Conroyd Jarralt war in seinem Badezimmer, als die Nachricht kam. Durm ist aufgewacht und bei vollem Verstand. So groß waren sein Zorn und seine Enttäuschung, dass das abkühlende Wasser in dem Zuber sich erhitzte und er nackt herausspringen musste, bevor er sich verbrühte.
»Sag Frawley, er soll in der Bibliothek warten«, befahl er der verlegenen Dienstmagd. »Ich werde sofort bei ihm sein.« »Herr!«, keuchte sie und floh. Er hüllte sich in eine üppige Brokatrobe, trocknete und ordnete sein Haar mit einem ungeduldigen Fingerschnippen, dann ging er die Treppe hinunter, um mit seinem Handlanger zu sprechen.
»Mylord«, sagte Frawley mit einer tiefen Verneigung. Eingehüllt in seinen gewohnten grauen Umhang, den Hut tief in die Stirn gezogen, wirkte er wie immer auf nützliche Weise unauffällig.
»Unser fetter Freund hat Euch eine Nachricht geschickt, vermute ich?« Frawley schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. Er hat mich im Pfeifenden Schwein aufgespürt und ist im Abort an mich herangetreten.«
»Hat man Euch beobachtet?«
Frawley sah ihn gekränkt an. »Mylord.«
Die Gefühle des Mannes hätten Jarralt kaum gleichgültiger sein können. »Ist das alles, was er gesagt hat?« »Ja, Mylord.«
Jarralt setzte sich an seinen Schreibtisch und trommelte mit den Fingern. »Willer ist säumig in seinen Pflichten.«
»Ich habe erwähnt, dass Ihr begierig auf gute Neuigkeiten wartet, Mylord«, erwiderte Frawley. Von Unbehagen befallen, nahm er seinen Hut ab und spielte an der Krempe herum. »Ich habe ihn eigens darauf hingewiesen.« »Ich denke, es ist an der Zeit, dass man ihn an die Dringlichkeit seiner Mission erinnert«, meinte Jarralt. »Wo ist er jetzt?«
»Höchstwahrscheinlich in seinem Quartier, Herr, zu dieser Zeit des Abends.« »Sucht ihn. Eskortiert ihn zum Westtor des städtischen Barlsgartens. Ich werde Euch dort treffen.«
»Mylord«, sagte Frawley und verabschiedete sich.
Ethienne unterhielt sich im Musikzimmer an ihrem Spinett. »Ich werde einen Spaziergang machen«, erklärte Jarralt ihr.
»Einen Spaziergang?«, fragte sie erstaunt. Barmherzigerweise hörte sie auf zu spielen und starrte ihn an, als seien ihm Flügel gewachsen. »Zu dieser Stunde? Aber du hast doch gerade dein Bad genommen?«
»Bitte, mach dir nicht die Mühe aufzubleiben, bis ich zurückkomme. Ich fühle mich heute Abend eine Spur rastlos. Ich werde vielleicht einen ziemlich langen Spaziergang machen.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Oh, Conroyd. Bist du immer noch so sehr traurig?«
»Wir leben in traurigen Zeiten, meine Liebe.« Aus vielen Gründen, und soeben war die Liste um einen weiteren verlängert worden.
»Aber du hast deine Liebe zu Dana schon vor Jahren überwunden«, erwiderte sie und schmollte gerade ein klein wenig. »Und für Borne hast du nie Zuneigung verspürt. Nicht als Mann, meine ich. Als unseren König hast du ihn natürlich verehrt, genau wie wir alle.«
Sie würde es erfahren müssen, früher oder später. »Durm ist aufgewacht. Ich habe soeben die Nachricht erhalten.«
Jetzt verstand seine Frau. »Oh, Conroyd!«
»Ja«, sagte er leise und gestattete sich ein denkbar winziges Lächeln. Ethienne fing sich wieder. »Wir dürfen nicht verzweifeln«, erklärte sie und stand von ihrem Musikhocker auf. »Es ist eins, dass er wach ist. Etwas ganz anderes ist die Frage, ob er unversehrt ist und in der Lage, als Meistermagier zu fungieren. Mein Lieber, gib die Hoffnung nicht auf. Du wirst eines Tages Meistermagier werden, ich weiß es.«
Sie hatte natürlich keine Ahnung, wo sein wahrer Ehrgeiz lag. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, sich einer Frau wie ihr anzuvertrauen. Für sie war es schon Herausforderung genug, über seinen angeblichen Wunsch, Durms untergebenen Platz an Gars Seite einzunehmen, Stillschweigen zu bewahren. Er zuckte mit den Schultern. »Was immer geschieht, es wird Barls Willen entsprechen.«
Errötend betastete sie den heiligen Anhänger an der Kette um ihren Hals. »Natürlich.«
»Bitte, lass dich in deinem Spiel nicht stören, meine Liebe«, fügte er hinzu und deutete auf das Spinett. »Und ich werde dich morgen früh beim Frühstück sehen.«
Er entfloh ihrer enthusiastischen Verstümmelung einer beliebten Tanzmelodie und tauschte die Brokatrobe und die Pantoffeln gegen ein gedecktes Gewand mit dazu passenden Hosen und Stiefeln. Eingehüllt in einen schwarzen Umhang, mit einem tief in die Stirn gezogenen Hut, der seine Züge verbergen sollte, verließ er sein Stadthaus und hatte mit energischen Schritten bald den vornehmen Wohnbezirk von Altdorana hinter sich gelassen und den Weg zum städtischen Barlsgarten eingeschlagen.
Die Nacht war klar, und es war kein Regen angesetzt. Entsprechend dem gegenwärtigen Wetterplan – Bornes letztem – würde es noch fünf Tage keinen Regen in der Stadt geben. Die Temperatur sollte jedoch langsam fallen. Darum würde Gar sich bald kümmern müssen, oder der Gant würde nicht zufrieren und Dorana auf Schlittschuhpartien verzichten müssen. Wenn den Menschen dieses alljährliche Vergnügen vorenthalten blieb, würde Gar sich nicht lange solcher Beliebtheit erfreuen.
Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über seine Züge.
Die Erheiterung verblasste jedoch schnell. Ethiennes Optimismus war nicht viel mehr als Wunschdenken. Wenn Durm bisher überlebt hatte, konnte das das für ihn typische Pech bedeuten, dass der Mann vollkommen wiederhergestellt wurde. Und wenn das geschah würde jede Hoffnung, Gar in Misskredit zu bringen, zunichte gemacht werden. Durm würde den Sohn seines verstorbenen Freundes bis in den Tod behüten. Selbst wenn das bedeutete, auch diesen elenden Asher schützen zu müssen. Nein. Wenn er zuschlagen wollte – sich des Thrones, sich seines Schicksals bemächtigen –, würde es bald geschehen müssen.
Er kam an zwei Stadtwachen vorbei. Sie sahen ihn durchdringend an, erkannten ihn und nickten höflich, bevor sie weiter ihres Weges gingen. Er ignorierte sie. Zu Pferd oder mit der Kutsche war der Barlsgarten nicht weit; zu Fuß brauchte er über eine halbe Stunde, und als er das Westtor erreichte, war er vollkommen verschwitzt. So viel zu seinem Bad. Der von Blumen bedeckte Park lag in dem schläfrigen, frommen Bezirk der Stadt. Hier gab es keine Läden, keine Tavernen oder Restaurants, nur das langgestreckte Seminar der Barlskapelle, das Hospiz und bescheidene Quartiere für Geistliche, die zu alt oder zu gebrechlich waren, um ihren religiösen Pflichten im Königreich nachzukommen. Es war der perfekte Ort für ein Treffen, das am besten geheim blieb. Keine Fußgänger, keine lästigen Pferde oder Kutschen, in denen Menschen saßen, die seine Angelegenheiten nichts anging. All die kleinen Novizen und Barlssprecher lagen jetzt entweder fest eingemummelt in ihren Betten oder auf ihren knochigen Knien, um zu beten. Er war hier sicher.
Der Barlsgarten war zu allen Seiten umgeben von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun mit vier Toren darin, aber soweit er wusste, waren sie nie geschlossen. Er schlüpfte durch das Westtor und wartete.
»Mylord! Mylord?«
Frawley. Hinter ihm ging hechelnd vor Anstrengung der rundliche Willer, dem der Schweiß übers Gesicht lief. Nach Knoblauch stank er auch. Der Geruch setzte sich mühelos gegen den Duft des Winterjasmins im Barlsgarten durch. Jarralt widerstand dem Drang, sich ein Taschentuch auf Mund und Nase zu drücken, und trat in den Kreis aus schwachem Licht, den ein fernes Glimmfeuer warf. »Senk deine Stimme, Frawley«, befahl er. »Geräusche verbreiten sich mit dem Wind. Du hast Meister Driskle ohne jedweden Kommentar hierhergebracht?« »Entschuldigung, Herr. Ja, Herr. Niemand hat gesehen, wie ich ihn geholt habe.« Willer, dessen Miene eine unangenehme Mischung aus Furcht und Gefallsucht zeigte, machte eine ungelenke Verbeugung. Er rang noch immer nach Luft. »My …lord! Wie kann ich Euch dienen? Frawley sagt, er habe… meine Nachricht weitergegeben. Ich fürchte, mehr weiß ich nicht, was die Verfassung… des Meistermagiers betrifft.«
Jarralt blickte hochmütig auf ihn hinab; es war eine nützliche Einschüchterungstechnik. »Ja. Es ist Euer Mangel an Wissen, der uns hierherführt.«
Der fette kleine Olk erbleichte. »Mylord?«
»Als wir uns das erste Mal getroffen haben,Willer, habt Ihr den Eindruck eines Mannes vermittelt, dem es ein ernstes Anliegen sei, unser geliebtes Königreich vor Schaden zu bewahren«, sagte Jarralt und ließ sich seine Verstimmung deutlich anmerken. »Und doch habe ich bisher von Euch nicht mehr bekommen als vage Hinweise, unbegründete Verdächtigungen und eine Liste von Vergehen, die zwar ein sehr klares Licht auf Ashers unbefriedigenden Charakter wirft, die uns jedoch kaum in dem Bemühen weiterbringt zu beweisen, dass er eine Gefahr für die Krone darstellt. Kann es sein, dass ich mich in Euch geirrt habe, Herr?« »Mylord!«, kreischte der kleine Mann. »Ich tue mein Bestes, ich schwöre es! Aber es ist nicht leicht. Asher ist so verdammt heimlichtuerisch!«
Jarralt ließ seine Züge zu einem Ausdruck eisiger Kälte erstarren. »Aha. Als Ihr mir versichert habt, dass Ihr eine perfekte Stellung hättet, um Ashers Untaten aufzudecken, habt Ihr in Wirklichkeit«, er dehnte die Pause schier unerträglich in die Länge, »übertrieben?«
»Nein, nein! Und ich habe auch nicht gelogen! Ich habe tatsächlich die perfekte Stellung für ein solches Unternehmen, Mylord! Bei meinem Leben!«, beteuerte der Olk ächzend. »Es könnte nur ein klein wenig länger dauern, als ich – als wir – dachten. Aber ich werde es tun. Ich schwöre, ich werde es tun!«
»Weder meine Zeit noch meine Geduld, Willer, sind grenzenlos.« Der Olk krümmte sich wie ein geschlagener Straßenköter und wagte es, Jarralts Ärmel mit einer Fingerspitze zu berühren. »Mylord, ich bin davon überzeugt, dass ich mehr in Erfahrung bringen könnte, wenn ich nur Zugang zu Ashers privaten Papieren hätte. Zu seinem Amtsraum und zu all seinen Schreibtischschubladen.«
»Ihr habt den Verdacht, dass Asher in seinem Amtsraum belastende Beweise versteckt?«
Einen Moment lang kämpfte der fette Mann mit seiner Antwort. Dann zuckte er unglücklich die Achseln. »Mylord, ich kann nicht aufrichtig behaupten, das mit Sicherheit zu wissen. Aber wenn er die Beweise irgendwo aufbewahrt, dann bestimmt dort. Oder in seinen privaten Gemächern. Wenn ich nur hineingelangen könnte, während er fort ist, weiß ich, dass ich die Beweise finden könnte, die wir benötigen. Aber er hält all seine Türen verschlossen, und ich habe keine Schlüssel. Darran hat sie, aber er will sie mir nicht…«
Die Blumenbeete waren gesäumt mit kleinen, runden Flusskieseln, die in einem Schwarzweißmuster ausgelegt waren. Jarralt bückte sich und wählte einen Stein von jeder Farbe. Den Schwarzen umschloss er mit der rechten Faust, dann flüsterte er eine Beschwörung über seine Finger und wartete auf das prickelnde Summen auf seinem Fleisch, das den Erfolg des Zaubers anzeigen würde. Ein Aufblitzen von Wärme, ein kitzelndes Zischen, und es war geschehen. »Der wird jede Tür und jede Schublade aufschließen«, sagte er und hielt den Kiesel seinem Handlanger hin. »Benutzt ihn weise. Ich werde wissen, wo er gewesen ist.«
Mit Augen wie ein gieriges Kind griff der Olk nach dem Kiesel und schob ihn in eine Wamstasche. »Mylord.«
Als Nächstes verzauberte er den weißen Kiesel und hielt ihn Willer hin. »Dieser hier wird Euch eine Stunde schwaches Glimmfeuer schenken. Genug, um zu sehen, aber nicht gesehen zu werden. Ihr müsst einmal auf eine harte Fläche klopfen, um den Zauber zu aktivieren, und dann noch einmal, um ihn auszuschalten. Wenn Ihr gefunden habt, was wir benötigen, werft beide Kiesel in den nächsten Brunnen und schickt Frawley unverzüglich eine Nachricht, ganz gleich, zu welcher Stunde. Ist das klar?«
Der weiße Kiesel verschwand in einer anderen Tasche. »Mylord, ich werde Euch nicht enttäuschen«, versprach der fette Willer. »Wir werden diesen Missetäter stellen, Ihr habt mein feierliches Wort darauf. Das Königreich wird gerettet werden.«
Der Mann erwartete offenkundig irgendeine Art von Reaktion. Ein Kompliment möglicherweise oder eine von Herzen kommende Bekundung von Vertrauen und Dankbarkeit. Jarralt sah Frawley an. »Begleite ihn zurück zu seinem Quartier, aber nimm diesmal einen anderen Weg. Vermeide eine Begegnung mit den Wachen und anderen spätabendlichen Passanten.«
Frawley verneigte sich. »Mylord.« Er griff nach dem schwarzen, wollenen Ärmel des abstoßenden fetten Olks und zog ihn hinter sich her.
Jarralt sah ihnen nach und wartete, bis sie hinter einer Ecke verschwanden, dann zog er seinen Umhang ein wenig fester um sich und machte sich auf den Heimweg. Lächelnd gestattete er sich ein wenig von Ethiennes Optimismus, der ihn wärmte.
Bald. Bald jetzt, trotz Durms ermüdendem Festhalten am Leben, würden Bornes elender Sohn und der lästige Olk ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Eine flüchtige Unannehmlichkeit, ein geringfügiger Aufruhr. Eine kurze Phase öffentlicher Trauer, dann würde ein neuer Tag heraufdämmern.
Verneige dich, du Volk von Lur. Mach Platz. Bezeige deine Ehrfurcht. Hier ist dein neuer Lehnsherr, König Conroyd der Erste.
Dathne stützte die Ellbogen auf ihren Esstisch und runzelte die Stirn. »Ich dachte, du magst meine Küche«, sagte sie. Sie klang verwirrt. Vielleicht ein wenig gekränkt.
Asher, der ihr gegenübersaß, betrachtete das Gemisch von Karotten, Spinat und würzigem Hackfleisch auf seinem Teller und verzog das Gesicht. »Entschuldige. Ich schätze, ich habe keinen großen Appetit.«
Sie griff nach dem Brot, brach ein Stück davon ab und tupfte den Rest ihrer Soße auf. »Was ist los?«
Er liebte es, sie beim Essen zu beobachten. So schnelle, präzise Bewegungen. Ihre ganze Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit, konzentriert auf Geschmack und Beschaffenheit. »Heute Abend muss Wetter gemacht werden.«
Verstimmt wischte sie sich die Finger an ihrer Serviette ab. »Wenn dich das so sehr mitnimmt, dann geh nicht hin.«
»Dathne…« Er seufzte. »Nicht.«
»Ich werde nicht so tun, als gefiele es mir, nur weil du es so möchtest«, erwiderte sie spitz.
»Dir wäre es lieber, ich würde lügen?«
»Mir wäre es lieber, du würdest hierbleiben!«
»Ja, hm, mir auch, aber wir wissen beide, dass ich nicht bleiben kann.« Sie erhob sich von ihrem Platz und begann die Teller abzuräumen. »Du willst es nicht.«
Verdammt! Er war hierhergekommen, um Ruhe zu finden, nicht um sich Vorwürfe machen zu lassen. Er stand auf. »Ich kann das nicht, Dathne. Nicht heute Abend.«
Sie war noch vor ihm an der Tür, drückte sich dagegen und breitete die Arme aus. »Warte. Warte.« Sie legte die Hände auf seine Brust. »Es tut mir leid. Geh nicht. Nicht bevor du gehen musst. Ich wollte nicht nörgeln. Es ist nur… Ich mache mir Sorgen um dich.«
Sein Herz unter ihren Händen schlug hart und schnell. »Ich weiß. Aber mit ein wenig Glück werde ich nicht mehr lange etwas damit zu tun haben müssen. Jetzt, da Durm die Hürde genommen hat…«
»Steht es fest? Nix denkt, dass er wieder vollkommen genesen wird?« »Er hat… Hoffnung.«
Er beobachtete das Aufschimmern von Zweifel in ihrem Blick. Sah sie Luft holen, um weitere vertrackte Fragen zu stellen, die er nicht beantworten konnte, ohne ihr weitere Lügen aufzutischen. Er gebot ihrem Mund auf die einzige Weise Einhalt, die ihm einfiel – mit seinem eigenen.
Erschrocken krampfte sie die Finger zusammen und umklammerte sein Hemd. Er hörte ihren gedämpften Protest. Spürte, wie sie sich versteifte und Anstalten machte, sich loszureißen. Von einem leichten Schwindel befallen, legte er die Arme um sie und presste sie fest an sich. Sie schmeckte nach Wein und Gewürzen und Überraschung. Gerade als er dachte, er habe sie vollkommen missverstanden, habe alles ruiniert, ergab sie sich. Wurde in seinen Armen weich. Erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft.
Als sie sich endlich voneinander lösten, starrte sie ihn atemlos an. Er brachte ein Lächeln zustande. »Du wirst mich jetzt doch nicht schlagen, oder?« Ihre weichen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich sollte es tun.« »Weil ich mir Freiheiten herausgenommen habe? Ja. Wahrscheinlich. Vor allem, da es mir nicht leidtut.« Jetzt verblasste sein Lächeln. »Tut es dir leid?« Sie antwortete ihm mit einem Kuss, der ihm genauso gründlich den Atem raubte, wie er zuvor ihren geraubt hatte. Dann ließ sie ihn los und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. In ihren Augen stand ein wilder Ausdruck. »Ich verstehe, warum du es tust, Asher. Gar ist dein Freund, und du liebst ihn. Aber lass die Liebe dich nicht blind gegen die Gefahr machen. Oder dich in ein falsches Gefühl von Sicherheit wiegen. Er mag dein Freund sein, aber zuerst ist er der König, und das wird er nicht vergessen. Vergiss du es auch nicht.«
Sie traf mit ihren Worten ungewöhnlich nah ins Schwarze. Um sein Gesicht vor ihr zu verbergen, zog er sie ein weiteres Mal an sich und seufzte, als ihre Arme sich um seinen Hals legten und sie mit den Fingern durchs Haar strich. »Es ist alles in Ordnung, Dathne«, flüsterte er. »Ich weiß, was ich tue.« Und er hoffte, dass sie ihm glaubte. Wünschte, er hätte es selbst glauben können. Für einen denkbar flüchtigen, wahnsinnigen Augenblick wollte er ihr sein unmögliches Geheimnis offenbaren.
Sie löste sich von ihm, halb lächelnd, halb stirnrunzelnd. »Was? Was ist los?« Nein. Es war undenkbar. Es wäre monströs gewesen, sie einzuweihen. Selbstsüchtig. Unfreundlich und gefährlich. Wie konnte er sie lieben und ihr Leben aufs Spiel setzen? Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich sollte jetzt gehen. Mich ein wenig ausruhen, bevor das Wettermachen beginnt.« »Ruh dich hier aus.«
»Dathne, wenn ich bliebe, bezweifle ich, dass auch nur einer von uns beiden viel Ruhe bekommen würde.«
Sie versetzte ihm einen Boxhieb. »Sprich für dich selbst! Ich weiß, was Recht ist und was nicht.«
Er rieb sich die schmerzende Brust; sie hatte eine harte Faust, wenn ihr danach zumute war. »Nein. Ich meine, dass du mir früher oder später wieder wegen Gar in den Ohren liegen würdest, und dann würden wir zanken, und ich möchte den Abend nicht verderben.« Er zeichnete mit dem Finger die scharfe, klare Linie ihrer Wange nach. »Ich möchte dies hier nicht verderben.«
Er hielt ihre Hand in seiner umfangen, und sie berührte mit seinen Knöcheln ihre Lippen. »Das wirst du nicht tun.«
»Ich weiß, dass ich es nicht tun werde, weil ich jetzt gehe«, sagte er. »Ich wollte ohnehin noch mit Matt sprechen. Die Luft reinigen nach unserer letzten Begegnung. Wir sind einander aus dem Weg gegangen.«
»Mach dir keine Gedanken wegen Matt«, erwiderte sie und verzog das Gesicht. »Er wird darüber hinwegkommen.«
»Ja, aber ich nicht. Ich bin eine empfindsame Blume, ich«, sagte er und lachte, als sie ihn abermals boxte. »Au. Siehst du?«
Sie löste sich von ihm und öffnete die Tür. »Schön. Dann fort mit dir, Meister Blume. Ich sehe dich morgen früh.«
»Was, du begleitest mich nicht noch ein Stück?«
»Ich würde es tun, wenn du es verdient hättest.«
Dafür drückte er ihr noch einmal einen schnellen Kuss auf die Lippen und ließ sich von dem Ausdruck scheuer Freude auf ihrem Gesicht den ganzen Weg bis nach Hause wärmen. Wo er, da er in Bezug auf Matt die Wahrheit gesagt hatte, direkt zum Stallhof ging.
Matt war noch bei der Arbeit; er flickte in seiner Schreibstube ein beschädigtes Zaumzeug. Der Kanonenofen in der Ecke rülpste Wärme aus, und auf seinem Deckel blubberte ein Kessel. Asher trat die Tür hinter sich zu und ging zum Schrank. Er angelte sich einen Becher und den Teekrug und machte sich daran, sich eine Tasse aufzugießen. Matt fädelte, stumm wie ein Schwan, ein neues Stück gewachsten Fadens in seine Nadel. Asher seufzte, fügte seinem Tee einen Tropfen Honig hinzu und sagte, während er rührte: »Du hast mir erzählt, du seiest nicht in sie verliebt.«
»Bin ich auch nicht«, antwortete Matt nach einem kurzen Moment des Schweigens.
»Warum spielt es dann eine Rolle, wenn ich es bin?«
»Habe ich behauptet, dass es eine Rolle spiele?«
Verärgert warf Asher den Löffel beiseite. »Das brauchtest du auch nicht zu tun! Es stand dir auf dem Gesicht geschrieben. Also, willst du mir sagen, was los ist?« Matt starrte noch immer auf seine Naht hinab. »Gar nichts ist los.« »Ach ja?« Vorsichtig setzte er seinen Becher ab. »Warum willst du mich dann nicht ansehen, Matt? Was befürchtest du, das ich in deinen Augen sehen könnte, wenn du sagst: ›Ich liebe sie nicht‹?«
Jetzt schaute Matt ihn doch an. Er stieß seine Nadel in die Kugel des aufgewickelten Garns und stand auf. »Nichts. Und es geht mich nichts an, Asher, das hast du sehr deutlich gemacht. Also, wie wär's, wenn du dich jetzt wieder um deine Angelegenheiten kümmern würdest und mich…«
Ein Krachen aus dem Stallhof ließ ihn herumfahren, und seine letzten Worte waren vergessen. Sie sprangen beide gleichzeitig auf die Tür zu. Matt erreichte sie als Erster und riss sie auf. Das von Panik kündende Getöse in ihrer Mitte hatte inzwischen alle Pferde unruhig gemacht, sie wieherten, stampften und schlugen aus.
