gleichzeitig gab er mit keiner Regung zu erkennen, was er selbst dachte. Gerissener Bursche.
Jarralt hatte die Zähne zusammengebissen, und die Muskeln in seinem fein gemeißelten Kiefer krampften sich zusammen. »Holze…«
»Conroyd, bitte!«, sagte Holze, inzwischen so aufgewühlt, dass er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Denkt Ihr, ich wäre nicht gründlich? Ich versichere Euch, ich war es. Während ich am Horst war, habe ich die Überreste des Kutschpferdes und das untersucht, was von der Kutsche selbst noch übrig war. Außerdem habe ich das umliegende Gelände überprüft. Und während ich der Erste bin, einzugestehen, dass ich kein Durm bin, bilde ich mir dennoch ein, dass meine Fähigkeiten für dergleichen Aufgaben ausreichen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich Barls ergebener Diener bin und mein Leben Wahrheit und Gerechtigkeit geweiht habe. Ich würde vor dem ganzen Königreich feierlich auf den Altar meiner Kapelle schwören, dass weder das Pferd noch die Kutsche noch irgendein Mitglied der königlichen Familie von Magie berührt wurden, und ich kann Hauptmann Orricks Ergebnisse nur mit ganzem Herzen unterstützen. Dieses schreckliche Ereignis wurde verursacht von einer Laune des Schicksals und nicht durch böswilliges menschliches Eingreifen. Barl hat in ihrer unendlichen, unergründ– lichen Weisheit Ihre Majestäten und Ihre Königliche Hoheit heimberufen. Es steht uns nicht an, nach dem Warum zu fragen.«
Jarralts Lippen zuckten. »Es tut mir leid, Holze, aber es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Nichtsdestoweniger«, sagte Gar und richtete sich auf dem Stuhl seines toten Vaters höher auf, »werdet Ihr es glauben. Es sei denn, Ihr wolltet Barlsmann Holze, Pother Nix und Hauptmann Orrick der Verschwörung beschuldigen? Vielleicht sogar des Mordes? Wenn ja, hoffe ich, dass Ihr Beweise habt. Barls Gesetze sind sehr eindeutig, wenn es um unbegründete Anschuldigungen geht, Herr. Manch einer würde vielleicht sogar sagen, dass die Gesetze unbarmherzig sind. Wie Ihr sehr wohl wisst.«
»Ich weiß vor allem eins«, entgegnete Conroyd Jarralt, »diese Angelegenheit ist viel zu ernst, um sie mit einer flüchtigen Untersuchung und einem Haufen frommer Platitüden unter den nächstbesten bequemen Teppich zu kehren.« »Was wollt Ihr damit sagen, Mylord?«, fragte Orrick betont höflich. Jarralt würdigte ihn kaum eines Blickes. »Dass die Untersuchung des gestrigen… Unfalls… unvollständig ist.«
Gar sah ihn mit schmalen Augen an. »Conroyd, wie oft muss ich es Euch noch sagen? Ihr habt mich gestern Abend gefragt, ob ich mich daran erinnerte, was geschehen ist, und ich habe nein gesagt. Ihr habt mich hier zweimal gefragt, und die Antwort lautet immer noch nein. Könnt Ihr ehrlichen Herzens glauben, dass eine dritte Frage auf magische Weise eine andere Antwort zutage fördern wird? Vielleicht wird Durm Eure Neugier befriedigen können, wenn er…«
»Wenn?«, höhnte Jarralt. »Macht Euch nichts vor. Der Mann ist…« »Am Leben«, sagte Gar leise. Gefährlich. Jarralt lächelte, eine unangenehme Grimasse, bei der er lediglich die Zähne bleckte. »Aber für wie lange?« »Nix sagt, es bestehe Hoffnung.«
»Nix ist ein Narr, der Euch erzählt, was Ihr hören wollt«, erwiderte Jarralt. Asher richtete sich auf. »Das ist nicht wahr. Er ist ein guter Mann, dem die Interessen des Königreichs am Herzen liegen. Wenn er sagt, es bestehe Hoffnung für Durm, könnt Ihr es glauben, Mylord. Und wenn es keine Hoffnung gibt, ist es die Entscheidung des Prinzen, wer zum nächsten Meistermagier bestimmt werden soll. Niemand hat das Recht, ihm diese Entscheidung streitig zu machen.«
Absolute Stille senkte sich über den Raum. Jarralt drehte den Kopf, und seine Augen leuchteten vor Zorn. »Ihr wagt es? Ihr wagt es, so mit mir zu sprechen?« Bevor Asher antworten konnte, sagte Gar: »Er spricht als mein Freund… und als Mitglied dieses Kronrats.«
»Was?«
Asher sah Gar entsetzt an. »Einen Moment mal. Herr, ich habe nie…« »Ich brauche dich«, erklärte Gar, ohne den Blick von Jarralts wütendem Gesicht abzuwenden. »So wie ich Euch brauche, Conroyd. Und Durm.«
Mit für jedermann sichtbarer Anstrengung unterdrückte Jarralt eine Bemerkung dazu, ob ein Olk Mitglied des Kronrats sein könne. »Ich habe Durm gesehen«, zischte er. »Es ist ein Wunder, dass sein Gehirn sich nicht mit der Hälfte seines Blutes auf die Straße ergossen hat. Selbst wenn er überlebt, könnt Ihr doch wohl kaum annehmen, dass er noch von irgendeinem Nutzen sein wird? Dass er dem Königreich weiter als Meistermagier dienen kann? Wenn er überlebt, wird er nichts sein als ein schwachsinniger Narr, und das wisst Ihr.«
Asher, dem immer noch schwindelig war, schnappte nach Luft. Sein Herz zog sich zusammen, und er hörte das ferne Echo von trunkenem Lachen. Jed. Pellen Orrick sah ihn an und zog fragend eine Augenbraue hoch; Asher schüttelte den Kopf und zwang sich, weiterzuatmen und seine Finger, die auf seinem Schoß lagen, zu entkrampfen. Orrick wandte den Blick ab.
»Ich habe gesagt, dass ich Euch brauchen werde, Mylord«, ergriff Gar von Neuem das Wort. »Ich habe nicht gesagt, in welcher Eigenschaft. Ich habe nicht die Absicht, heute einen neuen Meistermagier zu ernennen.«
»Mir war nicht bewusst, dass wir beschlossen haben, Euch diese Befugnis zu erteilen«, gab Jarralt zurück. »Orrick hat mich noch nicht davon überzeugt, dass wir es tatsächlich mit einem Unfall zu tun haben.«
Gar stieß seinen Stuhl zurück, stand auf und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Barl gib mir Kraft, Conroyd! Glaubt Ihr wirklich, dass ich meine Familie ermordet habe? Wenn ja, dann sagt es. Hier und jetzt und vor diesen braven Männern als Zeugen. Und dann könnt Ihr vielleicht erklären, wie mir das gelungen sein soll, während ich beinahe selbst getötet wurde!«
»Selbst die besten Pläne können schiefgehen. Oder… vielleicht hattet Ihr einen Komplizen!«
»Einen Komplizen? Welchem Wahnsinn seid Ihr nun schon wieder aufgesessen, Mylord? Wer in diesem Königreich würde…?«
»Was glaubt Ihr, wer so etwas tun würde?«, rief Conroyd Jarralt und streckte anklagend den Arm aus. »Er natürlich! Euer emporgekommener Olk!« Asher sprang so schnell von seinem Stuhl auf, dass er beinahe stürzte. »Ich? Seid Ihr wahnsinnig? Ich soll den König getötet haben? Die Königin? Prinzessin Fane? Ganz zu schweigen von dem armen Matcher und seinen Pferden, die in ihrem ganzen Leben keiner Menschenseele etwas zu Leide getan haben? Ihr habt kein Recht, mich anzuklagen, und Ihr habt auch keinen Beweis dafür! Das Einzige, was ich je getötet habe, waren Fische und Flöhe! Das nehmt Ihr zurück, Jarralt! Das nehmt Ihr sofort zurück!«
Jarralt ließ sich wie ein gut geölter Aal von seinem Stuhl gleiten, überwand die Entfernung zwischen ihnen mit drei schnellen Schritten und drängte Asher an die Wand. Dann legte er ihm eine elegante, manikürte Hand, deren Finger überladen waren mit Ringen, flach auf die Brust. »Lord Jarralt, du ungezieferverseuchter Eindringling«, korrigierte er ihn, und seine Stimme war ein giftiges Flüstern. »Du erbärmlicher Welpe. Du stinkendes Stück olkischen Abfalls. Du steckst hinter alledem, nicht wahr? Wie hast du es angestellt, hm? Wen hast du mit Versprechungen und Lügen zu dieser abscheulichen Tat angestiftet? Die Dienstboten des Palastes? Einen habgierigen doranischen Möchtegernlord? Und was, im Namen all dessen, das gut und heilig ist, hast du dir davon erhofft? Und hast du wirklich gedacht, ich würde dir nicht auf die Schliche kommen?«
Sprachlos und mit offenem Mund blickte Asher in Jarralts Augen, in grundlose blaue Brunnen von solch verzehrendem Hass, dass er glaubte, sein Herz würde zu schlagen aufhören. »Ihr seid wahnsinnig, Jarralt. Ihr seid absolut und unrettbar wahnsinnig.«
»Das genügt, Mylord«, sagte Pellen Orrick. Er legte Jarralt eine Hand auf die Schulter, eine Geste, die gleichzeitig Warnung und Drohung war. »Lasst uns alle ein wenig zu Atem kommen und sprechen wie die gelassenen Hüter des Königreichs, die wir sind – oder sein sollten.«
Mit einem wortlosen Knurren trat Jarralt zur Seite und löste sich damit aus dem Griff des Hauptmanns.
Asher sah Orrick an. »Ich habe ihnen kein Haar gekrümmt«, sagte er. »Das schwöre ich bei meinem Leben.«
»Ich weiß«, antwortete Orrick. »Ich habe Dutzende von Zeugen, die bestätigen, dass Ihr im Turm wart, als die Kutsche in Salberts Horst stürzte.« »Zeugen?« Er wusste nicht, ob er erleichtert oder wütend sein sollte. »Ihr meint, Ihr habt mich überprüft?«
Orrick seufzte. »Natürlich. Ich habe Euch alle überprüft. Selbst Barlsmann Holze, möge Barl es mir verzeihen.« Einen nach dem anderen sah er sie an, und seine Miene war verärgert und unnachgiebig. »Meine Herren, ich bin Hauptmann dieser Stadt. Es ist meine heilige und durch einen Schwur bekräftigte Pflicht, Barls Gesetzen Geltung zu verschaffen und Missetäter der Gerechtigkeit zuzuführen. Wenn ich dächte, ein Mann hätte diese Tat begangen, würde ich nicht eher Ruhe geben, bis ich ihn überführt hätte. Nicht wenn er der fürstlichste Lord im ganzen Königreich wäre. Nicht wenn er ein König selbst wäre.« Sein harter Blick ruhte jetzt auf Gar. »Nicht einmal wenn er ein Königssohn wäre.«
Gar nickte. »Und genauso sollte es sein. Dieses Königreich erwartet nichts Geringeres von Euch und den Männern, die unter Eurem Befehl stehen. Orrick, Ihr habt gesagt, diese Todesfälle seien durch ein Unglück hervorgerufen worden, nicht durch Mord. Unter Gefahr für Eure Seele selbst frage ich Euch zum letzten Mal: Steht Ihr nach wie vor zu dieser Schlussfolgerung?«
Orrick drückte die Schultern durch und verschränkte die Hände hinterm Rücken. »Ja, Eure Hoheit.«
»Also schön«, sagte Gar. »Ihr habt für Eure schnelle und gründliche Untersuchung dieser Ereignisse die Dankbarkeit des Kronrats. Lasst Euch jedoch einen Rat geben: Sollten neue Tatsachen ans Licht kommen und Euch veranlassen, noch einmal über Eure Schlussfolgerung nachzudenken, erwarten wir, unverzüglich davon ins Bild gesetzt zu werden.«
Orrick nickte. »Darauf könnt Ihr Euch verlassen, Herr.«
Gar drehte sich zu Jarralt um, und hinter seinen kalten, grünen Augen spulte sich eine Reihe von Gedanken ab. Als er schließlich sprach, war sein Tonfall milde, höflich, aber mit einer Unterströmung von Eis. »Mylord, es ist kein Geheimnis, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten gehabt haben. Aber ich glaube, dass aufrichtige Uneinigkeit nicht schlecht ist. Wenn unsere Entscheidungen einer näheren Beleuchtung nicht standhalten können, dann verdienen wir die Autorität nicht, sie zu treffen. Ich habe Hauptmann Orricks Ergebnisse in dieser Angelegenheit akzeptiert. Der tragische Tod meines Vaters, meiner Mutter und meiner Schwester – des Königs, der Königin und der zukünftigen Wettermacherin dieses Reiches – sind nicht durch menschliches Handeln verursacht worden. Falls ich jemals Eure Ehre in Bezug auf dies hier in Zweifel gezogen haben sollte, erkläre ich jetzt, dass ich mich im Irrtum befand. Und ich biete Euch meine Hand zum Zeichen eines neuen Anfangs zwischen uns.«
Um die Entschuldigung des Prinzen anzunehmen, musste Jarralt näher herantreten. Musste seine Position aufgeben. Asher hielt den Atem an. Wenn der Bastard es nicht tat, wenn er auf seinen verrückten Behauptungen von Verschwörung und Mord bestand, würde das Königreich in Flammen aufgehen, oder doch zumindest beinahe…
»Ein neuer Anfang«, sagte Conroyd Jarralt, als seien die Worte Glassplitter in seinem Mund. Er trat vor und packte Gar am Unterarm.
Seine Finger fest auf Jarralts Ärmel, lächelte Gar. »Dann akzeptiert Ihr also Hauptmann Orricks Schlussfolgerung? Weder ich noch mein Gehilfe, Asher, oder irgendein Mann, eine Frau oder ein Kind, die mit mir zu tun haben oder mir oder ihm bekannt sind, haben die Ermordung meiner Familie geplant oder den versuchten Mord an Meistermagier Durm.«
Das Lächeln, mit dem Jarralt antwortete, war vielschichtig. »Ich akzeptiere, dass Orrick keinerlei Beweise hat. Ich akzeptiere, dass er einen aufrichtigen Versuch unternommen hat, die Wahrheit der Angelegenheit zu enthüllen. Ich akzeptiere… die Rolle des aufrichtigen Andersdenkenden.«
Gar sah ihn an. »Und akzeptiert Ihr ebenfalls, dass ich meines Vaters wahrer und rechtmäßiger Erbe des Throns von Lur bin? Des Titels des Wettermachers? Offen gesprochen, Herr: Akzeptiert Ihr, Lord Conroyd Jarralt, an diesem Ort und zu dieser Zeit und vor diesen Zeugen, dass ich durch Barls große Barmherzigkeit Euer König bin?«
Jarralt nahm den Kopf zurück, als wappne er sich gegen einen Schlag. Asher beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Wenn Jarralt sich dafür entschied, Gars Ansprüche anzufechten… Aber er tat es nicht. Stattdessen bedachte er Gar mit einem schroffen Nicken. »Ja. An diesem Ort und zu dieser Zeit akzeptiere ich Euch als König. Eure Majestät.«
Das Licht der Herausforderung in Gars Augen verblasste. Er ließ Jarralts Arm los und verzog die Lippen zu einem distanzierten Lächeln. »Hervorragend. Mir scheint, dass wir einander endlich verstehen, Herr.«
Asher verschluckte um ein Haar seine Zunge. Hatte Gar einen Sonnenstich? Glaubte er, eine kurze Berührung am Arm und ein widerstrebend gegebenes Zugeständnis bedeuteten das Ende von Jarralts Gegnerschaft? Das Ende seiner Feindschaft und seines wahrscheinlich bevorstehenden Kampfes zur Eroberung der Krone? Glaubte das irgendeiner hier?
Der verdammte Holze glaubte es offenkundig – oder wollte es glauben. Er strahlte wie eine altjüngferliche Tante bei der Geburt eines neuen Neffen. Orrick? Nun, wer mochte das sagen? Orricks unergründliches Gesicht enthüllte nichts, außer vielleicht ein Fünkchen ernster Billigung. Was ihn selbst betraf, würde er geradeso gut glauben, dass er direkt über die Mauer springen konnte. Und was Gar betraf…
Gar lächelte noch immer. Gefasst und anscheinend zufriedengestellt. Aber in seinen Augen war keine Wärme. Er ließ sich nicht täuschen, nicht er, nicht, nachdem er ein ganzes Leben mit diesem Menschen verbracht hatte. Denn auch in Jarralts Augen war keine Wärme, falls ein solcher Ausdruck je darin gestanden haben sollte oder überhaupt darin stehen konnte. Dies war lediglich eine Atempause in der Schlacht. Ein vorübergehendes Innehalten der Feindseligkeiten. Denn Conroyd Jarralt würde seine Träume von einer Krone genauso wenig aufgeben wie… wie… die verstorbene und von Asher unbeweinte Prinzessin Fane auf der Straße einen gewöhnlichen Mann geküsst hätte, und Gar wusste das. »Und jetzt, da wir dies geklärt haben«, sagte der Prinz, nein, der König, »müssen wir uns anderen drängenden Angelegenheiten zuwenden. Meine Herren, kehren wir zu unseren Plätzen zurück.«
Asher wartete, bis zuerst Gar und dann Jarralt sich gesetzt hatten, bevor er sich auf seinen eigenen Stuhl gleiten ließ. Spielte das Licht ihm einen Streich, oder hatte Hauptmann Orrick ihm tatsächlich kaum merklich anerkennend zugenickt, als auch er wieder Platz genommen hatte? Unsicher faltete er die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch. Senkte die Lider und ließ den Blick diskret auf Gars Gesicht ruhen, während er versuchte herauszufinden, was als Nächstes kommen würde.
Gar saß schweigend da und sammelte sich. Er wirkte wie neu geboren. Verschwunden war der Prinz ohne Magie, fehlbar und verletzlich und auf liebenswerte Weise menschlich. Binnen weniger Stunden hatte die Tragödie Gar in das Porträt eines unberührbaren, unerreichbaren Monarchen verwandelt, so fern und fremd wie jeder von denen, die während der letzten sechshundert Jahre auf Leinwand getupft worden waren. Asher glaubte, einen Fremden vor sich zu sehen, und ein Frösteln überlief ihn.
»Selbstverständlich besteht unsere erste Amtshandlung darin, das Königreich von den tragischen Ereignissen des gestrigen Tages in Kenntnis zu setzen«, begann Gar. »Ich werde Euch alle bei dieser schwierigen Aufgabe benötigen.« Jarralt bekam den Auftrag, die Mitglieder des Großrats zu informieren. Barlsmann Holze würde dafür sorgen, dass die Barlsmänner und –frauen des Königreichs eingeweiht und ermutigt wurden, ihren trauernden Kapellenbezirken größtmöglichen Trost zuzusprechen. Asher fiel die Aufgabe zu, mit dem Palastpersonal zu sprechen und dabei zu helfen, die Arbeit der etlichen Dutzend Kuriere und Herolde, die die Nachricht in der Stadt und dem Rest des Königreiches verbreiten sollten, aufeinander abzustimmen. Pellen Orrick sollte Asher in dieser Hinsicht unterstützen und darüber hinaus dafür sorgen, dass nach Bekanntwerden der traurigen Neuigkeit Gesetz und Ordnung in Dorana aufrechterhalten wurden.