Matt fluchte. »Dieses verdammte Tier, es hat nichts als Ärger gemacht. Greif dir die lange Leine, Asher. Ich werde deine Hilfe brauchen.«
Der graue Junghengst, der sich schon auf dem Weg nach Dorana verletzt hatte, war in seiner Box verkeilt. Während die aufgeschreckten Burschen die Treppe hinab in den Hof liefen, fing Matt das Seil auf, das Asher ihm zuwarf, und ging auf die Box des Hengstes zu.
»Tretet zurück, Jungs«, befahl er den Stallburschen. »Wir wollen ihn nicht noch weiter in Panik bringen.«
Asher blickte über die Stalltür. Der Hengst hatte sich zur Wand hin gerollt; seine Beine stemmten sich angewinkelt gegen das Holz, sodass er in der Falle saß und halb wahnsinnig war vor Angst. Er blutete bereits. Es hatten sich schon Pferde auf diese Art umgebracht; ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
Ohne etwas zu sagen – weil es nicht notwendig war –, traten er und Matt in den Stall. Der Hengst begann von Neuem auszuschlagen. Asher ging zum Kopf des Tieres, drückte seine Wange mit einer Hand ins Stroh und stemmte ein Knie in seinen Hals. Solchermaßen festgehalten, grunzte und stöhnte der junge Hengst, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Matt schlang geschickt ein Ende des Seils um die Vorderbeine des Hengstes und das andere um die Hinterbeine. Als die Knoten gesichert waren, blickte er zu Asher hinüber und nickte.
»Auf drei. Eins–zwei–drei«
Er zog, und Asher leitete den Kopf und den Hals des Hengstes, indem er ihn zur Seite rollte, weg von der Wand. Sobald das geschafft war, zwang Asher den Hengst abermals zu Boden, und Matt knotete das Seil auf. Der junge Jim'l, der immer eine schnelle Auffassungsgabe hatte, zog den Riegel an der Stalltür auf und hielt sie gerade weit genug offen. Dann rannten Matt und Asher mit schnel– len Sätzen aus der Stallbox, während der verschwitzte Hengst sich taumelnd erhob, bevor er bockte und sich in seinem Zorn wild aufbäumte.
Sicher im Hof angelangt, wischte Matt sich den Schweiß ab und sagte: »Danke. So eine verfluchte Geschichte.«
Asher grinste. »Sprichst du von mir oder von dem Pferd?«
Das Grinsen, mit dem Matt antwortete, war… vielschichtig. »Was denkst du?« Sie hatten ein Publikum gaffender Stallburschen; dies war nicht der Ort für ein privates, schmerzliches Gespräch.
»Ich denke, ich muss mich sputen«, sagte Asher. »Wir reden später, hm?« Matt, der das Seil aufrollte, mied abermals Ashers Blick. »Wenn du darauf bestehst.«
Verwirrt und gekränkt schob er die Hände in die Taschen. »Du sagst, es gäbe nichts zu bereden?«
Jetzt blickte Matt doch auf. Sein Gesicht war erschöpft. Traurig. »Ich sage, ich bezweifle, dass es einen Unterschied machen wird.«
Betroffen drehte Asher sich auf dem Absatz um und tat die ersten Schritte. Über die Schulter gewandt, sagte er: »Ja… hm… tu mir bloß keinen Gefallen, Matt.« Trotz seines Ärgers hoffte er, dass Matt ihm nachkommen würde. Dass er ihm zumindest etwas nachrufen würde. Dass er irgendetwas tun würde. Nichts.
Also gut. Zum Kuckuck damit! Wenn Matt den schlechten Verlierer spielen wollte, dann war das seine Sache. Er hatte andere Freunde und andere Dinge, um die er sich sorgen musste.
Wie das Wettermachen…
Als zwei Stunden später die brennende Magie verebbte, ließ Asher die Beine einknicken und fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden der Wetter– kammer. Obwohl er kaum die Augen öffnen konnte, beobachtete er, wie sanfter Regen auf die kahlen Obstwiesen rings um die Hauptstadt fiel und federzarter Schnee über der Eisweinregion von Schönthal niederging.
»Hier«, sagte Gar und hielt ihm einen Becher von Nix' widerwärtigem Trank hin. Mit zitternden Händen nahm Asher den Becher entgegen und trank das abscheuliche Gebräu von Kräutern und verschiedenen Essigsorten, das dazu bestimmt war, Körper und Seele zusammenzuhalten. Sein Magen lehnte sich dagegen auf, aber es gelang ihm, den Trank nicht wieder auszuspeien.
Gar streckte mit einem feuchten Tuch die Hand nach ihm aus. »Jetzt dein Gesicht…«
»Das kann ich selbst machen«, murmelte er. »Ich brauche keine verdammte Amme.« Er konnte Gars besorgten Blick auf sich spüren, während er seine vom Blut klebrige Haut abtupfte.
»Du solltest nicht versuchen, so viel auf einmal zu tun«, meinte Gar. »Olken ist es nicht bestimmt, diese Art von Macht zu ertragen.«
Asher warf das fleckige Tuch beiseite und zog sich mühsam auf die Füße. Allerdings konnte er nicht ohne Hilfe stehen; die Wettermagie fraß noch immer an ihm wie Säure. Er schlurfte zur Seite und lehnte sich an die runde Wand der Kammer, während sein Kopf grimmig hämmerte. »Ich habe keine Wahl. Ich kann es mir nicht leisten, die ganze Nacht darauf zu verwenden. Im Turm liegt immer noch Arbeit für mich.«
»Kann sie nicht warten?«
»Nein.«
Gar machte sich daran, das Tuch, das Becken und den Trank wieder in den Schrank zu räumen. Dann schlug er die Türen zu. »Ich weiß, es ist hart«, sagte er mit leiser Stimme. »Aber was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich lese Durms Bücher. Ich suche nach einer Heilung.«
Er verzog das Gesicht. »Lest schneller.«
»Ich kann nicht! Die Bücher sind alt, Asher, niedergeschrieben in uralten Dialekten und obskuren Geheimsprachen! Wenn ich sie falsch übersetze, wenn ich der Eile den Vorzug vor Gelehrsamkeit gebe, werde ich einen Fehler machen, einen, der dich oder mich töten wird – und vielleicht alle Menschen in Lur! Ist es das, was du willst?«
»Ich will, dass dies hier vorbei ist!«, gab er zurück, und in seiner Stimme klang Verzweiflung durch. »Ich will, dass mein Leben wieder so ist, wie es vorher war!«
Gar drehte sich zu ihm um. »Wovor? Es gibt kein ›vorher‹, Asher! Es gibt nur das Jetzt, von dieser Minute bis zur nächsten, das Jetzt, in dem wir durchhalten und hoffen, dass der Himmel uns nicht auf den Kopf fallen wird.«
Asher unterdrückte ein Stöhnen. Seine Knochen waren spröde Kreide, bereit, bei der kleinsten Anstrengung zu bersten. Die Erschöpfung hatte er schon vorlagen hinter sich gelassen. »Als wir einen Monat vereinbart haben, dachte ich: Das ist keine so lange Zeit. Das kann ich schaffen. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Im Augenblick kommt mir eine Stunde vor wie die Ewigkeit.« »Ich weiß. Es tut mir leid«, sagte Gar. Die Schuld, die ihn niederdrückte, war ihm deutlich anzusehen. »Hör zu. Ich muss bald einen neuen Wetterplan machen. Vielleicht kann ich einige Arrangements verändern. Die Dinge ein wenig strecken und dir längere Erholungszeiten verschaffen.«
»Ihr werdet eine lange Schlange von Bauern und dergleichen im Palast haben, die mit Klagen an Eure Tür hämmern.«
Gar runzelte die Stirn. »Das Wort des Wettermachers ist Gesetz. Wenn ich die Häufigkeit von Regen und Schnee ein wenig anpassen kann, ohne dass diese Veränderungen sich ungünstig auf die Ernten auswirken…«
»Versucht es«, sagte Asher. »Bitte.« Es beschämte ihn zu betteln, aber die Magie zerbrach ihn. Er konnte die Risse spüren, die sich zusehends ausbreiteten. Das sanfte Säuseln und Klatschen von Schnee und Regen auf der Reliefkarte war beruhigend. Mit einem scharfen, tiefen Atemzug stieß er sich von der Wand ab und zwang sich, aufrecht dazustehen.
»Ich würde es jetzt tun. Aber du bist nicht in der Verfassung, allein zurückzugehen. Und wir dürfen es nicht riskieren, dass du hier einschläfst. Wir werden gemeinsam zurückgehen. Es ist jetzt schon so spät, dass es niemandem auffallen sollte.«
Es war keine gute Idee, aber er hatte nicht die Kraft, Einwände zu erheben. »Schön«, antwortete er. »Ihr seid der König.« Und dann ließ er sich sogar von Gar, der einen Arm stark und fest um seine Schultern gelegt hatte, die Treppe hinunterhelfen.
Sie kehrten schweigend in den Turm zurück. Gar ging hinauf zu seinen Gemächern, und Asher machte sich widerstrebend auf den Weg zu seinem Arbeitsraum. Der schlimmste Schmerz und die größte Übelkeit waren verstrichen, und er war jetzt vor allem müde und benommen. Noch eine Stunde wollte er arbeiten, dann wäre der nörgelnde Darran zufriedengestellt. Unter seiner geschlossenen Tür war ein dünner Streifen Licht zu sehen. Er trat ein und stand Dathne gegenüber. »Was tust du hier?«
»Du und diese verdammte Wettermacherei. Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie, entschuldigend und trotzig zur gleichen Zeit. »Außerdem gab es Arbeit für mich. Ich dachte, du hättest nichts dagegen.«
Er trat ein und schloss die Tür. Dann schlüpfte er aus seiner Jacke und hängte sie an den Mantelständer. »Nein. Ich habe nichts dagegen.«
»Gut«, sagte sie und lächelte. Dann verflog der Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht, und sie sah ihn genauer an. »Asher, du hast Blut auf deinem Wams!«
Er blickte an sich hinab. Verdammt, sie hatte Recht. »Es ist nichts.« »Nichts?« Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Seit wann ist Blut nichts?« Barl stehe ihm bei, er war zu müde für so etwas… »Dathne, mach keinen Wirbel. Ich bin Gar ein wenig zu nah gekommen, als er das Wetter gemacht hat, das ist alles. Ich hab es dir doch gesagt, es ist eine blutige Angelegenheit.« »Seine blutige Angelegenheit. Wie kommt es also, dass du derjenige bist, der wie halbtot wirkt?«
»Mir geht es gut«, beharrte er.
Sie trat zurück. »Nein. Das ist nicht wahr. Es gibt da etwas, das du mir nicht erzählst.«
Die Kränkung in ihren Augen war wie eine Messerwunde. »Tu das nicht, Dathne«, flüsterte er. »Bitte. Kannst du es denn nicht verstehen? Ich habe Versprechungen gegeben.«
Sie schwieg einen Moment lang. Sah ihn durchdringend an. Dachte nach. Dann trat sie wieder direkt vor ihn hin und strich mit den Fingerspitzen über sein Wams, wo das Blut den cremefarbenen Stoff wie Magie dunkelrot gefärbt hatte. »Du solltest ins Bett gehen. Du siehst wirklich schrecklich aus.«
Er fühlte sich auch schrecklich, und all seine schlafenden Schmerzen waren neu erwacht. »Ich kann nicht. Übermorgen findet Glospottles Anhörung statt, und ich bin noch nicht einmal annähernd fertig. Ich muss immer noch einen Stapel Bücher durchlesen und mir Notizen darüber machen.«
»Dann werde ich hierbleiben und dir helfen«, entgegnete sie lächelnd. »Zwei Köpfe sind besser als einer.«
Ein verlockendes Angebot, aber es war schon spät, und seine Schutzwälle waren geschwächt. Wenn sie ihn wieder bat, sich ihr anzuvertrauen, würde er vielleicht nicht die Kraft haben, Widerstand zu leisten. Vor allem jetzt, da er sich so verzweifelt allein fühlte. »Dathne…«
Sie legte eine Hand auf sein Herz. »Lass mich bleiben. Bitte.«
Er sollte es nicht tun… Er sollte nicht… »Also gut«, sagte er. »Aber nur für eine Weile.«
Auf ihren Vorschlag hin brachten sie die Bücher, die er brauchte, in die Bibliothek seiner Wohnräume, in der Sofas standen, auf denen sie es sich bequem machen konnten. Sie nahm die eine Hälfte des Bücherstapels, er die andere, dann setzten sie sich zum Lesen hin.
Die Zeit verging. Schon bald vergaß er, dass sie nur für eine Weile bleiben sollte. Es spielte keine Rolle, dass er erschöpft war oder dass seine Augen schmerzten. Im Kamin brannte wohl riechendes Kiefernholz fröhlich vor sich hin, und es war so behaglich, so häuslich, in seinem privaten Gemach das Schweigen mit ihr zu teilen und zu arbeiten.
Zusammengerollt auf dem anderen roten Ledersofa, stieß Dathne einen Seufzer aus, benutzte einen Finger, um ihre Seite in dem Buch, das sie las, zu markieren und kritzelte einige weitere Notizen auf den bereits dicht beschriebenen Bogen Papier neben ihr. Ihr Gesichtsausdruck verriet ernste Konzentration. Während sie schrieb, lugte ihre Zungenspitze aus ihrem Mund hervor, und sie hatte einen Tintenfleck auf der Nase. Sein Herz krampfte sich zusammen. Als sie seinen Blick spürte, schaute sie auf. »Was?«
Er konnte es nicht aussprechen. Stattdessen sagte er: »Ich habe nachgedacht. Ich glaube nicht, dass ich das tun kann.«
»Was? Der Anhörung Vorsitzen?« Sie wandte sich wieder ihren Notizen zu. »Natürlich kannst du das.«
»Nein, kann ich nicht. Es ist die Halle der Gerechtigkeit, Dathne! Juristisches Geschwätz und Geplapper! Ich verstehe diesen Unsinn nicht!«
Sie grinste. »Was der Grund ist, warum wir mitten in der Nacht hier sitzen und arbeiten, während alle vernünftigen Menschen in ihren Betten liegen. Bist du schon fertig mit Tevits Prinzipien der Jurisprudenz?«
Tevits ermüdende, verfluchte Prinzipien der verfluchten Jurisprudenz lagen offen und unbeachtet auf seiner Brust. Die ersten drei Paragraphen auf Seite eins hatten ihm hämmernde Kopfschmerzen beschert, und seither war es weiter bergab gegangen.
»Nein.«
»Asher…«
Er schob das Buch auf den mit Teppich bedeckten Boden, wo es mit einem befriedigenden Aufprall landete. »Kann ich Glospottle und den Rest der Färbergilde stattdessen nicht einfach ins Gefängnis werfen?«
Ein weiteres Grinsen. »Ich bin überzeugt, dass Pellen Orrick begeistert davon wäre.«
»Ich wäre bestimmt begeistert«, sagte er mit funkelndem Blick. Dann überfiel ihn ein Gähnen; als er das Gesicht zur Genüge verzerrt hatte, ließ er den Kopf auf die gepolsterte Armlehne des Sofas fallen und schloss die Augen. Die Erschöpfung war wie eine Decke aus warmem Schnee, die ihn niederdrückte. »Ich schätze einfach, die Welt ist verrückt geworden, wenn ein hergelaufener, ungebildeter Fischer aus Restharven auf diesem Thron in der Halle der Gerechtigkeit sitzen und Menschen, die er kaum kennt, sagen kann, was sie mit ihrem eigenen Urin tun dürfen und was nicht.«
»Du stellst dein Licht unter den Scheffel«, erwiderte Dathne, und ihre Stimme kam langsam näher. »Neben unserem König bist du der wichtigste Mann in Lur.« Sie beugte sich über ihn. Er konnte spüren, wie ihr warmer Atem über sein Gesicht strich. »Ich dachte, das hättest du inzwischen begriffen.« »Was ich begreife, Dathne, ist…«
Den Rest des Satzes erstickte sie mit ihren warmen, weichen Lippen. In erschrockenem Schweigen lag er einfach nur da und ertrank in den wunderbarsten Gefühlen. Nach einer halben Ewigkeit ließ sie ihn los, und er begann wieder zu atmen. Er schlug die Augen auf.
»Wer nimmt sich jetzt Freiheiten heraus?«
»Ich«, flüsterte sie und küsste ihn abermals. Sie roch nach Leidenschaft und Parfüm und schmeckte nach den Honigpfefferminzbonbons, die sie sich gerne genehmigte, wenn sie glaubte, dass niemand hinschaute. Er schob die Hände vor, strich ihr um den Hals und löste ihr dichtes, schwarzes Haar. Es fiel ihm wirr und nach Lavendel duftend ins Gesicht. Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen umfangen und liebkoste ihn. Ließ seine Haut erbeben und setzte sie in Brand. Selbst durch die dicken Schichten Brokat und Seide konnte er ihre Brüste auf seinem Oberkörper spüren. Alles Blut war in einer Schwindel erregenden Woge aus seinem Kopf gewichen und sackte in tiefere Regionen ab.
»Asher? Was ist los? Gefällt es dir nicht?«, murmelte sie an seinem Mund. »Doch! Doch!«, wisperte er atemlos.
Sie umfasste sein Gesicht fester. »Dann küss mich zurück, du verdammter Kerl!« Er war ihr gehorsamer Diener. Vorsichtig legte er die Arme um sie, berührte den zerbrechlichen Brustkorb, fand ihr hämmerndes Herz. Als sie sich endlich voneinander lösten, rangen beide nach Luft. Ihre verblüfften Augen waren riesig, ihre Lippen feucht und geschwollen. Er drückte die Fingerspitzen darauf und erzitterte, als sie ihn mit der Zunge berührte.
»Nicht«, stöhnte er und hielt ihre Hand fest. »Wenn du das noch einmal machst, werde ich vielleicht…«
»Was?«, flüsterte sie und strich ihm mit der anderen Hand über den nackten Oberkörper. Nackt? Wann war sein Hemd aufgeknöpft worden? »Du weißt, was! Dathne, wir dürfen das nicht tun!«
»Aber ich will es tun«, erwiderte sie und küsste ihn abermals.
Während all seine Sinne in Brand standen, gestattete er sich, darauf zu reagieren. Ließ sich von dem Wirbelwind erfassen, der ihn blind machte gegen Vernunft und Weisheit. Ihre Haut unter seinen suchenden Fingern war Seide und Sahne. Sie stöhnte seinen Namen, zitterte unter seiner Berührung. Er fühlte sich wie ein König.
Sie glitten vom Sofa auf den Teppich, und als sie unter ihm zu Boden fiel und er ihre Brüste küsste, schrie sie laut auf, ein kleiner, erschrockener Ausdruck von Wonne.
Er hielt keuchend inne. »Wir können nicht. Wir dürfen nicht. Wir sind nicht verheiratet, Dathne.«
Ihre duftende Haut war feucht und ihr Haar wild zerzaust. Sie lächelte. »Dann heirate mich.«
Er starrte ungläubig auf ihr vor Leidenschaft glühendes Gesicht hinab. »Was?« »Es muss doch irgendwo in dieser Stadt noch ein Barlsmann wach sein.« Sie strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Machen wir uns auf die Suche nach ihm.«
Sie meinte es ernst. Er schloss die Finger um ihr Handgelenk und löste ihren Griff. »Du hast gesagt, dass du mich nicht liebst.«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe gelogen.«
»Warum?«
»Ich hatte Angst.«
»Wovor?«
Sie richtete sich auf und knöpfte mit unsicheren Fingern ihre Bluse zu. »Vor nichts. Vor allem. Es spielt keine Rolle mehr.« »Für mich spielt es eine Rolle.« Sie drückte ihre Lippen sachte auf seine. »Das sollte es nicht. Wichtig ist nur, dass ich zur Vernunft gekommen bin.« »Warum jetzt?«
»Mir ist klar geworden, dass ich dich verlieren könnte.« »Mich verlieren?«
Ihr Blick flackerte. »Erzähl mir nicht, du hättest all die wohlwollenden olkischen Mamas nicht bemerkt, die dir nachschauen, wenn du durch die Stadt reitest. Sie machen ihre unverheirateten Töchter auf dich aufmerksam und befehlen ihnen, dich anzulächeln, wenn du vorbeikommst. Mit den Rosen, die man dir bei öffentlichen Anlässen zuwirft, könntest du zehnmal eine Blumenhandlung aufmachen. Es muss in Dorana hundert brechende Mädchenherzen geben, die sich nach deiner Liebe verzehren.«
Er wusste nicht, ob er sie küssen oder so lange schütteln sollte, bis ihr schwindelig wurde. »Dathne, seit wann beachte ich wohlwollende Mamas oder ihre nach Ehemännern jagenden Töchter? Zum einen gab es für mich, seit ich in diese verdammte Stadt gekommen bin, nichts als Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit, und zum anderen…«
»Ja?« Ihre Stimme war nicht ganz fest. »Zum anderen?«
»Dein Mädchenherz ist das Einzige, das mich interessiert.«
Tränen rannen ihr über die Wangen. Diesmal war ihr Kuss zart und süß. Als er endete, schlang er seine Finger um ihre.
»Aber das heißt nicht, dass ich dich heiraten kann. Zumindest jetzt noch nicht.« Ihre Augen weiteten sich in gequälter Überraschung. »Warum nicht?« Sie war eine zutiefst scharfsichtige, kluge Frau. Wenn sie mit ihm verheiratet war, mit ihm lebte, würde sie die Wahrheit entdecken. Wenn etwas schiefging und er sie nicht beschützen konnte… »Das Königreich hat gerade erst eine Zeit der Trauer hinter sich gebracht, Dathne. Und Gar…«
»Muss selbst bald heiraten«, sagte sie. »Hast du Darran nicht über das Thema sprechen hören?« Sie verzog das Gesicht. »Warum sollte es den König kümmern, wenn wir vor einen Barlsmann treten und unser Gelübde tauschen? Oder ist er so kleinlich, dass er dir eine Ehe missgönnen würde, die aus Liebe und nicht aus Pflichtbewusstsein erwachsen ist?«
Gerade jetzt, nachdem seine eigenen Hoffnungen auf Liebe und Familie so grausam zunichte gemacht worden waren, würde Gar ihm vielleicht jede Art von Ehe missgönnen. Und selbst wenn er es nicht tat, wäre es genauso grausam, direkt vor seiner Nase sein Glück zur Schau zu stellen.
Noch etwas anderes, das er ihr nicht offenbaren konnte. »Dathne… so einfach ist es nicht.«
»Aber es könnte so einfach sein«, erwiderte sie und entzog ihm ihre Finger. »Vielleicht liebst du mich ja doch nicht.«
Er beantwortete ihre Schmähung mit einem Kuss, der ihnen beiden jede Luft zum Atmen raubte. »Glaubst du mir jetzt?«, fragte er keuchend.
Den Kopf auf seine Brust gebettet, schob sie verstohlen eine Hand unter sein Hemd und sagte: »Ja. Aber für dich kommt die Pflicht an erster Stelle.« Seit er sie kennengelernt hatte, war sie seine weise Ratgeberin gewesen, sein brutal ehrlicher Spiegel. Es tat ihm in der Seele weh, dass er ihre Aufrichtigkeit mit Halbwahrheiten und Lügen vergelten musste. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Sie lächelte gequält. »Das muss es nicht.« Dann beugte sie sich vor und küsste die knotige Narbe auf seinem Unterarm. »Ich weiß selbst ein wenig über Pflicht.« Er verdiente sie nicht. Konnte nicht glauben, dass er sie gewonnen hatte. Wie hart die Zeit seiner Werbung gewesen war…
Sie küsste ihn abermals, und er verlor sich im Rausch der Gefühle. Sie zu küssen, war so viel besser als zu denken. Oder sich Sorgen zu machen. Oder zu versuchen, Tevits unsäglichen Folianten zu begreifen. Wer hätte gedacht, dass ein harter Boden so bequem sein konnte? Oder ein magerer, kantiger Körper so weich? Dathnes Küsse waren wie eine Heimkehr.
Atemlos und in verwirrtem Schweigen saßen sie nebeneinander. Schließlich richtete Dathne sich auf und zeichnete mit den Fingernägeln Kreise auf seine Brust, bis eine Gänsehaut seinen ganzen Leib überzog. »Weißt du, wie wir Olken geheiratet haben, bevor die Doranen kamen?«
Er legte die Wange auf ihren Kopf. »Nein.«
»Wir sind voreinander hingetreten, einer des anderen Zeuge. Dann haben wir unseren Wunsch erklärt, einander vermählt und treu zu sein. Und wir waren verheiratet.«
»Einfach so?«
Sie nickte. »Ja, mein Liebster. Einfach so.«
Mein Liebster. Benommen legte er ihr einen Finger unters Kinn und schaute ihr in die Augen. »Das war vor langer Zeit, Dathne. Es gibt Gründe, warum die Dinge sich verändert haben.«
Sie zog einen Schmollmund. »Ich weiß, ich weiß. Ehen müssen schriftlicht festgehalten werden, Babys dürfen nicht einfach nach Lust und Laune in die Welt gesetzt werden. Wir dürfen uns nicht unmäßig vermehren, weil wir mit dem vorhandenen Land auskommen müssen. Aber ich will damit nicht sagen, dass wir niemals vor einen Barlsmann treten werden, Asher. Wenn du glaubst, dass unser öffentliches Glück dem König nicht schaden wird, dann können wir unsere Heirat in das Register eintragen lassen. Aber warum sollten wir uns bis dahin unser privates Glück versagen? Wenn wir nicht die wären, die wir sind, wenn wir irgendwo anders leben würden als in Lur, könnten wir binnen eines Herzschlags heiraten. Ich bedauere, dass der König Kummer hat, ich bedauere es aufrichtig, aber warum müssen wir deswegen leiden?«
Ihre Worte brachten eine Saite in ihm zum Klingen. Ungeheißen regte sich begrabener Groll. Wahrhaftig, warum? Er opferte Gar bereits so viel. Riskierte so viel. Er hatte etwas als Gegenleistung verdient, nicht wahr? Einen kleinen Funken Glück. Er und Dathne konnten natürlich nicht zusammen leben. Nicht zu Anfang. Vielleicht noch monatelang nicht. Möglicherweise würden sie nur eine Handvoll gestohlener Augenblicke haben wie eben diesen hier. Aber diese Augenblicke würden ihnen gehören. Das Glück würde ihnen gehören. Und in ihren Armen konnte er hoffentlich barmherzigerweise seine anderen, unglücklichen Geheimnisse vergessen.
Eine nüchterne Überlegung riss ihn aus seinem Tagtraum. »Aber was ist mit Babys? Du weißt, wir dürfen keine Babys haben, nicht bevor…«
»Seht«, sagte sie und legte einen Finger auf seine Lippen. »Babys sind Frauensache. Überlass das mir. Wir werden keine Kinder bekommen, bevor es an der Zeit ist.«
Erleichtert zog er sie an sich. »Selbst wenn wir verheiratet sind, weißt du, dass es Dinge geben wird, die ich dir nicht erzählen kann. Private Angelegenheiten zwischen Gar und mir, die niemand sonst erfahren darf. Das bedeutet nicht, dass ich nicht wahnsinnig verliebt wäre in dich. Das bin ich. Ich schätze, ich bin es immer gewesen. Aber…«
Sie küsste ihn. »Ich weiß. Ich verstehe.«
»Und wir müssten verdammt vorsichtig sein. Es werden ständig Leute um uns herum sein. Typen wie Darran und Willer, denen nichts entgeht. Sie dürfen keinen Verdacht schöpfen. Können wir ein solch verstecktes Leben führen?« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich denke, ja.«
Er runzelte die Stirn. »Und du darfst es auch Matt nicht erzählen.« »Keine Bange«, sagte sie. »Matt ist der Letzte, dem ich davon würde erzählen wollen.«
Ein Stich der Eifersucht durchzuckte ihn. »Also ist er doch in dich verliebt.« »Nein. Nein. Aber er würde unser Tun… missbilligen. Wir würden streiten. Und dies ist meine Entscheidung, nicht seine.« Sie küsste ihn lange und heftig. »Matt ist ein Freund, Asher. Du bist der einzige Mann, für den ich jemals etwas empfunden habe.«
Diese schlichte Erklärung machte ihn für einen Moment sprachlos. »Du willst es wirklich tun?«, fragte er schließlich.
Statt einer Antwort löste sie sich von ihm. Verwundert beobachtete er, wie sie die Tür der Bibliothek abschloss, zum Kamin hinübertappte und frische Holzscheite auf die ersterbenden Flammen wuchtete, bevor sie aus den Tiefen ihres Bündels einen hell goldfarbenen Schal aus gewebter Seide nahm.
»Streck die Hand aus«, sagte sie, und er tat wie geheißen. Sie ließ sich vor ihm auf den Teppich sinken, und er tat ihr jede Bewegungen nach, eine Handfläche küsste die andere, dann fädelte sie ihre Finger durch seine. Mit einem leichten Stirnrunzeln band sie ihrer beider Hände mit dem Schal zusammen. Er sagte nichts, fühlte sich nur seltsam schwindelig und wie in einem Traum. Sie waren im Begriff zu heiraten.
Als die rituelle Vermählung vollendet war, setzte sie sich auf die Fersen und betrachtete ihn. Die Wärme ihrer Hand war wie Magie in seinem Blut. »Ich bin Dathne Jodhay, eine Frau von gutem Gewissen und mit unbesudeltem Namen. Ich nehme diesen Mann, Asher, zu meinem Gemahl und schwöre ihm Liebe und Treue, bis ich sterbe.« Dann lächelte sie. »Jetzt bist du an der Reihe.«
»Ich bin Asher von Restharven«, erwiderte er. Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren atemlos. »Ich bin ein Mann von gutem Gewissen und mit unbesudeltem Namen, es sei denn, du fragst Darran oder Willer oder Conroyd Jarralt, und warum solltest du das tun? Dathne Jodhay ist meine Frau, meine Gemahlin, und wenn sie irgendjemand auch nur von der Seite ansieht, werde ich demjenigen seinen verdammten Kopf abreißen.«
Dathne erbebte unter lautlosem Gelächter. »Oh, Asher, du bist so ein Romantiker!«
»Zum Kuckuck mit der Romantik«, knurrte er und zog sie so fest an sich, dass sie aufkeuchte. »Sind wir verheiratet?«
»O ja«, sagte sie und warf ihn zu Boden. »Wir sind verheiratet.«
Und dann gab es kein Reden mehr, während Kleider von Fleisch abgestreift wurden wie die überflüssigen Häute einer Schlange. Lachend und stöhnend vor Verlangen ließen sie ihre Hände umherstreifen, ihre Zungen miteinander spielen, während ihre Fingerspitzen ein Leuchtfeuer der Wonne entzündeten. Plötzlich verunsichert, verloren in einer Wildnis von Glück, hielt Asher inne. Er nahm die Lippen von ihrer Brust und blickte ihr aufgewühlt in die Augen. »Ahm, Dathne. Du weißt, dass ich noch nie…«
Weiteres Gelächter. Kecke Hände, die ihn festhielten. »Es ist schon gut«, versprach sie ihm zitternd. »Ich auch nicht. Aber ich schätze, wir werden es schon irgendwie hinkriegen.«
Sobald er die beiden sah, wusste Matt Bescheid. Er trat zurück in die Dunkelheit zwischen den Hengstställen und der Futterkammer und beobachtete, wie sie sich Verschwörern gleich auf den Stallhof schlichen, und das Herz krampfte sich ihm im Leib zusammen. Dathne, Dathne, was hast du getan?
Es war noch früh, nicht einmal eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang, und die Burschen kamen gerade erst aus ihren Betten. Mit vom Schlaf verklebten Augen hatte er seine eigenen Decken erst vor zwei Stunden beiseite geworfen, um nach dem grauen Hengst zu sehen, dann war er aufgeblieben, um die begonnene Ausbesserung des Zaumzeugs abzuschließen. Um sich um Asher zu sorgen und die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte und die er nicht zu überbrücken wusste. Jetzt knurrte sein Magen nach Frühstück, und er verspürte einen brennenden Schmerz hinter den Augen. Alles, was er wollte, waren heißer Tee und Schinken und ein Moment Zeit, um einfach nur dazusitzen, sich auszuruhen und an nichts zu denken.
Was er nicht wollte, war ein weiterer Streit mit Dathne. Aber wie konnte er jetzt, da er sie gesehen hatte, Asher gesehen hatte, Stillschweigen bewahren? Wie konnte er so tun, als hätte er nichts bemerkt? Sie hatte den Verstand verloren. Die Anstrengung, Jervales Erbin zu sein, musste ihre Urteilskraft beeinträchtigt und ihre Vernunft getrübt haben. Und obwohl er ihr Treue schuldete und die Schuld mit Freuden zahlte, wogen Gewissensfragen noch schwerer. Er hatte eine Pflicht dem Zirkel gegenüber. Der Prophezeiung gegenüber.
Und irgendjemand musste Dathne retten, und sei es auch nur vor sich selbst. Sie hielten sich nicht an den Händen. Aber ihre Fingerspitzen berührten einander, während sie auf Zehenspitzen zur Sattelkammer schlichen, und in dem Blick, mit dem sie ihn ansah, lag ihr unverschlossenes Herz. Asher hingegen grinste, glücklicher, als die Stadt ihn je gesehen hatte.
Dathne wartete, während er in die Sattelkammer schlüpfte und einen Moment später mit Cygnets Sattel, der Satteldecke und dem Zaumzeug wieder herauskam. Das Pferd hatte seinen Schritt erkannt, lugte mit aufgestellten Ohren über die Stalltür, und seine Nüstern bebten freudig. Asher sattelte es, und sie beugte sich über die Tür und sah zu. Kicherte leise. Dathne? Es war schwer zu glauben. Als Asher fertig war, schwang sie die Tür für ihn auf und trat beiseite, während er Cygnet in den Hof führte.
»Reite vorsichtig«, ermahnte sie ihn mit gedämpfter Stimme. »Das Königreich braucht seinen Tribun in einem Stück.« Ihre Hand lag auf seinem Arm. Diese schlichte Geste hatte etwas erschreckend Besitzergreifendes. Sie lächelte; ihr Gesichtsausdruck war keck und vielsagend und herzzerreißend vertraulich. »Und dasselbe gilt für mich.«
Er legte ihr eine Hand um die Taille, dann ließ er sie weiter hinabwandern, noch weiter, bevor er sie mit einem zufriedenen Brummen an sich zog. »Hör auf, mich zu ermahnen«, sagte er. »Ich bin in dieser Woche jeden Morgen mit Cygnet ausgeritten, und es ist uns nichts passiert. Es ist die einzige Zeit, die ich noch für mich selbst habe, und ich habe nicht die Absicht, diesen Luxus aufzugeben.« Er knabberte an der weichen Haut zwischen ihrem Kinn und ihrer Kehle. »Nicht einmal für dich.«
Ihr Kuss war geschmolzene, ungezähmte Leidenschaft. Matt beobachtete sie voller Verzweiflung. Es gab im ganzen Königreich nicht genug gesunden Menschenverstand, um dieses Feuer zu löschen. Als sie sich trennten, trat Dathne, die ein wenig unsicher auf den Beinen war, zurück. Ashers Wangen waren gerötet.
»Jetzt geh weg von mir, Frau«, sagte er, während er die Zügel über Cygnets Kopf warf, »bevor ich loszische wie der Blitz. Ich sehe dich dann um Punkt neun wieder im Turm.«
»Ja«, erwiderte sie. »Dort wartet der Rest des Tevit auf dich.«
»Zum Kuckuck mit Tevit und seinen verdammten Prinzipien«, sagte Asher grinsend. Er schwang sich auf Cygnets Sattel und blickte auf sie hinab. »Ich liebe dich.«
»Und ich dich«, erwiderte sie. »Und jetzt fort mit dir. Matt und die Stallburschen werden jeden Augenblick unten sein.«
Sie sah ihm nach, während er aus dem Hof ritt, dann drehte sie sich um, um den Stall durch den Haupteingang zu verlassen. Ihr Gesicht war wieder verschlossen und selbstbeherrscht.
Matt holte tief Luft und trat aus der Dunkelheit hervor. »Dathne!« Stumm vor Schreck starrte sie ihn an. Dann: »Matt. Du bist früh dran. Und heimlichtuerisch. Du solltest aufpassen, wohin du schleichst, mein Freund. Irgendeine arme Seele könnte der Schlag treffen.« Er ging auf sie zu und umfasste mit seinen schwieligen Fingern ihren Oberarm. »Bist du wahnsinnig, Dathne? Hast du jedweden Verstand verloren? Du lässt dich von ihm kebsen?«
Sie entriss ihm ihren Arm und funkelte ihn an. »Ich bin mit ihm verheiratet. Es ist kein Kebsen, wenn man verheiratet ist, Matt.«
»Ihr seid verheiratet?« Es verschlug ihm die Sprache. Entsetzt sah er sie an, diese plötzliche Fremde, und rang um Worte. »Dathne…«
Die Tür, die zu den Schlafsälen der Stallburschen hinaufführte, wurde aufgerissen, und die plappernden jungen Männer strömten heraus. »Nicht hier draußen«, sagte sie grimmig und stolzierte zu seiner Schreibstube. Er folgte ihr hinein und zog die Tür hinter sich zu.
»Du bist mit ihm verheiratet«, sagte er, und seine Stimme war vor Verzweiflung nur noch ein Flüstern. »WeißVeira davon?« »Noch nicht.«
»Warum, Dathne?«, fragte er sie. »Warum hast du es getan?«
»Weil ich es tun musste. Weil ich ihn an mich binden musste, mit Körper und Seele. Er verbirgt etwas vor uns, Matt. Etwas Wichtiges. Ich muss wissen, was es ist.«
Er ließ sich in den klapprigen Sessel des Arbeitsraumes fallen und rieb sich das Gesicht. »Du bist tatsächlich wahnsinnig. Du hast Asher gesagt, dass du ihn liebst, Dathne. Ich habe dich gehört.«
Ein rosiger Schimmer trat in ihre Wangen. »Dieses Gespräch war privat.« »Dathne! Liebe wird dich nicht retten, wenn er herausfindet, dass du ihn benutzt hast!« Zorn und Entsetzen brodelten in ihm, und er sprang auf die Füße und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Draußen im Stallhof wieherten die Pferde und schlugen gegen ihre Stalltüren, um ihr Frühstück zu verlangen. Die Burschen lachten und scherzten, der Kies knirschte unter ihren Stiefeln, und Eimer klapperten, während sie von der Futterkammer zu den Ställen eilten und wieder zurück. »Wann habt ihr geheiratet?«
Sie beobachtete ihn eingehend, das Kinn hochgereckt, die Arme vor der Brust verschränkt. »Gestern Nacht.« »Wer war Zeuge? Holze?«
Sie zögerte einen Moment lang, bevor sie antwortete. »Niemand.« »Niemand?«, wiederholte er ungläubig. »Du meinst, ihr habt lediglich die Gelübde miteinander ausgetauscht? Ohne Barlsmann? Wessen idiotische Idee war das denn?«
Die Röte in ihren Wangen vertiefte sich. »Meine.«
Er hätte am liebsten geschrien. Mit den Füßen aufgestampft. Becher an die Wand geworfen und zugesehen, wie sie zersplitterten. »Natürlich war es das. Dathne, du bist eine Närrin! Wenn kein Barlsmann dabei war, dann seid ihr nicht verheiratet, und es ist Kebsen. Und wenn jemand es erfährt…«
»Sie werden es nur erfahren, wenn du es ihnen sagst!«, gab sie zurück. »Spar dir deine Worte, Matt. Es ist geschehen, und du kannst es nicht mehr ungeschehen machen. Und ich hatte Recht. Was immer er verbirgt, er hätte es mir letzte Nacht beinahe erzählt.«
»Bevor du ihn gebumst hast oder nachher?«, fragte er verbittert.
Sie schlug ihm ins Gesicht, hart genug, um ihn Sterne sehen zu lassen. »Wag es nicht!«
Seine Wange pulsierte, aber er ignorierte den Schmerz. »Du sagst, ich sei dein Kompass, aber was nutzt ein Kompass, wenn du seinen Anweisungen nicht folgst? Seit er hier eingetroffen ist, habe ich gesagt, dass man es ihm erzählen sollte.«
»Und er wird es erfahren!«
»Aber erst, wenn es zu spät ist! Wenn er jetzt, nach dem, was du getan hast, die Wahrheit herausfindet, wird er dich anspucken und gehen!«
»Nein, das wird er nicht tun.«
»Doch, er wird es tun. Er wird weggehen, und die Prophezeiung wird scheitern, und wir werden unser Leben für nichts gelebt haben!«
Jetzt war Furcht in ihrem Gesicht, eine Furcht, die ihren trotzigen Ärger überlagerte. »Du irrst dich. Er weiß, was Pflicht ist, Matt. Und was Opferbereitschaft ist. Er wäre nicht der Unschuldige Magier, wenn er es nicht wüsste!«
»Er mag der Unschuldige Magier sein, Dathne, aber er ist auch ein Mann! Er ist vor allem ein Mann, und wenn du denkst, ein Mann könne diese Art von Verrat so leicht vergeben, dann könntest du auch hundert Ashers gebumst haben und wärest immer noch ein unwissendes Mädchen!«
Diesmal war er bereit und fing ihren Unterarm auf, bevor ihre Hand sein Gesicht erreichte.
»Lass mich los«, sagte sie, und ihre Stimme war ein tödliches Flüstern. »Dathne…«
»Nein!« Ihre Augen funkelten. »Es ist vorbei, Matt. Du bist mir nicht länger von Nutzen. Ich werde Veira mitteilen, dass du beiseite getreten bist. Kann ich darauf vertrauen, dass du den Mund halten wirst? Sag ja. Du musst inzwischen wissen, dass es nichts gibt, was ich im Dienste der Prophezeiung nicht tun würde.« »Nein«, flüsterte er zurück. »Nichts. Du schreckst nicht einmal davor zurück, dich zu einer Hure zu machen.«
Die Tür schwang auf, und Asher, der die ganze Zeit über vor sich hin plapperte, trat ein. »Bist du hier, Matt? Da ist ein Baum auf den Zaun um die krumme Weide gestürzt, und sämtliche Dreijährigen sind draußen. Ich dachte, ich reite am besten zurück und sag dir Bescheid, da…« Er brach ab, und all seine Freundlichkeit gefror. »Was ist hier los? Dathne?«
Bevor sie antworten konnte, drehte Matt sich zu ihm um. »Und du! Bist du genauso wahnsinnig wie sie? Du bist der Tribun für Olkische Angelegenheiten! Weißt du nicht, was für einen Skandal es geben wird, wenn sich herumspricht, dass du deine Vizetribunin gekebst hast? Dann wird nicht einmal der König dich retten!«
Asher starrte Dathne ungläubig an. »Du hast es ihm gesagt?«
»Er hat uns gesehen.«
»Nein, hat er nicht«, sagte Asher und schlug die Tür zu. »Er hat nichts gesehen. Er weiß nichts. Und wenn ihm seine unversehrten Knochen lieb sind, wird er dich jetzt auf der Stelle loslassen.«
Matt ließ die Hand sinken und betrachtete die weißen Male, die seine Finger auf ihrer Haut hinterlassen hatten. »Sag ihm, dass du einen Fehler gemacht hast, Dathne. Bitte. Erzähl ihm alles.«
»Was alles?«, fragte Asher mit verzerrten Zügen. »Wovon redet er, Dathne?« Sie trat vor und versperrte Asher den Weg. »Nichts. Es ist nichts. Es spielt keine Rolle. Wir haben nur geredet.«
Er glaubte ihr nicht. Sachte schob er sie beiseite und trat näher. Matt zwang sich, sich dem unversöhnlichen Blick seines Freundes zu stellen. »Ich habe dich einmal gefragt, ob du etwas für Dathne empfindest«, sagte Asher. »Du hast es geleugnet. Wie es aussieht, hast du mich belogen, Matt.«
Matt schaute an ihm vorbei. »Um Barls willen, Dathne…«
»Es tut mir leid, Matt«, sagte sie und hakte sich bei Asher unter. Ihre Augen waren gnadenlos. »Ich wünschte, ich könnte dich so mögen, wie du es dir wünschst, aber es ist Asher, den ich liebe.«
»Dathne!«
»Hör zu, Matt«, sagte Asher, dessen Gesicht und Stimme ein wenig auftauten, »ich werde es dir leicht machen. Du bist entlassen.«
Er starrte ihn an, vernunftlos wie eine Vogelscheuche. »Ich bin was?« »Entlassen«, wiederholte Asher. »Gekündigt. Deiner Pflichten entbunden. Ich teile dich der Zuchtfarm Seiner Majestät unten in den Waldigen Tälern zu. Ich werde Ganfei aus den Palastställen holen, um fürs Erste hier die Stellung zu halten. Er versteht sich gut auf Pferde und wird dafür sorgen, dass alles weiterläuft, bis ich entscheiden kann, wer hier in Zukunft das Kommando führt.« Matt schüttelte den Kopf. »Du kannst doch nicht…«
»Ich kann«, erwiderte Asher. »Und ich habe. Es ist erledigt.«
Er konnte es immer noch nicht glauben. »Aber… aber…«
»Es ist erledigt.«
Jetzt war keine Freundschaft mehr in Ashers Zügen zu lesen. Keine Erheiterung, kein warmes Verstehen. Matt war sich nicht sicher, ob er diesen Mann überhaupt kannte. »Ich dachte, wir seien Freunde.«
Asher lächelte. Trat näher und senkte die Stimme. »Das sind wir auch. Was der Grund ist, warum du auf deinen eigenen zwei Beinen hier herausspazieren wirst.« Das Lächeln verschwand. »Du hast im Zorn die Hand gegen sie erhoben, Matt. Es gibt im ganzen Königreich keinen zweiten Mann, der das tun und einfach weggehen könnte.« Er trat wieder zurück. »Also, wie wär's, wenn du dich jetzt um diese verflixten Dreijährigen kümmern würdest, die auf Spritztour gegangen sind, hm? Danach kannst du dich bei Darran melden. Er wird alles Nötige in die Wege leiten, damit du auf die Zuchtstation übersiedeln kannst.« Matt wandte sich an Dathne. »Du stehst einfach nur hier rum und lässt ihn…« »Es tut mir leid, Matthias«, sagte sie. Sie nannte ihn sonst nie Matthias. »Ich glaube tatsächlich, dass es das Beste so ist.«
Ihre Zurückweisung schmerzte mehr als Ashers Ärger. Beinahe hätte er den Mund geöffnet und die Wahrheit hervorgesprudelt, und zum Kuckuck mit Jervales Erbin. Aber er konnte es nicht. Er hatte einen heiligen Eid geleistet, ihr zu gehorchen – und er würde diesen Eid halten, ganz gleich, um welchen Preis. »Was ist, wenn ich gegen dich kämpfe?«, sagte er in einem erstickten Flüstern zu Asher. »Ich könnte gegen dich kämpfen.«
Asher zuckte mit den Schultern. »Du würdest verlieren. Ich bin niemals in diese verflixte Stadt gekommen, um nach Macht zu streben, Matt, aber wie es aussieht, habe ich sie nun doch bekommen. Normalerweise poche ich nicht auf meine Position, aber in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen. Dathne hat Recht, selbst wenn du es jetzt nicht einsehen willst. Und es wird dir unten in den Tälern gut gehen. Vielleicht wirst du nicht so hoch oben auf der Leiter stehen wie hier, aber du bist noch jung. Du wirst es schaffen.«
Du bist noch jung, und das aus dem Mund eines Mannes, der sechs Jahre jünger war als er. Matt, der das Gefühl hatte, als sei er in massives Holz verwandelt worden, nickte abermals. »Ja, Herr.« Er gestattete sich eine kleine Prise Sarkasmus. »Vielen Dank, Herr.«
Ashers Augen wurden schmal. »Dann fort mit dir.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er. Darran und Willer waren bereits bei der Arbeit, als Asher in den Turm zurückkehrte, nachdem seine Hoffnung auf einen morgendlichen Ausritt zunichte geworden war. Cluny und die anderen Hausmädchen machten sich in der Eingangshalle zu schaffen, stellten frische Blumen in die Vasen oder rückten die Gemälde an den Wänden gerade. Als er hereinkam, knicksten sie und lächelten, bis sie Grübchen in den Wangen bekamen. Es war nicht ihre Schuld, dass er in einer mörderischen Stimmung war, daher lächelte er zurück, nickte und tat so, als bemerke er das wachsame Erstaunen in ihren Augen nicht. »Asher!«, rief Darran, als er die Treppe hinauflief, um sich umzuziehen. »Auf ein Wort, bitte!«
»Ich habe zu tun«, rief er zurück, ohne stehen zu bleiben. »Ich bin gleich unten.« Scharrende Schritte hinter ihm. Eine dickliche Hand, die an seinem Ärmel zupfte. »Darran sagt, es sei dringend«, stieß Willer atemlos hervor. »Es geht um das Wetter.« Er riss seinen Arm los. »Was ist damit?«
Neuerdings hatte Willer eindeutig etwas… Verstohlenes… an sich. Er lächelte zu viel und auf die falsche Weise. Seine vertraute Streitsucht war ertränkt in Zuckersirup, und doch glitzerte irgendwo unter der klebrigen Süße ein geschärftes, wartendes Messer. In letzter Zeit verursachte Willer ihm auf eine ganz neue Art Unbehagen.