»Was ist mit Matchers Witwe?«, fragte Asher. »Sie sitzt seit gestern Nacht unter Bewachung zu Hause.«
Einen Moment lang wirkte Gar sprachlos, als hätte er noch nie von dem königlichen Kutscher gehört. Dann sagte er: »Ja. Natürlich. Entlasst die Wachen und geht zu der Dame, Asher. Übermittle ihr mein tiefstes Mitgefühl für ihren Verlust. Versichere ihr, dass sie keine Not zu befürchten hat; es wird eine großzügige Pension geben. Und danke ihr für ihre Diskretion in dieser heiklen Angelegenheit.«
Asher unterdrückte ein Stöhnen. Noch mehr Trauer, noch mehr Tränen… »Ja, Herr.«
Da Durm indisponiert sei, fuhr Gar fort, würde Barlsmann Holze an diesem Nachmittag auf der Treppe der Halle der Gerechtigkeit seine Ernennung zum Wettermacher verkünden, sobald die Glocken der Barlskapelle für die verstorbene Königsfamilie geläutet hatten. »Obwohl weder meine Fähigkeit noch mein Recht, den Thron zu besteigen, infrage stehen«, fügte er hinzu, wobei er Jar– ralts Blick mied, »war die letzte Wettermacherin, die starb, ohne zuvor öffentlich einen Erben zu bestimmen, Königin Drea. Das war vor mehr als zwei Jahrhunderten. Daher müssen wir vor allem jedwedem Unbehagen bei der Bevölkerung zuvorkommen: Die Menschen sollten wissen, dass sie weiter in Sicherheit und Wohlstand leben werden, ganz gleich, wessen Kopf die Krone trägt.«
»Eine glänzende Idee«, meinte Holze anerkennend. »Und was ist mit Eurer Krönung?«
Gar blickte stirnrunzelnd auf seine ineinander verschlungenen Finger hinab. »Die Tradition schreibt vor, dass ein Wettermacher in Anwesenheit seines Meistermagiers gekrönt wird.«
»Dann«, sagte Conroyd Jarralt glatt, »sieht es so aus, als hätten wir ein Problem. Eure Majestät.«
»Noch nicht, o nein, Conroyd.«
»Aber wie Ihr so treffend festgestellt habt, könnt Ihr nicht zum Wettermacher gekrönt werden, ohne dass…«
»Doch, ich kann«, antwortete Gar und funkelte ihn an. »Es ist eine Tradition, kein Gesetz.«
»Das ist wahr«, räumte Jarralt ein. »Zumindest soweit es die Krönung betrifft. Es ist jedoch im Gesetz verankert, dass ein Wettermacher ohne die Leitung eines Meistermagiers nicht herrschen darf. Und auch wenn Durm heute noch atmet, könnte jeder Augenblick sein letzter sein. Gebt zumindest so viel zu. Eure Majestät.«
»Ich wäre ein Narr, diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen«, sagte Gar, und seine Stimme war dünn vor unterdrückter Wut. »Aber das ist alles, was es ist: eine Möglichkeit. Zum Wohle des Königreichs werde ich um Mitternacht am übernächsten Barlstag zum Wettermacher gekrönt werden, ob Durm genesen ist oder nicht. Zwei Wochen danach werde ich über seine Position noch einmal nachdenken.«
Hungrig wie eine jagende Katze beugte Jarralt sich vor. »Gegen alles Drängen und alle Ratschläge hat Durm weder einen Nachfolger bestimmt noch jemanden als solchen ausgebildet. Die Wahl wird bei Euch liegen.«
»Er war der Meinung, dass eine vorzeitige Ernennung seines eigenen Erben Unruhe im Volk wecken könnte«, entgegnete Gar kalt. »Es gibt historische Ereignisse, die seine Sorge rechtfertigen. Mein Vater war zufrieden mit der Entscheidung, daher…«
»Euer Vater hat die gegenwärtige Krise nicht vorausgesehen. Wenn er das getan hätte, dann würden wir jetzt nicht…«
»Conroyd!«, rief Holze schockiert. »Bitte!«
Gar hob die Hand. »Es ist wahr, dass unser Leben einfacher wäre, hätte Durm seine Entscheidung früher getroffen. Aber das hat er nicht getan. Und da er noch atmet, habe ich nicht die Absicht, ihn zu ersetzen oder ihm das Recht streitig zu machen, seinen Nachfolger zu bestimmen. Zumindest nicht so lange, bis es un– bedingt sein muss. Sein Leben liegt jetzt in Barls Händen, meine Herren. Ich schlage vor, wir warten ab, was sie damit zu tun gedenkt, bevor wir uns diesem Thema noch einmal zuwenden.«
Holze räusperte sich und durchbrach damit das aufgeladene Schweigen. »Eines gibt es noch, worüber wir sprechen sollten, wenn auch nur kurz.« »Die Bestattungen«, sagte Gar. »Ja. Meine Familie wird einen Monat lang öffentlich aufgebahrt sein, Holze, und zwar in der Großen Empfangshalle des Palastes, sodass alle Menschen im Königreich, die dies wünschen, ihnen die letzte Ehre erweisen können. Nach Ablauf dieser Frist werden sie privat in unserer Hausgruft bestattet. Asher…« Er richtete sich auf. »Herr?«
»Dich, Darran und Hauptmann Orrick betraue ich mit der Aufgabe, die öffentliche Aufbahrung zu organisieren.«
»Herr«, sagte er und unterdrückte einen Seufzer. Es machte ihm nichts aus, eng mit Orrick zusammenzuarbeiten. Aber mit Darran? »Und die eigentliche Bestattung? Ihr wolltet, dass ich…«
Gar schüttelte den Kopf. »Darum werde ich mich kümmern, Holze, wir beiden werden uns zusammensetzen, um darüber zu sprechen.«
»Gewiss, Herr«, antwortete Holze. »Wann immer es Euch recht ist. Und Euer Umzug in den Palast? Wann können wir damit rechnen?«
»Eine gute Regierung beruht nicht darauf, dass mein Nachtgewand in einem Schrank im Palast hängt«, erwiderte Gar. »Wenn ich eine größere Vertrautheit mit meinem neuen Stand erlangt habe, werde ich noch einmal darüber nachdenken, den Turm zu verlassen. Nicht früher.«
Holze, der kein Narr war, erkannte, wann ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Er nickte. »Gewiss, Eure Majestät.«
»Und die Mauer, Majestät?«, fragte Jarralt. »Das Wetter?«
»Sind Themen, um die Ihr Euch nicht zu sorgen braucht, Mylord«, antwortete Gar. »Dank Durms Klugheit und Voraussicht verfüge ich über die notwendigen Fähigkeiten.«
»Aber in Ermangelung eines Meistermagiers, Herr, und angesichts der Tatsache, dass Ihr selbst in der Kunst des Wettermachens … unerfahren… seid, wollt Ihr doch sicher…«
»Ich bin meines Vaters Sohn, Conroyd«, erklärte Gar. »Eine weitere Qualifikation benötige ich nicht.« Er stand auf. »Meine Herren, Ihr alle habt Eure Aufgaben zugeteilt bekommen. Kümmert Euch ohne weitere Verzögerung um ihre Ausführung.«
Asher, der sich mit den anderen erhob, sah Gar nach, der die Halle des Kronrats wie eine schlanke, hochmütige Katze verließ. Außerdem beobachtete er, wie Conroyd Jarralt die Stirn runzelte, einen Moment abwartete und dann durch die Tür trat, um in die entgegengesetzte Richtung davonzugehen. Holze seufzte, strich sich den schmucklosen Zopf mit unglücklichen Fingern glatt und folgte Jarralt. »So«, sagte Pellen Orrick, sobald sie allein waren. »Jetzt sind wir also Meister Kronrat, hm?«
Er schluckte Galle. »Das war nicht meine verdammte Absicht!«
»Ich weiß«, erwiderte Orrick. »Mir ist Euer Gesichtsausdruck, als er es gesagt hat, nicht entgangen.«
Asher widerstand dem Drang, sauren Speichel auf den Boden zu spucken, und sagte: »Wegen gestern. Wegen Eurer Ergebnisse. War es wirklich ein Unfall?« »Warum?«, fragte Orrick. »Zweifelt Ihr jetzt genauso an meinen Fähigkeiten wie unser guter Lord Jarralt?«
Er runzelte die Stirn. »Natürlich nicht. Nur… es kommt mir irgendwie falsch vor, dass all diese mächtigen Magier durch einen Unfall ihr Leben gelassen haben sollen.«
»Ich verstehe«, sagte Orrick erheitert. »Ihr fühlt Euch jetzt ein wenig arg sterblich, hm?« Er zuckte mit den Schultern. »Doranen sterben, Asher, genau wie wir es tun. Ihre Magie kann sie nicht vor allem schützen. Ich habe Doranen gekannt, die an einer Fischgräte erstickt sind. Die sich beim Sturz auf einer Treppe das Genick gebrochen haben. Die in ihrer Badewanne ertrunken sind. Der Tod kennt weder Rang noch Stand. Er kommt zu uns allen und entscheidet selbst darüber, wann und wie.«
Immer noch stirnrunzelnd scharrte Asher mit dem Absatz seines Stiefels auf dem Boden. »Ich weiß, aber…«
»Aber Ihr wollt, dass es einen Sinn ergibt.« Orrick lachte. »Ich hatte Recht gestern Nacht. Ihr habt tatsächlich den Verstand eines Wachmanns.« Dann wurde er wieder nüchtern und blickte aus dem Fenster der Halle. »Wenn Ihr fragt, ob ich diese Todesfälle für ungewöhnlich halte – ja, das tue ich. Aber darüber hinaus? Ich habe weder Grund noch Beweise, um Pother Nix' und Barlsmann Holzes Ergebnisse in Frage zu stellen. Oder Eure Unschuld oder die Seiner Majestät oder selbst die Lord Conroyd Jarralts, obwohl er mir persönlich… zuwider ist.« Überrascht sah Asher Orrick an. »Das ist nicht sehr diskret von Euch, Hauptmann.«
Orrick erwiderte seinen Blick. »Warum? Seid Ihr eine Tratschtante?« Er schnaubte nur und schüttelte den Kopf. »Gar – ich meine –Seine Majestät erscheint…«
»Er ist ohne Vorwarnung König geworden, Asher. Ein junger Mann, dessen gesamte Familie soeben unter gewaltsamen Umständen plötzlich gestorben ist. Er trägt seine Königswürde wie einen Kettenpanzer, um seine Gefühle im Zaum zu halten.« Dann lächelte Orrick, ein Lächeln, in dem sich Spott und Mitgefühl vereinten. »Seid Ihr gekränkt?«
»Nein«, sagte er verletzt. »Ich schätze, ich bin…«
Verängstigt. Unsicher. Überwältigt. »Hungrig.«
»Dann esst etwas.«
»Hah! Wer hat dafür Zeit, Hauptmann?«
»Nennt mich Pellen. Da es so aussieht, als würden wir Hand in Hand arbeiten, zumindest für eine Weile. Und wo wir gerade davon sprechen…« »Ja?«, fragte er.
»Ich würde mich gern mit Euch zusammensetzen, sobald ich meine Männer auf das Kommende vorbereitet habe«, antwortete Orrick. »Wir müssen in Betracht ziehen, eine dringende Sitzung mit den Repräsentanten aller Gilden abzuhalten. Wenn diese traurige Neuigkeit bekannt wird, werden die Straßen überspült sein von Tränen, denke ich.«
Asher nickte. »Und die Gilden sind in einer besseren Position als wir, ihre Mitglieder unter Kontrolle zu halten. Das ist eine gute Idee, Haupt… Pellen.« »Wenn Ihr mal einen Augenblick Zeit habt, Euch zu kratzen, schickt einen Läufer ins Wachhaus«, sagte Orrick. »Ich werde dann kommen, sobald ich kann.« »Vorausgesetzt, dass Ihr mich nicht einsperren müsst, weil ich dieses alte Waschweib, Darran, erwürgt habe. Denn eins sage ich Euch, Pellen, ausgeschlossen ist das nicht.«
»Nun, um meinetwillen braucht Ihr keine Zurückhaltung zu üben«, antwortete Orrick mit unbewegter Miene. »Dann könnten wir uns in Eurer Zelle treffen, und es würde mir einen Ausflug zum Turm ersparen.« Asher benötigte einen Moment, um den Scherz zu begreifen. Wer hätte das gedacht? Der scharfsichtige Orrick hatte Humor.
»Hah!«, sagte er und ging mit ein wenig leichterem Herzen auf die Tür zu. »Sehr witzig.«
Pellen Orrick folgte ihm. Dann lächelte er kurz und mit einer trockenen Erheiterung. »Ich wusste, dass es Euch gefallen würde.«
Ungestört von Kunden räumte Dathne gerade ihre Regale auf, als sie die ersten schwachen Klagerufe von der Straße vor ihrer Buchhandlung hörte. Sie drehte sich um und blickte durch das Schaufenster; ihre zutiefst bestürzten Nachbarn kamen wie Ameisen aus einem Haufen, in dem jemand mit einem Stock herumgestochert hatte, aus ihren Häusern gelaufen und bildeten stoßend und schubsend eine Traube um Fräulein Tattie aus der Bäckerei fünf Türen weiter. Fräulein Tattie wedelte hektisch mit den Händen, während sie sprach, und ihre vom Ofen geröteten Wangen waren tränenüberströmt.
Dathne stockte für einen Moment der Atem, während Erleichterung mit Trauer rang. Aha. Die Neuigkeit war also heraus. Was bedeutete, dass dieses Geheimnis sie nicht länger belasten würde und sie sich stattdessen darum sorgen konnte, was ihr die Prophezeiung als Nächstes schicken würde, um sie zu prüfen. Nicht noch mehr Tote, hoffte sie inbrünstig. Drei Menschenleben – nun, vier, wenn man den armen Matcher mitrechnete – und fünf, wenn man Ashers Vater einschloss – waren bereits um einer ungewissen Zukunft willen geopfert worden. Um sicherzustellen, dass das, was geschehen musste, auch geschehen würde, damit Asher als der Unschuldige Magier wiedergeboren werden konnte. Warum, Veira? hatte sie die alte Frau am vergangenen Abend gefragt, nachdem sie ihr vom Schicksal der Königsfamilie berichtet hatte. Warum sollte die Prophezeiung so viele Menschen töten müssen?
Veiras Antwort durch den Zirkelstein war typisch gewesen. Wir wissen nicht, ob dies das Werk der Prophezeiung ist, Kind. Aber wenn es so ist, dann solltest du wissen, dass es einen Grund gibt. Selbst wenn wir ihn in der Dunkelheit nicht sehen können.
Während der Aufruhr auf der Straße draußen anschwoll, machte Dathne sich über das nächste Regal her. Ob es nun einen Grund gab oder nicht, ihr schien, dass die Prophezeiung unnötig grausam war. Gewiss hätte man die Ereignisse auch ohne Blutvergießen und Leid bewältigen können, ohne den Ausdruck auf Ashers Gesicht, als er in ihre ausgestreckten Arme gefallen war.
In Erinnerungen verloren, spürte sie abermals sein Gewicht, als er sich an sie lehnte, sein knochentiefes Zittern unter ihren Händen. Hörte im Kopf zum tausendsten Mal, wie er ihren Namen flüsterte, als sei er ein Gebet, und ihr Gesicht mit den Augen aufsog. Frische Sehnsucht stieg in ihr auf, wie Saft in den Bäumen nach dem Winter…
Nein. Er war der Unschuldige Magier, und sie war die Erbin Jer–vales. Es stimmte, sie gingen zur selben Zeit denselben Weg, aber sie mussten allein reisen, ihre Hände durften sich nie berühren, ihre Herzen sich nie finden. Was sie empfand, war schlicht und einfach Gefühlsduselei, und dafür hatte die Prophezeiung weder Zeit noch Verwendung. Sie hatte dafür weder Zeit noch Verwendung. Gefühlsduselei würde erheblich mehr Menschen töten, als die Pro– phezeiung das jemals vermochte.
Aber wie hart es war, ihn zurückzuweisen. Und es wurde von Tag zu Tag härter, denn jetzt kannte sie ihn. Kannte ihn wirklich, nicht nur als die lebende Verkörperung der Prophezeiung, sondern als Mann.
Sie wusste, dass er gemalztes Bier lieber mochte als Hopfenbier. Geröstetes Huhn, keine in Soße zubereitete Ente. Er sang gern, hielt sich aber aus Barmherzigkeit in der Öffentlichkeit damit zurück. Seine Lieblingsfarben waren Grün und Blau. Er fand, dass Schauspielerei im Theater eine elende Zeitverschwendung war, konnte aber eine Stunde lang vor einer Marionettenbühne stehen, ohne zu bemerken, wie die Zeit verflog. Er hatte nichts übrig für Verstellung und Überheblichkeit oder für das aufgeblasene Gebaren von Gildemeistem und deren Lakaien, und doch schenkte er jenen Gildemitgliedern, die in einer Notlage zu ihm kamen, seine Zeit, seine Gunst und manchmal Geld. Er beklagte sich bitter, wenn man von ihm verlangte, historische Bücher gleich welcher Art zu lesen, warf aber heimliche Blicke auf die leuchtend bunt bebilderten Märchenbücher, die sie für Kinder in der Buchhand– lung ausliegen hatte.
Er war rüde und grob und beißend und mitfühlend. Treu, unnachgiebig, ehrlich und gerecht. Seine Haut auf ihrer war reine Wonne, seine Stimme auf ihrer Türschwelle ein Lied.
»Du verdammter Kerl, Asher! Warum konntest du nicht abscheulich sein? Oder… oder verheiratet oder hässlich oder alt? Warum konntest du nicht jeder andere sein, nur nicht du selbst?«
»Mit wem sprecht Ihr, meine Liebe?«
Dathne drehte sich erschrocken um. Sie schob die Hände in die geräumigen Taschen ihres Rocks und setzte eine nichtssagende Miene auf. »Meister Beemfield! Es tut mir leid, ich hatte nicht bemerkt, dass ich Kundschaft habe. Kann ich Euch helfen?«
Meister Beemfield saß der Hut schief auf dem Kopf, und in seinen verblassten, blauen Augen standen Tränen. »Oh, meine Liebe«, rief er mit bebender Stimme, unglücklich und verwirrt. »Habt Ihr es schon gehört? Es ist der König, Mädchen. Und die Königin auch und ihre hübsche Tochter. Tot, tot, alle tot. Die Herolde rufen es überall in der Stadt aus!«
»Nein!«, stieß sie geziemend erschrocken hervor und versuchte, sich ein oder zwei überraschte Tränen abzuringen. Als ihr das nicht gelang, tastete sie nach ihrem Taschentuch und verbarg ihr Gesicht. »Wie furchtbar!«
Meister Beemfield schüttelte den Kopf. »Ihr solltet Euren Laden für den Tag am besten schließen, meine Liebe. Heute Nachmittag wird niemand Bücher kaufen. Die Herolde verkünden, es werde um fünf Uhr auf der Treppe zur Halle der Gerechtigkeit eine Ankündigung geben. Wenn Ihr wollt, werde ich Euch jetzt dorthin begleiten. In den Straßen herrscht ein ziemliches Gedränge, und niemand kann sagen, was geschehen könnte, wenn die Menschen so außer sich von Kummer sind.«
Er war derjenige, der hingehen wollte, begriff sie. Er wollte hingehen und hatte vielleicht Angst davor, denn er fühlte sich gebrechlich und überwältigt von der Tragödie. Gewiss hatte er nicht Unrecht, was die Straßen betraf. Ein Blick durch das Fenster zeigte ihr eine geballte Masse von Städtern, die allesamt auf den Hauptplatz der Stadt zuströmten. Ein einziger falscher Schritt, ein Stolpern, und es konnte durchaus geschehen, dass der alte Mann gedankenlos niedergetrampelt wurde. Sie selbst hätte auf die Zusammenkunft durchaus verzichten können. Was immer die Ankündigung besagte, sie würde es bald genug erfahren. Aber Meister Beemfield bedeutete es so viel, und er war ein sehr guter Kunde…
Außerdem bestand eine gute Chance, dass Asher dort sein würde. »Das ist ein sehr freundliches Angebot, mein Herr«, entgegnete sie. »Lasst mich nur meinen Umhang holen.«
Lady Marnagh hatte geweint. Ihre hellgrauen Augen waren blutunterlaufen und aufgedunsen, und ihre Unterlippe zitterte unaufhörlich. Ab und zu, wenn sie glaubte, dass Asher nicht hinsah, wischte sie sich verstohlen eine Träne von der Wange. Er hätte ihr ein Taschentuch angeboten, aber sie erfüllte ihn nach wie vor mit Ehrfurcht. Außerdem hatte sie wahrscheinlich ein eignes. Vermutlich versuchte sie, diskret zu sein.
Sie standen mit den übrigen Dienstboten der Halle der Gerechtigkeit in dem Gebäude, während Barlsmann Holze jenseits der offenen Doppeltüren auf der Treppe zum Platz vor der versammelten Menschenmenge betete. Die Stimmung in der Halle war ernst, das Schweigen beinahe absolut. Ein gedämpftes Schluchzen hier, ein schaudernder Seufzer dort: Dies waren die einzigen Ge– räusche, abgesehen von Holzes gemessener, würdevoller Stimme. Magie trug seine Worte durch die Luft zu den Bewohnern der Stadt, die sich auf dem Platz so dicht drängten, dass Asher bezweifelte, dass auch nur eine Feder zwischen ihnen Platz gefunden hätte. Weitere Menschen hatten sich an den Fenstern der verschiedenen Gebäude versammelt, die den Platz säumten. Er vermutete, dass sie sogar versucht hatten, sich in das Wachhaus zu zwängen, falls Hauptmann Orr… falls Pellen es zugelassen hatte.
Während er all die lauschenden Menschen betrachtete, ertappte er sich dabei, dass er Köpfe zählte. So viele gelbe, so viele schwarze. Von seinem Platz so hoch oben konnte er sehen, dass sie ein Muster formten. Viele gelbe Köpfe im vorderen Bereich des Platzes, um den Fuß der breiten Marmortreppe der Halle der Gerechtigkeit herum, und weitere an den Rändern des Platzes, sodass das Ganze aussah wie eine Pastete: goldene Teigränder mit einer dicken Brombeerfüllung.
Ihm fiel auf, dass er große Mühe gehabt hätte, den meisten der doranischen Gesichter dort draußen einen Namen zuzuordnen. Die einzigen Doranen, die auch nur oberflächlich zu kennen er behaupten konnte, waren Barlsmann Holze und Conroyd Jarralt. Lady Marnagh. Und einige der Doranen aus dem Großrat. Jarralts Spießgesellen. Und sie kannte er auch nur deshalb, weil er ihnen nicht aus dem Weg gehen konnte. Davon abgesehen war ihm die doranische Gesellschaft ein Rätsel. Sein Volk und das Gars schwappten in den Mauern von Dorana umher wie Öl und Wasser, berührten einander regelmäßig, ohne sich jedoch jemals wirklich zu mischen. Selbst als Vizetribun für Olkische Angelegenheiten hatte er nie mit den Doranen der Stadt zu tun gehabt. Bei den seltenen Gelegenheiten während des vergangenen Jahres, bei denen ein Dorane in Olkische Angelegenheiten verwickelt gewesen war, hatte Gar sich um den Fall gekümmert. Und wenn einer von ihnen Gar zum Essen einlud, hielten sie es doch niemals für notwendig, auch einen olkischen Fischer an ihren Tisch zu bitten. Selbst einen, der auf die harte Tour gelernt hatte, welche Gabel er wann benutzen musste.
Mit einem unangenehmen Gefühl des Erschreckens fragte er sich, ob Gar all ihren Gesichtern einen Namen geben konnte. Der Prinz mischte sich nur dann unter sein eigenes Volk, wenn die Pflicht oder das königliche Protokoll es unabweisbar machten, oder wenn Darrans Proteste und flehentliche Bitten ihn zermürbten und er widerstrebend eine Einladung zum Essen oder zu den Rennen oder zu irgendeiner anderen Art von exklusiver doranischer Unterhaltung annahm. Jetzt jedoch, dank dieser Katastrophe, würde sich das ändern.
Der ohne Magie geborene Prinz Gar konnte seinesgleichen meiden, aber der Wettermacher König Gar war plötzlich einer von ihnen. Und er stand im Begriff, in fremde und unvertraute Gewässer hinauszusegeln. Und wie ein Beiboot, das an einen Fischkutter gebunden war, würde Asher von Restharven mit ihm segeln.
Asher biss sich unwillig auf die Unterlippe. Wie würden die Doranen auf die Vorstellung reagieren, dass ihr beinahe unsichtbarer Prinz nun den Thron Lurs besteigen würde? Wie würden sie auf einen einst verkrüppelten Ausgestoßenen reagieren, der sich bei den Olken heimischer fühlte als bei seinem eigenen Volk und der plötzlich zum schlagenden Herzen ihrer aller Leben werden würde? Und wie würden sie reagieren, wenn sie begriffen, dass er erwartete, eine ihrer Töchter zu heiraten, damit er einen Erben zeugen konnte?
Vor dem Unfall hatte Gar den Gedanken gescheut, sich ihnen als ein wiedergeborener Prinz zu offenbaren. Wie würde es jetzt sein? Er war ein unerprobter, unerfahrener Magier, berühmt aus lauter falschen Gründen, und jetzt war er der König. Der Wettermacher. Alles, was zwischen Lur und den unbekannten Gefahren jenseits der Mauer stand. Und nicht einer aus seinem eigenen Volk wusste, ob er der Aufgabe gewachsen war. Um ehrlich zu sein, Gar wusste es nicht einmal selbst. Und wenn er auch nur ein einziges Mal stolperte, und sei es auch noch so geringfügig, würden Conroyd Jarralt und seine Spießgesellen sich auf ihn stürzen wie Katzen auf eine Maus.
Holze hatte endlich aufgehört, Barls Barmherzigkeit und Schutz zu erflehen. Jetzt wartete er, während das Echo der letzten Antwort der Menge erstarb. Asher, der Lady Marnaghs missbilligenden Blick spürte, zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse des Augenblickes zu lenken, und brachte es fertig, etwas Passendes zu murmeln. Dann trat er einen kleinen Schritt vor, um die Menge besser sehen zu können, und wartete mit angehaltenem Atem ab. »Und nun, brave Männer und Frauen von Dorana, fällt mir die Aufgabe zu, die größte aller Fragen zu beantworten«, sagte Holze. Er trug seine feinsten Gewänder; die untergehende Sonne entlockte goldenen und silbernen Fäden ein vielfarbenes Feuer und blitzte auf Rubinen und Smaragden und dunkelpurpurnen Amethysten. Der Mann hatte sich so viele frische Blüten in seinen Zopf geflochten, dass er einen Blumenladen hätte eröffnen können. »Die Tradition schreibt vor, dass der Meistermagier derjenige ist, der unseren nächsten Wettermacher benennt. Aber unser von Herzen gelieb– ter Durm erholt sich noch immer von seinen Verletzungen, daher obliegt es mir, seine Stelle einzunehmen. Barl hat in ihrer unendlichen und rätselhaften Weisheit verfügt, dass wir unser Leben hinkünftig ohne die liebevolle Leitung König Bornes leben müssen, ohne die Erwartung, dass nach ihm seine ruhmreiche Tochter, Fane, die Herrschaft übernehmen wird. Aber in ihrer prachtvollen Hin– gabe an uns, ihre Kinder, hat Barl das Versprechen, das sie unseren Vorfahren gab, dennoch eingehalten und dafür gesorgt, dass wir auch weiter Frieden, Wohlstand und Sicherheit genießen werden können. Daher gebe ich Euch in ihrem großen Namen Seine Majestät, König Gar, Wettermacher von Lur!« Während die Menge draußen zu toben begann, hörte Asher hinter sich mehrere Menschen erschrocken aufkeuchen. Er drehte sich um und sah Gar, der zwischen den links und rechts versammelten Angestellten der Halle der Gerechtigkeit hindurch zur Doppeltür ging. Immer noch in tiefes Schwarz gekleidet, trug er auf seinem zerschundenen Kopf weder ein Diadem noch eine Krone, und sein Gesicht war bleich und grimmig. Durch die geöffneten Türen trat er auf die Treppe der Halle der Gerechtigkeit.
Als die Menge ihn sah, drohte der Lärm den Himmel selbst zu erschüttern. Kreischen. Rufe. Laute Schreie des Willkommens und des Kummers. Irgendwo in dem Gedränge erklang die Stimme eines Mannes: »König Gar! König Gar! Barl segne unseren König Gar!«
Eine andere Stimme nahm seinen Ruf auf. Dann noch eine. Und noch eine. Dann zwei Stimmen gleichzeitig. Drei. Zehn. Dreißig. Fünfzig. Immer lauter und stärker sprangen die Rufe wie Flammen auf einem Weizenfeld von Kehle zu Kehle.
»König Gar! König Gar! Barl segne unseren König Gar!«
Dort draußen erklangen nicht nur olkische Stimmen, sondern auch doranische. Sie erklangen auch hier im Gebäude, wie Asher feststellte. Nicht so laut wie die Stimmen der Menschen draußen, aber mit der gleichen Leidenschaft. In den Gesichtern der versammelten Angestellten sah er Liebe, Erleichterung und überschäumendes Glück. Lur hatte einen neuen Wettermacher. Wenn sie heute Nacht zu Bett gingen, konnten sie sich sicher und beschützt fühlen, geborgen in dem Wissen, dass die Welt unverändert weiter– bestehen würde, und dafür waren sie dankbar. Was alles gut und schön war und eine angenehme Weise, den Tag zu beenden, aber wie lange würden Glück und Dankbarkeit sich halten, wenn Gar nicht bereit war?
Holze hatte sich auf die Knie sinken lassen und den Kopf bis auf die Brust vorgebeugt, um den neuen König zu ehren. Gar ließ ihn drei Herzschläge lang in dieser Haltung ausharren, dann trat er vor und zog den betagten Geistlichen auf die Füße. Umarmte ihn. Der Jubel der Menge war mit einem Mal doppelt so laut und doppelt so inbrünstig. Asher konnte das Vibrieren seiner Knochen spüren. Der Lärm war so laut, dass er glaubte, das Dach der Halle der Gerechtigkeit würde ihnen vielleicht allen um die Ohren fliegen und die Gebäude in der Stadt würden zu Schutt und Staub zerfallen.
Draußen auf der Treppe ließ Gar Barlsmann Holze los und wandte sich der Menge zu. Er hob die Hände hoch über den Kopf, und ein Strom goldenen Lichtes brach aus seinen ausgestreckten Fingerspitzen. Immer höher und höher stieg der goldene Strahl, und plötzlich roch die Welt nach Freesien und Jasmin und allen süßen Dingen. Die Menge verfiel in atemloses Schweigen, während die rohe Magie über ihren Köpfen verschmolz und zu einer dicken, goldenen Wolke wurde.
Gar ballte die Fäuste. Die goldene Wolke erzitterte. Bebte. Zerfiel in Tausende und Abertausende Blütenblätter, die auf die emporgewandten Gesichter seines Volkes niederregneten. Während die Menge voller Staunen aufkeuchte, schluckte Asher seine eigene Überraschung herunter. Es war schwer, sich daran zu gewöh– nen, dass Gar jetzt Magie wirken konnte. Es war so, als beobachte man einen verkrüppelten Vogel, wie er die Flügel ausbreitete und mühelos und beiläufig davonflog, so wie er von Geburt an hätte fliegen sollen. »Bürger von Dorana!«, rief Gar. »Gestern wandelte unter Euch ein Mann, der diesem Königreich als seine Königliche Hoheit Prinz Gar von Lur bekannt war. Dieser Mann ist gestern zusammen mit seiner ganzen Familie gestorben und wurde heute als Euer König wiedergeboren. Als Euer Diener. Als Barls Werkzeug in der Welt, dessen einziger Ehrgeiz es ist, die Stärke ihrer Mauer zu bewahren und zu hegen. Dessen einziger Daseinsgrund es ist, Euch zu helfen, so weiterzuleben wie zuvor: geliebt und sicher und gehorsam gegenüber Barls Willen. Gestern war ich ein Prinz mit einem Vater, einer Mutter, einer Schwester. Heute bin ich ein König mit mehr Vätern und Müttern und Schwestern, als ich zählen kann. Ja, und ich habe auch Brüder, Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen und Kinder. Denn die Menschen von Lur sind jetzt meine Familie. Und ich werde meine Familie bis in den Tod lieben und gegen jeden verteidigen, der ihr Böses will. In Barls Namen, ich schwöre es, und möge die Magie mich verlassen, wenn mein Herz und mein Eid nicht die Wahrheit sprechen!« Atemlose Stille trat ein. Ein bebendes Schweigen. Dann: »König Gar! König Gar! König Gar!«
Asher spürte, wie der kleine Knoten in seinen Gedärmen sich ein wenig entspannte. Gar hatte gelassen geklungen. Zuversichtlich. Eins mit sich selbst und der Last, die Barl ihm ohne guten Grund aufgebürdet hatte, obwohl er noch nicht bereit dazu war.
Er hatte geklungen wie sein toter Vater. Wie ein König.
Während Asher ihn mit vor Erleichterung schwachen Knien beobachtete, ging Gar die Treppe hinunter. Holze streckte die Hand nach ihm aus und sprach bestürzt auf ihn ein; die Worte gingen in den bewundernden Jubelrufen der Menge unter. Gar beachtete ihn nicht. Asher bewegte sich ungläubig auf die Tür zu. War Gar wahnsinnig? Er konnte nicht einfach allein in diese aufgepeitschte Menge spazieren! Nicht dass ihm Gefahr drohte, nicht durch eine vorsätzliche, gesetzeswidrige Tat. Aber all diese Menschen! Die aufgepeitschten Gefühle! Sie würden ihn berühren und mit ihm reden wollen, und das Ganze würde ihn überwältigen. Entsetzt starrte Asher Holze an, und Holze starrte zurück, die Hände hilflos ausgebreitet. »Tut etwas«, zischte er. »Stimmt ein weiteres Gebet an oder ein Lied, schnell! Wir dürfen nicht zulassen, dass er…«
Aber es war schon zu spät. Gar hatte die unterste der marmornen Treppenstufen erreicht und trat in die Menge hinein. Die Doranen machten ihm Platz und prallten mit den Menschen hinter ihnen zusammen. Ein zögerlicher Dorane in mittleren Jahren, der ein blaues Brokatgewand trug, sprach ihn an. In seinem offenen, gelben Haar hatten sich Blütenblätter verfangen. Gar antwortete, dann nickte er und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Mann sah Gar sprachlos an, dann brach er in Schluchzen aus. Gar umarmte ihn. Hielt ihn für einen Herzschlag umfangen und ließ ihn dann los.
Die schlichte Geste brach das verblüffte Schweigen und die unsichere Reglosigkeit der Menge. Plötzlich streckten sich Gar ungezählte eifrige Hände entgegen, und Doranen wie Olken trachteten danach, ihren Wunderkönig zu berühren. Ihn in dieser Zeit des Schmerzes und des Verlustes und des Neuanfangs zu trösten und sich trösten zu lassen. Seine Aura leuchtete wie eine Kerze, als Gar sich durch das Gedränge auf den Platz schob, Menschen umarmte und sich umarmen ließ und sein Volk ihm Platz machte. Die Menschen hießen ihn in ihren Armen und ihren Herzen willkommen und betteten die Geister seiner Familie zur Ruhe.
Eine Zeit lang beobachtete Asher das Treiben, dann wandte er sich wieder zu Holze um. »Nun. Anscheinend weiß er doch, was er tut.«
Auf Holzes faltigen Wangen glänzten Tränen. »Er ist in der Tat seines Vaters Sohn«, flüsterte er, während er mit hungrigem Blick Gar nachschaute. »Zum ersten Mal, seit ich dieses schreckliche Loch im Zaun des Horsts gesehen habe, habe ich keine Angst.«
Asher biss sich auf die Unterlippe. »Ihr wisst nicht zufällig, wo Lord Jarralt ist, oder? Ich hätte erwartet, dass er sich hier einfinden würde.«
»Ich kenne Conroyd Jarralt schon sein Leben lang, Asher«, antwortete Holze leise. »Man kann ihm vieles nachsagen, und nicht alles davon ist angenehm, aber ein Ketzer und Verräter ist er nicht. Conroyd liebt dieses Königreich. Er würde ihm niemals Schaden zufügen. Wenn Ihr nichts anderes glaubt, das zumindest könnt Ihr glauben.«
Es hatte keinen Sinn, Einwände zu erheben. Asher nickte. »Ja, Herr.« »Ich werde jetzt in die Barlskapelle zurückkehren und für die Verstorbenen der königlichen Familie beten. Sollte Seine Majestät mich aus irgendeinem Grund brauchen, schickt einen Läufer.«
»Ja, Herr«, sagte Asher noch einmal und trat beiseite, um Holze vorbeigehen zu lassen. Bevor er ihm zurück in die Halle folgte, warf er einen letzten Blick auf die Menge und auf seinen König. Wahrscheinlich würde Gar noch Stunden dort draußen bleiben, denn sämtliche Olken und Doranen versuchten, ihn zu berühren. Was bedeutete, dass einem gewissen Meister Asher, ehemals aus Restharven, eine weitere späte Nacht bevorstand.
Hurra.
Hinter ihm erklang ein Räuspern, und er drehte sich um.
»Ist das Personal jetzt entlassen, Asher?«, fragte Lady Marnagh. »Darf ich sie nach Hause schicken?«
Sie hatte sich noch nie derart seinem Willen unterworfen, nicht in all der Zeit, die er sie nun kannte. Doch nicht er war derjenige, der sich verändert hatte. War es das, was er jetzt von jedermann erwarten konnte? Färbte etwas von Gars königlichem Glanz auf ihn ab? Er nickte. »Schickt sie ruhig weg, Mylady. Es gibt keine Arbeit mehr für sie zu tun, und sie werden wahrscheinlich bei ihren Familien sein wollen.«
»Was ist mit Euch?«
Er zuckte die Achseln. »Ich schätze, ich werde noch ein Weilchen bleiben, bis die Menge da draußen sich satt gesehen hat und nach Hause gegangen ist. Möglicherweise braucht der König mich noch für irgendetwas.«
»Ja, natürlich.« Sie zögerte, und frische Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Werdet Ihr Seiner Ho… Seiner Majestät ausrichten, wie leid es mir tut? Wie leid es uns allen tut.«
»Ja.«
Sie strich mit den Fingerspitzen über seinen Ärmel. »Danke. Ich wünsch Euch noch einen schönen Abend, Asher.« »Und ich Euch, Lady Marnagh.« Er beobachtete, wie sie ihr Personal zusammenrief und die Männer und Frauen durch die hinteren Türen geleitete. Draußen schwollen die Stimmen der Menge an und ab wie der rastlose, tosende Ozean. Bei dieser plötzlichen Erinnerung stieg mit einem Mal Heimweh in ihm auf. Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte Lady Marnaghs Personal aus der Halle.
In den Ställen der Halle, wo er Cygnet zum Fressen zurückgelassen hatte, fand Asher Ballodair dösend in der Box neben Cygnet, außerdem einen einzigen Stallburschen, der das Messing polierte. »Du kannst jetzt gehen, Vonnie«, sagte er. »Es sind ja keine anderen Pferde mehr da, um die du dich kümmern müsstest. Ich werde hier warten, bis Seine Majestät zurückkehrt, und dafür sorgen, dass den Pferden nichts zustößt.«
Der schüchterne Vonnie nickte dankbar, zündete die Stallhoflaternen an, da die Abenddämmerung langsam heraufkroch, und eilte davon. Asher fand einen leeren Wassereimer, kippte ihn um, setzte sich darauf und lehnte sich an die Wand zwischen den beiden besetzten Ställen. Mit beiläufiger Neugier zupfte Cygnet an seinem Haar. Asher tätschelte seine Nase. Da ihm keine Äpfel ange– boten wurden, verlor das Pferd das Interesse und zog sich zurück, um im tiefen Stroh zu dösen. Asher streckte die Beine aus, faltete die Hände auf dem Schoß und folgte dem Beispiel des Tieres.
Einige Zeit später erwachte er, als jemand ihn gegen den Knöchel trat. »Au!«, sagte er und öffnete die Augen. Es war dunkel, und er fror. »Wo ist Gar?« »Er ist immer noch da draußen«, antwortete Dathne. Sie trug eine geschlossene, schwarze Wolljacke und hielt in der Hand einen mit einem Tuch abgedeckten Korb. »Hungrig? Ich habe ein Abendessen mitgebracht.«
Er stand mit knackenden Gelenken auf. »Wie spät ist es?«
»Fast halb sieben.« Sie stellte den Korb ab und zog das Tuch zurück. Die Luft füllte sich mit dem Duft von heißem Maisbrot; er schnupperte anerkennend; plötzlich fühlte er sich vollkommen ausgehungert.
Während Dathne sich an dem Inhalt des Korbs zu schaffen machte, fügte sie hinzu: »Auf dem Platz stehen die Menschen noch immer dicht an dicht. Sie wollen nicht nach Hause gehen, bevor sie ihren neuen König berührt haben, und er will sie nicht wegschicken, auch wenn er inzwischen vollkommen erschöpft sein muss. Die Menschen singen straßauf, straßab sein Loblied. Wenn sie vorher ängstlich oder unsicher waren, jetzt sind sie es nicht mehr.«
Er streckte die Hand aus und nahm das in eine Serviette gewickelte Essen, das sie ihm anbot. »Woher wusstest du, dass ich hier war?«
Ihr Lächeln war kurz und voller Zuneigung. »Wo sonst würdest du sein, außer ganz in der Nähe, um auf ihn zu warten?«
Er zuckte mit den Schultern; er hatte den Mund bereits zu voll, um etwas erwidern zu können. Das Maisbrot war durchtränkt von Butter; er hätte um ein Haar laut aufgestöhnt, so köstlich schmeckte es. Sie lächelte abermals, freute sich an seiner Freude und nahm einen zierlichen Bissen von einem gebratenen Hühnerflügel. Ihm lief geschmolzene Butter das Kinn hinunter und in seinen Ärmel. Es kümmerte ihn nicht. Sie hatte an ihn gedacht und ihm etwas zu essen gebracht.
»Erzähl mir, wenn du kannst: Wie geht es Meistermagier Durm?«, bat sie. »Wie geht es ihm wirklich?«
»Er ist nicht tot«, erwiderte er und griff nach einem fleischigen, gewürzten Unterschenkel. »Warst du draußen auf dem Platz? Als Holze Gar zum König ausgerufen und er seine hübsche Ansprache gehalten hat?«
»Es war eine gute Ansprache. Sie hat viele der Menschen zu Tränen gerührt.« Er leckte sich Butter und Hühnerfett von den Fingern und beobachtete dabei weiter ihr Gesicht. »Dich auch?«
»Möchtest du noch mehr?«, fragte sie und beugte sich über den Korb. »Es ist reichlich da.«
Er hielt ihr seine Serviette hin, und sie füllte sie abermals. Elendes Frauenzimmer. Wenn sie geweint hätte, würde sie es ihm niemals sagen. Bedeutete das, dass sie ihm niemals gehören würde, wenn sie ihm nicht einmal so viel von sich selbst preisgeben konnte? Er hielt es für möglich. Verzweiflung machte ihn frösteln. Er konnte spüren, wie seine Träume und sein Verlangen nach ihr verblassten wie Nebel am Morgen. Einmal, nur ein einziges Mal wünschte er, er könnte ihr wahres Herz ergründen.
»Was ist?«, sagte sie und sah ihn an.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Dies ist wirklich gut«, antwortete er und nahm noch mehr warmes Maisbrot, bevor er etwas anderes sagte. Etwas, das er niemals würde zurücknehmen können und das er mit ins Grab nehmen würde, um es für alle Ewigkeit zu bereuen.