»Bitte, kommt«, sagte die Meeresschnecke mit weit aufgerissenen, ernsten Augen. »Darran braucht Euch.«
Und dank eines weiteren Versprechens, das er Gar gegeben hatte, würde Darran bekommen, was er wollte, und das alles im Namen der Übelkeit erregenden, verdammten Einheit.
Asher unterdrückte eine Abfolge von Flüchen und folgte Willer zurück die Treppe hinunter und in den Arbeitsraum des Sekretärs. »Was?«
Darran blickte von seinem Schreibtisch auf. Die Sonne hatte ihren langsamen Weg über den Himmel kaum begonnen, und da saß er nun frisch und rasiert und tadellos in Schwarz gekleidet, beunruhigend gesund und umringt von Tintenfässern und Pergamenten und Stapeln wichtiger Papiere.
»Ich brauche dringend den neuen Wetterplan«, erklärte er. Kein »Guten Morgen« oder »Verzeiht, dass ich Euch störe« oder irgendeine andere Feld–, Wald– und Wiesen–Höflichkeit. Verdammte alte Krähe. »Und eine klare Vorstellung, wie häufig Seine Majestät Wetterpläne zu machen beabsichtigt. Der Palast informiert mich, dass der verstorbene König die Wettermuster etwa sechs Wochen im Voraus erstellt hat. Hat Seine Majestät vor, den gleichen Ablauf beizubehalten? Oder geht er von einer Veränderung aus? Wenn ja, muss ich es wissen. Ich bekomme Nachrichten aus dem ganzen Königreich, von Menschen, die sich fragen, wann der nächste Wetterplan erscheinen wird. Die Menschen sind beunruhigt, Asher. Mir wäre es lieber, wenn sie es nicht wären.«
»Fragt Gar. Dabei geht es um das Wetter«, sagte Asher, »und das ist nicht meine Angelegenheit.«
»Ich mache es zu Eurer Angelegenheit«, sagte Darran und das nicht ohne ein Funkeln boshafter Freude, der elende Kerl.
»Verdammt und zugenäht«, murmelte Asher. Sein Kopf schmerzte bereits, und dabei war die Sonne erst vor fünf Minuten aufgegangen. »Also gut. Wenn ich eine Minute Zeit habe, werde ich…«
»Jetzt!«, sagte Darran. »Wenn Ihr so freundlich sein wollt.«
Es gab offensichtlich kein Entrinnen. Außerdem hatte die alte Krähe Recht, verwünscht sollte er sein: Das Letzte, was Gar brauchte, war weit verbreitete Erregung über einen verzögerten Wetterplan. Das wäre nur Wasser auf den Mühlen des verfluchten Conroyd Jarralt.
Willer gaffte ihn an, die fetten Lippen zu einem Lächeln verzogen. Asher runzelte die Stirn. »Was starrt Ihr mich so an, hm?«
Willers Lächeln wurde noch breiter. »Oh, es ist nichts, Asher. Ich verspreche es.« »Nun, dann geht und seht es Euch anderswo an. Ihr macht mich seekrank!« Und mit dieser gelinde befriedigenden Bemerkung eilte er auf die Tür zu… nur um sich auf halbem Wege wieder umzudrehen, weil ihm etwas eingefallen war. »Matt geht auf die Zuchtfarm in die Täler, Darran. Seid so freundlich und entwerft mir ein Empfehlungsschreiben, das ich unterzeichnen kann. Jede Menge Komplimente. Und schickt einen Läufer in die Schatzkammer, damit er sein Geld mitnehmen kann, und einen weiteren in den Palast, der Ganfei mitteilt, dass er fürs Erste hier übernehmen muss.«
Darran tauschte einen überraschten Blick mit Willer. »Matt geht fort? Warum?« »Persönliche Gründe. Es geht niemand anderen etwas an als ihn. Ich werde dem König Bescheid geben. Ihr braucht ihn deswegen nicht zu stören. Man sollte ihn im Moment mit nichts Unwichtigem behelligen. Nicht wahr? Damit seid auch Ihr gemeint, Willer. Kein einziges verdammtes Wort.«
Darran erwiderte stirnrunzelnd: »Willer weiß genauso gut wie ich, was Diskretion bedeutet, Asher. Matts Fortgang wird außerhalb dieses Raums nicht erwähnt werden.« Er seufzte. »Aber meiner Meinung nach ist es ein großer Jammer. Seine Majestät war ihm sehr zugetan.«
Ein Stich des Schmerzes durchzuckte Asher. Und ich war ihm ebenfalls sehr zugetan, bevor er Hand an Dathne legte… Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder der Tür zu. »Die Menschen ziehen weiter, Darran. Man kann sie nicht festhalten.«
Auf der letzten Treppe zu Gars Gemächern überholte er Cluny. Sie war mit dem Frühstückstablett des Königs unterwegs und lächelte, als sie ihn sah. »Guten Morgen, Asher.«
Die verschiedenen Düfte von Schinken, gebratenen Kartoffeln, Rührei und heißem Brot foppten seinen leeren Magen und überschwemmten seinen Mund mit Speichel. »Guten Morgen. Soll ich das für dich mitnehmen?«
»Oh, würdet Ihr das tun?«, fragte Cluny dankbar und mit rosigen Wangen. »Wir haben nämlich eine Magd mit Bauchschmerzen und so schrecklich viel Arbeit.« Sie drückte ihm das überfüllte Frühstückstablett in die Hände, lächelte abermals ihr bezauberndes Lächeln und rannte die Treppe wieder hinunter. Trotz all seiner Kümmernisse blickte er ihr wohlwollend nach. Er mochte Cluny. Sehr. Wenn Dathne nicht gewesen wäre…
Beim Gedanken an sie floss sein Blut schneller. Wir sind verheiratet, wir sind verheiratet! Er dachte an all das, was sie in der vergangenen Nacht getan hatten und bald wieder tun würden, wie er hoffte. Mit dieser warmen Freude, die ihm Kraft gab und all die düsteren Gedanken an Matt überlagerte, ging er weiter die Treppe hinauf.
Gar war in seiner Bibliothek, eingekeilt zwischen Türmen von Büchern. Asher trat die Tür hinter sich zu und schlenderte zu seinem Schreibtisch hinüber. »Frühstück.«
Gar brummte etwas Unverständliches und arbeitete weiter. Asher setzte sich, das Tablett auf dem Schoß, hob den Deckel eines Tellers und riss sich eine knusprige Scheibe Schinken unter den Nagel. Dann legte er die Stiefelabsätze auf einen günstig stehenden Tisch, lehnte sich mit einem Seufzen zurück und knabberte an dem Schinken. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich etwas an Gars über–füllter, chaotischer Bibliothek verändert hatte.
An der Wand gegenüber hing ein neues Gemälde.
Nun. Nicht direkt neu. Aber neu im Turm. Während er sich das Schinkenfett von den Fingern leckte, betrachtete er das riesige Porträt. Die königliche Familie stand neben einem breitkronigen, voll erblühten Djelbabaum; die samtigen, rosafarbenen Blütenblätter wirkten vollkommen lebensecht. Hinter ihnen leuchteten im Sonnenschein die makellos weißen Mauern des Palastes und juwe– lengeschmückte Fenster. Und hinter dem Palast Barls Mauer, die triumphierend in den wolkenlosen Himmel aufragte. Es war ein meisterhaftes Gemälde, in Auftrag gegeben bei einem der besten doranischen Künstler des Königreichs. Irgendein Lord Soundso. Klein, mager, flinke Finger und ein Temperament wie ein Kater, der zu lange keine Katze mehr gehabt hatte. Bracan.
Er hatte sie anscheinend zwischen zwei Atemzügen erwischt. Borne lächelte, Dana schien kurz davor, in Gelächter auszubrechen. Fane war so schön, dass es einem Mann das Herz brach. Bei der Erinnerung an sie alle schnürte sich ihm die Kehle zusammen. Der gemalte Gar stand neben seiner Schwester, eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Zweifellos von Bracan so in Pose gebracht. Sie hätten einander nie aus freien Stücken berührt, es sei denn, um sich zu schlagen oder zu stechen. Auch Gar lächelte, aber seine Augen waren traurig. Als wüsste er etwas, das die anderen nicht wussten. Als könnte er in die Zukunft sehen und war bekümmert.
»Wir waren eine gut aussehende Familie, nicht wahr?«, fragte Gar. Asher nickte, während die Melancholie sich wie ein Nebel auf ihn herabsenkte. »In der Tat.«
Gar wandte sich von dem Gemälde ab. »Ich vermisse sie so sehr«, sagte er mit leiser, unsicherer Stimme. »Selbst Fane.«
»Ich weiß.«
»Ich habe gerade eine Nachricht von Nix bekommen«, fuhr Gar fort und schnippte mit einer Fingerspitze gegen eine beiseitegelegte Notiz. Durm ist wieder aufgewacht, und es geht ihm viel besser. Er fragt nach mir.« Verdammt. Beunruhigt nahm Asher einen Schluck von Gars Teshoesaft. »Geht Ihr hin?«
»Natürlich.«
»Wann?«
»Bald.«
Er kaute auf seiner Unterlippe. »Weiß Durm schon über Eure Familie Bescheid?« »Nein.« Gar betrachtete eingehend einen Tintenfleck auf seinem Finger. »Wenn ich es ihm erzähle und er erfährt, dass ich jetzt der König bin, wird er nach meiner Magie fragen. Nach dem Wettermachen. Und wenn er spürt, dass etwas nicht stimmt – wenn ich ihn mit meinen Lügen nicht täuschen kann… Nun, man kann den Gedanken nicht einmal zu Ende denken.« Dann runzelte er die Stirn. »Ist das mein Frühstück, das du gerade isst?«
»Ja.« Er hielt ihm das Tablett hin. »Wollt Ihr es haben?«
»Jetzt nicht mehr.« Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, musterte Gar ihn. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du hast mir gestern Nacht einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
Asher nahm sich eine Scheibe Toast. Biss hinein. Kaute. Schluckte. »Mir geht es gut.«
»Wirklich? Du wirkst… wütend. Hast du Bedenken? Ich würde dir keinen Vorwurf machen, wenn es so wäre. Das Wettermachen gestern Nacht war hart.« Asher blickte finster auf das Frühstückstablett. Er hatte im Moment größere Probleme als das Wettermachen. Wenn er Gar von Matt erzählte, würden die Dinge sehr schnell sehr unangenehm werden. Zweifellos würde Gar die Wiedereinsetzung seines Stallmeisters befehlen, und Matt musste an seine Stelle verwiesen werden. Er verdiente irgendeine Art von Strafe, dass er Dathne so aus der Fassung gebracht hatte. Ein oder zwei Monate in den Tälern würden ihm recht geschehen. Danach konnte er zurückkommen. Nachdem er Zeit gehabt hatte, sich ein wenig abzukühlen und die Tatsache zu akzeptieren, dass Dathne niemals ihm gehören würde.
Nichts von alledem konnte er Gar erzählen. Es war weit besser, Matt still und leise davongehen zu lassen und Gar erst Bescheid zu geben, wenn Matt fort war. Er schüttelte den Kopf. »Darran hat mir in den Ohren gelegen, das ist alles. Er will den neuen Wetterplan. Heute.«
»Ich habe heute keine Zeit.«
»Dann schafft Euch die Zeit«, erwiderte er ungehalten. »Ihr habt gesagt, Ihr würdet die Dinge so einrichten, dass das Wettermachen ein wenig leichter für mich würde. Dies ist Eure Chance.«
Gar deutete mit der Hand auf die Bücher auf seinem Schreibtisch. Deutete dann auf die Bücher, die sich neben seinem Stuhl auf dem Teppich stapelten. »Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber Asher, ich kann entweder den Wetterplan machen, oder ich kann mich weiter durch Durms Bibliothek pflügen auf der Suche nach einer Lösung für unsere Probleme. Ich kann nicht beides tun, und du bist derjenige, der sich darüber beschwert, dass ich nicht schnell genug lese.« Mit einem Klappern von Tellern und Besteck setzte Asher das Frühstückstablett auf den Boden. »Gar…«
»Ich meine es ernst!«, sagte Gar. »Jetzt, da Durm wieder wach ist, bleibt uns vielleicht weniger Zeit, als wir geplant hatten. Wenn seine Genesung schnelle Fortschritte macht – wenn er in seine eigenen Gemächer zurückkehren kann, bevor unser Monat vorüber ist…«
Dann würden all die Bücher zurückgebracht werden müssen. Und wenn Durm erfuhr, dass man sie entfernt hatte, würde er vielleicht Verdacht schöpfen. Es konnten Fragen gestellt – Geheimnisse offenbart werden…
Plötzlich gerann ihm das erbeutete Frühstück im Magen, und heiße Furcht stieg in seiner Kehle auf. »Dann werden wir in der Scheiße sitzen, nicht wahr?« Gar lehnte sich zurück und betrachtete ihn mit schmalen Augen. »Du hast doch Bedenken.«
»Einer von uns muss welche haben!« Asher blickte rastlos durch das nächstgelegene Fenster. »Jetzt, da Euer Pa tot ist, ist Durm der stärkste Magier im Königreich, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ein Jammer, dass Ihr ihn nicht zum König ausrufen könnt.«
Gar schüttelte den Kopf. »Es verstößt gegen das Gesetz. Niemand kann gleichzeitig Wettermacher und Meistermagier sein.«
»Dann gebt ihm die Krone und findet einen anderen Meistermagier.« »Es müsste Jarralt sein«, bemerkte Gar. »Was uns nicht viel hilft. Wie dem auch sei, Conroyd würde sich niemals mit dem geringeren Preis zufrieden geben. Nicht zugunsten von Durm. Und Durm ist nicht verheiratet, er ist kinderlos und hat keine Aussicht auf einen Erben. Das ist ein Grund für eine Herausforderung, und Conroyd weiß es. Wir würden wieder einmal vor einer Spaltung stehen.« Verdammt. Wie sie es auch drehten und wendeten, immer stand der verfluchte Conroyd Jarralt im Weg. Asher blickte stirnrunzelnd auf seine Stiefel hinab und dachte nach. »Seht mal«, sagte er schließlich, »ich weiß, Ihr wollt das nicht hören, Gar, aber ich schätze, Ihr habt keine allzu große Wahl. Nachdem Durm wach ist, ist es zu gefährlich für uns, so weiterzumachen wie früher. Geht heute zu ihm. Sagt ihm, was geschehen ist, dass Eure Magie versagt hat.«
»Ich kann ihm nicht von dir erzählen!«
»Verdammt, natürlich könnt Ihr das nicht!«, erwiderte er erschrocken. »Ihr werdet lügen müssen, nicht wahr? Sagen, dass Eure Magie Euch gestern Nacht verlassen hat. Und wenn er Euch nicht heilen kann und Jarralt als König benannt werden muss, wird Durm zumindest als Meistermagier da sein, um ihn an der Kandare zu halten.«
»Nur wenn er zur Gänze wiederhergestellt wird«, wandte Gar ein. »Und wenn Conroyd damit einverstanden ist, dass er Meistermagier bleibt.«
»Das ist doch nicht seine Entscheidung, oder?«
»Technisch gesehen, nein«, antwortete Gar und verzog das Gesicht. »Aber in Wahrheit würde ich es Conroyd durchaus zutrauen, Durm seine Macht zu nehmen. Er kennt Durms Meinung von ihm nur allzu gut. Und er weiß, dass Durms Loyalität immer zuerst und zuvorderst dem Haus Torvick gelten wird.« »Aber das ist Durm klar. Er wird sich nicht kampflos von Jarralt beiseite drängen lassen. Und Jarralt wird keinen öffentlichen Aufruhr deswegen anzetteln – er würde binnen eines Herzschlags an Unterstützung verlieren.«
Gar sah ihn mit störrischer Miene an. »Das kümmert mich nicht. Dies sind lauter Spekulationen, Asher. Solange Durm nicht weiß, was geschehen ist, habe ich immer noch eine Chance, allein Heilung zu finden und König zu bleiben. In der Sekunde, in der wir mein Gebrechen bekannt machen, ist es vorüber. Du hast mir einen Monat versprochen. Hältst du dieses Versprechen oder wendest du dich von ihm ab?«
Bastard. Er würde nie im Leben ein Versprechen zurücknehmen, und Gar wusste das. »Also gut«, sagte er und scherte sich nicht darum, wie mürrisch er klang. »Aber ich warne Euch. Einen Monat und nicht einen Tag oder auch nur eine Stunde länger. Das ist unsere Vereinbarung, und das ist es, worauf ich Euch festnageln werde. Selbst wenn Ihr auf die Knie fallt und bettelt.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Gar, ohne zu lächeln. »Ich habe meine Ehre, so wie du deine hast. Mein Wort ist mein Wort und wird nicht gebrochen. Bezweifelst du das?«
»Nein. Ich wollte lediglich meine Position klarmachen, das ist alles.« Gar nickte. »Sie ist klar. Und nun lass mich allein, damit ich mich wieder diesen elenden Büchern zuwenden kann. Wenn du dich nützlich machen willst, geh an meiner Stelle zu Durm. Grüß ihn von mir. Bring bei Nix in Erfahrung, welche Fortschritte seine Genesung macht.«
Asher erhob sich und eilte auf die Tür zu, erpicht darauf, seiner Wege zu gehen. »Und wenn Durm fragt, wann er Euch sehen wird?«
»Bald«, antwortete Gar. Dann griff er nach seiner Schreibfeder und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Pergamente. »Sag ihm, dass er mich bald sehen wird. Und, Asher?«
Eine Hand auf dem Türknauf drehte er sich um. »Ja?«
»Sag Nix, er solle ihm die Nachricht über meine Familie schonend beibringen.« »In Ordnung«, erwiderte er nach einem Moment des Schweigens, dann zog er die Tür sachte hinter sich zu.
Morg funkelte den rückgratlosen jungen Pother an, der versuchte, ihm einmal mehr eine Dosis von irgendeinem Kräuterzeug aufzudrängen. »Wenn Ihr nicht Ohren haben wollt wie ein Hase, schlage ich vor, Ihr verschwindet!« Der Schwachsinnige erbleichte. »Es tut mir leid, Herr, es sind Pother Nix Anordnungen.«
»Dann holt mir Pother Nix her, damit ich seine lächerlichen Anweisungen aufheben kann!«
»Herr«, sagte der Schwachsinnige kraftlos und huschte davon.
Stöhnend ließ Morg sich wieder in seine Kissen sinken. Verdammt sei dieser zerbrochene Körper. Nachdem Durm endlich besiegt, sicher zum Schweigen gebracht und wieder in sein Gefängnis gesperrt war, hatte er geglaubt, der Sieg sei ihm sicher.
Aber nein. Gekettet an die Launen einer körperlichen Existenz, war er noch immer schwach. Noch immer eine Geisel. Zweimal an diesem Morgen hatte er versucht, sich zu erheben, und zweimal hatten Durms verwüstete Überreste ihn besiegt. Die Situation war unerträglich. Es musste einen anderen Weg geben…
Die Tür wurde geöffnet, und Nix trat ein. Er wirkte verstimmt. »Durm, ich muss darauf bestehen, dass Ihr mein Personal nicht einschüchtert. Sie handeln lediglich auf meine Befehle. Wünscht Ihr, zur Gänze zu genesen, oder nicht?« Morg bleckte die Zähne. Er hatte keine Zeit zu einer gänzlichen Genesung. Dieser Körper war alt und geschwächt, zuerst von Maßlosigkeit, jetzt von Verletzungen. Und er hatte viel zu lange an diesem Ort verweilt.
In der Tür hinter dem Pother lungerte unbemerkt der olkische Schoßhund des Krüppels Gar herum. Er hob die Hand. »Was macht der hier?«
Nix drehte sich um. Sah den Emporkömmling und geriet in Rage. »Ich habe Euch befohlen, draußen zu warten, Asher! Der Meistermagier ist noch nicht bereit für Be…«
»Tut mir leid, aber ich habe Befehle vom König«, erklärte der Emporkömmling halsstarrig. »Eine Nachricht.«
Da Durm angeblich nichts von Bornes Tod wusste, bemühte Morg sich in seinen Kissen um eine aufrechtere Haltung und ließ seine Stimme erzittern. »Von Borne? Ich verstehe nicht. Warum überbringt er mir seine Nachricht nicht persönlich?«
Als Nix ihm einen mörderischen Blick zuwarf, trat der Olk vor. »Es ist in Ordnung, Nix. Gar hat gesagt, wir sollen es ihm erzählen.«
Morg ließ seine Stimme schwach werden. »Mir erzählen? Mir was erzählen?« Nachdem sein Zorn solchermaßen besänftigt war, stieß der Pother einen Seufzer aus und faltete die Hände. »Es tut mir leid, Durm. Wir haben die Neuigkeit vor Euch verborgen gehalten, weil wir befürchteten, es könne zu unerträglich für Euch sein. Borne ist tot. Die Königin ebenfalls und Prinzessin Fane.« »Tot?«, flüsterte Morg und ließ Durms Trauer in seine Augen steigen. Auf seine Wangen tröpfeln. »Nein… nein… möge Barl uns barmherzig sein…« »Gar ist jetzt unser König«, murmelte Nix. »Unter seiner Schirmherrschaft ist die Mauer sicher.«
Ja, aber warum?, wütete Morg hinter seiner Maske aus Tränen. Wie, wenn seine Magie doch schon vor langer Zeit hätte sterben sollen? »Der arme Junge. Verwaist und gekrönt zu werden in so schneller, unfreundlicher Abfolge«, erklärte er gebrochen. »Ich muss ihn sehen. Ich flehe Euch an, Nix, Ihr müsst sofort nach ihm schicken. Ich werde nicht ruhen, bis ich…«
»Es tut mir leid, Herr«, sagte der olkische Emporkömmling. »Ich bin hier, um Euch von Eurer Majestät zu grüßen und auszurichten, dass er bald kommen wird.«
»Aber nicht jetzt?« Morg wischte sich Durms Tränen von den Wangen und ließ sich, gebrechlich und bejammernswert, in seine Kissen sacken. »Warum nicht jetzt? Ist das Wettermachen zu hart für ihn? Hat seine Magie keinen Bestand?« Der Olk versteifte sich. Morg, der ihn genau beobachtete, sah etwas in seinen Augen aufflackern. Und wusste, dass, was immer er als Nächstes über die Lippen bringen mochte, eine Lüge sein würde.
»Wie kommt Ihr auf eine solche Idee, Herr? Seiner Majestät Magie ist stark und wahr. Er ist in der Tat seines Vaters Sohn. Und er wird es Euch selbst sagen, sobald er kann.«
Nix bemerkte mit scharfem Tonfall: »Und wenn Ihr damit Eure Nachricht überbracht habt, Asher, dürft Ihr Euch zurückziehen. Der Meistermagier hat für den Augenblick genug, womit er fertig werden muss.«
Gars Schoßtier verneigte sich. »Herr.« Dann verneigte er sich noch einmal vor Durm. »Herr. Habt Ihr eine Nachricht für den König? Ich schätze, ein oder zwei Worte von Euch würden ihm Mut machen. Ich will nicht respektlos sein, aber er hat sich schreckliche Sorgen um Euch gemacht.«
Morg quetschte sich eine weitere Träne ab. »Der liebe, liebe Junge. Sagt ihm dies, Asher. Ich liebe ihn und trauere mit ihm, und ich verspreche ihm eines: Dass wir zusammen dafür sorgen werden, dass unser geliebtes Königreich sein glorreiches Schicksal erreichen wird, wie es an dem Tag, an dem Barl über die Berge kam, verfügt wurde.«
Der Olk tauschte einen verwirrten Blick mit Nix und verneigte sich abermals. »Ja, Herr. Ich werde es ihm ausrichten.«
Er verließ den Raum. Nix tat dasselbe, nachdem er abermals einigen Wirbel gemacht hatte. Von loderndem Triumph erfüllt, gestattete Morg sich ein heiseres, lautloses Lachen.
Der Krüppel versagte. Die Zeit war endlich gekommen.
Jetzt musste er nur noch einen Weg aus Durms verbrauchtem, nutzlosem Körper finden… und der Sieg würde sein sein.
Conroyd Jarralt ging zu den melodischen Klängen von Ethienne, die zornig eine Dienerin ausschalt, die Treppe hinunter. »Ich habe eigens um gelbe Rosen gebeten! Bist du farbenblind? Oder einfach nur dumm, wie der Rest deiner olkischen Freunde?«
Die Dienerin war den Tränen nahe; mit überquellenden Augen, geröteten Wangen und einer zitternden Unterlippe. Ohne auf sie zu achten, legte er seiner schimpfenden Frau einen Arm um die Schultern und führte sie geschickt in den Flur und von dort aus weiter in die Eingangshalle und zur Vordertür. »Das genügt, Ethienne. Es sind Blumen, es ist keine Frage von Leben und Tod.« Sie zog einen Schmollmund. »Aber Conroyd…«
Er umfasste sie fester, so fest, dass sie in Schweigen verfiel. »Wie kleine Stare in ihrem Nest, meine Liebe, neigen olkische Diener dazu zu zwitschern. Und da der olkische Rüpel dem Thron so nahe steht und großen Einfluss hat, wäre es mir lieb, wenn er keine Berichte aus vierter Hand bekäme, die behaupten, ich gestattete unter meinem Dach die Misshandlung seines Volkes. Haben wir uns verstanden?«
Sie wand sich, und er ließ sie los. Dann beobachtete er, wie sie mit makellos gepflegten Fingern ihr Haar glatt strich. Ihre juwelenbesetzten Ringe blitzten im Nachmittagssonnenschein, der durch die hohen Fenster ihres Stadthauses fiel. Ihr alterndes, perfekt geschminktes Gesicht war verdrossen. »Ja, Conroyd.« Er küsste ihre duftende Wange und schlug einen sanfteren Tonfall an, denn Ethienne reagierte stets am bereitwilligsten auf Schmeichelei. »Ich habe eine Angelegenheit mit Holze zu regeln. Soll ich dir einige gelbe Rosen mitbringen?« Sie hob die Hände und strich die Falten seines seidenen Halstuches glatt. Echos des koketten Mädchens, das er geheiratet hatte. »Schön. Und komm nicht zu spät nach Hause! Wir erwarten heute Abend die Daltries und die Sorvolds zu Gast, du erinnerst dich?«
Er erinnerte sich in der Tat. Und mit ein wenig Glück würde er Neuigkeiten für sie haben, die dem Mahl zusätzliche Würze verleihen würden. »Natürlich, meine Liebe«, sagte er und küsste sie noch einmal auf die Wange. »Bis heute Abend.« Er schloss die Tür vor ihrem gezierten Gelächter und stieg in seine leuchtend blaue Kutsche, diejenige, die auf beiden Türen stolz das Emblem seines Hauses zur Schau trug. Die Pferde, die sie zogen, waren Vollblüter, aufgeputzt mit einem gleichen Maß an Stolz.
Dies war kein Tag für Verstohlenheit. Zumindest nicht für übertriebene Verstohlenheit.
Die Stimmung in Dorana war bestens, bemerkte er, während die Kutsche zügig von seinem Stadthaus auf das Zentrum der Stadt zuholperte. Die Düsternis der vergangenen Wochen war verflogen, zweifellos weggespült von Gars Tüchtigkeit als Wettermacher. Die Doranen und Olken, an denen er vorbeikam, zeigten ein sorgloses Lächeln. Sie wirkten erleichtert. Der Schatten des Todes hatte die Sonne versperrt, aber nur für einen Augenblick.
Er ließ den Vorhang der Kutsche wieder sinken, um das Fenster zu bedecken, und lehnte den Kopf an die Kissen hinter ihm. Trotz Durms ungelegener Genesung und Willers Unvermögen, Missetaten unter Gars Dach zu enthüllen, weigerte er sich noch immer, die Hoffnung aufzugeben. Es gab eine letzte Waffe in seinem Kampf um die Macht, die er noch in die Hände bekommen musste… Er fand Holze in seinem Arbeitszimmer in der Barlskapelle. Es war ein kleiner Raum, schmucklos bis auf das unvermeidliche Porträt von Barl, das über einer ewigen Kerze hing. Warmes Licht flackerte über das ernste, junge Gesicht der Erlöserin, über ihr goldenes Haar und den langen Zopf, der ihr über die linke Schulter floss. Die Temperatur im Raum grenzte an unangenehme Kühle. Holze las einen religiösen Text und machte sich Anmerkungen. »Conroyd!«, sagte er und blickte von seinem schlichten Schreibtisch auf, nachdem ein Akoluth seinen Besucher hereingeführt hatte. »Meine Güte. Erwarte ich Euch? Ich erinnere mich nicht…«
»Efrim«, erwiderte Jarralt mit wohlbedachter Leutseligkeit den Gruß. »Nein. Ich bin in der Hoffnung hergekommen, dass Ihr frei wäret und mir ein wenig von Eurer kostbaren Zeit opfern könntet.« Er warf einen vielsagenden Blick auf den Akoluthen. »In Staatsangelegenheiten.«
»Natürlich, natürlich.« Holze schloss sein frommes Buch, legte seine Feder beiseite und entließ den Akoluthen mit einem Lächeln und einem Nicken. »Nehmt Platz.«
Aus Gründen, die er mit niemandem teilte, hielt Holze nichts von bequemen Stühlen. Jarralt ließ sich auf dem hölzernen Hocker mit Rückenlehne neben dem Schreibpult des Geistlichen nieder und verschränkte gelassen die Hände auf dem Schoß.
»Mir ist klar, dass jedwede Vorbehalte, die ich in Bezug auf die gegenwärtigen Zustände unseres Königreichs äußere, von manchen lediglich als die Äußerungen eines ehrgeizigen, verbitterten Mannes betrachtet werden. Aber ich hoffe, Ihr werdet sie als das sehen, was sie wirklich sind: die aufrichtige Sorge um Lurs Zukunft.«
Das fortschreitende Alter hatte Holzes Verstand keineswegs getrübt. Sein Blick war scharf, seine Miene aufmerksam, als er sagte: »Ihr seid wegen Durm hier. Und wegen des Königs.«
Jarralt nickte. »Ja. Und obwohl wir beide nicht immer einer Meinung waren, denke ich doch, dass Ihr mich als einen Mann kennt, der dieses Königreich liebt, Efrim, und nur das Beste für sein Land will.«
»Ja, Conroyd. Das weiß ich.«
»Bitte, glaubt mir, dass es mir keine Freude bereitet, dies zu sagen. Aber Stillschweigen wäre ein Verrat an allem, was mir teuer ist.« Er küsste seinen heiligen Ring. »Ein Verrat an der Gesegneten Barl selbst.«
Holze seufzte. »Sprecht.«
»Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass Seine Majestät jung ist und erst vor kurzem einen schweren Verlust erlitten hat«, sagte Jarralt stirnrunzelnd. »Und dass Durm sein ganzes Leben in den Dienst von Lurs Wohlergehen gestellt hat. Aber ich bin zutiefst beunruhigt und habe niemanden sonst, an den ich mich im Vertrauen um Rat wenden könnte.«
»Sprecht Euch Eure Sorgen von der Seele, Conroyd«, erwiderte Holze sanft. »Teilt Eure Bedenken mit mir, und wir werden gemeinsam eine Lösung finden, die Euch ein wenig Ruhe schenkt.«
Jarralt widerstand dem Drang, seine Position auf dem unbequemen Stuhl zu verändern, und setzte stattdessen eine ernste Miene auf, als schicke er sich zu einem feierlichen Geständnis an. »Borne war ein großer König. Wir haben uns aus offenkundigen Gründen nicht nahe gestanden, aber ich würde seine Fähigkeiten als Wettermacher niemals in Abrede stellen. Seine häuslichen Ent– scheidungen würde ich in Zweifel ziehen, ja. Und die Art, wie er seinen Einfluss und seine Ausstrahlung genutzt hat, um seinen dynastischen Ehrgeiz zu befriedigen. Insbesondere dieses Verhalten fand ich beklagenswert. Aber es wurde beschlossen und genehmigt, und selbst ich konnte erkennen, dass Fane etwas Außergewöhnliches war.«
»Auch Gar ist wohl kaum durchschnittlich«, bemerkte Holze.
»Aber aus lauter falschen Gründen, Efrim. Er war den größten Teil seines Lebens ein Krüppel und besaß so viel Magie wie ein Stein. Und dann brach ohne Vorwarnung seine Macht aus ihm heraus, und niemand hat diese Macht je in Frage gestellt. Niemand fand die Geschehnisse eigenartig. Die Menschen waren zu beschäftigt damit, das Wunder zu feiern.« Als er seine eigene Verbitterung in seiner Stimme hörte, nahm er sich einen Moment Zeit, um einen gemäßigteren Tonfall anzuschlagen. »Und jetzt, da Borne und Fane tot sind, ist er unser Wettermacher. Betraut mit der heiligsten Magie des Königreichs. Und niemand kommt auf den Gedanken, danach zu fragen, ob er für dieses Amt geeignet ist. Oder gefestigt genug. Niemand ist auf die Idee gekommen, sich zu fragen, ob diese launische Magie ihn vielleicht geradeso plötzlich verlassen könnte, wie sie gekommen ist.«
Holze strich über den geflochtenen Barlszopf auf seiner Schulter. »Durm sagte, die Echtheit seiner Magie sei über jeden Zweifel erhaben.«
Es hatte keinen Sinn. Er konnte den Stuhl keinen Moment länger ertragen. Also stand er auf und ging in dem kleinen, kühlen Raum auf und ab. »Durm war für Borne fast wie ein Bruder. Borne hat ihn kritiklos geliebt und ihm ohne Frage vertraut – Gefühle, die zehnfach erwidert wurden. Ich bezweifle, dass es irgendetwas gibt, das Durm nicht tun würde, wenn er damit den dynastischen Anspruch seines verstorbenen Freundes auf den Thron schützen könnte.« »Das… ist eine schwerwiegende Anklage, Conroyd«, erwiderte Holze, dessen Blick und Stimme jetzt deutliche Unruhe verrieten.
»Versteht mich nicht falsch, Efrim!«, sagte er und hob eine Hand. »Durm würde niemals das Gesetz brechen oder gegen die Interessen des Königreichs verstoßen. Zumindest nicht bewusst. Aber ich muss mir die Frage stellen, ob man seinem Urteil, sofern es Bornes Sohn betrifft, vertrauen kann. Und jetzt… mit diesen schrecklichen Verletzungen… der Bürde der Trauer… Können wir uns da sicher sein, dass er keinen dauerhaften Schaden davongetragen hat? Ist es sicher oder weise, ihm ohne jede Frage zu vertrauen?«
Holze nickte langsam. »Ich gestehe, Conroyd… dies sind Dinge, über die ich selbst nachgesonnen habe.«
Jarralt unterdrückte eine Regung unziemlichen Jubels. »Und da ist noch eine Angelegenheit. Etwas, das noch besorgniserregender ist als Durms heikle Verfassung. Asher.«
Holze heftete den Blick auf Barls Porträt. »Ihr hattet nie viel übrig für ihn. Oder für sein Volk.«
»Das mag sein, aber es bedeutet nicht, dass meine Sorgen nicht berechtigt wären. Dieser Olk hat das Ohr unseres Königs und die Macht, ihn zu Taten zu überreden, die vielleicht nicht in unserem besten Interesse wären. Er ist in den Kronrat aufgenommen worden! Erfüllt Euch das nicht mit Unbehagen? Seid Ihr einverstanden damit? Denn ich bin es gewiss nicht!«
»Nein«, sagte Holze unglücklich und nach einem kurzen Moment des Schweigens. »Auch ich finde es… beunruhigend, dass Gar sich zunehmend auf Asher verlässt. Barl hat die Olken in unsere Obhut gegeben. Sie sind ein simples Volk und nicht dazu gerüstet, sich mit Belangen der Magie oder höherer Regierungsführung zu beschäftigen.«
Den Geschmack des Sieges bereits auf der Zunge, ging er zu Holze hinüber und ließ sich mit flehentlicher Miene auf ein Knie nieder. »Dann, Efrim, dürfen wir nicht länger schweigen. Ihr seid Lurs ranghöchster Geistlicher. Wir beide sind Mitglieder des Kronrats. Gars Eignung zum Herrscher ist für aller Augen sichtbar fraglich. Zum Wohle des Königreichs müssen wir handeln. Nichts Ge– ringeres sind wir Bornes Andenken schuldig.«
Holzes faltiges Gesicht verfiel förmlich. »Conroyd, Conroyd, ich fürchte, Ihr sprecht von einer zweiten Spaltung.«
»Nein!«, sagte er und legte drängend eine Hand auf Holzes Arm. »Ich spreche davon, unser Volk vor einem König, dessen Fähigkeiten wir uns nicht sicher sein können, und seinem nicht mehr verlässlichen Meistermagier zu retten, bevor es zu spät ist und unsere moralische Feigheit uns alle zerstört.«
Holze wandte das Gesicht ab, und sein ganzer gebrechlicher Körper verriet Bekümmerung. »Was schlagt Ihr vor, wie wir zu Werke gehen sollen?« »Dann steht Ihr auf meiner Seite? Wenn ich diese Angelegenheit vor den Großrat bringe, werdet Ihr Euer Gewicht ebenfalls in die Waagschale werfen?« »Wollt Ihr nicht eigentlich wissen, ob ich mich für Euch als Lurs nächsten König aussprechen werde?«, fragte Holze verbittert, den Blick immer noch abgewandt. »Nur wenn es Barls Wille ist. Vielleicht solltet Ihr sie fragen, Efrim.« Holze seufzte. »Das habe ich bereits getan. Veränderungen stehen bevor, ob wir sie willkommen heißen oder nicht.«
Mit singendem Herzen und ernster Miene küsste Jarralt abermals seinen heiligen Ring. »Dann soll Barls Wille geschehen. Und danke für Eure Unterstützung.« »Ich sehe nicht, dass ich eine Wahl hätte, Conroyd«, flüsterte Holze. »Auch wenn ich befürchte, dass wir damit zwei Herzen werden brechen müssen.« Er stand auf. »Besser zwei Herzen als ein ganzes Königreich, Efrim. Ruft Euch das ins Gedächtnis, wenn Euer Gewissen Euch plagt.« Er rückte seinen Mantel und sein Halstuch zurecht. »Ich werde jetzt in die Krankenstube gehen. Mit Durm sprechen und mir ein Bild von seiner Verfassung machen. Danach werden wir weiterreden. Einverstanden?«
Holze nickte widerstrebend. »Einverstanden.«
Morg trieb unter der Oberfläche des Bewusstseins dahin wie eine Fliege, die in Honig ertrank. Der verdammte Nix und seine verdammten Tränke, die ihn einmal mehr in hilflose Ohnmacht gestürzt hatten. Irgendwo war Zorn. Und Verzweiflung. Und Durm. Nur noch vernunftlos plappernd, hatte sich die Kraft seiner Persönlichkeit in einen dünnen Schatten verwandelt, eine bloße An– deutung seines früheren Ichs. Wie sehr er sich danach sehnte, den fetten Narren sterben zu lassen… aber das Risiko war zu groß. Körper und Seele waren noch immer aneinander gefesselt, und wenn die Verbindung durchbrochen wurde, bestand eine geringe Chance, dass der Kadaver seinen unwillkommenen Mitbewohner in den Äther erbrechen würde, in den Tod.
Es war ein Risiko, das einzugehen er nicht bereit war.
Er hörte – spürte –, wie die Tür zu seinem Gemach, seinem Gefängnis, geöffnet wurde. Schritte. Stimmen. Die Tür wurde wieder geschlossen. Er versuchte, Durms Augen zu öffnen, mühte sich, das von Drogen betäubte Fleisch, das ihn fester umschlang als der Körper einer Jungfrau, seinem geschwächten Willen zu unterwerfen. Das Fleisch trotzte ihm einmal mehr.
»Dort, Mylord. Seht Ihr?« Der Pother. Er klang verärgert. Gekränkt. »Wie ich Euch berichtet habe, schläft der Meistermagier noch. Er kann nicht mit Euch sprechen!« Ein boshafter Mann, dieser Nix, überquellend von widerwärtiger Kräuterkunde. Ein Mann, der sich überall einmischte, der in alles seine Nase stecken musste. Es würde bald ein Tag kommen, da Pother Nix an seinen eigenen Heilkräutern ersticken würde.
»Ich entschuldige mich, Nix, wenn ich den Eindruck erweckt habe, als wolle ich Eure Fähigkeiten oder Eure Ehrlichkeit in Zweifel ziehen.« Und das war Conroyd Jarralt. Blut beschwor die Erinnerung von Blut herauf. Echos uralter Familienbande. Hoffnung regte sich. Das Erblühen einer keimenden Idee…
»Wenn es so wichtig ist, dass Ihr Euch mit ihm beratet, Mylord, kann ich ihn, wenn er aufwacht, vielleicht fragen, ob…«
»Guter Mann«, sagte der kleine Lord Jarralt. »Darf ich offen sein? Wobei ich natürlich auf Eure Verschwiegenheit vertraue?«
»Ihr dürft, Mylord.«
»Euer Wort als Pother darauf?«
»Gewiss!«
Ein Seufzen. Dann: »Für jene von uns, deren Angelegenheit es ist, um dergleichen Dinge zu wissen, Nix, ist es kein Geheimnis, dass Durms Verletzungen schwerwiegend waren.«
»Das waren sie.«
»So schwerwiegend, dass sein Überleben ein Wunder ist?« »Ja.«
»So schwerwiegend, dass die Vorstellung, er könne wieder zu seiner früheren Kraft und Stärke zurückfinden – bedauerlicherweise – kaum mehr ist als ein Tagtraum?«
Ein langes Zögern. »Mylord…«
»Mehr braucht Ihr nicht zu sagen«, erwiderte Jarralt mit mitleidtriefender Stimme. »Euer Gesicht beantwortet alle Fragen.« »Lord Jarralt…«
»Es ist eine heikle Angelegenheit. Das verstehe ich.« So viel Freundlichkeit in dieser warmen, sirupartigen Stimme. »Und schmerzlich. Ihr untersteht einem König, der vielleicht… den Überblick… verloren hat.«
Morg kämpfte sich an die Oberfläche und wehrte sich mit schwindenden Kräften gegen die Macht von Nix' verfluchten Drogen. Hier war Ehrgeiz; er konnte ihn riechen wie ein Dämon das Blut einer Geburt witterte. Ehrgeiz und der skrupellose Wille, um jeden Preis zu siegen. Wunderbar. Dieser Jarralt war stark, und heute brauchte er Stärke dringender denn je. Er war lange genug von Schwäche gefangen gehalten worden.
Jarralt war die Antwort auf ein Gebet.
Der Pother räusperte sich. »Mylord, Ihr wisst, ich bin dazu gezwungen …« »Selbstverständlich«, besänftigte sein ehrgeiziger Nachfahr den Mann. »Ich verstehe Euch genau. Habt keine Bange, Nix. Wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Ihr und ich. Männer von Ehre, die geschworen haben, diesem Königreich vor allem anderen zu dienen, es über alles zu stellen, selbst über die Bande persönlicher Beziehungen. Durm ist mein Freund. Wir haben viele Jahre gemeinsam im Kronrat gesessen, und sein Niedergang bricht mir das Herz. Doch trotzdem werde ich tun, was notwendig ist, um Lur vor Schaden zu bewahren. Und das Gleiche gilt für Euch, dessen bin ich gewiss. Nun frage ich mich, ob ich vielleicht ein wenig Zeit allein mit meinem Freund verbringen dürfte? Staatsangelegenheiten haben mich von seiner Seite ferngehalten, und ich würde ihm gern alle Kraft geben, die ihm helfen kann.«
»Selbstverständlich, Mylord«, sagte der greinende Pother. »Aber ich warne Euch, er steht unter schweren Beruhigungsmitteln. Falls er aufwachen sollte, seid so gut und lasst sofort nach mir schicken.«
Morg hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Geschlossen. Hörte Schritte näher kommen. Hörte Conroyd Jarralt leise lachen. Verführerisch. Ein Mann, der kurz vor einer Eroberung stand.
»Nun, Durm. Jetzt sind wir beide endlich allein«, flüsterte er. »Und ich werde Euch erzählen, wie die Geschichte endet…«
Es war nicht die Stimme eines Freundes. Gier schwang darin mit, tiefer Abscheu und ein seit langem ungestillter Ehrgeiz. Plötzlich wurde Morg klar, dass er sich in Gefahr befand.
In diesem Moment glaubte er, sein Geist werde bersten, so verzweifelt versuchte er, die benebelnden Ketten zu sprengen, die ihn gefangen hielten. Mit erzürntem Erstaunen erkannte er das scharfe Gefühl: Angst.
Angst?
Wann hatte er das letzte Mal etwas Derartiges empfunden? Hatte er so etwas jemals empfunden? Er konnte sich nicht daran erinnern. Nein, nein. Es war unmöglich. Morg – die stärkste Macht der Welt – fürchtete sich?
Niemals.
Oder… niemals vor dem heutigen Tag. Aber heute war er hilflos; er saß in der Falle, auf Gedeih und Verderb diesem Mann ausgeliefert, der das Verlangen nach Tod wie einen Gestank verströmte. Nach Durms Tod. Nach seinem Tod, solange er in Durms Körper blieb. Er hatte daran gedacht, das nächste Mal Herberge in Jarralt zu suchen. In ein oder zwei Tagen, sobald Durm endlich frei war von Drogen und er ungehindert handeln konnte.
Aber hier war das Gefäß nun, gemästet mit eigenen Ränken, und plötzlich hatte er keine Zeit mehr…
Er hörte das Geräusch von Holz, das über Kacheln kratzte, als ein Stuhl näher an das Bett gezogen wurde. Ein seufzendes Knarren, ein Rascheln von Seide auf Seide. Kühle Finger berührten fiebriges Fleisch.
»Ich habe Euch nie gemocht, Durm«, begann Jarralt. Der Sirup schmolz, und die nackte Klinge darin wurde offenbar. »Und Ihr habt mich nie gemocht. Dennoch haben wir unser törichtes Spiel der Verstellung weitergespielt, nicht wahr, damit Borne glücklich war. Damit die Menschen glücklich waren und unbeeinträchtigter Friede herrschte. Ihr habt immer geglaubt, ich liebte mich selbst mehr als dieses Königreich, aber Ihr habt Euch geirrt. Wenn das wahr gewesen wäre, hätte ich Bornes Recht zu herrschen schon vor langer Zeit angefochten.«
Mit größerer Willenskraft, als er sie je zuvor aufgeboten hatte, beruhigte Morg seinen tobenden Geist. Dann erlebte er ein weiteres unvertrautes Gefühl: Scham. Scham darüber, dass er sich auch nur für einen Moment derart hatte vergessen können. Es war Gift, dieses Fleisch. Es verunreinigte die Reinheit des ungefessel– ten Geistes, kettete ihn an Begierden und Impulse und Gebrechlichkeit. Er konnte es gar nicht erwarten, es hinter sich zu lassen.
Jarralt lachte leise. »Stellt bitte fest, dass ich in der Vergangenheit von Euch spreche, alter Mann. Gebrochener Mann. Besiegter Mann. Eure Amtszeit als Meistermagier ist vorüber. Schon bald werde ich Eure Stelle einnehmen, aber nicht für lange. Bevor das Jahr zu Ende geht, werde ich die Mittel haben, um das wackere Haus Torvick einzureißen, einen verkommenen Stein nach dem anderen. Dann wird Conroyd König sein. So wie ich schon vor fünfundzwanzig Jahren hätte König sein sollen. Was haltet Ihr davon, Durm?«
In den Tiefen seines Käfigs kämpfte auch Durm. Morg verspürte flüchtiges Mitgefühl. Dann konzentrierte er sich, zog seine geschwächten Kräfte wie einen Mantel um sich und sah sich selbst als eine Lanze aus Feuer, die im nächsten Moment den Schleier von Nix' benebelnden Drogen durchstoßen würde. Die Flamme verzehrte sich, verzehrte die restliche Stärke, die er in seinem Kampf, Durms verwüstetem Leib zum Trotz zu überleben, nicht aufgebraucht hatte. »Wäre es meine Absicht, könnte ich Euch hier und jetzt ersticken«, fuhr Jarralt mit einschmeichelnder Stimme fort. »Soll ich es tun? Wage ich es? Angesichts Eures zerstörten Körpers wäre es vielleicht sogar eine Gnade. Ihr habt nie viel übrig gehabt für Schwäche. Wenn es in Eurer Macht gelegen hätte, hättet Ihr Gar erstickt. Hätte Borne Euch geliebt, frage ich mich, wenn er das gewusst hätte? Wenn er in den Tiefen Eurer Augen das gesehen hätte, was ich dort gesehen habe, an dem Tag, an dem öffentlich bekannt gemacht wurde, dass sein Sohn ein Krüppel war?«
Morg spürte, Wie sein Geist schauderte. Hörte Durms Krankenbett knarren, als Jarralt sich darauf stützte. Ein warmer, süßer Atemzug strich über Durms schwammiges Gesicht. Sanfte, starke Hände umschlossen die eingefallenen Wangen. Während er sich mühte, Durms nutzlosem Körper zu entfliehen, hörte er ein hämisches Flüstern.