»Es wird sich jetzt alles verändern«, sagte sie und beugte sich abermals vor, um in dem Korb zu stöbern. »Hast du darüber nachgedacht?«
Jeden verdammten Augenblick, im Wachen wie im Schlafen, seit dem Grauen von Salberts Horst. »Ein wenig.«
»Er wird jetzt keine Zeit mehr haben für die Verwaltung der Olkischen Angelegenheiten. Das Wettermachen wird ihn bei lebendigem Leibe verschlingen, geradeso wie es sie alle verschlingt.« Sie richtete sich auf. »Ich vermute, dass er dich bitten wird, endgültig an seine Stelle zu treten. Tribun für Olkische Angelegenheiten Asher. Asher von Dorana, statt von Restharven.« Die Worte waren eine Harpune zwischen seinen Rippen. »Du klingst wie der verdammte Matt«, sagte er, gröber, als er beabsichtigt hatte. »Also, ich werde dir sagen, was ich ihm gesagt habe. Dorana ist für den Augenblick mein Zuhause, nicht für immer.«
»Schön. Aber solange es ›für den Augenblick‹ ist, was wirst du tun?«, verlangte sie zu wissen. »Wenn der König dich bittet, ihm als sein Tribun zu dienen, was wirst du antworten?«
Er ließ den abgenagten Hühnerknochen und die butterfleckige Serviette in den Korb fallen. »Was glaubst du denn? Ich werde sagen, was ich immer sage, wenn er mich bittet, etwas zu tun«, murrte er. »Ich werde ja sagen.«
Sie beugte sich vor und berührte seine Hand. Jetzt lächelte sie, und der Ausbruch von vorhin war vergessen. Ein Schock durchzuckte ihn, ein Blitz an einem heißen Himmel. »Mach nicht so ein düsteres Gesicht. Es gibt schlimmere Dinge, mit denen man seine Zeit verbringen kann.«
»Nein, gibt es nicht«, entgegnete er und kämpfte gegen den Drang, die Finger, die ihn berührt hatten, zu ergreifen und bis zum Ende der Zeit festzuhalten. »Denn es bedeutet, dass ich Hand in Hand mit diesem verdammten alten Darran arbeiten muss, obwohl er und ich einander seit dem Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind, umbringen wollten. Und es immer noch wollen.« Sie lachte. »Oje. Das klingt für mich so, als würdet Ihr einen Gehilfen brauchen. Jemanden, der Euch vor ihm rettet… oder ihn vor Euch.«
»Natürlich werde ich einen verdammten Gehilfen brauchen!«, sagte er mit zornfunkelndem Blick. Dann griff er wieder in den Korb, nahm sich noch ein Stück Maisbrot, das inzwischen nur noch lauwarm war, und begann grimmig zu kauen. »Ich hätte einen gebraucht, seit Gar seine Magie bekommen hat und es mir überlassen blieb, die Scherben von allem anderen aufzulesen.« »Würde ich genügen?«
Es bedurfte eines ausgiebigen Hustenanfalls mit hochrotem Gesicht und einiger wohlplatzierter Schläge auf seinen Rücken, um das Maisbrot zu lockern, das ihm in die Luftröhre geraten war. Mit überquellenden Augen und heftig atmend, starrte er sie an. »Du willst meine… Hah! Das ist sehr komisch, Dathne!« Ihr Lächeln war beunruhigend: kühl und selbstbeherrscht und leicht herausfordernd. »Es ist kein Scherz.«
Er sah sie genauer an und stellte fest, dass sie die Wahrheit sagte. »Was ist mit deiner Buchhandlung?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll damit sein? Ich kann jemanden einstellen, der die Bücher für mich verkauft. Ich habe das lange Zeit selbst getan, Asher. Vielleicht würde es mir gefallen, einmal etwas anderes zu machen.«
Er wischte sich die Hände an seinen Hosen ab, ohne sich um Fettflecken zu scheren. Wenn ihr plötzlich Hufe und ein Schwanz gewachsen wären, hätte er wohl kaum überraschter sein können. Dathne als Vizetribunin für Olkische Angelegenheiten. Seine Vizetribunin. Es war verrückt. Binnen einer Woche würde sie zu ihren Büchern zurücklaufen wollen. All die Winkelhaken und Haarspaltereien, die dabei vonnöten waren, und der Umgang mit den Gilden. Sie würde die Fassung verlieren und ihnen beim ersten Zeichen von Widerspruch die Nase abbeißen…
»Ich kann mit Menschen geradeso gut umgehen, wie ich mit Büchern umgehen kann, Asher«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Zum Kuckuck mit ihr. »Du bist nämlich nicht der Einzige, der mit den Gilden zu tun hat. Und mit geschwätzigen Zauderern, die keine Entscheidung treffen könnten, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Außerdem bin ich eine hervorragende Chronistin und in der Stadt wohlbekannt. Ohne anmaßend erscheinen zu wollen, aber ich bin auch angesehen. Ich könnte dir in allen möglichen Dingen nützlich sein.« Sie meinte es ernst. Sie bot sich ihm tatsächlich als Gehilfin an. »Die Bezahlung ist nicht besonders großartig«, warnte er sie. »Die Arbeitszeit ist lang und angefüllt mit ungezählten Wortgefechten und Ärger, und ganz gleich, wie sehr du dich bemühst, es gelingt dir fast nie, es allen recht zu machen. Und niemand denkt, du hättest ein eigenes Leben; sie denken, du seiest nur dazu da, dir zu jeder Tages– und Nachtstunde all ihre Probleme anzuhören und sie dann mit einem Fingerschnippen in Ordnung zu bringen. Und wenn du es nicht kannst oder nicht willst, schmollen sie und jammern und drohen, eine Beschwerde einzureichen.«
Sie grinste. »Meinst du, ich wüsste das alles nicht? Nachdem ich ein Jahr zugehört habe, wie du in der Gans in dein Bier gejammert hast, Asher, meinst du nicht, ich wüsste nicht genau, was diese Stellung umfasst?«
»Und du willst es trotzdem machen?« Als sie nickte, warf er die Hände hoch. »Siehst du? Du bist verrückt!«
»Wenn du mich nicht willst, kannst du das sagen. Aber glaube nicht, es sei mir nicht ernst.« »Was sagt Matt dazu?« »Was hat Matt damit zu tun?« Er verzog das Gesicht. »Mir scheint, du redest praktisch über alles mit ihm. Mir scheint, wann immer ich mich umdrehe, steht ihr beiden Nase an Ohr in irgendeiner Ecke und tuschelt miteinander. Ich dachte, du hättest ihn nach seiner Meinung gefragt, bevor du mir einen Todesschrecken einjagst.«
»Das hat nichts mit Matt zu tun«, blaffte sie. »Es geht hier um dich und mich und um die Frage, ob du mich als deine Vizetribunin willst. Also. Willst du?« Wollte er sie? Barl rette ihn, er wollte sie so sehr, dass er manchmal befürchtete, seine Knochen könnten schmelzen. Der Gedanke, mit ihr zu arbeiten… Sie jeden Tag um sich zu haben… Ihre Stimme zu hören, ihr Haar zu riechen, zu beobachten, wie sie durch einen Raum glitt. Es bedeutete, dass er dann alle Zeit der Welt haben würde, um die Geheimnisse ihres Herzens kennen zu lernen. Es ihr vorsichtig abzuringen und in seinen behutsamen Händen zu halten. »Was?«, fragte sie, als er sein unmäßiges Verlangen mit einem neuerlichen Hustenanfall tarnte. »Was ist los, ist mit dir alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut«, antwortete er und schlug sich auf die Brust. Dann grinste er. Jeden Tag… jeden Tag… »Verdauungsstörungen. Es muss an irgendetwas liegen, das ich gegessen habe.«
Das brachte sie zum Lachen, und sie versetzte ihm eine Kopfnuss. »Undankbarer Lump! Das ist das letzte Mal, dass ich…« Und dann brach sie ab, und ihr Lächeln erlosch. Nüchtern und ernst versank sie in einen tiefen Knicks. »Eure Majestät.« Er fuhr herum. Gar. Er wirkte erschöpft und berauscht und auf schwer fassbare Weise nicht wie er selbst. »Herr«, sagte er und verneigte sich.
»Du hast gewartet«, erwiderte Gar.
»Verdammt, natürlich habe ich gewartet. Geht es Euch gut?« Gar zog die Augenbrauen hoch. »Sollte es mir nicht gut gehen?«
Dathne machte einen zögerlichen Schritt vorwärts. »Herr, wenn ich darf… Wenn es nicht zu anmaßend ist… Es tut mir leid, Herr. Die Menschen in Lur haben Eure Familie von Herzen geliebt, und man wird sie zutiefst vermissen. Ich weiß, Ihr werdet einen prächtigen König abgeben, ich meine nicht… Es ist nur… Oje…« Es war das erste Mal, dass Asher sie stotternd erlebte. Verunsichert beobachtete er, wie Gar näher trat, sie sanft auf die Wange küsste und sagte: »Ich weiß. Danke, Dathne. Ihr solltet jetzt nach Hause gehen. Es ist schon spät, und ich habe noch mehr Arbeit für Asher.«
Sie knickste abermals, dann griff sie nach ihrem Korb. »Ja, Herr. Danke, Herr. Asher, wir werden unser Gespräch bald fortsetzen?«
»Ja«, antwortete er. »Bald.«
Schweigend sahen sie ihr nach. Gar, der den Kopf noch immer abgewandt hatte, sagte: »Weißt du, was das Schlimmste an all dem ist?«
Asher verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«
»Es tut allen so leid; sie leiden um meinetwillen und um ihrer selbst willen. Die Menschen dort draußen haben heute Abend so viele Tränen auf meine Gewänder vergossen, dass sie vollkommen durchnässt sind. Sie erzählen mir, dass ihr Herz gebrochen sei, sie erzählen mir, wie wunderbar meine Familie gewesen sei, und sie denken, sie würden mich damit trösten. Aber in Wirklichkeit wollen sie nur, dass ich sie tröste.« Gar lachte leise. Ballodair schob den Kopf über die Stalltür und wieherte. Gar ging zu ihm hinüber, strich ihm die zerzauste Stirnlocke glatt und zupfte ihn sanft am Ohr. »Also tue ich es. Ich halte sie in den Armen, obwohl ich weiß, dass Darran zum Beispiel bei dem Gedanken ohnmächtig werden würde, und ich lasse sie an meiner Brust weinen und mir erzählen, wie groß ihr Schmerz darüber sei, dass meine Familie tot ist. Und dann gebe ich ihnen den Friedenskuss und das Versprechen, dass ihnen und ihren Kindern jetzt, da ich König bin, kein Leid widerfahren wird. Und sie lächeln mich an, denn das ist es, was sie hören wollten, und sie kehren zu ihrer lebenden Familie zurück, und ein anderer tritt vor, um ihren Platz einzunehmen.«
»Die Doranen tun das?«, fragte Asher mit weit aufgerissenen Augen. Gars Lächeln war abfällig. »Was glaubst du?« Nach einer unbehaglichen Pause räusperte er sich. »Ihr wisst, dass es mir leidtut, nicht wahr?« Gar nickte. »Natürlich.«
Eine neuerliche Pause. Asher untersuchte die Manschetten seines Hemdes und fragte sich, worauf Gar wartete. »Ihr habt ihnen heute Abend dort draußen ein beachtliches Schauspiel geboten.«
Gar zuckte mit den Schultern. »Irgendetwas musste ich tun. Sie mussten sehen, dass ich kein Krüppel mehr bin. Aber blitzende Lichter und Blütenblätter werden sie nicht bis in alle Ewigkeit überzeugen, Asher, weder die Olken noch die Doranen. Jetzt glauben sie an mich, weil sie unter Schock stehen und voller Trauer sind und weil ich, wie du sagst, ein überzeugendes Schauspiel geboten habe. Unglücklicherweise wird ihr Glaube an mich nicht lange halten. Nicht ohne etwas… Greifbareres, mit dem ich meine Fähigkeiten unter Beweis stelle.« Asher verzog das Gesicht. Verwünscht, Gar hatte Recht. »Was das betrifft, könnt Ihr nicht viel tun.«
»Im Gegenteil«, erwiderte Gar. »Ich kann Regen herbeirufen. Und nicht nur hier in Dorana, sondern im ganzen Königreich.«
Er schnappte nach Luft. »Im ganzen Königreich? Seid Ihr wahnsinnig? Ihr habt noch nicht einmal in einer Teetasse Regen heraufbeschworen! «
»Nicht in einer Teetasse, nein. In einer Testkugel. Das Prinzip ist dasselbe, es ist lediglich eine Frage des Maßes.«
»Des Maßes? Habt Ihr den Verstand verloren? Nicht einmal Euer Pa hat es über einem ganzen Königreich regnen lassen! Ihr werdet Euch umbringen! Warum wartet Ihr nicht noch ein oder zwei Tage? Vielleicht kommt Durm ja wieder zu sich. Wenn er es tut, könnt Ihr ihn fragen, was…«
Gars Blick war dolchscharf. »Ich kann es mir nicht leisten, so lange zu warten. Ich kann es mir nicht leisten, überhaupt zu warten. Wenn ich nicht etwas Maßgebliches tue, wird das Volk aufhören, an mich zu glauben, und Lur wird in Chaos und Verzweiflung versinken. Conroyd Jarralt wird am Zug sein, und ich werde die Krone verlieren, der mein Vater sein Leben lang gedient hat. Ich werde Regen rufen, Asher. Heute Nacht. Und ich möchte dich bei mir haben, wenn ich es tue.« »Mich?«
»Wen sonst?«
Asher trat entsetzt einen Schritt zurück. »Jeden anderen, nur nicht mich!« »Es wird dir nichts zustoßen, das verspreche ich dir.« »Das könnt Ihr nicht wissen! Ihr habt so etwas noch nie zuvor getan!«
»Das ist wahr«, räumte Gar nach einem längeren Schweigen ein. »Aber es muss für alles ein erstes Mal geben. Für mich und für das Wettermachen ist heute Nacht dieses erste Mal. Asher, ich kann dies auch allein tun. Ich möchte es nur nicht allein tun.«
Und was ist mit mir?, hätte Asher am liebsten gerufen. Wer interessiert sich dafür, was ich möchte? Er wandte sich halb ab, die Hände überm Kopf verschränkt. Wie so häufig in letzter Zeit wünschte er sich nichts sehnlicher, als mit den Fischgedärmen über Bord zu gehen. Er drehte sich wieder um. »Also schön. Nur dieses eine Mal. Aber glaubt nicht, dass ich es mir zur Gewohnheit machen werde, denn…«
»Gut«, sagte Gar. »Und jetzt sollten wir uns beeilen. Ich möchte, dass der Himmel binnen einer Stunde voller Regenwolken hängt.«
Sie ritten schweigend zum Palast zurück, aber statt ihren Weg bis zum Turm fortzusetzen, lenkten sie ihre Pferde auf ein kleines Wäldchen auf dem Gelände des alten Palastes zu, wo kein Gärtner mehr dem üppigen Wuchern der Natur Einhalt gebot. Eingehüllt in bleiches Glimmfeuer, bewegten die Pferde sich vorsichtig über einen schmalen Pfad, der direkt in das Herz des alten Waldes mit seinem dichten Unterholz führte.
»Hier«, sagte Gar schließlich und zügelte sein Reittier. »Es ist besser, wenn wir den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Der Pfad ist schmal, und die Bäume wachsen hier ziemlich dicht. Außerdem finden Pferde die Wetterkammer manchmal… beunruhigend.«
»Ach ja?«, erwiderte Asher, während er sich zu Boden gleiten ließ. »Und was ist mit Fischern?«
Gar schwang ein Bein über den Knauf und sprang ab. »Das weiß ich nicht.« »Nun, ich wüsste es, verdammt noch mal«, sagte er und band Cygnets Zügel an den nächstbesten Ast. »Fischer finden dergleichen Dinge noch beunruhigender als Pferde. Und Ihr solltet nicht auf diese Weise absitzen, das ist gefährlich. Ihr könntet Euch Euren verdammten Hals brechen.«
Gar seufzte. »Ich sitze schon seit Jahren so ab, Asher. Sieht mein Hals für dich gebrochen aus?«
»Nein, aber es gibt für alles ein erstes Mal«, gab er zurück. »Zumindest ist mir das gesagt worden.«
Gar grinste schief. »Komm. Die Nacht wird nicht jünger.«
Seite an Seite eilten sie über den schmalen, grasbewachsenen Pfad. Die dünne Luft hatte scharfe Zähne, aber Asher spürte sie nicht. Gar, der sein Schaudern bemerkt hatte, hatte einen Mantel direkt aus seinem Kleiderschrank im Turm herbeibeschworen und überreichte ihn ihm mit solcher Selbstzufriedenheit, dass er selbst grinsen musste.
Asher überlegte, dass es vermutlich nicht besonders feinfühlig war, mit jemandem zu streiten, der in Trauer war. Aber manche Dinge ließen sich eben nicht ändern.
»Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass dies eine gute Idee ist.« »Natürlich ist es das. Du hast es heute Morgen selbst gesagt. Ich sollte nicht versuchen, allein Wetter zu machen.« »Aber was ist, wenn etwas schiefgeht?« »Dann wirst du natürlich Hilfe holen.«
»Hilfe. Klar«, sagte er langsam. »Bloß schätze ich, dass es da ein Problem geben dürfte.«
Gar sah ihn verwirrt an. »Ein Problem?«
»Jawohl! Denn nachdem sie Euch geholfen haben, werde ich es sein, dem sie helfen werden – auf direktem Weg in die nächste leere Zelle unten im Wachhaus.« Gar wirkte immer noch verwirrt. Asher hätte ihn am liebsten geschlagen. »Es ist Olken verboten, sich auf Magie einzulassen, habt Ihr das schon vergessen? Ich meine, ist Euch der Name Timon Spake schon entfallen? Denn ich versichere Euch, mir ist er im Gedächtnis geblieben!«
Gar blieb stehen. »Ich habe nichts vergessen, was an jenem Tag geschehen ist. Und es kränkt mich, dass du glaubst, ich könnte es vergessen.«
»Nun, mich kränkt die Vorstellung, dass man mir den Kopf abhacken könnte!«, gab er zurück und fuhr zu seinem idiotischen König herum.
»Barl rette mich!«, blaffte Gar. »Niemand wird dir den Kopf abhacken! Und du wirst dich nicht auf Magie einlassen, du wirst mich beschützen, während ich meiner heiligen Pflicht als Lurs Wettermacher nachkomme. Du Narr, man wird dir höchstwahrscheinlich eine Medaille verleihen!«
»Sagt das Conroyd Jarralt!«
Mit einem ungeduldigen Zischen packte Gar Asher mit einer Hand am Arm und deutete mit der anderen nach oben. »Sieh dir das Geschenk an, das Barl uns macht. Nur zu. Sieh es dir an.«
Mit einem tiefen Seufzer legte Asher den Kopf in den Nacken und blickte zu Barls Mauer empor. Betrachtete den gewaltigen, leuchtenden, goldenen Lichtstrudel, der jenseits der Baumwipfel in den sternenübersäten Himmel aufragte. Fern. Rätselhaft. Prachtvoll.
»Na schön«, sagte er säuerlich und riss seinen Arm los. »Ich sehe es. Was soll daran Besonderes sein? Es ist die Mauer, Gar. So, wie sie immer gewesen ist.« »Ja. Genauso, wie sie seit über sechshundert Jahren ist. Und du hast dich vollkommen daran gewöhnt, nicht wahr? Du verschwendest kaum einen Gedanken daran. Und weißt du auch, warum? Weil du niemals einen Grund hattest, daran zu zweifeln, dass sie dort sein würde, wenn du nach ihr Ausschau hältst, ebenso wenig, wie du daran zweifelst, dass Luft da sein wird, wenn du morgens die Augen aufschlägst.«
»Gar…«
»Was bedeutet die Mauer dir, Asher? Was siehst du, wenn du sie betrachtest?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er verblüfft. »Sicherheit. Wohlstand.« Er zuckte mit den Schultern. »Magie.«
Gar blickte zu den goldenen Bergen empor. »Ich sehe den Altar, auf dem mein Vater sein Leben geopfert hat. Auf dem sich alle Wettermacher von Lur geopfert haben, Generation um Generation, bis zurück zu der Gesegneten Barl selbst, die ihr Leben für die Schaffung dieser Mauer gegeben hat. Ich sehe ein Schwert, das mich beginnend mit der heutigen Nacht jeden Tag aufs Neue schneiden wird, bis kein Blut mehr in mir ist, das ich vergießen kann. Ich sehe mein Leben und meinen Tod und die von Schmerzen durchtränkten Tage dazwischen, entboten als Bezahlung für die Übernahme eines Landes, das nicht das unsere war, und einer Gefahr, die an deinem Volk hätte vorbeigehen müssen und es nicht getan hat. Wegen meines Volkes.« Sein Blick wanderte für einen Moment zur Seite, bevor er wieder zu der Mauer hinüberschaute. »Das ist es, was ich sehe, Asher.« Asher runzelte die Stirn. Wieder einmal war Gar plötzlich ein Fremder geworden. Er schob die frierenden Hände in seine Taschen. »Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt es über dem ganzen Königreich regnen lassen?«
Gar riss mit einiger Mühe den Blick von der goldenen Mauer los. »Ich schätze, wenn ich es nicht versuche, werden wir es nie erfahren.« Er setzte sich wieder in Bewegung, und Asher schloss sich ihm an.
Eine halbe Meile später endete der Pfad auf einer kleinen Lichtung … in deren Zentrum die Wetterkammer des Königreichs stand. Als Asher sie sah, geriet er ins Straucheln, und sein Herz begann zu hämmern.
Der Geschichte zufolge hatte Barl selbst die Wetterkammer nach eigenem Entwurf erbaut und ihre letzten Lebenstage dort zugebracht, während sie die Wettermagie und die Mauer, die Lur bis zum Ende der Zeit gegen Übergriffe schützen sollte, erschaffen und vervollkommnet hatte. Aus dem gleichen Stein gebaut wie Gars Turm, besaß die Wetterkammer ein gläsernes Kuppeldach und bot einen unverstellten Blick auf den Himmel. Es gab keine anderen Palastgebäude in Sicht– oder Hörweite. Das Licht der Mauer schien hier näher zu sein, heller und dichter, als hätte die Wetterkammer auf irgendeine Weise die Macht, sie heranrücken zu lassen.
Er sah sich um. »Es sind keine Wachen hier.«
Gar schüttelte den Kopf. »Das ist auch nicht notwendig. Die Kammer ist durchtränkt mit Magie. Mein Vater pflegte zu sagen, sie fühle sich… lebendig an. Irgendwie weiß sie es, wenn sie nicht allein ist. Sollte ein Besucher mit böser Absicht hierherkommen, würde die Tür sich nicht öffnen, und keine uns bekannte Magie könnte daran etwas ändern.«
Er trat auf die Lichtung hinaus. Asher holte tief Luft und folgte ihm. Die Tür der Wetterkammer war aus schlichtem, unlackiertem Holz. Es gab keinen Griff, keinen Klopfer, kein Schlüsselloch oder Schloss. Gar zog die Brauen zusammen und tastete in seiner Erinnerung.
»Bei meinem letzten – meinem einzigen – Besuch hier war ich noch ein Kind«, murmelte er. »Durm hatte damals die Absicht, mich bald wieder herzubringen, um meine Ausbildung zu vertiefen…« Er presste die Lippen aufeinander und wischte sich die Hände an der Vorderseite seines schwarzen Gewands ab. »Ein weiterer Plan, der in Stücke gebrochen ist, zusammen mit allem anderen.« Mit diesen Worten warf er den Kopf in den Nacken, schlug mit den Händen gegen das Holz und drückte.
Die Tür blieb geschlossen.
»Sie klemmt nur«, meinte Asher, um das unbehagliche Schweigen zu brechen. »Es liegt wahrscheinlich an der Feuchtigkeit oder etwas Ähnlichem.« »Welche Feuchtigkeit?«, fragte Gar mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe es noch nicht regnen lassen.«
Er drückte abermals, fester diesmal. Wieder widersetzte sich die leicht knarrende Tür seiner Bemühung. Mit einem Laut, der wie ein Schluchzen klang, trat Gar zurück. Er starrte die Tür an, verwirrt und wütend und ein wenig ängstlich. »Öffne dich, verdammt noch mal! Ich bin der König, und ich werde mir Einlass verschaffen!« Er schlug mit der Faust gegen das Holz. »Lass mich ein!« Dann trat er wieder näher, legte die Stirn an die Tür und strich wie ein schmeichelnder Geliebter mit den Fingern über die verwitterte Maserung. »Bitte«, flüsterte er. »Bitte… lass mich ein…«
Asher lachte unbehaglich. »Es ist eine Tür, Gar. Holz. Sie ist nicht wirklich lebendig. Und selbst wenn sie es ist, sehe ich keine Ohren irgendwo herausragen. Sie kann Euch nicht hören. Ich sage Euch, es ist die Feuchtigkeit.« Um seine Worte zu unterstreichen, warf er sich selbst gegen die geschlossene Tür. Sie öffnete sich.
»Verdammtes Ding«, sagte er stirnrunzelnd. »Sie ziert sich, das ist alles. Wenn sie wirklich lebt, wette ich, sie ist eine Frau.«
Gar zupfte am Saum seiner Robe. »Nein. Es war die Feuchtigkeit, wie du gesagt hast.«
Asher blickte auf. »Was meint Ihr, wie viele Treppenstufen es bis nach oben sind?«
»Einhundertdreißig.«
»Oh, meine armen Beine.«
Gar sandte Glimmfeuer in die Eingangshalle voraus, und sie stiegen schweigend und mit brennenden Muskeln zu der glasüberwölbten Kammer hinauf. Gar öffnete ungehindert die Tür, bedeutete Asher mit einem Nicken voranzugehen, und folgte ihm hinein. Das auf und ab hüpfende Glimmfeuer warf ihre Schatten in langen, dünnen Linien auf den Boden. Mit einer Bewegung seines Arms ließ Gar die Tür wieder zufallen, dann entzündete er in den Haltern an den geschwungenen Mauern frisches Glimmfeuer. Die Schatten verschwanden, und die Kammer wurde enthüllt.
Der Raum war sauber und kalt und roch schwach nach Regen. Der Parkettboden glänzte in einem dunklen Rotbraunton, Hunderte von Holzleisten, die ein raffiniertes, ineinander verschlungenes Muster bildeten. Asher schätzte, dass etwa fünfzig tanzende Paare unter der gläsernen Kuppeldecke Platz gefunden hätten… Das hieß, wenn nicht etwas in der Mitte des Raums gestanden hätte. Asher betrachtete mit fasziniertem Blick das Gebilde, das sich direkt unter dem Kuppeldach befand und das aussah wie das Spielzeug eines übergroßen Kindes. »Die Wetterkarte«, sagte Gar. Auf seinem Gesicht lag ein hungriger Ausdruck, in den sich Ehrfurcht und Angst mischten. »Barls unglaubliche Macht, die hier bloßgelegt wird. Es ist eine magische Abbildung des Königreichs, bis hinab zum letzten Weiler und zum letzten Dorf.«
Asher trat vorsichtig heran und sah, dass er Recht hatte. Dort waren Barls Berge, zu deren Füßen man den Schwarzen Wald erkennen konnte. Dort war Dorana mit seiner hohen, die Stadt umfassenden Mauer und der Fluss Gant, der seine silbernen Finger ausbreitete. Die Safranhügel. Das Flache Land. All die Orte, die er und Gar auf ihrer Reise nach Westjammer passiert hatten, außerdem die anderen Städte und Dörfer des Königreichs, Bauernhöfe und Weiler, Obstgärten, Weingärten und Felder mit Weizen und Gerste allesamt als perfekte Miniaturen nachempfunden. Er beugte sich tiefer über die Wetterkarte, und sein Magen krampfte sich zusammen. Dort lag – lockend und unberührbar und gänzlich außer Reichweite – sein geliebtes Restharven.
Ohne aufzublicken fragte er: »Wie funktioniert das?«
»Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht ganz sicher«, gestand Gar.
Asher blickte beinahe empört auf. »Ihr seid Euch nicht sicher?«
»Nicht was das Wie angeht, nein«, sagte Gar. Er klang so, als müsse er sich verteidigen, und er wirkte verärgert. »So weit sind Durm und ich nicht gekommen.«
Wirklich Pech. »Aber Ihr seid Euch sicher, dass es funktioniert?«
Gar ging mit gierigem Blick um die Ränder seines ererbten Königreichs herum. »Oh ja. Die Karte verändert sich, so wie sich das Königreich verändert. Frisch urbar gemachte Felder tauchen erstmals auf, Brachfelder verfallen in Schlummer. Land wird verkauft, Grenzen verändern sich, und du wirst davon erfahren, einfach indem du dir dies hier anschaust. Was immer im Land geschieht, spiegelt sich auf dieser Karte wider.« Sein Ärger war mit einem Mal vergessen, während er die Finger über den Spielzeugstädten, den Weizenfeldern, den offenen Wiesen und bewaldeten Tälern tanzen ließ. »Ist sie nicht prachtvoll?«, flüsterte er. Es lag etwas so Nacktes in seinen Zügen, dass es Asher verlegen machte. Liebe… Sehnsucht… Habgier… Verlangen… oder irgendeine eigenartige Mischung all dieser verschiedenen Gefühle. Es war eine zu intime Regung, als dass irgendjemand das Recht gehabt hätte, ihn dabei zu beobachten.
Er blickte auf. Ob es seine Fantasie war oder ein Streich des kristallklaren Glases, das sich über ihm wölbte, wusste er nicht, aber die Sterne sahen zum Greifen nah aus. Ebenso die Mauer, Silber und Gold, die ihn mit ihrer Schönheit erdrückte. Er musste den Blick wieder senken, denn es war zu viel, um es zu ertragen. Gar umkreiste noch immer wie eine Katze, die eine Schale mit Sahne betrachtete, sein kleines Königreich, versunken in einem privaten Tagtraum und mit entblößter Seele. Asher wandte den Blick von ihm ab und suchte sich etwas anderes, das er betrachten konnte.
Die runde Wand der Wetterkammer war vor langer Zeit weiß verputzt worden. Ringsum standen hüfthohe Bücherregale und ein zweitüriger Schrank aus Kirschholz. Die Regale bogen sich unter der Last in Leder gebundener Bücher, einige davon dick, andere dünn, manche uralt, manche fast neu. Der Raum zwischen der Decke und den Regalen war wie ein Kindermalbuch bedeckt mit Kalendern, Karten, Diagrammen, handgeschriebenen Notizen auf vergilbenden Fetzen Pergaments, Skizzen, hingekritzelten Bemerkungen …
Er sah, dass sie alle in irgendeiner Form mit dem Wetter zusammenhingen. Regendiagramme, Windkarten, Anweisungen für die einzelnen Jahreszeiten, Tabellen der Pflanzzeiten, Indikatoren für Schneefall. Aufzeichnungen darüber, welche Ernten wann und wo und auf welche Weise eingebracht werden mussten und welches Wetter die Bauern benötigten, um ihre Arbeiten rechtzeitig aus– zuführen. Wie viel Regen vonnöten war, um das Gras im Pferdezuchtdistrikt der Waldigen Täler saftig werden zu lassen. Wie viel Schnee nach Ansicht der Winzer gerade genug war, um Eiswein keltern zu können. Wie tief der Gant zufrieren sollte, um im Winter das Eislaufen zu ermöglichen, und welches die günstigste Temperatur war, um das Eis vorsichtig tauen zu lassen, wenn der Frühling kam.
Keine einzige Facette des Lebens der Olken und Doranen fehlte. Es war an alles gedacht, für alles gesorgt.
Als er den Blick einmal im Kreis durch den Raum hatte wandern lassen, sah er zu Gar hinüber und schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung…« »Warum solltest du auch?«, fragte Gar. Er ging nicht länger um die Karte herum, sondern beobachtete stattdessen ihn. Sein Gesichtsausdruck war wieder unverfänglich, alle privaten Gefühle säuberlich verborgen. »Das Wettermachen ist keine Sorge der Olken. Es obliegt allein den Doranen. Nur von dem Wettermacher wird verlangt, diese Last zu schultern. Ihr Gewicht und ihre Be– deutung in der Welt zu kennen. Das Gleichgewicht ist zu heikel, das Ausmaß möglicher Katastrophen wäre zu groß, als dass es anders sein könnte.« Er lächelte. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Boot kentert, ist geringer, wenn nur eine Hand am Ruder liegt.«
»Es ist zu viel«, sagte Asher. »Zu viel für einen einzigen Mann. Oder eine Frau.« Er deutete mit der Hand auf die Wand. »Ihr dachtet, Fane könnte dies tun? Die kleine Fane? Sie wäre niemals stark genug gewesen. Ich hätte sie mit bloßen Händen durchbrechen können!«
Gars bleiches Gesicht wurde vollkommen reglos, sodass es aussah wie eine Maske aus Marmor. Als Asher bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte, fluchte er leise. »Gar, ich meinte nicht… Bitte…«
»Es ist schon gut. Am Ende ist sie in der Tat leicht zerbrochen, nicht wahr? Aber das waren nur Fleisch und Knochen. Was wir hier haben, ist eine Frage der Macht. Und Barl weiß, davon besaß Fane mehr als die meisten.«
»Mehr als Ihr?«
Gar zuckte mit den Schultern. »Die Frage ist müßig. Die einzige, die jetzt zählt, lautet: Habe ich genug?« »Und habt Ihr genug?«
»Um das herauszufinden sind wir hier, nicht wahr?«
Wieder betrachtete Asher die Wand der Wetterkammer mit ihrer Last von Wissen, von Geschichte. Von Erwartungen. »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, was all das bedeutet?«
»Eine gewisse Vorstellung«, gestand Gar. »Aber darüber mache ich mir nicht solche Sorgen. Siehst du die Bücher auf den Bücherregalen? Es sind die Tagebücher sämtlicher Wettermacher, die je gelebt haben, bis zurück zu Barl selbst. Auf ihren Seiten steht alles, was ich über das Wetter und die Mauer wissen muss, darüber, wie sie zusammenarbeiten, um einander stark zu halten. Ich brauche die Bücher lediglich zu lesen und mir alles einzuprägen. Und wir wissen beide, dass das meine Stärke ist.«
Asher wandte den Blick ab. Bücher, ja. Gar hatte nie Probleme mit Büchern gehabt. Aber dies hier? Dies war etwas anderes. Dies war ihrer aller Zukunft, ihre Gesundheit und ihr Glück und das geordnete Leben Lurs… Und all diese Dinge lagen in den Händen eines Mannes, der noch nicht allzu lange die Volljährigkeit innehatte und dem sein magisches Geburtsrecht gerade erst zuteil geworden war. Und er war allein, ohne eine ältere, erfahrenere Stimme, die ihn leitete, wenn er in Zweifel geriet, die ihn stützte, wenn er stolperte. Die ihn rettete, wenn er versagte.
Plötzlich war ihm wieder übel. »Vielleicht hat Jarralt Recht. Durm sollte hier sein. Wie soll ich Euch helfen, wenn etwas schief…«
Gars Gesicht verkrampfte sich vor Ungeduld. »Wie oft muss ich es noch sagen? Es wird nichts schiefgehen! Dies ist mein Schicksal, Asher. Wie kann ich zum Untergang verurteilt sein, wenn Barl selbst mich auf ihren Thron gesetzt hat?« »Ich weiß es nicht«, sagte Asher unglücklich. »Aber es gibt mehr als einen Fischer, der unter klarem Himmel ausgelaufen ist und nie mehr nach Hause kam. Manchmal brechen Stürme ohne Vorwarnung los, Gar.«
»Westjammer war ein Unfall«, erwiderte Gar schroff. »Das unglückselige Ergebnis von Krankheit. Es ist mir bestimmt, hier zu sein. Es wird nichts schiefgehen.«
Asher schob die Hände in seine Manteltaschen. »Warum konntet Ihr die Pferde nicht aufhalten?«
»Was?«
»Es waren fünf Magier in dieser Kutsche, Gar. Ihr versucht mir zu erzählen, dass nicht einer von Euch hätte Magie benutzen können, um zu verhindern, dass die Pferde über den Rand von Salberts Horst galoppierten?«
Gar starrte ihn an. »Die Kunst – wenn du es so nennen möchtest – der magischen Beeinflussung eines anderen lebenden Wesens ist uns schon lange verloren gegangen. Barl hat sie verboten, und das mit gutem Grund. Kannst du dir vorstellen, was geschehen könnte, wenn ein Magier in den Geist eines anderen kriechen und ihm ungehindert seinen Willen aufzwingen könnte?« Asher wandte sich ab. Er konnte es sich vorstellen, jawohl, und er wünschte, verdammt noch mal, er hätte es nicht gekonnt.
Gars Stimme verfolgte ihn. »Was versuchst du wirklich zu sagen? Ich dachte, der Unfall läge hinter uns. Ich dachte, wir hätten Unsicherheit und Argwohn hinter uns gelassen. Habe ich mich geirrt? Hast du immer noch Zweifel? Zweifelst du an mir?«
»Nein!«, rief Asher und drehte sich wieder um. »Aber es geht alles so schnell! Gestern Abend um diese Zeit standen wir am Rand von Salberts Horst. Ich war gerade wieder nach oben geklettert, nachdem ich Eure arme, tote Familie dort hatte liegen sehen, und Ihr habt der Welt erzählt, es sei Conroyd Jarralt gewesen, der sie getötet hat. Einen Tag später ist man zu dem endgültigen Schluss ge– kommen, das Geschehene sei ein Unfall gewesen, Ihr wurdet zum König ausgerufen, und hier stehen wir jetzt an dem geheimsten, heiligsten Ort im Königreich, und Ihr seid bereit, es regnen zu lassen, und ich bin bereit, Euch zu retten, wenn das Ganze gehörig schiefgeht! Mir ist schwindelig, Gar! Ich möchte einfach nur aufhören, nur für eine Minute, damit ich meine Orientierung wieder– finde! Verflixt, ich bin ein Fischer! Ich bin niemals dafür nach Dorana gekommen!« »Und ich habe nie erwartet, König zu sein. Barl sei mir gnädig!
Glaubst du nicht, ich würde jeden letzten Rest Magie, der in mir ist, opfern, wenn ich die Zeit zurückdrehen und sie retten könnte? Denkst du, ich hätte das gewollt?«
»Natürlich denke ich das nicht, verdammt! Niemand, der noch recht bei Verstand ist, würde das wollen.«
»Aber ich habe die Magie«, erwiderte Gar grimmig. »Ob ich sie will oder nicht, sie gehört mir.«
»Aber nicht mir«, erwiderte er und schlug sich auf die Brust. »Ich bin ein Olk, Eure Magie hat nichts mit mir zu tun. Und wenn hier alles aus dem Ruder läuft, möchte ich nicht derjenige sein, der zurückbleibt, um zu erklären, warum Ihr mausetot in der Wetterkammer liegt!«
Gar antwortete nicht. Er ließ einige Sekunden verstreichen, dann schnippte er mit dem Finger, und die Kammertür schwang auf. »Natürlich. Ich hätte es wissen sollen. Es tut mir leid.«
Asher, der Streit oder Tadel erwartet hatte, blinzelte. »Gar…«
»Nein. Es ist schon gut. Nur Narren haben niemals Angst.« Ein trostloses Lächeln. »Ich habe im Augenblick solche Angst, dass ich mich übergeben könnte. Aber das ist nicht deine Sorge. Du hast Recht. Diese Wetterkammer ist kein Platz für einen Olken.«
Hin– und hergerissen zwischen Erleichterung und schlechtem Gewissen, schob er die Hände wieder in die Taschen. »Hört zu, Gar, Ihr müsst jetzt vorsichtig sein. Jarralt könnte meine Anwesenheit hier als eine Möglichkeit nutzen, Euch einen Strick zu drehen.«
Mit einem Aufflackern unvertrauter Arroganz reckte Gar das Kinn vor. »Er könnte es versuchen.«
»Genau das ist der Punkt. Er wird es versuchen.«
»Nein. Der Punkt ist der, dass ich eigensüchtig gewesen bin. Seit unserer ersten Begegnung habe ich mir angewöhnt, dich als den Bruder zu betrachten, den ich nie gehabt habe. Ich nehme an, ich hatte gehofft – gedacht –, dass du genauso empfindest.«
Gar, sein Bruder? Asher starrte ihn an. Er hatte genug verdammte Brüder für ein ganzes Leben. Wollte er wirklich noch einen? Einen mit blondem Haar, einer Krone und genug Ärger im Schlepptau, um in der Gans ein Dutzend Faustkämpfe anzufangen?
Die Antwort kam langsam, aber mit Gewissheit: Ja! Er wollte es. Denn trotz aller Unterschiede und Kabbeleien, trotz der gemeinsam durchgestandenen Katastrophen hatte Gar ihm in kaum mehr als einem Jahr mehr gegeben, hatte ihm mehr vertraut, hatte ihn mehr gelehrt, hatte mehr mit ihm gelacht und größeren Anteil an ihm genommen, als seine leiblichen Brüder das in einem ganzen Leben getan hatten.
Die Erkenntnis musste sich auf seinem Gesicht widergespiegelt haben, denn Gar lächelte. »Das freut mich. Und jetzt geh.«
»Ich soll gehen?«, fragte er ungläubig. »Aber…«
»Brüder sollten einander keine unrechte Last aufbürden«, sagte Gar. Sein Gesichtsausdruck war zerknirscht. »Im Ernst. Ruh dich ein wenig aus, du wirkst erschöpft. Aber bevor du dich zurückziehst, schick eine Nachricht an Conroyd Jarralt und bitte ihn, sich zu mir zu gesellen. Ich werde warten, bis er ankommt.« Asher räusperte sich. Gut. Das war gut. Er gehörte nicht hierher, in das feurige Herz doranischer Magie. Kein Olk gehörte hierher. »Seid Ihr Euch sicher?« Gar nickte. »Ja. Es muss Conroyd sein.«
Asher machte zögernd einen Schritt rückwärts. Rang mit seinem besseren Urteil, verlor den Kampf und sagte: »Wenn Ihr wirklich wollt, dass ich bleibe, werde ich…«
»Es ist nicht wichtig, was ich will. Geh, Asher. Ich sehe dich dann morgen früh.« Er drehte sich um und ging langsam auf die offene Tür zu. Er war erleichtert, er war gekränkt, er war begeistert, er war wütend. Bastard. Warum konnte Gar nicht einfach Einwände erheben? Warum musste er so… so… verständnisvoll sein? So vernünftig. Dachte Gar, dass er es nicht tun konnte? Dass er nicht stark genug war, um zu ertragen, was immer die Wettermagie denen zufügte, die sich in ihrer Nähe aufhielten, und sei es auch nur als Zuschauer? Dachte Gar tief in seinem Herzen, dass die Olken schwach waren?
Dass er schwach war?
Er erreichte die Tür und berührte mit den Fingern das ungestrichene Holz. Er hielt inne. War er schwach?
»Verdammt!«, rief er und schlug die Tür vor seiner eigenen Nase zu. Fuhr herum, um den wachsam wartenden Gar anzufunkeln. »Ihr wisst immer, was Ihr sagen müsst, nicht wahr! Ihr wisst immer, welche Fäden Ihr ziehen müsst, um Euren Kopf durchzusetzen! Ich hätte es wissen müssen – ich habe es Euch tagein, tagaus als Tribun tun sehen!«
Gar errötete und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und? Hat es funktioniert?«
»Natürlich hat es funktioniert, Ihr hinterhältiger Bastard! Ich befinde mich auf dieser Seite der verdammten Tür, oder?«
Das erste wahre, uneingeschränkte Lächeln seit dem Unfall glitt über Gars Züge. »Erwarte nicht von mir, dass ich mich entschuldige.«
Asher schnaubte. »Keine Bange. Ich bin dumm, aber nicht so dumm.« »Ich weiß, dass ich viel verlange«, erwiderte Gar, und sein strahlendes Lächeln verblasste. »Es sieht so aus, als würde ich immer viel von dir verlangen. Aber erwarte auch nicht, dass ich mich dafür entschuldige. Du bist ein Mann mit vielen Talenten, Asher. Talenten, die am besten zum Wohle dieses Königreichs genutzt werden sollten, und wenn du denkst, ich würde aufhören, sie zu nutzen, nur weil dir – oder mir – diese Vorstellung unbehaglich ist, dann solltest du jetzt wirklich gehen.«
»Nein. Es hat schon einer meiner Freunde für sein ganzes Leben Schaden gelitten, weil ich gegangen bin.« Jed. Asher verschränkte die Arme vor der Brust, um sich gegen die quälende Erinnerung zu wappnen, und drückte die Schulterblätter gegen die Tür. »Ich werde bleiben.«
Gar nickte. »Gut.« Er wandte sich wieder der Karte von Lur zu, und sein Gesichtsausdruck verriet jetzt Unsicherheit. Vorsicht. Eine wachsame Hoffnung. »Es ist wie ein Tanz«, flüsterte er. »Ein Tanz mit einem festgelegten Muster, das sich in über sechs Jahrhunderten nicht verändert hat und das von Wettermacher zu Wettermacher weitergegeben wurde, seit die Wettermagie geboren wurde. Ich brauche lediglich den richtigen Platz zu finden, um mich einzureihen…« Er runzelte die Stirn. »Die Übertragung von Beschwörungen von der Wetterkugel war… schwierig. Schmerzhaft. Durm meinte, das sei zu erwarten gewesen, aber…« »Ihr glaubt, es hat nicht funktioniert?« »Nein, nein, es hat funktioniert«, sagte Gar. »Die Wettermagie ist in mir. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre Formen sehen. Ihre Worte schmecken. Die magischen Siegel kitzeln meine Fingerspitzen, begierig darauf, freigelassen zu werden.«
Asher zuckte die Achseln. »Dann wollen wir sie nicht warten lassen.« »Genau.« Gar ging langsam um die Karte herum, hob die rechte Hand und zeichnete eine Figur in die Luft. Die Umrisse leuchteten auf, brannten so hell wie Feuer und verblassten dann. Zur gleichen Zeit sprach er ein einzelnes Wort: »Luknek.« Eine weitere Form, diesmal mit der linken Hand. Ein weiteres Wort: »Tolnek.« Helles Feuer brannte und verblasste. Die rechte Hand. Ein Wort. Linke Hand. Wort. Rechte Hand. Wort. Linke Hand. Wort. Aus dem Nichts kam ein Wind auf. Er umkreiste Gar und fuhr in seine Kleidung, während er weiterging und brennende Muster in die Luft zeichnete.
Asher, der immer noch an der geschlossenen Tür lehnte, spürte ein Prickeln auf der Haut und sah einen schwachen, bläulichen Schimmer über seine Unterarme tanzen und wieder verschwinden.