»Es fällt ein Schatten über Euch, Durm. Spürt Ihr es? Es ist der Schatten des Hauses Jarralt, der Euch tief in endlose Dunkelheit stürzt…«
Die Hände, die Durms Gesicht umfassten, spannten sich an.
Daumen, so heiß wie Kohlen, pressten sich auf seine Augäpfel, brannten sich durch seidenpapierdünne Lider. Morg spürte, wie sein Geist zuckte, spürte eine gewaltige Flut von Macht zu Macht, von Gleich zu Gleich, ein Lied von Verlangen und Gier und ungestilltem Durst. Aus weiter Ferne hörte er Durms schreckliches Heulen der Qual.
»Sieh mich an, du von Drogen durchweichter Kadaver!«, zischte Jarralt. »Sieh mich an und sieh, dass ich gesiegt habe!«
Blendende Helligkeit, als Jarralt mit den Daumen Durms vom Schmerz eingefallene Lider hochzog. Morg schwelgte darin, aalte sich darin, spürte das letzte Aufflammen seiner Kraft und seines Willens, die die Barriere zwischen ihm selbst und der Welt durchbrachen. Endlich brachen die klebrigen Bande siechen Fleisches, und er hatte sich von Durms zerbrochenem Leib befreit, befreit aus diesem schrecklichen Gefängnis, befreit, um in einen neuen Wirt hineinzufließen, einen perfekten Wirt, einen lebensprühenden, tatkräftigen, unersättlichen Wirt. Jarralt öffnete den Mund, um zu schreien – und Morg floss in ihn hinein. Floss durch Arterien und Venen, durchtränkte Haut und Sehnen, überschwemmte Jarralts Muskeln, seine Knochen und sein Gehirn, bis keine einzige Zelle mehr existierte, die nicht er selbst war. Er ließ Durm sterbend zurück, die Lippen zu einem einzigen Wort geformt: Morg.
Morg, der sich von Durm entfernte wie ein Mann, der unwissentlich Unrat berührt hatte, stolzierte in der engen Krankenstube umher und kostete das herrliche Gefühl seines neuen Wirts in vollen Zügen aus: ein Mann in der Blüte seiner Jahre, gesund und geschmeidig und fabelhaft gutaussehend. Endlich Fleisch, das seines Geistes würdig war! In den Tiefen seiner selbst gefangen, kreischte Jarralt und schlug um sich.
In dem Bett, gestützt von Kissen, atmete Durm in langsamen, schweren Zügen, sog widerstrebend Luft in seine Lungen.
Morg lächelte. »Fetter Narr. Ein Jammer, dass du nicht hier sein wirst, um meinen letzten Triumph zu erleben.« Der Klang seiner Worte, hervorgebracht von Jarralts ausnehmend wohlklingender Stimme, war ein Schock. Er hatte sich an Durms unmelodisches Greinen gewöhnt. Jetzt streckte er die Hand aus und strich mit einem schlanken Finger über die schwammige, teigige Wange des siechen Mannes. Dann schickte er sich an, die zuckende Flamme dieses schwachen Lebens auszulöschen. Die Tür wurde geöffnet, und Nix räusperte sich. »Mylord, verzeiht mir, aber Durm bedarf einer weiteren Behandlung. Ihr könnt morgen wiederkommen, falls Ihr es wünscht.«
Morg richtete sich auf. »Das würde ich sehr gern tun, Nix. Sofern keine dringenden Staatsangelegenheiten mich aufhalten.«
»Natürlich, Herr«, erwiderte der Pother. »Ich hoffe, Ihr habt aus Eurem Besuch ein wenig Trost geschöpft, Mylord?«
Er klopfte auf Durms Kissen, als liege ihm das Wohlergehen des Patienten am Herzen, dann drehte er sich um, um dem Pother ein Lächeln zu schenken. »Trost? Mein lieber Nix«, sagte er mit dieser magischen, melodischen Stimme, »Ihr habt ja keine Ahnung.«
Verstockt und ohne auch nur auf die Ankunft des Ersatzmanns aus dem Palast, Ganfei, zu warten, packte Matt seine geringe Habe zusammen und räumte sein Quartier, während die Stallburschen anderswo waren. Dann nahm er sich ein Zimmer in Verrys Herberge. Er brauchte Zeit, um zu begreifen, was an diesem Morgen geschehen war, und darüber zu entscheiden, was er als Nächstes tun wollte.
Asher hatte ihn entlassen. Und Dathne hatte daneben gestanden und nichts dagegen unternommen. Sie hatte nicht einmal einen Finger gekrümmt, um ihn zu retten…
Der Schmerz über diese unheilvolle Auseinandersetzung war grimmig. Jervale stehe ihm bei, hätte er die Dinge noch schlechter handhaben können? Er war ein Narr. Er hätte nicht warten sollen. Hätte Dathne an einem anderen Ort zur Rede stellen sollen. Er hätte sich Zeit lassen sollen, um sich zu beruhigen. Um die Dinge zu durchdenken. »Sie ist ein Rennpferd, keine Zuchtstute.« Das hatte er selbst zu Asher gesagt. Und dann hatte er seinen eigenen klugen Rat vergessen und wie der unbeholfenste, begriffsstutzigste Stalllehrling versucht, rücksichtslos über sie hinwegzupreschen. Und das, obwohl er sehr gut wusste, dass sie bis über beide Ohren in Asher verliebt war. Obwohl er mit seinen eigenen Augen sehen konnte, dass sie direkt aus einer Nacht in seinen Armen gekommen war, förmlich leuchtend vor Leidenschaft und keineswegs in der Stimmung für nüchternen Tadel.
Und du fragst dich, warum sie manchmal an deiner Weisheit zweifelt?
Nun, jetzt war die Milch vergossen, und der Krug war obendrein in tausend Stücke zersprungen. Sie hatte ihre Position absolut deutlich gemacht.
»Geh weg, Matt. Du bist nicht mehr erwünscht.«
Nun, er mochte nicht erwünscht sein, aber er wurde verdammt dringend gebraucht. Er würde Ashers hochmütige Verfügung vergessen, denn er konnte sich nicht unten in den Waldigen Tälern vergraben, er wäre dort zu weit von der Stadt entfernt gewesen. Das Problem war, er konnte auch nicht hier in Dorana bleiben. Er musste sich einen anderen Ort suchen, einen sicheren Ort, von dem aus er ohne Furcht vor Entdeckung über Dathne und ihren Unschuldigen Magier wachen konnte.
Obwohl er sich dabei wie ein Verräter fühlte, stöberte er in seinen hastig zusammengepackten Sachen und förderte den Kristallsplitter zutage, den er noch nie zuvor hatte benutzen müssen. Nicht einmal im Traum hatte er gedacht, dass er diesen Kristall jemals benötigen würde. Er hatte Dathne nie erzählt, dass er einen solchen Kristall besaß.
Veira antwortete fast sofort. In ihre Überraschung mischte sich jäher Schreck. Matthias? Bist du das?
»Ja, Veira. Ich bin es.« Zu seiner Überraschung spürte er das Brennen unerwarteter Tränen in seinen Augen.
Sie spürte sie ebenfalls, und ihre nächsten Worte klangen sanfter. Was ist geschehen, Kind?
Hastig und stockend vor Nervosität und Erregung erzählte er es ihr. Ich hätte es ahnen müssen, erwiderte Veira langsam. Ich wusste, dass sie ihn liebt, und in letzter Zeit war sie sehr… ausweichend. Furchtbar angespannt angesichts der langsamen Fortschritte der Prophezeiung. Kannst du nicht mit ihr sprechen? Könnt ihr nicht irgendwie wieder zusammenkommen?
»Nein. Sie ist im Augenblick nicht lenkbar, Veira. Die einzige Stimme, die sie noch hört, ist die von Asher. Wenn ich bleibe, wenn ich versuche, eine Versöhnung zu erzwingen, fürchte ich, werde ich sie nur noch weiter von mir wegtreiben. Und sie braucht mich immer noch, das weiß ich.«
So wie ich es weiß, Kind, und unser ganzer kostbarer Zirkel. Also musst du zu mir kommen, und gemeinsam werden wir warten, bis das Rad der Prophezeiung sich abermals dreht. Verzweifle nicht, Matt. Jervale wird uns jetzt nicht im Stich lassen. Die Erleichterung war so groß, dass sie beinahe wie ein Schmerz war. Er war nicht allein. Er hatte einen Ort, an den er sich wenden konnte. Eine Aufgabe, die noch vor ihm lag. »In Ordnung, Veira«, sagte er. »Ich werde alle notwendigen Vorbereitungen treffen und beim ersten Tageslicht aufbrechen.«
An einem Tag in der Zeit der Kirschblüte jagt Gar seine kichernde Schwester zwischen den gepflegten Stiefmütterchenbeeten der Königlichen Gärten hindurch. Er jagt sie, kommt ihr aber nicht zu nahe. Ihre Babybeine sind pummelig, ihre unbeschuhten Ba– byfüße stampfen voller Entzücken, aber unsicher durch das Gras. Im strahlenden Sonnenschein ist ihr Haar eine Krone aus goldener Distelwolle, die eine andere Krone ahnen lässt, eine, die ihrer noch harrt.
»Du kannst mich nicht fangen, Gar! Du kannst mich nicht fangen!«
Er versucht es nicht einmal, aber das weiß sie nicht. Er tut so, als sei er außer Atem und keucht: »Du bist zu schnell für mich, Fane!«
Irgendwo in der Nähe, an einer Stelle, an der sie beide sie nicht sehen können, stehen ihre Eltern und beobachten sie. Er weiß, dass sie sich Sorgen um ihn machen. Sorgen, dass er seine kleine Schwester vielleicht nicht lieben würde, weil sie die Magie, die ihm bei seiner Geburt verwehrt geblieben war, im Übermaß besitzt. Ihre Sorge ist unnötig, aber das kann er ihnen nicht sagen. Sie denken, er habe keine Ahnung, warum hinter ihrem Lächeln stets ein Schatten liegt.
Sie sind seine Eltern. Der König und die Königin von Lur, aber sie irren sich trotzdem. Er weiß Bescheid.
Einige Schritte vor ihm gerät seine Schwester ins Stolpern. Ihre Babybeine knicken ein, und sie fällt kopfüber zu Boden. Grasflecken bedecken ihr hübsches, rosafarbenes Kittelkleid, ihre blütenzarte Haut. Es folgt ein Augenblick erschrockenen Schweigens, dann beginnt sie zu weinen.
Er eilt zu ihr. Nimmt sie in seine großen, starken, neunjährigen Arme. Hält sie an sein grün– und bronzefarbenes Wams geschmiegt, das brandneu ist, ein Geschenk von Mama. Warum? Einfach darum.
Weil er anders ist… weniger… und weil er es nicht wissen, weil er sich nicht weniger geliebt fühlen soll.
Fane schluchzt an seiner Brust, geschüttelt von Wut ebenso wie von Angst. Ihre Rosenknospenhände ballen sich zu kleinen, knochigen Fäusten, und sie drischt damit auf die Luft ein. Sie ist ein reizbares Geschöpf, seine kleine Schwester. Sie will die Welt nach ihren Wünschen oder überhaupt nicht. Gerade zwei Jahre ist sie alt, und jeder, der sie kennt, weiß das.
»Es ist schon gut, Faney, bitte, weine nicht«, fleht er, während er sie mit ruckartigen Bewegungen in den Armen wiegt, um sie zum Lachen zu bringen. »Ich bin hier. Ich habe dich. Du brauchst nicht zu weinen.«
Sie bekommt einen Schluckauf. Schluckt zornigen Kummer herunter. Legt den kleinen Kopf in den Nacken, blickt in sein Gesicht und lächelt… und lächelt… und lächelt… »Fane«, sagte Gar und öffnete die Augen. Sein Gesicht war feucht von Tränen. Hinter den schweren Samtvorhängen seines Schlafgemachs leuchtet die Vormittagssonne. Ein neuer Tag, beladen mit alten Problemen.
Durm war wieder in tiefe Bewusstlosigkeit versunken.
Als er es ihm gestern Abend erzählt hatte, war Nix vor Verzweiflung und Ungläubigkeit kaum in der Lage gewesen, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Er konnte es nicht verstehen. Noch am Morgen war es dem Meistermagier sehr gut gegangen. Er hatte widerstrebend akzeptiert, dass er am Nachmittag würde ruhen müssen. Hatte seine Medizin geschluckt und war gleich eingeschlafen. Nicht einmal Lord Jarralts kurzer Besuch hatte ihn gestört. Alles an ihm schien genauso zu sein, wie es sein sollte… und doch wachte er einfach nicht auf. Höchstwahrscheinlich würde er nie mehr aufwachen. Es wurde Zeit, das Inakzeptable zu akzeptieren: Lurs Meistermagier würde sich nicht erholen. Nix machte sich natürlich Vorwürfe, aber niemand trug die Schuld daran. Menschen starben, ob man es wollte oder nicht.
Eingehüllt in einen Kokon aus Decken, blickte Gar grübelnd zu der blassgrünen Decke empor. Wenn er diese bittere Pille schlucken konnte, konnte er auch eine andere schlucken. Musste sie schlucken, denn das war es, was Könige taten. Sie stellten sich unangenehmen Wahrheiten.
Seine Scharade als Wettermacher war vorüber.
Da Durm nur noch Tage – vielleicht Stunden – vom Tod entfernt war, konnte er sich an niemanden mehr wenden. Conroyd würde jetzt verlangen, dass man ihn zum Meistermagier machte, und da er keine vernünftige Möglichkeit hatte, die Ernennung zu verhindern, würde die Wahrheit seines magischen Versagens ans Licht kommen. Es gab keine Möglichkeit, dies noch länger zu verbergen. Er hatte gespielt, und er hatte verloren.
Die Pflicht verlangte von ihm, dass er noch an diesem Morgen zu Conroyd ging, eingestand, dass seine Magie ihn verlassen hatte, und dem Mann seine Krone anbot. Sein Königreich. Alles andere wäre nicht nur ein Verrat an seinem heiligen Eid, es würde auch für Asher die Gefahr einer Entdeckung bergen. Und das kam nicht infrage.
Conroyd zum König zu machen. Allein bei dem Gedanken daran schnürte sich ihm die Kehle zu, seine Lungen pressten sich zusammen, und ihm brach der kalte Schweiß aus. Alles in ihm widersetzte sich, kämpfte gegen die Vorstellung, Conroyd zum König zu machen.
Stöhnend wälzte er sich aus dem Bett. Er erleichterte sich – es erinnerte ihn an Indigo Glospottle und entlockte ihm ein flüchtiges Lächeln –, kratzte sich die über Nacht gewachsenen Stoppeln vom Kinn und von den Wangen, flocht mit fliegenden Fingern einen groben Zopf und zog sich nachlässig an. Sein Magen rumorte, aber der Gedanke an Essen verursachte ihm Übelkeit. Er setzte sich in einen Sessel und kehrte zu seinen Grübeleien zurück. Was würde sein Vater angesichts dieses Dilemmas tun?
Die Antwort kam unverzüglich. Kämpfen.
Borne würde dagegen kämpfen, so wie er gekämpft hatte, als der Mangel an Magie seines Sohnes kein Geheimnis mehr hatte bleiben können. Das Gesetz drückte sich in der Frage königlicher Kinder vollkommen deutlich aus. Ein Erbe für den Thron. Aber Borne hatte damals gewusst, was sein Sohn auch jetzt wusste: Wenn man sich dem Gesetz unterwürfig beugte, bedeutete das den Aufstieg des Hauses Jarralt und den Sturz des eigenen Hauses. Es bedeutete, die Fürsorge für das Königreich und seine Menschen einem Mann zu überantworten, der mehr oder weniger davon überzeugt war, dass Olken überhaupt keine Menschen waren. Nur mit einer Spur Intelligenz gesegnetes Vieh. Das waren sie nicht. Und sie so zu behandeln, würde zu einem Bürgerkrieg führen. Also hatte Borne das Gesetz umgangen. Hatte mit seinen Räten gekämpft, sowohl dem Kronrat als auch dem Großrat, bis sie die Dinge so sahen wie er und ihm einen Erben bewilligten.
Ja. Abermals konfrontiert mit der Aussicht auf Conroyd als König, würde Borne alles tun, alles, um den brennenden Ehrgeiz des Mannes zu durchkreuzen. Aber was? Was? Was konnte Bornes Sohn tun, das Conroyd die Krone verwehren konnte?
In der Dunkelheit glomm, geisterhaft, eine Idee auf.
Vielleicht konnte er… eine Spaltung riskieren?
Gar kaute auf einem Daumennagel und ließ seine Gedanken unvertraute Pfade nehmen. Er hatte stets angenommen, dass Conroyd als der anerkanntermaßen überlegene Magier zum König ernannt werden musste. Und dass eine Erweiterung des Spektrums möglicher Kandidaten für die Krone eine Katastrophe heraufbeschwören würde. Sein Vater hatte es geglaubt. Und er vertraute den Instinkten seines Vaters uneingeschränkt. Er akzeptierte seine Schlussfolgerungen ohne Frage.
Aber Conroyd hatte zwei Söhne. Wenn man ihm die Krone gab, würde er seinen Erben auswählen müssen. Er würde den einen erhöhen … den anderen enttäuschen. Ob jetzt oder später, eine Spaltung war der wahrscheinliche Ausgang der Dinge.
Konnte es einen anderen für das Amt des Wettermachers geben? Jemand anderen als Conroyd? War irgendwo in seinem Königreich ein Dorane eines anderen Hauses geeignet, die Krone zu tragen? Ein Magier von genügend Macht, um die quälende Wettermagie zu wirken und zu beherrschen? Jemanden, der vielleicht… nur vielleicht … Bornes Zuneigung und Respekt für die Olken teilte und so einer Feindseligkeit zwischen den Rassen vorbeugte?
Er hatte keine Ahnung. Nur Durm konnte es wissen. Als Meistermagier war er aufs Tiefste vertraut mit den Stärken und Schwächen eines jeden Doranen in Lur, seien sie magischer oder auch persönlicher Natur. Aus ihrer Mitte würde er seinen Nachfolger erwählen. Es war seine Pflicht, dies in Erfahrung zu bringen. Ein Jammer, dass er es nicht auch für seine Pflicht gehalten hatte, seine Rückschlüsse schriftlich für die Nachwelt festzuhalten, damit jemand sie lesen und die Informationen nutzen konnte, um eine Katastrophe abzuwenden. Falls er einen anderen finden konnte als Conroyd – falls er sich über jeden Zweifel hinaus davon überzeugen konnte, dass er oder sie dazu taugte zu herrschen –, dann konnte er Conroyd ganz und gar umgehen. Er konnte diesen unbekannten Doranen in einer privaten Zeremonie krönen und dem Kronrat und Conroyd Jarralt einen König oder eine Königin präsentieren, die er nicht ersetzen konnte.
»Ich denke, ich habe es, Vater«, sagte er in sein leeres Schlafgemach hinein. »Eine Lösung, die die Antwort auf alle Schwierigkeiten bietet… und die vielleicht zeigt, dass ich trotz allem dein Sohn bin.«
Es bedeutete, dass er seinen Meistermagier noch heute aufsuchen musste. Dass er Nix dazu zwang, den sterbenden Mann lange genug ins Bewusstsein zu holen, um sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, wo er diesen Doranen finden konnte, diesen ungekrönten Monarchen Lurs. Denn eines zumindest war gewiss. Je länger er es hinauszögerte, umso wahrscheinlicher war es, dass Durm starb, ohne ihm vorher noch raten zu können. Und das wäre überaus… bedauerlich.
Angetrieben von verzweifeltem Enthusiasmus, aber ohne zu vergessen, was sonst noch an diesem Tag geschah, ging Gar die Treppe hinunter, um sich auf die Suche nach seinem Tribun zu machen.
Asher war in seinen Räumen und übergab sich.
»Ich weiß nicht, warum du deswegen so leidest«, bemerkte Gar, während er zusah, wie Asher sein bleiches, schweißnasses Gesicht mit einem Handtuch abtupfte. »Du bist ungezählte Male in der Halle der Gerechtigkeit gewesen. Und es ist nicht so, als sei Glospottles Fall eine Frage von Leben und Tod. Um Barls willen, es geht um Pisse. Der Disput hätte überhaupt nie so weit kommen sollen!« Asher richtete sich auf und funkelte ihn an. »Wollt Ihr damit sagen, dies sei meine Schuld?«
Gar hob beschwichtigend eine Hand. »Nein. Niemand hätte die Angelegenheit besser handhaben können als du. Glospottle ist ein halsstarriger Narr, und die Gilde ist schlicht und einfach habgierig. Es stand immer fest, dass dies in der Halle der Gerechtigkeit enden würde.«
Asher, der gerade ein grünseidenes Hemd gegen ein blaues tauschte, schnaubte. »Ich wünschte, das hättet Ihr früher gesagt. Dann hätte ich meinen Kram gepackt und wäre nach Restharven zurückgekehrt.«
»Was glaubst du, warum ich es nicht früher gesagt habe?«
Dies trug ihm einen scharfen Blick ein. »Was ist jetzt schon wieder los?« Gar wollte nicht zu viel sagen, für den Fall, dass seine Idee keine Früchte trug. »Ich habe eine Idee, wie wir uns aus diesem Durcheinander befreien können, ohne eine Entdeckung zu riskieren.«
»Ja? Und?«
»Ich werde es dir später erzählen – wenn es funktioniert. Wenn nicht, möchte ich nicht wie ein Narr dastehen.«
Ashers Lippen zuckten. »Dafür ist es wohl ein bisschen spät, schätze ich.« In seinem ganzen Leben hatte noch nie jemand so mit ihm gesprochen wie Asher. Als sei er einfach irgendein Mann. Nicht besser, nicht schlechter. Ein würdiges Ziel für unbefangene Neckerei. Es machte all die Dunkelheit… erträglich. Er räusperte sich. »Ich habe gestern Abend eine Nachricht von Conroyd bekommen. Er verlangt ein dringliches Treffen mit Holze, in ihrer beider Eigenschaft als Mitglieder des Kronrats.«
Asher war inzwischen in Stiefel geschlüpft, die so blank poliert waren, dass ihr Leuchten beinahe in den Augen schmerzte. »Eine Versammlung des Kronrats? Ich bin nicht eingeladen worden.«
Gar lächelte schief. »Das ist mir aufgefallen. Und es ist der Grund, warum ich noch nicht geantwortet habe. Ich weiß nicht mit Bestimmtheit, worauf sie aus sind, aber ich denke, ich kann es erraten. Ich werde sie so lange wie möglich ignorieren.«
»Ignoriert sie bis in alle Ewigkeit!«, erwiderte Asher entrüstet. »Wer ist hier der verdammte König, hm?«
»Ja… nun… das ist die dornenvolle Frage, nicht wahr?« Gar gestattete sich ein kurzes, bitteres Lächeln, dann wechselte er das Thema. »Es tut mir leid, dass ich während der Anhörung heute nicht bei dir sein kann. Es tut mir leid, dass ich dir bei der Vorbereitung nicht von größerem Nutzen sein kann.«
»Schon gut«, sagte Asher und schlüpfte in ein opulentes goldenes und pfauenblaues Wams. »Ihr hattet wichtigere Dinge im Kopf, und ich hatte genug Hilfe. Außerdem hatte Dathne nicht die Absicht, mich auch nur einen Fuß in die Halle der Gerechtigkeit setzen zu lassen, ohne mich vorher bis zum Erbrechen mit juristischem Kram vollzustopfen.«
Er sah, wie Ashers Augen bei der Erwähnung ihres Namens einen wärmeren Ausdruck annahmen, und suchte Zuflucht in ein klein wenig Neckerei seinerseits. »Wann wirst du etwas wegen dieser Frau unternehmen? Deine Absichten erklären? Sie von den Füßen reißen? Jeder, der auch nur halbwegs Augen im Kopf hat, kann sehen, dass du bis über beide Ohren in sie verliebt bist.«
Asher errötete. »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, murmelte er und zog seinen besten dunkelblauen Samtmantel vom Haken. »Ich muss los. Der verdammte Darran besteht darauf, dass ich den ganzen Weg bis zur Halle der Gerechtigkeit in einer Kutsche fahre. Törichte alte Krähe.«
»Das war meine Idee«, gestand Gar und lachte laut auf, als er Ashers Gesichtsausdruck sah. Einen Moment lang, nur einen Moment, wurde ihm ein wenig leichter ums Herz. »Es ist ein historischer Tag, Asher. Ein Olk als Rechtgeber in der Halle der Gerechtigkeit. Ich wünschte, wir könnten es so feiern, wie du es verdienst.«
»Hah!«, entgegnete Asher und verdrehte die Augen. »Ich bin verdammt froh, dass wir es nicht können. Es hat schon genug Verdruss gegeben.« Gar schüttelte den Kopf. Er rang um Worte, die nicht weinerlich klangen, sondern seine Gefühle widerspiegelten. »Ich schulde dir so viel. Ich bezweifle, dass es einen anderen Mann in ganz Lur gibt, der getan hätte, was du getan hast. Der riskiert hätte, was du riskiert hast, nur weil ich dich darum gebeten habe. Du sollst wissen, dass ich dir dankbar bin. Und eines Tages – ich weiß nicht, wann oder wie – werde ich meinen Worten Taten folgen lassen.«
Der König streckte die Hand aus. Asher betrachtete sie, und seine Miene war eine Mischung aus Ärger und Freude. Ein so rauer Mann, dieser Fischer, der sein Freund war. Schroff und tyrannisch, ungeduldig in so vieler Hinsicht und mit so vielen Menschen. Aber mit einem Herzen, das so stark und so groß war wie sein geliebter Ozean, und beseelt von einem Mut, der so unzerstörbar war wie Barls gesegnete Mauer selbst.