Die Macht baute sich auf.
Während er das Schauspiel verfolgte, hin– und hergerissen zwischen Angst und Faszination, verdichteten sich über der Stelle der Karte, die die Stadt Dorana abbildete, kleine Wolken. Ein Schatten glitt über ihn hinweg, und als er aufblickte, sah er durch die gläserne Kuppeldecke Wolken, die sich aus dem klaren Nachthimmel bildeten.
Gar, der dem Ansturm der Elemente jetzt stärker ausgesetzt war, umkreiste nach wie vor die Karte und schwitzte, während er weitere magische Zeichen in die Luft malte und immer schneller und schneller die Worte der Macht sprach. Der Wind nahm zu und begann wie ein lebendes Wesen, das in der Falle saß und gefoltert wurde, zu heulen. Drei weitere Umdrehungen des Tisches, und Gar konnte nicht mehr weitergehen: Der Wind war zu stark. Die Macht zu groß. Also stand er da und stemmte sich mit erhobenen Armen gegen ihren Zorn, mühte sich, die Zeichen zu machen, die den Regen rufen würden. Er hatte die Augen fest zusammengepresst, und sein Mund war zu einem lautlosen Schrei geöffnet, als würde er in Stücke gerissen.
Die durcheinanderwirbelnden Wolken über der Karte dehnten sich aus, bis sie die gesamte Abbildung Lurs bedeckten. In ihren Tiefen zuckten winzige, gegabelte Blitze auf, die einen Herzschlag später in den Wölken über der Wetterkammer und der Stadt ein Echo fanden. Donner rumorte, drinnen wie draußen.
Blaues Licht tanzte wie kleine Flammenfinger über Gars gesamten Körper. Es zerrte sein gebändigtes Haar auseinander und peitschte es ihm ums Gesicht, als seien die langen, blonden Strähnen lebendig, als litten sie Qualen. Auf ihrem tosenden Gipfel angelangt, explodierte die Macht zu einem wilden, blauen Feuersturm, der sich krachend und brüllend an sich selbst nährte, während Gar in seinem gierigen Herzen stand. Blut strömte ihm aus den Augen, aus der Nase, aus den Ohren und aus dem Mund, und sein ganzer Körper zuckte. Er schrie, als stünde er in Flammen. Entsetzt machte Asher einen Schritt nach vorne und hielt dann inne; die Unentschlossenheit war wie ein Messer an seiner Kehle.
»Gar!«, schrie er. »Gar, ist alles in Ordnung mit Euch? Ist das normal oder nicht? Was soll ich tun? Um Barls willen, sagt mir, was ich tun soll!«
Aber Gar hatte den Punkt, an dem er noch irgendetwas hören konnte, weit überschritten. In dem Albtraum aus blauen, züngelnden Flammen und goldenem Glimmfeuer wirkte sein blutüberströmtes Gesicht unmenschlich. Unerreichbar. Unverständlich.
Dann zerriss, wie es auf dem Höhepunkt des Sturms in Westjammer geschehen war, ein gewaltiges Krachen die Luft. Asher schrie auf und hielt sich die Ohren zu. Gar brüllte seinerseits, als hätte ihn ein Schwert durchbohrt!
Und über ihnen weinten die Wolken ihren Regen wie einen sanften Segen über Dorana und das gesamte Land Lur…
Conroyd Jarralt hatte Freunde zum Essen zu Gast. Natürlich nur die Oberhäupter der besten Häuser. Jene, deren Rang dem seinen am nächsten kam. Die Doranen mochten von Natur aus erlaucht sein, aber manche Familien waren erlauchter als andere. Sorvold. Boqur. Daltrie. Hafar. Direkte Abkömmlinge der großen Exilanten aus Alt–Dorana, jener weisen Magier, die die Situation durchschaut hatten und geflohen waren, bevor Morgans Wahnsinn sie vernich– ten konnte, so wie er hundert andere, weniger vorausschauende Magier vernichtet hatte. Es waren Namen, auf die man stolz sein konnte. Geschichten, die niemanden in Verlegenheit brachten, erst recht nicht ihren Gastgeber. Und alle waren sie ranghohe Mitglieder des Großrats und hatten ihre vielbeschäftigten Finger auf etlichen Pulsen.
Ein Mann konnte ein Freund sein und gleichzeitig nützlich. Tatsächlich war es besser, wenn es sich so verhielt.
Natürlich war keiner der Namen, ob ihr Besitzer nun im Rat saß oder nicht, so erlaucht wie sein eigener. Conroyd Jarralt aus dem Hause Jarralt, begründet von Lindin Jarralt, einem der hervorragendsten Magier, die die doranische Rasse je hervorgebracht hatte. Einzig das Königshaus konnte sich eines besseren Stamm– baums und größerer Magier rühmen, und selbst das war ein Thema, über das sich streiten ließ. Und hatte das Haus Jarralt einen Krüppel als Erben des Throns hervorgebracht?
Nein. Ganz gewiss nicht.
Wären da nicht der Verrat und die Missgeschicke gewesen, die seiner Familie in den Turbulenzen von Trevoyles Spaltung widerfahren waren, hätten Wettermacher aus dem Haus Jarralt und nicht aus dem Haus Torvick das Königreich Lur regiert. Die verstaubten Erinnerungen hatten noch immer die Macht, sein Blut zum Kochen zu bringen; die Verwandtschaft zwischen seinem Urahn und dem wahnsinnigen Morgan war nur entfernt gewesen. Kaum der Rede wert. Gerade mal gut für eine winzige Fußnote in den Annalen der Geschichte, wenn überhaupt. Und was wichtiger war: Es hatte zwischen dem irrsinnigen Zauberer und Lindin, seinem Vetter zweiten Grades, niemals auch nur den Hauch eines Bündnisses gegeben. Bei Barl, Lindin war einer der Ersten gewesen, die ihre Sorge über Morgans Experimente geäußert hatten! Konnte Borne Torvick dasselbe über seinen eigenen Urahn sagen? Nein, das konnte er nicht. Aber das zählte anscheinend nichts. Morgs Schatten verfolgte sie alle. In den Augen mancher besudelte dieser Schatten ihn noch immer, obwohl niemand es gewagt hätte, ihm das ins Gesicht zu sagen.
Erst jetzt, da das Haus Torvick vor dem Aussterben stand, hatte das gezeichnete Haus Jarralt eine Chance, seinen rechtmäßigen Platz in der doranischen Geschichte einzunehmen. Wahrhaftig, wäre Gar zusammen mit seiner Familie gestorben oder hätte sich das Wunder, das ihm sein magisches Geburtsrecht beschert hatte, nie ereignet, so wäre Conroyd Jarralt heute König von Lur gewe– sen.
Aber Gar war nicht tot, und seine spät erblühten Kräfte schienen beeindruckend zu sein. Was bedeutete, dass dem Hause Jarralt einmal mehr sein geziemender Platz in der Welt verweigert wurde.
Das Schicksal konnte grausam ungerecht sein.
Nicht zum ersten Mal bedauerte Jarralt, dass er keine Tochter hatte. Eine Tochter hätte er mit dem vom Schicksal begünstigten Spross des Hauses Torvick verheiraten können, und er wäre weniger unglücklich gestorben in dem Wissen, dass sein Blut in den Adern von Gars Kind floss, dem nächsten Wettermacher des Königreichs. Aber nein. Selbst dieser kleine Trost blieb ihm verwehrt. Zwei Kinder waren ihm gewährt worden, wie den meisten Bürgern von Lur. Selbst wenn sich eine Erlaubnis für die Geburt eines dritten Kindes aushandeln ließe, wäre es jetzt viel zu spät gewesen, und höchstwahrscheinlich würde seine langweilige, pflichtbewusste Frau die Mühe nur auf einen weiteren Sohn vergeuden.
Trotzdem. Wenn es um die Aussicht auf rechtmäßige Anerkennung ging, war noch nicht alle Hoffnung verloren. Das Leben des fetten Durm hing an einem seidenen Faden, zumindest hatten diskrete Nachforschungen dies bestätigt. Da der Meistermagier es sorgloserweise versäumt hatte, einen Nachfolger zu benennen, würde Gar gezwungen sein, diese Entscheidung selbst zu treffen. Und es war offenkundig, dass es im ganzen Königreich niemanden gab, der von besserer Herkunft war als Lord Conroyd Jarralt, niemanden, der sich für das Amt besser eignete oder diese Ehre mehr verdient hätte als er.
»Mein Lieber«, erklang eine leise Stimme neben ihm. »Der Wein.« Jarralt blinzelte und nahm seine Umgebung, die zuvor vor seinen Augen verschwommen war, wieder deutlich wahr. Seinen üppig eingerichteten Speisesaal. Seine üppig mit Juwelen herausgeputzte Frau. Seine Freunde, die geduldig auf seine nächste unanfechtbare Ankündigung warteten. »Wein?« Der tadellos gekleidete olkische Diener, der hinter ihm stand, verneigte sich und hielt ihm eine Flasche zur Begutachtung hin. »Wie Ihr verlangt habt, Mylord. Vontifair Eiswein, Jahrgang Fünfhundertvierundsechszig. Genau fünfundvierzig Minuten gekühlt.«
Nole Daltrie drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. »Fünfhundertvierundsechzig? Ist das nicht sehr gewagt, Con? Eiswein hält sich nicht länger als achtzig Jahre. Danach könntet Ihr uns ebenso gut ein Glas Pisse und Essig einschenken.«
Con. Jarralt verbarg seinen Ärger hinter einem ausdruckslosen Lächeln. »Keine Bange, Nole. Der achtzigste Geburtstag dieser Jahrgangsflasche ist erst morgen.« Daltrie grölte vor Lachen und schlug auf den Tisch. »Gut gereifter Eiswein und gut gereifter Conroyd! Was für ein Abend!«
Jarralt nickte dem Diener zu, der das entzauberte Siegel der Flasche brach und einen Schluck in das Weinglas für den nächsten Gang füllte. Das dünne, nach Schnee duftende Aroma des Eisweins überlagerte die anderen Gerüche im Raum, die von in Honig gebackenem Lamm, Wildbret mit Muskatellertrauben und gewürztem Schweinefleisch aufstiegen. Jarralts Gäste leckten sich seufzend die Lippen. Er berührte den Rand des Glases mit den Zähnen, unterdrückte seine Gier und ließ sich einige Tropfen klaren, blauen Genusses in den Mund rinnen. Der Wein reinigte seinen abgestumpften Gaumen wie Magie.
»Perfekt«, sagte er, ließ das Glas sinken und nickte dem Diener abermals zu. Die anderen Gläser wurden genau drei Daumenbreit mit Eiswein gefüllt, kein Tropfen mehr; die Enttäuschung in den Augen seiner Gäste hätte ihn beinahe laut auflachen lassen. Abwartend betrachtete er ihre Gesichter. Als der Diener sich zurückgezogen hatte und sie wieder allein waren, bemerkte er: »So. Für unser geliebtes Königreich bricht ein neuer Morgen an.« Als hätte jemand unsichtbare Schnüre durchschnitten, stießen seine Gäste lautlose Seufzer der Erleichterung aus und entspannten sich auf ihren Stühlen. Morel, Sorfolds auf derbe Weise attraktive Gemahlin, wedelte mit ihren juwelenübersäten Fingern. »Ich muss sagen, mein lieber Conroyd, es ist alles schrecklich beunruhigend. Ich meine, der Junge ist ein Kind. Zumindest in magischer Hinsicht, wenn nicht tatsächlich, und selbst in dieser Hinsicht ist er noch jung. Was für eine Art König wird er abgeben? Weiß das irgendjemand? Kennt irgendjemand ihn? Ich kenne ihn gewiss nicht!«
Iyasha Hafar nickte heftig; das Glimmfeuer brach sich in ihren mit Diamanten besetzten Ohrgehängen und warf bunte Regenbögen auf das Tischtuch. »Genau! Er ist praktisch ein Fremder! Ich glaube, er hat nur ein einziges meiner Gartenfeste besucht, und ich bin davon überzeugt, dass er auch das nicht aus freien Stücken getan hat! Ich schwöre, man könnte die Zahl der Einladungen, die er während des letzten Jahres angenommen hat, an den Fingern einer einzigen Hand abzählen.«
»Doranischer Einladungen«, ergänzte ihr Gemahl trocken. »Soweit ich es beobachtet habe, steht er nur für Zechgelage mit den Olken bereit.« Tobin Boqur stellte sein geleertes Weinglas auf den Tisch und rülpste. »Seid nicht zu hart mit ihm, Gort. Zum einen ist es seine Aufgabe, Kontakte zur olkischen Gesellschaft zu pflegen, und zum anderen…«
»Zum anderen«, sagte Madri Boqur und lächelte ihren Gemahl an, während sie seinen Satz mit ihrem aufreizenden Kleinmädchengetuschel beendete, »zum anderen glaube ich nicht, dass er sich unter seinesgleichen je wirklich wohl gefühlt hat. Nicht solange er…« Sie errötete. »Ihr wisst schon.«
»Ich denke, das Wort, das Ihr vermeidet, ist ›verkrüppelt‹«, erwi derte Jarralt. »Nein, nein, meine Freunde, macht bitte nicht solche Gesichter. Ich versichere Euch, er selbst hat diesen Ausdruck oft genug verwendet. Wenn Bornes Sohn eines ist, dann realistisch.«
»Ihr müsst es wissen, da Ihr mit ihm im Kronrat sitzt«, bemerkte Payne Sorvold. »Was glaubt Ihr, ist er sonst noch?«
»Unser König«, sagte Lynthia Daltrie. Ihr scharf geschnittenes, vorspringendes Kinn wirkte halsstarriger denn je. Nole hatte den Kampf, sie unter Kontrolle zu halten, schon lange verloren, was ein Jammer war. »Auserwählt von Barl und daher über jeden Tadel erhoben. Ich muss sagen, seine Ansprache auf dem Marktplatz heute hat mir gut gefallen. Sie hat Herz gezeigt. Mut. Ich glaube, sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen.«
Es trat ein nachdenkliches Schweigen ein. Jarralt wartete darauf, dass seine Gemahlin es brach: Barl stehe ihm bei, sie war eine Frau, die einen Raum ohne Worte darin nicht ertragen konnte.
»Ich weiß nur eins«, meinte Ethienne reizbar, »es wird sich höchst eigenartig anfühlen, diesen unglücklichen jungen Mann mit ›Eure Majestät‹ anzusprechen. Er ist jünger als meine beiden Söhne!«
»Ich nehme an, er hat das, was es braucht, um König zu sein«, erwiderte Madri unsicher. »Ich meine… Barl würde nicht gestatten, dass ein unfähiger Mann den Thron erbt, nicht wahr?«
Fast alle Menschen im Raum blickten unwillkürlich zu den gläsernen Balkontüren hinüber, durch die man den fernen, goldenen Schimmer der Mauer sehen konnte. Jarralt verbarg ein Lächeln im Angesicht ihrer ängstlichen Mienen. Selbst die durch und durch ergebene Lynthia hatte ihre Zweifel. Was durchaus angebracht war. Die Gefahr, die Lur drohte, war heute größer denn je, größer selbst als während der Spaltung. Wie glücklich seine Freunde und ihre Kinder sich schätzen konnten, dass Conroyd Jarralt bereit stand. Während er ihr stillschweigendes Entsetzen beobachtete und die Art, wie sie versuchten, einander nicht anzuschauen oder wenig schmeichelhafte Furcht zu offenbaren, verspürte er abermals den Wunsch, laut aufzulachen.
Sie waren durchaus gute Menschen, seine Freunde, aber so durchschaubar wie die Fenster seines Speisesaals. Es gebrach ihnen an echtem Ehrgeiz oder innerem Feuer. Sie stellten das Beste dar, was die doranische Gesellschaft zu bieten hatte, und doch war nicht einer von ihnen stark genug, um mit echter Macht umgehen zu können. Um das Königreich in der entscheidenden Rolle des Meistermagiers zu balancieren oder die Krone des Wettermachers zu tragen.
Er war der Einzige, der das konnte. Und dafür wollte er Barl preisen. Sollte Gars Macht sich als unzureichend erweisen… sollte die Anstrengung des Wettermachens ihn vor der Zeit töten, wie es in der Vergangenheit mehr als einmal geschehen war… Sollte es ihm misslingen, einen Erben hervorzubringen, oder sollte er einen Krüppel zeugen, wie er selbst einer gewesen war… Nun.
Ein Donnerschlag krachte über ihren Köpfen und ließ die Fensterscheiben und die geleerten Weingläser auf dem Tisch erbeben. Jarralts verstohlenes Lächeln erstarb. »Was war das?«, rief er und sprang auf.
Ethienne deutete auf den Himmel jenseits der Türen. »Seht! Wolken!« »Und Blitze!«, fügte Tobin Boqur hinzu. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als der Raum ein zweites Mal von Licht durchflutet wurde, während draußen Speere aus blauweißem Feuer zur Erde schössen. Vor ihren Augen wurde das goldene Leuchten der Mauer schwächer und schwächer, bis es zur Gänze verschwand.
Gort Hafar stand auf, durchquerte den Raum, riss die Türen auf und hielt die Hand hinaus. Dann blickte er über seine Schulter. »Es wird regnen«, verkündete er. »Die Luft ist erfüllt davon. Ihr habt uns gar nichts davon gesagt, dass Gar die Wettermagie empfangen hat, Conroyd.« Gorts Stimme klang tadelnd. In seinen Augen stand ein Anflug gekränkter Überraschung.
Narr. Nur weil er seinen Eiswein mit anderen geteilt hatte, glaubte Gort doch nicht, dass er auch seine Geheimnisse teilen würde? »Ihr brauchtet es nicht zu wissen«, antwortete er schroff. »Vor dem Unfall stand die Nachfolge noch immer im Zweifel. Niemand konnte ermitteln, wer sich als der stärkere Wettermacher entpuppen würde, Fane oder Gar. Zuerst hätte man sie einer Prüfung unterziehen müssen.«
Payne Sorvold räusperte sich mit missbilligender Miene. »Ihr seid ein Risiko eingegangen, Conroyd. Das Gesetz drückt sich in diesem Punkt sehr klar aus. Es dürfen immer nur zwei Menschen gleichzeitig im Besitz der Wettermagie sein: der Wettermacher und der zukünftige Wettermacher. Ein solches Tun hätte einer weiteren Spaltung Tür und Tor geöffnet. Als Mitglied des Kronrats hättet Ihr das verhindern müssen.«
Jarralt bedachte den Mann mit einem ungeduldigen Blick, obwohl er innerlich kochte. Wer war Payne Sorvold, ihn zu belehren? »Außerordentliche Umstände machen es erforderlich, Risiken einzugehen und das Gesetz zu beugen. Als Mitglied des Kronrats ist es meine Pflicht, das zu erkennen. Außerdem war die Gefahr einer Spaltung Bornes Werk, nicht meins. Wenn er nicht die Erlaubnis für ein zweites Kind erzwungen hätte, hätten wir überhaupt nie vor der Frage einer geteilten Nachfolge gestanden. Wenn Ihr irgendjemanden kritisieren wollt, Payne, warum fangt Ihr dann nicht mit dem Großrat an, weil dieser in seiner Schwäche damit einverstanden war…«
»Der Großrat«, sagte Nole laut, während seine aufgeschwemmten Wangen sich röteten, »war in seiner Schwäche mit nichts einverstanden! Wir haben getan, was zum Wohle des Königreichs getan werden musste. Wir haben gemäß dem Gesetz und mit Barls Segen gehandelt!«
»Und warum wir uns jetzt, fast zwanzig Jahre später, deswegen streiten, ist mir wahrhaft unbegreiflich!«, fügte Lynthia hinzu. »Die Frage ist müßig!« »Ebenso müßig wie die Frage, warum Gar die Wettermagie empfangen hat«, sagte Jarralt, ohne den Blick von dem brodelnden Himmel abzuwenden. »Mit dem Tod seiner Schwester ist er wieder ein Einzelkind. Die Nachfolge ist klar, und das Gesetz steht.«
»Auf einem verstauchten Knöchel, wenn Ihr mich fragt«, murmelte Nole. »Aber niemand hat dich gefragt, Lieber«, bemerkte Lynthia. »Zerbrechen wir uns nicht den Kopf darüber. Wie Con sagt, was geschehen ist, ist geschehen. Es zählt nur eins wirklich: Wir haben einen Wettermacher, und das Königreich ist sicher.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, dröhnte über ihren Köpfen ein Donnerschlag, der das Ende der Welt anzukündigen schien. Die Frauen kreischten. Die Männer schrien durcheinander. Jarralt lachte. Jenseits der offenen Glastüren begann es aus den Wölken, die den ganzen Himmel bedeckten, in Strömen zu regnen.
König Gar, Wettermacher von Lur, war geboren.
Jarralt eilte zu den Balkontüren hinüber, trat über die Schwelle und in den Regen hinaus.
»Was tust du da, Conroyd?«, fragte Ethienne atemlos. »Du kannst nicht da draußen stehen, du wirst bis auf die Haut nass werden! All deine Kleider werden ruiniert! Komm wieder zurück hinein. Conroyd? Conroyd, hörst du mir zu? Conroyd!«
Er ignorierte sie. Ignorierte den überraschten Protest seiner Gäste. Ging bis zum Rand des Balkons, sechs hohe Stockwerke über dem Boden, umfasste mit gespreizten Händen die Balustrade und schaute auf die Stadt hinaus. Ließ den Blick weiter wandern, über die Mauer der Stadt hinaus bis zum unsichtbaren Horizont. Regen, Regen, Regen. Regen überall. Die weinenden Wolken er– streckten sich, so weit das Auge reichte.
Seine neue, seidene Brokatrobe war durchweicht und hing ihm schwer von den Schultern. Das Wasser lief ihm in Rinnsalen die Arme hinunter, über die Brust, die Beine und sammelte sich in seinen brandneuen Schuhen. Ja, Ethienne, es ist alles ruiniert.