»Fort mich Euch«, sagte Asher und stieß zu Gars Überraschung seine Hand beiseite, um ihn kurz an sich zu ziehen, so heftig, dass es ihm beinahe die Rippen durchbog. »Hört auf, meine Zeit zu verschwenden, hm? Soll in den Chroniken stehen, dass ich zu meiner ersten großen Vorstellung in der verdammten Halle der Gerechtigkeit zu spät gekommen bin?«
Gar trat zurück. »Natürlich nicht. Geh. Und viel Glück. Du kannst mir bei einem kalten Bier vor dem Abendessen einen ausführlichen Bericht geben.« Asher drehte sich auf dem Weg zur Tür noch einmal um und grinste. »Vorausgesetzt, dass Ihr bezahlt.«
»Dazu wird's noch reichen. Ach ja, und noch was…« Asher fuhr herum. »Was?« »Wir müssen heute Nacht Wetter machen. Denkst du daran?« All die warme Erheiterung wich aus Ashers Zügen. Mit versteinerter Miene nickte er. »Ihr denkt, ich könnte das vergessen?« Und dann war er fort.
Jäh ernüchtert und auf unfreundliche Weise an all die Dinge erinnert, die er am sehnlichsten aus seinem Gedächtnis verbannen wollte, kehrte Gar in seine Räume zurück, um sich auf sein Treffen mit Durm vorzubereiten. Asher sah in seinen Roben für die Halle der Gerechtigkeit so prachtvoll aus, dass Dathne sich nur mit Mühe daran hindern konnte, vor aller Augen die Arme um ihn zu schlingen und laut zu rufen: »Er gehört mir, er gehört mir, allein mir!« »Lasst mich sehen, lasst mich sehen«, verlangte Darran, der mit gewichtiger Miene herbeikam und ihn am Fuß der Wendeltreppe des Turms erwartete. »Tribun für Olkische Angelegenheiten oder nicht, Rechtgeber oder nicht, ich werde Euch nicht gestatten, auch nur einen Fuß nach draußen zu setzen, solltet Ihr Seiner Majestät Schande machen.«
Zu Dathnes Überraschung ertrug Asher den Wirbel, den der alte Mann veranstaltete, mit Anstand. Er erlaubte ihm, an seinem Wams zu zupfen, seine Ärmel glatt zu streichen und den Diamanten in der Mitte eines teuren Revers zu lösen und an anderer Stelle wieder einzustecken. Mit einem schwachen Lächeln und übertriebener Geduld blickte er auf Darran hinab und fragte ihn dann mit gedehnter Stimme: »Nun?«
Darran rümpfte die Nase und trat zurück, die dünnen Hände vor seinem in schwarze Seide gehüllten Bauch gefaltet. »Ihr seid so bunt wie ein Papagei, aber ich schätze, es wird so gehen.«
Die Dienstmägde, die Boten und die zusätzlichen Schreiber, die Darran im Palast angefordert hatte, brachen in begeisterten Beifall aus. Willer lächelte lediglich ein eigenartiges, starres kleines Lächeln und wedelte mit den Händen, was so ziemlich alles bedeuten konnte. Elende kleine Meeresschnecke. Dathne dagegen klatschte, bis ihre Hände brannten.
»Also schön, schön«, sagte Asher. »Habt Ihr keine Arbeit, die auf Euch wartet?« Er tat so, als sei er ungehalten, obwohl er sich innerlich unendlich geschmeichelt fühlte. Wenn ihn das auffällige Fehlen der Stallburschen kränkte, so ließ er es sich nicht anmerken. Matts wegen sprachen sie nicht mit ihm.
Ein kurzer, scharfer Stich durchzuckte Dathne. Wenn sie doch nur nicht die Fassung verloren hätte. Wenn Matt doch nur Ruhe bewahrt hätte. Wenn Asher noch ein Weilchen fort geblieben wäre, statt unerwartet zurückzukehren und sie mitten in einem Streit vorzufinden.
Sie hatte Veira noch nichts davon erzählt, denn sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihren Mangel an Urteilsvermögen zu enthüllen.
Ich bin die Erbin. Ich hätte es besser wissen sollen.
Aber es war geschehen und zu spät, um es ungeschehen zu machen. Matt war noch nicht in die Waldigen Täler aufgebrochen, so viel wusste sie. Seine Empfehlungsschreiben lagen noch immer auf Darrans Schreibtisch. Sie würde noch einen weiteren Tag warten und ihn dann aufsuchen. Gebrochene Zäune flicken. Ihn dazu bewegen, noch länger in der Stadt zu bleiben, während sie Asher vorsichtig die Idee schmackhaft machte, ihn in Dorana zu behalten. Er konnte nicht wirklich glauben, dass Matt in sie verliebt war. Die Vorstellung war lächerlich. Das würde er selbst einsehen, sobald sich sein Ärger zur Gänze abgekühlt hatte. Er musste es einsehen.
Und die Prophezeiung würde ungehindert ihren Lauf nehmen, zu ihrer Zeit, wie immer.
Während die Dienstboten sich plappernd zerstreuten, sagte Darran: »Die Kutsche erwartet Euch an der Vordertreppe. Willer und ich werden Euch in die Halle der Gerechtigkeit begleiten.«
Asher starrte ihn an. »Ich brauche Euch dort nicht.«
»Trotzdem.« Darran lächelte. »Wir nehmen an der Versammlung teil.« »Schön«, erwiderte Asher. »Aber bildet Euch nicht ein, dass ich anschließend still dasitze und Eure Kritik über mich ergehen lasse.« Dann sah er Dathne an und streckte die Hand aus. »Kommst du?« Damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich?«
»Um die Dinge zu besprechen, die sich in letzter Minute ergeben haben.« Seine Stimme und sein Gesicht verrieten nichts als geziemende Höflichkeit, aber seine Augen versprachen etwas anderes. Ihr Blut wurde zu Honig, warm und sinnlich. Ohne auf Willers eifersüchtig funkelnden Blick und Darrans onkelhaft geziertes Gehabe zu achten, heuchelte sie Langeweile und schob Ashers ausgestreckte Hand fort. »Also gut. Wenn du darauf bestehst.« Dann marschierte sie ohne ihn auf die Eingangstüren zu.
Er folgte ihr lachend.
Während die Kutsche die Einfahrt hinunterrollte, zog Asher die Vorhänge fest zu und raubte ihr mit einem Kuss den Atem. Sie ließ ihn noch einen weiteren Kuss stehlen, dann löste sie sich von ihm und riss die Vorhänge auf. Die Kutsche hatte soeben die Haupttore des Palastes hinter sich gelassen und fuhr die lange Straße zum Zentrum der Stadt hinab.
»Heh!«, protestierte er.
»Für Tändeleien wird später noch Zeit genug sein«, sagte sie streng. »Jetzt schau aus dieser Kutsche und sag mir dann noch einmal, dass die Vorhänge geschlossen bleiben sollen!«
»Hol's der Kuckuck«, sagte Asher voller Ehrfurcht und betrachtete die Gehsteige, an denen sie vorbeikamen. »Was glauben sie, tun sie da?«
Es sah so aus, als gäbe es keinen Olk in der Stadt, sei es Mann, Frau oder Kind, der sich nicht auf den Gehsteigen eingefunden hätte, um ihn vorbeifahren zu sehen. Die Menschen riefen und winkten. Alle jungen Mädchen schwenkten Blumen. Dathne beugte sich an ihm vorbei, um die Fensterscheibe herunterzukurbeln, und der Jubel der Menge ergoss sich wie ein Wasserfall in die Kutsche.
»Asher! Asher! Asher!«
»Sitz nicht einfach nur da«, schalt sie ihn lachend. »Wink ihnen zu. Sie sind dein Volk, sie sind stolz auf dich. Zum ersten Mal seit dem Kommen der Doranen sehen wir einen der unseren auf dem Gipfel der Macht.«
»Habe ich gesagt, dass ich auf einem verdammten Gipfel sein will?«, erwiderte Asher finster. »Barl stehe mir bei!«
Sie beobachtete, wie er sich zum Fenster vorbeugte. Hörte die brüllende Menge bei seinem Anblick noch lauter brüllen. Und wusste, dass dies recht war, spürte es bis in die Knochen, eine mächtige Regung etwa wie die, die sie an diesem Morgen – der ein ganzes Leben zurückzuliegen schien – verspürt hatte, als sie mit dem Wissen erwacht war, dass er endlich in ihrer Reichweite war. Die Bande von Blut und Magie, die sie zu Jervales Erbin machten, frohlockten.
Die Olken, die nur wenige Schritte von ihrer Kutsche entfernt auf der Straße standen, schrien und lachten und riefen seinen Namen; sie himmelten Asher an, weil er ihr Tribun war. Wie viel mehr würden sie jubeln, wenn er sich als ihr Unschuldiger Magier offenbarte?
Plötzlich kümmerte es sie nicht mehr, dass sie nicht vorhersehen konnte, wie das geschehen würde. Es kümmerte sie nicht mehr, dass die Träume und Visionen in letzter Zeit ausgeblieben waren. Ihr verzweifeltes Verlangen nach Wissen war erstorben. Es genügte, dass sie hier war, an seiner Seite; in einer königlichen Kutsche, die auf dem Weg zur Halle der Gerechtigkeit war, wo er auf dem Stuhl des Rechtgebers Platz nehmen und feierlich Recht sprechen würde. Es genügte zu wissen, dass sie das Ihre getan hatte, um ihn zu diesem Ort zu führen, zu dieser Zeit, da die Welt am Rande großer Veränderungen zitterte. Es genügte, dass er ihr Mann war und sie seine Frau.
Wenn Matt hier gewesen wäre, hätte er eine Jammermiene aufgesetzt. Hätte die Stirn gerunzelt und sich gesorgt, dass hinter der Prophezeiung mehr stecke als nur die Tatsache, dass es einen Unschuldigen Magier gab. Er würde sie auch an mögliche Gefahren erinnern. Dass Asher geboren war, um sich einer Furcht erregenden Dunkelheit zu stellen. Dass die Prophezeiung sich sehr vage über das Was ausdrückte, über das Wer oder das Wie, und dass sie vielleicht lieber daran denken solle.
Sie war es müde, daran zu denken. Sie hatte so viele Jahre ihres Lebens darüber nachgedacht, und was hatte es ihr eingetragen? Schlaflose Nächte und einen Bauch voller Furcht. Eine kleine, schäbige Wohnung über einem Laden voller Bücher und niemanden, der das Bett mit ihr teilte.
Asher war hier. Das Kind der Prophezeiung. Schon bald würde er ihr seine letzten Geheimnisse anvertrauen, weil er sie liebte. Weil er ihr vertraute. Es war so bestimmt. Die Prophezeiung entfaltete sich, und sie würden ihr gehorchen. Asher griff nach ihrer Hand und riss sie aus ihrem Tagtraum. »Pellen hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es einen Aufruhr geben würde, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Jetzt schulde ich ihm ein Bier, dem Bastard.« Er lachte. »Da draußen sind sogar Doranen! Sie sind gekommen, um mich zu sehen! Was hätte mein Pa wohl gesagt, wenn er das erlebt hätte?«
Sie hob seine Finger tollkühn an die Lippen. »Er würde sagen, dass er stolz auf dich ist«, flüsterte sie. »So wie ich stolz auf dich bin.«
Die Kutsche holperte weiter.
»Es tut mir so leid, Eure Majestät«, sagte Pother Nix unglücklich. »Ich habe so etwas schon früher erlebt, und weder ich noch irgendein anderer Pother können eine Erklärung dafür geben. Wenn ein Mann so schwer verletzt ist, entwickeln sich Dinge nicht mehr lehrbuchmäßig. Aus Gründen, die niemand kennt, hat Durms Körper den Kampf ums Überleben aufgegeben.«
Gar, der dicht neben dem Bett saß, rieb Durms kalte, schlaffe Finger; es war so, als hielte er ein Bündel Stöcke in Händen. »Und Ihr seid ganz sicher, dass Ihr nichts mehr tun könnt, um ihn zu retten?«
»Herr, wie ich Euch gestern Abend erklärt habe, ich habe ihm jedes Kraut unter der Sonne verabreicht, in mehr Mischungen, als ich es je für möglich gehalten hätte«, antwortete Nix. »Und ich habe meinen Vorrat an Heilzaubern und Beschwörungen restlos erschöpft. Bedauerlicherweise haben sich Meistermagier Durms Verletzungen trotz all seiner ehrfurchtgebietenden Fähigkeiten als zu groß erwiesen, um sie zu überleben.«
Gar betrachtete Durms eingefallenes Gesicht. Betrachtete die würdelosen Falten leerer Haut, die von vorspringenden Wangenknochen herabhingen, die dünnen, ausgetrockneten Lippen, das herabhängende Doppelkinn. Durm war nie ein gut aussehender Mann gewesen, aber sein Gesicht hatte von Macht gezeugt. Von ei– ner unverhohlenen Brutalität des Charakters. Jetzt war keine Regung mehr in seinen Zügen zu erkennen, und man konnte nur noch mit Mühe den Mann erahnen, der er einst gewesen war.
»Wie lange hat er noch, könnt Ihr das sagen?«
Nix breitete die Hände aus. »Nein, Herr. Er ist in Barls Obhut.«
»Wird er vor dem Ende noch einmal aufwachen?« »Vielleicht. Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, Eure Majestät.«
Gar nagte an seiner Unterlippe. An dieser Stelle konnten die Dinge eine Spur… schwierig werden. »Nix, ich muss offen sprechen. Ich benötige dringend Durms Rat, bevor er stirbt. Da wäre zum einen die Frage, wen er sich als Nachfolger wünscht, außerdem andere Dinge, über die zu reden mir nicht freisteht. Gibt es eine Möglichkeit… sein Erwachen zu fördern? Irgendwelche anregenden Kräuter oder Beschwörungen, die Ihr einsetzen könnt und die ihn so weit ins Bewusstsein zurückholen, dass er sprechen kann?«
Nix sog scharf die Luft ein, ein Geräusch, das in dem stillen Raum überlaut klang. »Eure Majestät! Mit einem solchen Eingreifen würde ich gegen alles verstoßen…«
»Nix!« Der Pother zuckte zusammen. Gar ließ Durms leblose Hand fallen und stand auf. »Ich bringe Eurer Berufung den größten Respekt entgegen, das wisst Ihr. Aber ich bin König eines neugierigen Landes. Eines Landes, dessen Gleichgewicht vielleicht heikler ist, als es irgendein Mensch ahnen kann. Wenn diese vergangenen Wochen mich etwas über die Königswürde gelehrt haben, dann dies: Kein Opfer ist so groß, dass man es nicht bringen kann. Kein Prinzip zu heilig, als dass man es nicht zum Wohle des größeren Ganzen verletzen könnte. Ich habe gelernt, dass es auf der einen Seite Theorie gibt und auf der anderen Praxis, und ein König, der pragmatische Erwägungen nicht über alle anderen Tugenden stellen kann, ist ein König, der seiner Krone nicht würdig ist. Ich muss mit Durm sprechen. Könnt Ihr das möglich machen?«
Im Raum war es kühl, aber dennoch rann eine Schweißperle über Nix' Wange. In seinen Zügen offenbarte sich ein schrecklicher Kampf. »Eure Majestät, ich… ich kann es versuchen. Wenn Ihr mir bei dem Heiligsten, das Ihr kennt, schwören könnt, dass es wahrhaft keinen anderen Weg gibt.«
»Dann werde ich es schwören, bei den verstummten Herzen meiner Familie.« Nix sackte in sich zusammen, und ein tiefer, klagender Seufzer entrang sich ihm. »Es gibt eine Kräuterpaste, die das erwünschte Ergebnis erwirken sollte. Ich werde einen Moment brauchen, um sie zuzubereiten.«
»Dann geht«, sagte Gar und nahm wieder Platz. »Durm und ich werden warten.« Nix verließ den Raum, und die Tür fiel leise hinter ihm zu. Gar ergriff abermals Durms Hand und drückte sie. »Ich weiß, dass Ihr damit einverstanden seid«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Mein Leben lang hat Euch meine Weichlichkeit zur Verzweiflung gebracht. Meine große Verletzbarkeit. Ihr solltet jetzt stolz auf mich sein, alter Freund, alter Feind. Denn was könnte skrupelloser sein als der Vorsatz, einen Sterbenden vom Abgrund des Todes zu– rückzureißen?«
Einzig das kaum merkliche Heben und Senken von Durms Brust bezeugte sein schwaches Festhalten am Leben. Nicht einmal mit einem Flackern seiner Lider verriet er, ob er hören oder spüren konnte, dass jemand an seiner Seite war. Gar ließ die Hand des Sterbenden los und drückte sich die Fingerspitzen auf die Augen.
Sein Kopf schmerzte. Er schmerzte neuerdings immer. Sein Kopf… sein Herz… Hinter ihm wurde die Tür des Raums wieder geöffnet und kurz darauf geschlossen. Nix kam herbeigetappt, einen kleinen Mörser in der Hand. Ein beißender Geruch, so scharf wie die Tiefen des Winters und so schneidend wie Rauch verbrannte die Luft.
»Ich wage es nicht, zu viel davon zu benutzen«, sagte Nix vorsichtig, während er eine kleine Menge des Stärkungsmittels auf die Spitze eines winzigen Holzspatels gab und die Paste unter Durms linkes Nasenloch strich. »Ich wünschte, ich würde nicht wagen, es überhaupt zu benutzen.« Er warf einen flackernden Blick über die Schulter, und Gar konnte die Sorge darin lesen. Die Wut. Die Bitternis der Notwendigkeit.
»Ihr benutzt die Paste auf mein Geheiß«, erwiderte er sanft. »Euch trifft kein Tadel, Nix.«
»Wenn ich ein Messer in Eurer Faust wäre, vielleicht«, gab Nix zurück. Jetzt strich er noch mehr von der blauen Paste auf die Schleimhäute von Durms Lippen und Kiefer. »Aber ich bin Fleisch, nicht Stahl, und ich habe einen eigenen Willen und ein Gewissen, vor dem ich mich verantworten muss.« Er zögerte. »Belastet es nicht mehr als notwendig, Eure Majestät.«
Gar musterte ihn mit kaltem Blick. »Seid versichert, Königlicher Pother, wie immer Eure Lasten auch beschaffen sein mögen, sie sind winzig im Vergleich zu meinen.«
Solchermaßen zurechtgewiesen, senkte Nix für einen Moment den Blick, dann sah er wieder auf. »Wenn das Stärkungsmittel überhaupt funktioniert, und ich kann nicht dafür garantieren, dass es das tun wird, werdet Ihr in den nächsten Minuten eine Veränderung bemerken. Wenn er tatsächlich wach wird, dann stellt Eure Fragen um der Barmherzigkeit willen schnell, drängt ihn nicht weiter, als er zu gehen vermag, und erlöst ihn, sobald Ihr könnt.«
»Das werde ich tun«, versprach er. »Geht jetzt. Verriegelt die Tür hinter Euch und versiegelt den Raum gegen jedwede Geräusche.« Als er die Überraschung in Nix' Augen bemerkte, fügte er hinzu: »Ich muss meine Kräfte für das Wettermachen schonen, und höchste Geheimhaltung ist unvermeidbar.« Nix verneigte sich. »Eure Majestät.« Mit einem letzten, ärztlich besorgten Blick auf Durm zog er sich zurück.
Es fühlte sich an, als seien Jahrhunderte vergangen, bevor Durm eine Reaktion auf Nix' stinkendes Gebräu zeigte. Seine flachen Atemzüge wurden tiefer, die Finger zuckten. Durms Kopf bewegte sich auf dem Kissen. Mit hämmerndem Herzen beugte Gar sich vor.
»Durm«, flüsterte er. »Durm, könnt Ihr mich hören?«
Ein schwaches Stöhnen, kaum mehr als ein Seufzen. Die Andeutung eines Stirnrunzelns auf dem vernarbten Gesicht. Ein Speichelfaden, der aus seinem Mundwinkel quoll. Unter den durchscheinenden Lidern zuckten die Augäpfel hin und her.
»Durm«, flüsterte er wieder, beharrlicher diesmal. »Bitte.«
Jetzt wurde aus dem stöhnenden Seufzen ein Ächzen, und Durms Brust hob und senkte sich heftiger. In seinem formlosen Gesicht stieg das Echo der Persönlichkeit an die Oberfläche, die in seinem sterbenden Körper beherbergt war. Ein Keuchen. Ein ersticktes Schnauben. Blauer, blasiger Schleim sickerte aus seinem Nasenloch und über seine leicht geöffneten Lippen.
»Durm!«
Durms Lider hoben sich kaum merklich. »Gar…«
Er zog den Sessel näher heran und beugte sich vor, bis seine Lippen beinahe Durms Ohr berührten. Die Frage, die zu stellen er hergekommen war, lag ihm auf der Zunge.
Stattdessen fragte er etwas anderes, denn es war unmöglich, nicht danach zu fragen. Er würde niemals eine zweite Chance bekommen. Wenn Durm starb, würde seine letzte Hoffnung auf Genesung mit ihm sterben, die letzte Hoffnung, sein Königreich zu behalten.
»Meine Magie hat mich verlassen, Durm. Gibt es eine Heilung? Eine Antwort in Eurer Bibliothek oder in der Barls? Kennt Ihr einen Weg, mich zu retten?« Mit einem schnarrenden Flüstern antwortete Durm: »Nein.«
Das Wort war wie ein Schwert, das man ihm in die Seite rammte. Gar stockte der Atem, ihm brannten die Augen. »Seid Ihr Euch sicher?«
»Keine Heilung.«
»Wen kann ich dann statt Conroyds krönen? Ich brauche einen anderen Erben!« Durm hustete abermals, und seine Züge verzogen sich zu einer geisterhaften Fratze. Sein Bett begann schwach zu zittern, ein Echo des größeren Bebens, das jetzt seine Glieder schüttelte. Er öffnete den Mund und schrie.
»Nein!«, rief Gar und sprang auf, um Durms Schultern auf die Matratze zu drücken. »Noch nicht! Haltet durch, Durm! Ich brauche Euch!«
Ein weiterer gurgelnder Schrei.