Er legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie weiteres Wasser aus seinem tropfnassen Haar ihm den Nacken hinunterrann. Mit offenen Augen und offenem Mund hob er das Gesicht dem strömenden Regen entgegen. Ertränkte sich, blendete sich in dem Wunder, das Gar heraufbeschworen hatte. Jedes Tröpfchen war ein Nadelstich beißender Säure, die sich mit Bitterkeit und Verzweiflung in sein Fleisch fraß, in seine Knochen, seine Eingeweide. In sein Herz und den geheimen Ort seiner Seele.
Borne …du Bastard. Du Bastard. Du hast mich wieder einmal besiegt.
Endlich freigegeben von der unbarmherzigen Umschlingung der Wettermagie, taumelte Gar tranken und blutend durch die Kammer und brach dann auf dem Boden neben der Karte Lurs zusammen, wo kleine Wolken winzige, dahinschwindende Regentropfen von den Bergen bis zum Meer niedergehen ließen. Stöhnend, würgend, zitternd, begann er zu lachen. Asher fiel neben ihm auf die Knie. »Das ist nicht witzig!«, rief er, und Furcht ließ seine Stimme brüchig klingen. »Ihr seid ein Wahnsinniger! Ihr seid ein völliger Irrer! Worüber lacht Ihr? Das ist verdammt noch mal nicht komisch!« Zappelnd wie ein gestrandeter Fisch, starrte Gar durch eine Maske aus Blut zu ihm auf. »Es hat funktioniert!«, keuchte er, wobei er scharlachrote Bläschen spie. »Hast du gesehen? Es hat funktioniert! Ich habe es regnen lassen! Überall! Das hat Fane nie geschafft!«
»Ja, ja«, murrte Asher, während er in seinen Taschen nach einem Taschentuch wühlte. »Ihr habt es regnen lassen, und Ihr habt eine Schweinerei veranstaltet, und Ihr habt mich um zehn Jahre meines Lebens bestohlen, Ihr dummer Bastard. Haltet still!«
»Du weißt… das tut weh«, ächzte Gar, während Asher das Schlimmste von dem geronnenen Blut von seinem Gesicht abtupfte. »Sehr sogar. Aber es war unglaublich! Die Macht. Ich habe nie geahnt – ich habe nie erträumt – oh, Asher! Tut es dir nicht leid, dass du niemals erfahren wirst, wie es ist? Dass du niemals über solche Macht gebieten wirst? Bist du nicht… ich weiß nicht… eifersüchtig? Du kannst es mir sagen. Ich werde es nicht übel nehmen. Ich werde es verstehen.«
Asher blickte auf ihn hinab. Betrachtete den zitternden, schaudernden, von Schmerzen verwüsteten Körper seines Freundes. »Oh, ja. Ich bin so eifersüchtig, dass ich speien könnte.«
Gar grinste und starrte verzaubert die glasüberwölbte Decke an. »Sieh nur«, flüsterte er. »Sieh, was ich getan habe.«
»Ja«, sagte Asher, während der Regen von dem immer noch wolkenverhangenen Himmel fiel. Die Tropfen, die auf die durchscheinende Decke klatschten, weckten in der Kammer darunter sanfte Echos. »Schaut, was Ihr getan habt. Und nun haltet den Mund, während ich nach etwas suche, um Euch geziemend zu säubern. Denn wenn Ihr in diesem Zustand zum Turm zurückkehrt und Dar ran Euch sieht, dann wird die alte Krähe, so sicher wie ein Hai die Makrele, eine Möglichkeit finden, alles mir in die Schuhe zu schieben.« Dann gab er nach und fügte rau hinzu: »Euer Pa wäre jetzt sehr stolz auf Euch gewesen, schätze ich. Und Eure Ma auch.«
Frische Tränen sammelten sich in Gars blutigen Augen. »Ich hoffe es«, wisperte er. Aller Triumph war erloschen, und lauernde Trauer wieder an die Oberfläche gestiegen. »Oh, ich hoffe es.«
Asher fluchte. Narr. Verdammter Narr. Gerade als du ihn so weit hattest, dass er wieder lächelte…
»Kommt«, sagte er, legte einen Arm unter Gars Schultern und zog den erschöpften König auf die Füße. »Rutscht hierher und lehnt Euch an die Wand, bis Ihr Euch besser fühlt.« Er sah sich im Raum um und zog finster die Brauen zusammen. »Warum gibt es hier keine Stühle?«
»Ich brauche keinen Stuhl«, sagte Gar und glitt Zoll für Zoll über den Parkettboden. Er erreichte die Wand, ließ sich dagegen–fallen und stöhnte. »Mir geht es gut.«
Asher stand vor ihm. »Ihr seht nicht gut aus. Ihr seht beschissen aus.« Die Augen halb geschlossen, hob Gar einen Finger. »Nun, nun. Erinnert Euch daran, mit wem Ihr sprecht.«
»Entschuldigt mich«, sagte er. »Ihr seht aus wie königliche Scheiße.« Gars Lippen zuckten. »Das ist schon besser.« »Tut es noch weh?« »Oh, Asher…« Gar öffnete abermals blinzelnd die Augen. »Du hast ja keine Ahnung.«
Aber das stimmte nicht. Einen Anflug von Ahnung hatte er zumindest. Er hatte schließlich Gars Schreie gehört. Hatte hilflos mitansehen müssen, wie sein Freund sich in der Macht krümmte. Zuckte. Blut weinte, obwohl er lachte. »Hm…« Unsicher verschränkte er die Arme vor der Brust. »Für wie lange? Für immer? Ich meine, ist dies jetzt Euer Leben? Nichts als Blut und Schmerz?« Mit einiger Mühe zog Gar die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. »Ja.«
»Aber… Ihr könnt das nicht jeden Tag tun«, erwiderte er entsetzt. »Ihr könnt nicht jeden Tag auf solche Weise bluten und Qualen leiden. Wie wollt Ihr das ertragen?«
Gar zuckte die Achseln. »Genauso, wie mein Vater es ertragen hat und mein Großvater und mein Urgroßvater und immer weiter zurück bis zum Morgengrauen unserer Tage hier.«
»Aber Ihr könnt es nicht!«
»Ich muss. Was ist die Alternative? Mich vor meiner Pflicht drücken und die Krone Conroyd Jarralt überlassen?« Gar verzog das Gesicht. »Ich denke nicht. Außerdem geht es nicht um jeden Tag. Nun. Nicht immer. Wie ich es in Erinnerung habe, hatte mein Vater manchmal zwei Tage Ruhe hintereinander, zwischen zwei Beschwörungen. Im Winter waren es manchmal sogar drei.« Er lä– chelte bei der Erinnerung. »Der Winter ist eine gute Zeit.«
»Gar, im Winter geschieht nichts. Was ist mit dem Frühling?«
Das Lächeln verblasste jetzt, und Gar blickte stirnrunzelnd auf seine Knie hinab. »Oh, der Frühling. Ja. Der Frühling… ist nicht so gut.«
»Ihr Narr, der Frühling wird Euch töten, wenn dies nur ein Vorgeschmack auf Kommendes ist!«
Gar schüttelte den Kopf. »Nein, so weit wird es nicht kommen. Du vergisst, dass dies kein normales Wettermachen war. Heute Nacht habe ich es von einem Ende des Königreichs bis zum anderen regnen lassen, und so wird das normalerweise nicht gehandhabt. Nicht einmal im Frühling. Du machst dir um nichts und wie– der nichts Sorgen. Mir geht es gut, oder zumindest wird es mir schon bald gut gehen.« Er streckte eine Hand aus und bog mit nur einer schwachen Grimasse die Finger durch. »Siehst du? Der Schmerz lässt bereits nach.«
Asher schnaubte. »Selbst wenn Ihr mir die Augen ausstecht, könnte ich erkennen, dass Ihr lügt. Gar…«
Die ausgestreckten Finger wurden zur Faust. »Nicht!« Dann schmolz Gars eisiger Blick, und die Faust wurde zu einer Hand, wurde zu verletzbaren, zitternden Fingern. »Ich bin, wer ich bin, Asher. Ich wurde aus einem einzigen Grund geboren und nur aus diesem Grund. Daran kannst du nichts ändern.« Asher trat mit der Stiefelferse auf den Boden und zerkratzte das polierte Parkett. »Also schön«, murmelte er grollend. »Wenn Ihr es so sagt. Ihr seid der König.« »Ja«, antwortete Gar. »Der bin ich.« In seiner Stimme lagen Echos von Schmerz und einer müden, übersättigten Zufriedenheit. »Und jetzt sagt der König, dass es an der Zeit sei, nach Hause zu gehen.«
»Nicht bevor ich Euch den Rest dieses Blutes vom Leib gewaschen hab. Ihr seht aus wie ein Schlachterlehrling.« Sein Blick fiel auf den einzigen Schrank in der Wetterkammer. Einem Impuls gehorchend, ging er darauf zu, öffnete die Türen und fand darin einen Stapel weicher Lappen, eine Schale und eine mit einem Stöpsel verschlossene Phiole. Er drehte sich zu Gar um und sagte: »Es scheint, als hätte Euer Pa für alles Notwendige gesorgt.«
»Oder Durm«, pflichtete Gar ihm bei. »Bring sie her.«
»Es ist kein Wasser da.«
Gar lächelte. »Gib mir die Schale. Ich kümmere mich um das Wasser.« Er reichte ihm die Schale, dann setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden und beobachtete, wie Gar die Augen schloss, die Hand über das leere Gefäß hielt und leise einige Worte flüsterte. Zwischen der Schale und Gars Haut blitzte ein blauer Funke auf. Gar ächzte, und neuer Schmerz verzerrte ihm das Gesicht. Der blaue Funke tanzte einen Moment lang, dann erstarb er… und die Schale begann sich vom Grund auf mit Wasser zu füllen, als hätte man einen unsichtbaren Hahn geöffnet.
Asher lachte. »Wie macht Ihr das?«
Gar gab ihm die Schale zurück. »Willst du das wirklich wissen?«
Plötzlich fiel ihm wieder ein, wer er war und wo er war und welche Strafen darauf standen, diese Art von Fragen zu stellen. »Nein.«
»Es ist schon gut«, sagte Gar. »Ich werde dir antworten. Wenn du die Wahrheit wissen willst, es wird eine Erleichterung sein, darüber zu sprechen. Da Durm… nicht gesund ist, gibt es niemanden sonst, der mir zuhört.«
Asher tauchte die Finger in das Wasser. Es war warm. Er befeuchtete eins der weichen Tücher, wrang es aus und erwiderte: »Holze würde zuhören.« Gar schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mit Holze sprechen. Nicht darüber. Nicht über irgendeine Art von Magie. Ich kann mit keinem von ihnen sprechen.« Er hielt Gar das Tuch hin. »Ja, Ihr habt wahrscheinlich Recht.«
»Holze mag ein Geistlicher sein, aber er sitzt auch im Kronrat und ist mit Jarralt befreundet«, sagte Gar, dessen Stimme gedämpft klang, während er sich das Gesicht abwischte. »Er ist mit allen hochstehenden Doranen befreundet. Wenn es jemals auch nur den kleinsten Hinweis darauf gäbe, dass ich mir nicht sicher bin, was die Wettermagie betrifft, was irgendetwas betrifft…«
Asher seufzte. »Ich weiß. Leb wohl, König Gar, und gegrüßt seist du, König Conroyd.« Mit einem Ächzen zog er den Stöpsel aus der Phiole aus dem Schrank. Ein durchdringender Gestank, der ihm die Tränen in die Augen trieb, wehte in den Raum hinein. Würgend spuckte er den Korken aus.
»Das werde ich auf keinen Fall trinken«, sagte Gar.
Asher schnupperte vorsichtig an der Flüssigkeit. »Eine von Nix' kleinen Mixturen. Sie stinkt ein wenig so wie die, die er mir nach meiner Rückkehr aus Westjammer gegeben hat. Euer Pa muss sie hier aufbewahrt haben, für danach.« Er hielt ihm die Phiole hin. »Ihr solltet es vielleicht tun. Ich meine, Ihr seid im Augenblick so schwach, dass ich Euch einfach die Nase zuhalten und Euch das Gebräu in den Hals schütten könnte, aber das wäre vielleicht eine Spur würdelos. Ihr wisst schon. Ihr als König und alles.«
Gar streckte mit wütend funkelnden Augen die Hand aus. »Ich weiß nicht, wann, und ich weiß nicht, wie, aber ich schwöre, dass ich mich dafür rächen werde.« Asher grinste. »Natürlich werdet Ihr das tun. Aber nehmt nur einen einzigen Schluck. Wir haben keine Ahnung, wie stark dieses Zeug ist.«
Gar schluckte. Würgte. Hielt Asher die Phiole blind hin und wischte sich mit dem blutbefleckten Lappen über die Lippen. »Und nachdem ich mich an dir gerächt habe«, keuchte er spuckend und hustend, »werde ich mir auch den verdammten Nix schnappen!« Asher verkorkte die Phiole wieder, dann musterte er seinen Freund. Was immer der widerwärtige Trank des Pothers enthielt, es zeigte Wirkung. Ein wenig Farbe kehrte in Gars Wangen zurück, und seine Hände waren jetzt ruhiger. »Besser?«, fragte er.
Gar verzog das Gesicht. »Ja.«
Während die magischen Regenwolken über der Karte von Lur langsam zur Erinnerung verblassten, sagte Asher in das Schweigen hinein: »Also. Es sieht so aus, als wäret Ihr ein Wettermacher, genau wie Euer Pa.«
Ein winziges Lächeln glitt über Gars Züge. »Ja. Und du weißt, was das bedeutet.« Asher ließ den Kopf sinken. Jetzt würde es kommen. »Ich habe den Hauch eines Verdachts.«
»Es gibt niemanden sonst, dem ich das Amt des Tribuns für Olkische Angelegenheiten anvertrauen würde«, erwiderte Gar. »Und niemanden sonst, den ich dringender in meinem Kronrat brauche. Aber ich verspreche dir dies, Asher. Wenn Durm wieder wohlauf ist und ich in meinem Amt Fuß gefasst habe, wenn ich verheiratet bin und die Nachfolge gesichert ist, und wenn du dann noch an dein geliebtes Meer zurückkehren willst, werde ich keinen Versuch unternehmen, dich aufzuhalten. Und wenn du tatsächlich fortgehst, wirst du das als sagenhaft wohlhabender Mann tun.«
Asher wandte den Kopf ab, um das winzige Restharven zu betrachten, in dessen winzigen Hafen winzige, magische Boote tanzten. Mit Geld und Macht und König Gars Segen würden seine Brüder ihm nie wieder im Weg stehen. Er würde unverletzbar nach Hause zurückkehren und imstande sein, sein Leben selbst und ohne Einmischung von außen zu bestimmen.
Und Dathne hatte sich erboten, ihm zu helfen…
Er grinste. »Ah, verdammt. Restharven läuft mir nicht davon.«
»Bedeutet das, dass du das Amt annimmst?«
»Ja«, sagte er. »Ich nehme es an.«
Dathne saß auf ihrem gepolsterten Stuhl in der Halle der Gerechtigkeit bei den übrigen ranghohen Mitgliedern des königlichen Personals und beobachtete, wie Barlsmann Holze Gar zu Lurs neuem König krönte.
Vor der Halle, wo normalerweise der Rechtgeber saß und sein Urteil sprach, hatte man ein Podest errichtet. Verhüllt mit goldfarbenen Samtstoffen, schimmerte es im Glimmfeuer, das eigens für den Anlass heraufbeschworen worden war.
Die Hände demütig gefaltet, kniete Gar auf einem dunkelroten Kissen zu Holzes Füßen, während der Barlsmann über seinem gesenkten Kopf betete. Im Gegensatz zu dem Geistlichen mit seinen juwelenbesetzten, grünen, goldfarbenen und roten Brokatroben und den verschiedenen heiligen Ringen an den Fingern war Lurs künftiger König in strenges Weiß gekleidet. Er sah aus wie ein Weidenschössling, dem man die Borke abgestreift hatte. Jung. Verletzlich. Wenig bereit für die Last, die das Schicksal ihm aufgebürdet hatte. Asher, der die feinsten Seiden– und Brokatstoffe trug, die sie je an ihm gesehen hatte, verfolgte die Zeremonie in ängstlichem Schweigen. Vermutlich grübelte er über Dinge nach, die im letzten Augenblick schiefgehen konnten. Machte sich Sorgen, dass die Dinge, um deretwillen er sich mit Darran in den Haaren gelegen hatte, doch noch fehlgehen konnten. Sie drückte ihm sachte den Arm und lächelte, als er sie ansah. Er lächelte zurück, aber ohne Begeisterung. Holze breitete die Arme weit aus und legte den Kopf in den Nacken. »O Gesegnete Barl, blicke auf diesen Mann hinab, dein Kind in der Magie, und höre jetzt seinen feierlichen Eid, an diesem Ort abgelegt vor dir und seinem ganzen Volk. Salbe ihn mit deinem Segen, gib deine Kraft in sein Herz und leite ihn alle Tage seines Lebens zu Weisheit und Wahrheit.«
Jetzt schaute Gar auf und faltete die Hände überm Herzen. »Gesegnete Barl, aus der alles Leben fließt, ich schwöre feierlich, dir und dem Königreich, das du uns gegeben hast, Doranen und Olken gleichermaßen, bis zu meinem letzten Atemzug zu dienen. Ich werde deine Kinder in Frieden und Wohlstand erhalten, das Wetter machen und dafür sorgen, dass deine große Mauer stark bleibt; ich werde deine Gesetze ohne Fehl befolgen, bis der letzte Tropfen meines Blutes vergossen ist. Möge die Magie mich verlassen, wenn meine Worte nicht aufrichtig sind.«
Holze nickte einem wartenden Akoluthen zu. Der in Roben gewandete Gehilfe trat mit der Krone des Wettermachers vor und reichte sie ihm. Als Holze den kunstvoll aus Silber, Kupfer und Gold geschmiedeten Schmuck auf Gars gesenkten Kopf drückte, hielt Dathne den Atem an.
Draußen auf dem Platz läutete die große Barlsuhr der Stadt Mitternacht. Ihr Läuten verkündete das Ende der Nacht… den Beginn des Tages.
Es war alles sehr symbolisch.
Ein gewaltiger Seufzer ging durch die Reihen der versammelten Zeugen: Gildemeister und Meisterinnen, Hauptmann Orrick, die adeligen Mitglieder des Großrats, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen aus den größeren Städten des Königreichs, auserwählte Angestellte des königlichen Haushalts. Dathne sah die tiefe Erleichterung auf ihren Gesichtern. Gelobt sei Barl, gelobt sei Barl, jetzt kann wieder Normalität einkehren…
Sie empfand ungeheures Mitgefühl.
Barlsmann Holze begann über dem Kopf des noch immer knienden Gar den traditionellen Wettermachersegen zu sprechen. Als Dathne zur Seite schaute, sah sie, wie Darran, der liebe alte Umstandskrämer, sich verstohlen eine Träne von der Wange wischte. Er mochte ein Pedant sein, was das Protokoll betraf, und es war unvermeidlich, dass jemand wie Asher ihn in Wut brachte, aber er war trotzdem ein guter Mann.
Anders als Willer.
Der hockte einige Plätze von ihnen entfernt wie ein mürrischer Pfau in seinem Feststaat da und schmollte noch immer vor sich hin, die abstoßende kleine Zecke. Alles, was Asher je über ihn gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Dass er tatsächlich glauben konnte, man würde ihn zum Tribun für Olkische Angelegenheiten oder auch nur zum Vizetribun ernennen! War der Mann ebenso verrückt, wie er widerwärtig war? Und die Art, wie er sich aufgeführt hatte, seit ihr das Amt übertragen worden war. Gehässig. Höhnisch. Alles andere als hilfsbereit. Er würde seinen Groll bald überwinden müssen, oder Asher würde ihn entlassen, ganz gleich, wie viele Entschuldigungen Darran noch für ihn finden mochte.
Da sie seinen Anblick kaum ertragen konnte, schaute sie in eine andere Richtung. Darran war nicht der Einzige, der zu Tränen gerührt war: Diener des königlichen Haushalts, die ihren neuen König als Säugling in der Wiege gekannt hatten, als Kleinkind, das durch die Flure des Palastes gelaufen war und Unfug gemacht hatte wie jedes andere Kind; Abgesandte der Gilden, die ihn im vergangenen Jahr gut kennengelernt hatten und es vielleicht bedauerten, ihn an die Magie verloren zu haben; adelige Doranen, die diese spät erblühte Macht und die durch sie getöteten Träume möglicherweise beklagten – oder sich stattdessen vielleicht Tagträumen über die Chancen einer heiratsfähigen Tochter hingaben, zur Köni– gin gekrönt zu werden. Sie alle hatten Tränen auf den Wangen.
So viele Gesichter. So viele verborgene Gedanken. So viele Leben, die aus allen Fugen gehen würden, sobald die Prophezeiung sich erfüllte.
Ihre grimmigen Überlegungen fanden ein Ende, als Holze sich vorbeugte und Gar auf die Füße zog. Den neuen König zu seinen schweigenden Untertanen umdrehte, seine Arme hob und rief: »Sehet ein Wunder! Sehet Euren tugendhaften König durch Barls große Gnade, Gar den Ersten, Wettermacher von Lur!«
Jetzt erhoben sich die versammelten Zeugen und jubelten. Nun… die meisten jubelten. Dathne rappelte sich hoch, um es ihnen gleichzutun.
Asher, der wie alle anderen laut Beifall klatschte, beugte sich vor. »Barl steh mir bei«, sagte er, während der beinahe zu Tränen gerührte König Gar vor ihnen stand und den verzückten Applaus entgegennahm. »Jetzt wird das Leben interessant werden!«
Die ungepflegten, abstoßenden Männer und Frauen in der Grünen Gans lärmten und zechten und kippten ihr Bier über die Köpfe ihrer kreischenden Nachbarn, dann lachten sie, als hätten sie gerade etwas unglaublich Raffiniertes und atemberaubend Komisches getan.
Komisch? Willer zog sich tiefer in seine dunkle Ecke zurück, drückte sich seinen vierten Humpen Bier an die Brust und grinste höhnisch. Es war nicht im Mindesten komisch. Es war unreif. Sie benahmen sich wie Kinder. Nein, schlimmer noch, sie benahmen sich wie Säuglinge. Ja. Ihr Verhalten war kindisch und… und… peinlich. Diese ungehobelten Tölpel waren Dienstboten des kö– niglichen Haushalts. Seine Kollegen. Im weitesten Sinne. Im aller–weitesten Sinne. Sie waren angeblich das Beste, was die olkische Gesellschaft Lurs zu bieten hatte. Und doch führten sie sich hier auf wie ungebildete Bauernknechte bei einem Scheunentanz, betranken sich, sangen mit unmelodischer Stimme zotige Lieder und machten sich ganz allgemein zum Narren.
Morg sollte sie alle verfluchen, war dies eine Art, die Krönung eines Königs zu feiern?
Und was gab es überhaupt zu feiern? An dem Tag, an dem Gars Familie in eine Schlucht gestürzt war, war mehr zerstört worden als nur eine Kutsche. Mehr als die Menschen, die gestorben waren. Zu dem Zeitpunkt war ihm das nicht klar gewesen, aber jetzt wusste er es. Auch seine Zukunft war zerstört worden. Seine Träume waren eines genauso blutigen Todes gestorben wie der alte König. Bebend vor Entrüstung, nahm Willer noch einen Schluck von seinem zugegebenermaßen vorzüglichen Bier.
Er konnte es nicht verstehen. Wie hatte Barl ihm das antun können? Ein weiterer Trinkspruch auf den neuen König ließ die von Rauch umwehten Dachsparren des Gasthauses erzittern. Er zuckte zusammen. Was, in Barls Namen, hatte ihn in diese Höhle der Lasterhaftigkeit geführt? Er gehörte nicht hierher, er gehörte in den Goldenen Gockel, wo die einzige Störung, mit der man jemals rechnen musste, das behutsame Räuspern des Kellners war, der sich höflich erkundigte, ob der Herr noch weiteren Wein wünsche. Im Gockel gab es Geigenmusik. Im Gockel gab es eine exquisite, in Seidengewänder gehüllte Sopransängerin. Im Gockel gab es Kristallglas und poliertes Silber und feine Speisen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, hierherzukommen? Eine hinterhältige kleine Stimme in seinem Kopf antwortete: Du hast gedacht, dass du hier sicher sein würdest. Dass du hier keine lächelnde, tapfere Miene aufzusetzen brauchtest. Dass du hier unsichtbar sein würdest.
Was im Gockel nicht der Fall war. Dort war er wohlbekannt, wurde umschmeichelt, war berühmt und sichtbar. Dort war es unmöglich, unerkannt zu bleiben. Und schlimmer noch, im Gockel warteten seine vornehmen königlichen Kollegen, die anderen Sekretäre und Untersekretäre, die ebenfalls Stammgäste in Doranas angesehenstem Lokal waren.
Diejenigen, die gewiss in eben diesem Augenblick sagten: »Armer Willer. Zweimal hat man ihn übergangen. Zuerst zugunsten des Fischers und jetzt zugunsten dieser eigenartigen Frau – Ihr wisst, welche ich meine, nur Haut und Knochen, hängt diesem Stallburschen am Schürzenzipfel. Die Buchhändlerin. Ja, die. Nicht mal sein eigener Vorgesetzter tritt für ihn ein.«
»Nein! Wollt Ihr damit sagen, dass Darran die Ernennungen unterstützt? Meine Güte! Ah, nun. Es heißt ja, dass jeder Mann seine Grenzen erreicht, und anscheinend hat der arme Willer die seinen erreicht. Aber wer hätte gedacht, dass die Latte so tief hängen würde?
Stöhnend nahm er noch einen kräftigen Schluck Bier.
Es war natürlich töricht, wegen Gars Entscheidung verletzt zu sein. Er hätte die Kränkung erwarten sollen; jeder wusste, dass der Pri… der König, wenn es um Asher ging, die Scharfsichtigkeit eines neugeborenen Säuglings besaß. Womit er nicht gerechnet hatte, war Darrans Verrat. Nach drei Jahren getreulichen Dienstes, in denen er klaglos geschuftet hatte und absolut verlässlich und diskret gewesen war, in denen er auf private Vergnügungen verzichtet und private Pläne hintangestellt hatte, öffentlich derart gedemütigt zu werden. Als entbehrlicher Schreiberling eingestuft zu werden. Mitansehen zu müssen, wie Darran diesen unaussprechlichen Asher unterstützte, ihren gemeinsamen Erzfeind, und hören zu müssen, wie er den Rüpel ohne jede Ironie rühmte. »Unser guter Freund, Asher, der Seiner Majestät und dem Königreich hervorragende Dienste als Tribun für Olkische Angelegenheit leisten wird.«
Willer erbebte in neuerwachtem Zorn und versuchte, die quälende Erinnerung in noch mehr Bier zu ertränken, schüttete sich aber stattdessen die restlichen Schlucke in seinem Humpen übers Hemd.
»Verdammt!«
Er versuchte vergeblich, die Aufmerksamkeit einer der drei schlampigen Kellnerinnen der Gans auf sich zu ziehen, aber die nutzlosen Frauenzimmer waren zu beschäftigt damit, Matts Stallburschen einzuladen, ihre zweifelhaften Reize anzugaffen. Entmutigt sackte er noch weiter in sich zusammen und starrte mürrisch in sein leeres Bierglas.
Jemand zwängte sich zu ihm an den Ecktisch. Ohne zu fragen. Was für eine Frechheit! »Seid so freundlich und sucht Euch einen anderen Platz«, sagte er hochmütig und ohne aufzublicken. »Mir steht der Sinn nicht nach…« Ein voller Humpen Bier wurde vor ihm auf den Tisch geknallt. Jetzt blickte er doch auf und sah in ein ihm unbekanntes Gesicht. Lang, dünn, in mittleren Jahren. Ein Olk. Unangenehm. Das Gesicht lächelte.
»GutenAbend, Meister Driskle«, begrüßte der Fremde Willer.
Er musterte den aufdringlichen Tölpel mit einem Stirnrunzeln. »Kenne ich Euch, Herr?«
»Nein«, antwortete der Mann. Er trug einen langen, grauen Umhang und hielt einen Bierhumpen in einer Hand. »Aber ich kenne Euch.«
»Viele Leute kennen mich. Ich bin ein wohlbekannter Mann.«
»Das seid Ihr«, stimmte der Fremde ihm zu. »Und es ist mir eine Ehre, hier bei Euch zu sitzen.« Er deutete auf den Humpen, den er auf den Tisch gestellt hatte. »Wollt Ihr mit mir einen Trinkspruch ausbringen, Meister Driskle? Auf unseren neuen König, möge Barl seine Tage unter uns segnen!«
Nun. Man konnte sich kaum weigern, einen Trinkspruch auf den König auszubringen…
»Und auf das Andenken seiner Familie, Barl schenke ihnen Ruhe!« Oder auf seine verstorbenen Eltern und seine Schwester… »Und auf die schnelle Genesung unseres verehrten Meistermagiers!«
Nicht einmal einen Trinkspruch auf Durm konnte man ablehnen, obwohl das Leben ohne ihn gewiss friedlicher war.
Willer, der das Ganze eine Spur erschöpfend fand, musterte seinen neuen Freund mit zusammengekniffenen Augen. »Wer seid Ihr?«
Der Mann lächelte. »Der Diener von jemandem, der gern ein Wort mit Euch wechseln würde, Meister Driskle. Falls Ihr gerade die Zeit dafür erübrigen könnt.«
Er rümpfte die Nase. »Wenn dies ein unbeholfener Versuch ist, sich eine Vergünstigung von einem Mann mit königlichem Einfluss zu erschmeicheln, dann…«
»Oh, nein, Meister Driskle«, unterbrach der Mann in Grau ihn mit erheitertem Blick.
»Was will dieser ›jemand‹ dann? Hat er einen Namen? Ich werde keinen Fuß aus dieser elenden Taverne setzen, wenn Ihr mir nicht verratet, wer…« Der Mann lächelte, hob einen Finger und zog den Rand seines Umhangs beiseite, um seinen Kragen zu entblößen. Der Stoff war bestickt mit einem schwarzsilbernen Falken: dem Emblem des Hauses Jarralt.
Willer prallte zurück. »Was geht hier vor?«
Der Mann lächelte noch breiter und zwinkerte ihm zu. Verwirrt und leicht betrunken vom Bier, mühte Willer sich hinter dem Tisch hervor und folgte dem grau gewandeten Diener des Hauses Jarralt aus dem baufälligen Gasthaus und auf die Straße hinaus, wo eine dunkle, unauffällige Kutsche stand, die von vier dunklen, unauffälligen Pferden gezogen wurde. Der Diener öffnete den Wagen– schlag, und Willer spähte in das von Glimmfeuer erhellte Innere des Wagens. Es saß nur ein Mann in der Kutsche.
»Lord Jarralt!«, stieß er hervor. Er riss sich den Hut vom Kopf und vollführte hastig eine unbeholfene Verbeugung. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Herr?«
Lord Jarralt war in nüchternem Grau und Schwarztönen gekleidet. Er hob eine unberingte Hand und bedeutete seinem Besucher mit einer knappen Geste, sich zu ihm zu setzen. Willer stolperte voller Ehrfurcht die Sprossen zum Schlag der Kutsche hinauf und ließ sich auf das schwarze Samtpolster gegenüber dem Edelmann fallen. Sein Herz schlug schmerzhaft gegen seine massige Brust. »Du kannst uns jetzt allein lassen, Frawly«, sagte Lord Jarralt zu seinem Diener. Willer zuckte zusammen, als Frawly die Kutschentür schloss. Eine Peitsche knallte, dann hörte man das Klappern beschlagener Hufe auf nassen Pflastersteinen, und die Kutsche fuhr los. Wohin oder in welche Richtung ließ sich unmöglich feststellen.
»Mylord«, stieß er atemlos hervor, »ich verstehe nicht. Stimmt etwas nicht? Der König, ist er…«
Jarralt hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Für den Augenblick ist unser geliebter König unversehrt, Willer. Und darf ich feststellen, wie sehr es für Euch spricht, dass Euer erster Gedanke ihm und seiner Sicherheit galt. Ich bin… beeindruckt.«
Willer hätte um ein Haar seine Zunge verschluckt. Er wusste nicht, was aufregender war: Dass Lord Conroyd Jarralt seinen Namen kannte, dass er in der Kutsche des Edelmanns saß oder dass ihm soeben einer der mächtigsten und angesehensten Doranen im Königreich ein überschwängliches Kompliment gemacht hatte.
Er räusperte sich. »Vielen Dank, Mylord. Wie kann ich Euch helfen? Euer Diener war überaus verschwiegen…«
»Es freut mich, das zu hören«, sagte Lord Jarralt. »Unser Geschäft ist von privater Natur. Ich würde es nicht gern als… Nahrung für den öffentlichen Verzehr betrachten.«
War das eine Warnung? Ja. Ja, natürlich war es das. »Oh, Herr, Ihr könnt Euch auf meine absolute Diskretion verlassen! Ich kenne den Wert des Schweigens, das versichere ich Euch. In meiner Eigenschaft als Privatsekretär Seiner Majestät habe ich…«
»Schweigen«, unterbrach Lord Jarralt ihn. »Ja. Schweigen ist oft nützlich und wird so häufig unterschätzt. Und wenn man es weise handhabt, kann es sogar eine Waffe sein. Könnt Ihr mir folgen, Willer?«
Er klappte den Mund zu und nickte eifrig. Lord Jarralt lächelte. »Hervorragend.« Etliche Fragen lagen Willer auf der Zunge. Warum bin ich hier? Wohin fahren wir? Was wollt Ihr von mir? Warum treffen wir uns heimlich? Er erstickte vor Neugier, konnte kaum atmen. Und er hielt die Krempe seines Huts so fest umschlungen, dass er glaubte, seine Knöchel würden brechen.
Lord Jarralt sagte: »Ihr mögt Asher nicht, nicht wahr.«
Es war keine Frage. Stumm schüttelte er den Kopf.
»Ihr seid nicht allein. Verratet mir eins… Wenn man Euch bitten würde, ihn zu beschreiben, was würdet Ihr sagen?«
Was würde er sagen? Was würde er nicht sagen? Er erstickte beinahe an all den grimmigen Worten, die ihm in den Sinn kamen. »Ich würde sagen, er ist – er ist ein widerwärtiger Kopfschmerz, Mylord.«
Diese Bemerkung entlockte Lord Jarralt ein lautes Lachen. »Ein widerwärtiger Kopfschmerz! Ja. Wie wahr. Aber er ist noch mehr als das. Er ist ein giftiges Unkraut, das wild und unkontrolliert in unserem Garten wächst, unserem geliebten Königreich Lur. Ich habe gehört, dass er zum Tribun für Olkische Angelegenheiten ernannt worden ist. Eine Tragödie, so viel steht fest.« Willer schluckte. »Ja, Mylord.«
»Um aufrichtig zu sein«, meinte Lord Jarralt, während er mit den Fingern müßig auf ein Knie klopfte, »ich dachte, die Wahl würde auf Euch fallen, aber… so ist es leider nicht gekommen. Zweifellos trägt Asher die Schuld daran. Er hat den König gegen Euch eingenommen.«
Ein Stich der Hoffnung durchzuckte Willers Herz. Er beugte sich vor, und sein zerdrückter Hut fiel unbeachtet auf den Boden der Kutsche. »O Mylord«, hauchte er. »Ich habe solche Angst. Seine Majestät ist so gütig, so freundlich, so vertrauensvoll. Ich fürchte, er hat, ohne es zu ahnen, eine Schlange an seinem Busen genährt. Solange Darran genauso dachte wie ich, hatte ich eine gewisse Hoffnung, dass Ashers Verderbtheit ans Licht kommen würde, aber jetzt ist auch Darran seinem Zauber verfallen. Ich möchte nicht unbescheiden erscheinen, aber ich denke, ich bin der Einzige, der sieht…«
»Bescheidenheit bleibt am besten jenen vorbehalten, die Grund haben, bescheiden zu sein«, erklärte Lord Jarralt. »Für Männer wie uns, Willer, Männer mit einer Vision, ist sie eine nutzlose Tugend. Ihr habt nichts zu befürchten. Ihr seid nicht der Einzige, der Asher durchschaut.«
Willer stieß einen lautlosen Seufzer der Ekstase aus und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Die kalte Leere in ihm war verschwunden, und an ihre Stelle war prickelnde Wärme getreten. Männer wie wir. »Mylord, ich bin über alle Maßen erleichtert, Euch das sagen zu hören. Aber was können wir tun? Wir sind zwei einsame Stimmen, die in der Wildnis rufen.«
»Ich weiß«, sagte Lord Jarralt und lächelte so bekümmert, dass Willer glaubte, es könne ihm das Herz brechen. »Es ist ein einsamer Weg, den wir gehen, Willer. Habe ich Euch recht verstanden, dass Ihr unseren neuen König liebt?« Willer sog scharf die Luft ein. »Natürlich!«
Lord Jarralt zog den Vorhang vom Fenster der Kutsche zurück und starrte eine Weile in die nachtdunkle Landschaft hinaus. Willer hatte keine Ahnung, wo sie jetzt waren. Die Pferde liefen nicht mehr über Pflastersteine, so viel konnte er aus ihrem Hufschlag entnehmen. Das bedeutete, dass sie die Stadt verlassen haben mussten. Spielte es eine Rolle? Nicht im Geringsten. Dieses unglaubliche Gespräch hatte ihn weiter über die Grenzen der Stadt hinausgeführt, als er je in seinem Leben gekommen war.
»Gar könnte vom Alter her mein eigener Sohn sein«, fuhr Lord Jarralt mit einem beinahe sehnsüchtigen Tonfall fort. »So habe ich ihn immer betrachtet. Und wie jeder andere Vater mache ich mir Sorgen. Ich stelle mir eine Unzahl von Gefahren vor, die ihm jederzeit drohen könnten.« Sein Blick flackerte. Eine Warnung oder eine Aufforderung?
Willer holte tief Luft, um sein dröhnendes Herz zu beruhigen. »Ihr denkt, der König ist in Gefahr, Mylord?«
Jarralt ließ den Vorhang wieder fallen. »Was denkt Ihr?«
Willer starrte ihn an. »Ich… ich weiß es nicht.«
»Ich denke, Ihr wisst es sehr wohl. Ihr habt es selbst gesagt. Eine Schlange an seinem Busen.«
»Ja… das habe ich gesagt…« Er runzelte die Stirn. »Aber Asher hat ihm in Westjammer das Leben gerettet.«
Lord Jarralt lächelte. »Zumindest hat man uns das erzählt.«
»Ich nehme an«, meinte Willer langsam, »die Geschichte könnte auf Unwahrheit beruhen. Schließlich haben wir nur Ashers Wort. Auf die Erinnerung des Königs kann man sich nicht verlassen, denn er stand in diesem Moment kurz vor dem Ertrinken. Und die Wahrheit ist ein Spiegel, nicht wahr? Was man darin sieht, hängt stark davon ab, wer hineinschaut, nicht wahr?«
Lord Jarralt seufzte. »Ich bin ein schlichter Mann, Willer. Verschwörungen und Rätsel und hinterhältige Intrigen sind meinem Wesen fremd. Daher gestattet mir, mit schlichten Worten zu sprechen, in der Hoffnung, dass Ihr anschließend das Gleiche tun werdet.«
»Das werde ich, Herr.«
»Schlicht gesprochen, ich fürchte, dass Asher einen unziemlichen Einfluss auf den König hat. Ich fürchte, seine Majestät ist übertölpelt worden. Man hat ihn glauben gemacht, der Rüpel sei harmlos. Im Gegenteil, er ist voller Hass. Er bringt den Doranen, Barls eigenem Volk, nur Verachtung entgegen. Und jetzt, da seine Macht im Königreich ihren Gipfel erreicht hat, fürchte ich, dass er sie miss– brauchen wird, um unseren sanften, vertrauensvollen neuen König zu seinen eigenen Zwecken zu manipulieren.«
»Zu welchen Zwecken, Mylord?«, fragte er zitternd.
Lord Jarralt zuckte die Achseln. »Was ist der Ehrgeiz eines jeden giftigen Unkrauts?«
Die Frage schien alle Luft aus dem Inneren der Kutsche zu ziehen, sodass Willer Mühe hatte weiterzuatmen. Ihm war heiß und kalt zur gleichen Zeit, und Mut und Angst stritten in seiner Brust. »Es will den Garten übernehmen«, flüsterte er. »Genau.«
»Aber, Mylord…«, wandte Willer gequält ein. »Wir haben keinen Beweis.« »Was ist ein Beweis anderes, mein Freund, als ein Hauch von Farbe, den Narren benötigen, die nicht sehen, dass ein ungetünchtes Haus immer noch ein Haus ist?«
»Ich weiß… ich weiß… Aber ohne einen Beweis wird Seine Majestät uns niemals glauben.«
»Das ist wahr«, gab Lord Jarralt zu. »Also müssen wir einen Beweis finden. Oder sollte ich sagen, Ihr müsst ihn finden?«
Er lehnte sich zurück. »Ich, Mylord? Wie? Ich verfüge über keinerlei Magie, keinerlei Macht. Ich bin ein bloßer Olk, eine Speiche im Rad der königlichen Kutsche, ich…«
Lord Jarralt lächelte. »Willer, Willer… stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel. Ihr seid weit mehr als das. Ihr seid mutig. Weise. Hingebungsvoll. Und das Wichtigste, Ihr seid da. Innerhalb des königlichen Haushalts. Zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, um zu tun, was getan werden muss. Um den Beweis zu finden, der unseren lieben König vor diesem monströsen Olk retten wird. Ich weiß, es wird schwierig und sogar quälend werden, aber Ihr müsst Euren Stolz bezähmen. Schluckt Euren Widerwillen gegen Asher herunter, verbergt Eure gerechte Verachtung für ihn, und haltet Euch so weit wie möglich in seiner Nähe, um seine Taten zu beobachten. Könnt Ihr das tun, mein Freund? Sagt mir, dass Ihr es könnt. Sagt mir, dass ich Euer nobles Wesen nicht falsch einschätze, ebenso wenig wie Eure Entschlossenheit, ungeachtet des persönlichen Preises zu tun, was Recht ist.«
Er konnte kaum atmen. »Ihr irrt Euch nicht in mir, Herr, das schwöre ich!« »Ihr werdet mir und mir allein jede Entdeckung, jeden Verdacht melden«, ermahnte Lord Jarralt ihn. »Niemand sonst darf erfahren, was wir vorhaben. Mit der Zeit wird Ashers wahres Wesen offenbar werden, daran zweifle ich nicht. Aber für den Augenblick hat er den König – tatsächlich das ganze Königreich – übertölpelt.«
»Übertölpelt und geblendet«, pflichtete Willer ihm bei. »Zu meinem täglichen Schmerz.«
»Aber nicht für immer«, sagte Lord Jarralt. »Eines Tages, und Barl gebe, dass dieser Tag bald kommt, wird Asher stolpern, und Ihr werdet da sein, um es zu bezeugen. Ihr, Willer, werdet unseren König und unser Königreich vor der Katastrophe bewahren und Euch damit bis zum Ende der Zeit die Liebe aller Menschen verdienen. Aber nur, wenn Ihr ja sagt. Wenn Ihr es nicht tut, werden wir ein Unheil erfahren, wie wir es seit den Tagen Morgs nicht mehr erlebt haben, und Ihr werdet bis in alle Ewigkeit als der Mann bekannt sein, der geholfen hat, ein Königreich zu Fall zu bringen. Die Gesegnete Barl sei meine Zeugin, ich weiß, dass dies die Wahrheit ist. Also, jetzt gilt es, Willer. Jetzt erreichen wir den Punkt, von dem es kein Zurück gibt. Werdet Ihr unserem geliebten Lur dienen, mein Freund? Werdet Ihr mich bei diesem heiligen Feldzug unterstützen, das Ungeheuer Asher zu erschlagen?«
»Ja, Mylord«, sagte Willer, immer noch atemlos vor Erregung. »O ja. Das werde ich!«