Er hielt Durms wild hin und her schlagenden Kopf fest und zwang die von Wahnsinn getrübten Augen, in die seinen zu blicken, während der verwüstete Leib des besten Freundes seines Vaters sich zuckend zur Wehr setzte. »Helft mir, Durm! Helft mir!«
»Das Tagebuch!«, rief Durm, der sich unter seinen Decken aufbäumte. »Barls Tagebuch! Eure einzige Hoffnung!«
Mit rasendem Herzen beugte er sich noch weiter vor, als wolle er den Sterbenden mit Gewalt dazu zwingen, ihn zu hören. »Barl hat ein Tagebuch hinterlassen? Wann? Wo? Habt Ihr es? Durm!«
Ein schrecklicher Krampf schüttelte den Meistermagier. Blauer Schaum quoll zwischen seinen Lippen hindurch, und seine Augen verdrehten sich. Keuchend und verzweifelt zog Gar den bebenden Mann an sich.
»Habt Ihr meinem Vater davon erzählt? Habt Ihr es ihm gegeben?« Ein Grauen erregendes Geräusch war seine Antwort. Durm lachte. Vergeudete den letzten Rest seines Lebens. »Er weiß es nicht… Ich habe es versteckt…« »Oh, Durm… Durm!« Ob er nun im Sterben lag oder nicht, Gar hätte ihn erwürgen mögen. »Wo ist es jetzt? Wo werde ich es finden? Warum ist es unsere einzige Hoffnung? Hoffnung worauf? Für mich? Kann es mir meine Magie zurückgeben?«
Ein schwacher Atemzug kitzelte seine Haut. In seinem Ohr erklang ein kaum wahrnehmbares Flüstern. »Conroyd… hütet Euch vor Conroyd…« Die Krämpfe verebbten. Er ließ Durm sachte auf die Matratze und die Kissen sinken und blickte in das wächserne Gesicht. »Ich weiß«, sagte er bekümmert. »Ich bin auf der Hut. Durm, wo ist das Tagebuch?«
Ausgezehrt und leer öffnete Durm die blau befleckten Lippen. »Borne… verzeiht mir. Ich konnte ihn nicht aufhalten…«
Er umfasste mit einer Hand Durms fleischloses Gesicht. »Euch ist verziehen. Durm, wo habt Ihr das Tagebuch versteckt?«
Aber es war sinnlos, und er wusste es. Er weinte verzweifelt, während Durms Brust rasselte wie ein Kinderspielzeug. Das Licht hinter den halb geschlossenen Augen schwand. Tränen stiegen darin auf. Nur wenige Augenblicke später wichen die letzten Reste von Farbe aus Durms Wangen, sodass sie wie lebendes Pergament aussahen, und seine Lider schlossen sich zur Gänze. Was immer Nix' Stärkungsmittel ihm an Kraft verliehen hatte, schwand schnell dahin. »Macht Euch keine Sorgen, Durm«, sagte Gar sanft. »Es ist alles gut. Geht in Frieden, und möge Barls große Gnade mit Euch sein.«
Ein dunkler Schatten huschte über Durms wächserne Züge. »Barl«, murmelte er. »Das Miststück, die Schlampe, die verräterische Hure.« Seine Lider flatterten. Hoben sich. Offenbarten verwirrte, bewölkte Augen. Das Rasseln war jetzt in seiner Kehle; ein unheilverkündendes Omen. »Gar…«
Der Schrei eines Schmetterlings wäre lauter gewesen.
»Seht«, flüsterte er. »Ich bin hier. Ich bin bei Euch.«
Die starke Persönlichkeit hinter Durms Augen war zur Gänze besiegt. »Vergebt mir…«
Er küsste Durms kalte, klebrige Stirn. »Es ist alles verziehen.«
Ein weiterer rasselnder Atemzug. Eine lange Pause.
Dann nichts.
Gar rief Nix herein. »Er ist tot. Tut, was notwendig ist, aber gebt sein Dahinscheiden nicht öffentlich bekannt. Schwört Euer Personal unter Androhung von schweren Strafen auf strikte Geheimhaltung ein. Ich werde diese Katastrophe verkünden, wenn ich es für richtig halte.«
Nix verneigte sich mit erstarrter Miene. »Ja, Eure Majestät. Wenn ich fragen darf – habt Ihr bekommend ras Ihr brauchtet, bevor …«
»Nein«, antwortete er nach einem kurzen Zögern. »Nein, ich habe es nicht bekommen.«
Draußen war es kühl und sonnig, geradeso, wie Asher es gewirkt hatte. In den Bäumen pfiffen scharlachrote Finken. Eichhörnchen huschten von einem Ast zum anderen. Die Mauer ragte sauber und hell und golden in den wolkenlosen Himmel auf.
Vorsichtig, immer einen Schritt vor den anderen setzend, kehrte er zum Turm zurück. Asher brauchte den neuen Wetterplan. Das zumindest konnte er tun. Und wenn es getan war, würde er sich auf die Suche nach Barls Tagebuch machen – was immer es ihnen nutzen konnte.
Lady Marnagh stürzte sich auf Asher, sobald er durch die hinteren Türen der Halle der Gerechtigkeit trat. Während in seinen Ohren noch die ekstatischen Schreie der Menge klangen – Asher! Asher! Asher! – und seine Lippen von Dathnes letztem, schnellem Kuss prickelten, tauchte er in die dunkle Stille der Halle ein wie ein Verdurstender, der Wasser fand.
Lady Marnagh geleitete ihn zu der privaten, abgeschirmten Galerie des Rechtgebers. Dann legte sie ihm die dunkelrote Robe seines Amtes um und setzte ihm die Krone des Rechtgebers fest auf den Kopf.
Anschließend führte sie ihn auf die magische Plattform, die ihn in den Wahnsinn hinabtragen würde, der unter ihm wartete. Sobald seine glänzenden, schwarzen Stiefel sichtbar wurden, brandete der rastlose Ozean von Geräuschen, der die Halle füllte, zu einer neuen Wöge des Jubels auf. »Gelobt sei Barl« und »Gesegnet sei unser Tribun« – diese und ähnliche Rufe umwehten ihn, während die Plattform sich senkte.
Er schlug die Augen auf, und einen Herzschlag lang ließ er den Mund offen stehen. Die Halle war zum Bersten gefüllt. Größtenteils waren es Olken, aber auch einige Doranen fanden sich in der Menge. Darunter der verfluchte Conroyd Jarralt, der höchstwahrscheinlich hoffte, dass ihm ein schrecklicher Fehler unterlaufen würde. Olkische Mitglieder des Großrats. Conroyd Jarralts Kumpane – Daltrie, Sorvold, Hafar und Boqur –, die in jener Nacht bei Salberts Horst bei ihm gewesen waren. Selbst Holze war da. Der Geistliche sah seine Verblüffung und lächelte, einen wachsamen, zweideutigen Ausdruck in den Augen.
Dathne hatte sich zwischen Darran und Willer in eine der vorderen Bänke gezwängt. Sie winkte ihm zu, eine kleine, zurückhaltende Geste.
Er kämpfte gegen die Versuchung zurückzuwinken.
Dort war der elende Indigo Glospottle, der Verursacher all dieses Ungemachs, ein langer, dünner Strahl Pisse. Auch sein Gesicht hatte die Farbe von Pisse, als sei ihm endlich, endlich klar geworden, was er ihnen allen eingebrockt hatte. Auf der anderen Seite des Gangs saß der Meister der Färbergilde, rotgesichtig und aufgeschwemmt von Entschlossenheit, und auch er wirkte keineswegs glücklich darüber, hier zu sein.
Das würde ihn lehren, nicht so habgierig zu sein.
Unter den eifrigen olkischen Gesichtern fanden sich Dutzende weitere, die er erkannte. Cluny und die übrigen Hausangestellten aus dem Turm. Einige der Palastangestellten, die er langsam kennenlernte. Pellen Orrick, der grinste wie ein Schwachsinniger, der Bastard; er ließ die Augenbrauen zucken, als sei dies alles komisch. Männer aus dem Wachhaus, die dienstfrei hatten und Schulter an Schulter dastanden, um ihren alten Zechkumpan zu beobachten, wie er sich zum Narren machte. Gildemeister und Meisterinnen, unter ihnen einige, die er vor den Kopf gestoßen hatte, und andere, die lediglich leicht verärgert waren. Doch es waren auch viele darunter, die ihn als Freund betrachteten. Schankmann Derrig und seine Töchter. Menschen, die ihm auf der Straße zulächelten, Men– schen, denen er nie begegnet war, die ihn jedoch kannten, weil er der Tribun für Olkische Angelegenheiten war und eine wichtige Persönlichkeit.
Matt war natürlich nicht da. Das bedauerte er. Ebenso wie er es bedauerte, die Fassung verloren zu haben. Aber das würde er bald wieder in Ordnung bringen. Wenn nötig würde er dazu den ganzen Weg bis hinunter zu den Tälern reiten. Lange Phasen des Schweigens konnten schnell zu Katastrophen führen… und ein Jed war genug für ein ganzes Leben. Die Plattform hielt an, und er wurde jäh aus seinen Erinnerungen gerissen. Der Aufruhr, mit dem die Menschen ihn willkommen hießen, schwoll an und vibrierte in seinen Knochen. Er hätte beinahe den Schwanz eingezogen und die Flucht ergriffen. Aber dann sah er Lady Marnagh an ihrem Tisch, die ihm, hinter einer höflichen Maske verborgen, dolchscharfe Blicke zuwarf. Sie konnte offen– sichtlich seine Gedanken lesen. Er holte tief Luft, dann trat er auf das Podest des Rechtgebers. Setzte sich auf den Stuhl des Rechtgebers und schlug dreimal die goldene Glocke des Rechtgebers.
Ebenso gut hätte er gegen den Wind pissen können.
Also stand er auf und hob die Arme, um Schweigen zu gebieten. Sein olkisches Publikum schrie nur umso lauter. Er wedelte mit den Armen, wobei er sich brennend der Anwesenheit von Conroyd Jarralt und Barlsmann Holze bewusst war, der Anwesenheit der doranischen Mitglieder des Großrats. Ohne es zu wollen, stellte er sich vor, wie dieses Spektakel auf sie wirken mochte und wie leicht sie es an Gar auslassen konnten. An ihm. An den Olken im Allgemeinen. Er blickte zu dem nächststehenden Wachposten und zog eine Grimasse. Jolin verkniff sich ein Grinsen und klopfte warnend mit seiner Pike auf den gekachelten Boden. Die anderen Wachposten taten es ihm nach.
Seine olkischen Bewunderer, der Kuckuck hole sie, ignorierten sein Verlangen nach Schweigen.
Mit einem tiefen Atemzug und hämmerndem Herzen sprang er auf den rotsamtenen Sitz des Rechtgebers. »Verdammt und zugenäht!«, brüllte er. Die mit Magie durchtränkte Akustik verstärkte den Ruf, sodass seine Stimme scharf in jedes Ohr drang. »Würdet ihr, verflucht noch mal, still sein?«
Gelächter. Das eine oder andere erschrockene Aufkeuchen. Nachgeschobene Rufe – »Gepriesen sei Barl« und »Heil Asher«. Dann senkte sich widerstrebend Stille über den Saal.
Asher sprang leichtfüßig von dem Stuhl herunter. »Also gut.« Er zupfte an dem Wams unter seiner roten Samtrobe. »Nachdem das geregelt wäre, lasst uns zur Sache kommen.«
Indigo Glospottle ergriff als Erster das Wort. Obwohl die Mehrheit der Menschen in der Stadt mittlerweile die wesentlichen Punkte seiner Klage kennen musste – eingedenk des Umstands, dass seine Zunge kaum jemals still stand –, hingen die Olken im Publikum dennoch an seinen Lippen, als säßen sie im Theater, nicht in der Halle der Gerechtigkeit, und als sei dies eine großartige, prächtige Darbietung eigens zu ihrer Erheiterung.
Asher, der ein Grinsen unterdrücken musste, vermutete, dass es in vieler Hinsicht tatsächlich so war. Der mit rotem Samt beschlagene Stuhl war bequem. Er lehnte sich zurück, das Kinn auf eine Hand gestützt, und versuchte, so auszusehen, als seien Glospottles Tiraden aufregende Neuigkeiten für ihn. Zu guter Letzt, nach viel Gewese und Herumgefuchtel mit den Händen, näherte sich Glospottles Geschichte, welches Unrecht man ihm doch getan und wie man ihn drangsaliert habe, zögernd dem Ende. Was bedeutete, dass Gildemeister Roddle sich gewichtig erhob und genau das Gegenteil geltend machte. Zehn Minuten später hatte Asher genug von dem Gefasel des übertrieben elegant gekleideten Färbers. Er hob warnend die Hand. »Einen Moment. Nur… einen Moment. Mir scheint, diese ganze Geschichte verwandelt sich langsam in einen Igel.«
Roddle blinzelte. »Igel?«
»Ungemütlich stachelig«, erklärte er, während ein weiteres Raunen der Erheiterung durch die dicht besetzte Halle ging. Er ignorierte es. »Also, Meister Roddle…«
»Gildemeister Roddle.«
»Fürs Erste.« Asher bleckte die Zähne. »Vorausgesetzt, dass Ihr es Euch nicht zur Gewohnheit macht, mich zu unterbrechen. Ich habe die letzten beiden Tage damit zugebracht, die Regeln und Statuten Eurer Gilde zu lesen, ihre Ordnungen und verbrieften Artikel und was weiß ich nicht alles, und ich erinnere mich nicht daran, irgendwo erwähnt gefunden zu haben, dass neu ersonnene Techniken Eigentum der Gilde seien und nicht des Mannes oder der Frau, die sie erfunden haben.«
Roddle räusperte sich. »Die Tradition ist sehr alt, Herr«, entgegnete er steif. »Die entsprechende Änderung der ratifizierten Verfassung der Gilde ist jüngeren Datums.«
Asher kniff die Augen zusammen. »Wie jung?«
Roddles Gesicht nahm einen dunklen Purpurton an. »Von heute Morgen.« Die Zuschauer begannen miteinander zu tuscheln, während Indigo Glospottle aufsprang. »Das ist ungeheuerlich!«
»Haltet den Mund, Indigo!«, sagte Asher. »Ihr hattet bereits die Gelegenheit, Euren Standpunkt zu vertreten.« Indigo gab mit sichtlichem Unmut klein bei. »Von heute Morgen, wie?«, fuhr Asher fort. »Das riecht für mich nach Betrug, Roddle. Habt Ihr das riesengroße Schwert draußen vor dem Gebäude gesehen, als Ihr hereingekommen seid? Ihr erinnert Euch an Barls Meinung in Bezug auf Kleinigkeiten wie Betrug?«
»Wir betrügen nicht!«, beteuerte der Gildemeister. »Indigo Glospottle ist ein Dieb, Herr, er stiehlt von seinen Gildebrüdern, er…«
»Und Ihr könnt ebenfalls den Mund halten«, sagte Asher und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich schätze, ich habe alles gehört, was ich hören musste. Jetzt ist es an mir zu reden.« Aus den Augenwinkeln bemerkte er den Ausdruck auf Lady Marnaghs Gesicht, während sie pflichtschuldigst die magische Aufzeichnung des Verfahrens überwachte. Er vermutete, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn schlagen oder ihn umarmen sollte.
»Herr«, sagte Roddle schwach und nahm wieder Platz. Die Zuschauer hielten den Atem an und beugten sich vor.
Asher erhob sich, trat auf das Podest und begann in der Halle auf und ab zu gehen. Gegen alle Erwartungen unterhielt er sich bestens. »Unser Königreich ist ein Ort mit Regeln und Vorschriften. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir wahrscheinlich fast vergessen haben, wie viele Regeln es gibt. Regeln für die Ehe und für die Empfängnis von Kindern. Regeln für die Ausbildung und die Religion. Wo wir arbeiten, wie wir arbeiten, zu welchem Ziel wir arbeiten. Welche Aufgaben die Olken übernehmen und welche die Doranen. Wer Magie benutzt und wer es nicht tut.«
Seine Kehle wurde für einen Moment trocken, und er musste sich die Lippen befeuchten, bevor er weitersprechen konnte. Diese letzte Bemerkung hatte er eigentlich nicht machen wollen.
»Wie dem auch sei«, fuhr Asher fort. »Jede Menge Regeln. Und dann haben wir die Gilden. Die Gilden sind wichtig. Sie verschaffen vielen unserer Regeln Geltung. Sie tragen zum reibungslosen Ablauf der Dinge in diesem Königreich geradeso bei, wie es nur je ein Wettermacher getan hat. Ohne die Gilden, die uns alle zusammenhalten, könnten wir in ein ziemlich schmutziges Chaos verfallen.« Ein Raunen aus dem Publikum. Jarralt und seine Kumpane tauschten Blicke. Holze nickte zustimmend. Pellen Orrick verfolgte das Geschehen mit hochgezogenen Brauen und kaltem Blick.
»Und seit sehr, sehr langer Zeit«, fuhr Asher fort, während er immer noch auf und ab ging, »hat sich hier nicht viel verändert. Die Art, wie wir Bier brauen. Wie wir Kühe melken. Wie wir Baumwolle und Streichwolle gewinnen. Wie wir Trauben ernten und Pferde züchten. Ich schätze, wenn man die Uhr um hundert oder zweihundert Jahre zurückdrehen würde, würde niemand den Unterschied bemerken.« Jetzt blieb er stehen, direkt vor Indigo Glospottle, der wie gebannt zuhörte, und schüttelte den Kopf. »Aber dann kommt plötzlich ein Mann mit einer Idee daher. Einer Idee für ein blaueres Blau und röteres Rot, und kaum dass man sich versieht, kippt der Apfelkarren um und alle schönen Äpfel rollen auf die Straße. Und ich soll sie nun wieder aufheben, ohne dass auch nur einer einen Flecken zurückbehält.« Er schaute auf und ließ den Blick über seine Zuhörer wandern. »Tut mir leid, Leute. Das wird nicht geschehen. Niemand wirft einen Apfelkarren um, ohne dass einige Äpfel dabei verdorben werden.« »Also gut!«, erklang eine laute Stimme aus dem Gedränge. »Was werdet Ihr dagegen unternehmen?«
Asher grinste. »Nun, ich bin froh, dass Ihr mir diese Frage gestellt habt, Willim Bantry, und das macht drei Trin für die Barlsschatulle, weil Ihr das Wort ergriffen habt, ohne dass man Euch dazu aufgefordert hat.«
Gelächter brandete auf.
Ashers Grinsen wurde breiter. »Also. Gildemeister Roddle will, dass das Geheimnis für Indigo Glospottles überlegenes Pissrezept wahllos jedem Gildemitglied überantwortet wird, auch wenn sie nichts getan haben, um das Geld zu verdienen, das diese Methode ihnen eintragen wird. Und Indigo Glospottle will sein geheimes Pissrezept geheim halten und ganz allein reich davon werden. Und wenn sie ihm das nicht erlauben, will er die Gilde verlassen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Nun, das kann ich nicht gestat– ten. Die Gilden geben uns Stärke. Ich werde sie nicht schwächen, Indigo, indem ich Euch erlaube, im Alleingang die Autorität der Färbergilde zu unterlaufen.« Glospottle zog einen Schmollmund.
»Aber«, fügte er mit einem brennenden Blick in Roddles Richtung hinzu, »ich werde mich auch nicht zurücklehnen und Däumchen drehen, während Ihr Euch an der Erfindung eines anderen bereichert. Hört also mein Urteil. Indigo gibt der Gilde sein geheimes Pisserezept, und für jeden Ballen verkauften Stoffs, der nach diesem Rezept gefärbt wurde, führt die Gilde eine gewisse Summe an Indigo ab. Fünf Trin scheinen mir in etwa angebracht zu sein.«
Während Indigo Glospottle in aufgeregtes Gelächter ausbrach, erhob sich Gildemeister Roddle und rief: »Ich erhebe Einspruch, Herr! Ich erhebe Einspruch!«
»Ihr werdet keinen Einspruch erheben, Ihr verdammter Jammerlappen!«, brüllte Asher und trat auf ihn zu. »Wenn Ihr Euch an die ursprüngliche Vereinbarung gehalten hättet, dass Indigo sein Geheimnis für sich behalten dürfe und der Gilde den Zehnten für jeden Verkauf zahlt, wären wir jetzt nicht hier! Aber Ihr wart nicht damit einverstanden, und wir sind hier, und ich habe mein Urteil gesprochen! Also, geht mir aus den Augen, bevor ich Euch einen Tritt in Euren runden Arsch verpasse und zwinge, einen ganzen Liter von Glospottles verdammtem geheimem Pissrezept zu trinken! Heiß!«
Unmittelbar darauf endete die Anhörung inmitten von reichlich Verwirrung, Jubel und Zuspruch.
Dathne, deren Rippen noch immer vor Lachen schmerzten, blieb im hinteren Teil der Halle der Gerechtigkeit zurück und wartete auf Asher. Eine halbe Stunde nach seiner Aufsehen erregenden Beendigung des Prozesses war er noch immer nicht entronnen. Gildemeister Roddle war, unterstützt von einem Schwärm Gildemitgliedern, aschfahl und wutschnaubend herausgekommen, nachdem er die Papiere unterzeichnet hatte, die den Urteilsspruch zu einem Teil des Gesetzes machten. Auch Indigo Glospottle war herausgekommen und hatte sie, weinend vor Erleichterung, umarmt.
Pellen Orrick hatte sie im Vorbeigehen mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen. Seine hochgezogenen Augenbrauen sprachen Bände.
Endlich erschien auch Asher. Er war allein, und als er sie sah, lächelte er. »Bring mich weg von hier, Frau«, sagte er matt und ließ sich von ihr in die kleine, anonyme Mietkutsche verfrachten, deren Fahrer sie dafür bezahlt hatte, vor der Halle der Gerechtigkeit zu warten. Die offizielle Kutsche hatte sie mit einer Münze für den Kutscher und einem verschwörerischen Lächeln weggeschickt. »Du Narr«, sagte sie und küsste ihn. »Ich wage nicht, mir vorzustellen, was du dir als Nächstes einfallen lassen wirst.«
Sie fuhren in ihre Wohnung über der Buchhandlung und beobachteten vom Dach aus den Sonnenuntergang. Als sie Hunger bekamen, holte sie sich aus Meister Hays Esslokal unten an der Straße gebratenes Huhn, gebackene Kartoffeln und saftige, süße Honigkuchen, und sie ließen es sich schmecken, bis sie einen Schluckauf bekamen.
Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer. »Du weißt, dass ich nicht bleiben kann«, sagte er mit honigverschmierten Lippen. »Nicht die ganze Nacht«, stimmte sie ihm zu und küsste ihn sauber. »Aber für eine Weile.«
Sie fielen einander atemlos in die Arme, warfen sich auf das knarrende, alte Bett und ließen sich von ihrem Glück davontreiben. Anschließend schlief er ein, und sie setzte sich im Bett hin und beobachtete ihn staunend. Nach einer Weile nickte auch sie ein und erwachte erst, als etwas Kaltes, Federleichtes sie auf die Wange küsste. Es schneite.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, während sie sprachlos die wirbelnden Eisflocken beobachtete, die aus der duftigen, weißen Wolke unter ihrer Schlafzimmerdecke fielen. Asher lag mit fest geschlossenen Augen neben ihr im Bett und stöhnte. Unter seinen Wimpern quoll ein winziger Faden Blut hervor wie eine Träne.
Sie erstickte beinahe, so lange hielt sie den Atem an.
Es war schnell vorüber. Der Schnee hörte auf zu fallen, die duftige Wölke zerstreute sich. Er regte sich. Erschrocken schlüpfte sie neben ihn unter die Decken und tat so, als schlafe sie. Sie spürte, wie er sich erhob. Hörte das Rascheln von Seide und Leder, als er sich anzog. Als er mit warmen Lippen ihren Mund berührte, erbebte sie.
Und dann war er fort.
Allein und noch immer zitternd lag sie in ihrem Bett und wiegte sich wie ein Kind, zu verstört, um Erleichterung in Tränen zu finden. Sie hatte sich viele Dinge vorgestellt, aber nicht das.
Willer wandte sich, der Panik nahe, von den Papieren und Pergamenten auf Ashers Schreibpult ab und begann stattdessen, die Schubladen zu durchstöbern. Er musste heute Nacht belastende Beweise finden. Dies war das fünfte Mal, dass er in Ashers Arbeitsraum geschlichen war, und er durfte nicht noch einmal scheitern! Lord Jarralt verlor langsam die Geduld; nach der heutigen Anhörung Indigo Glospottle betreffend hatte es draußen vor der Halle der Gerechtigkeit harte Worte gegeben, und außerdem wurde die ganze Angelegenheit zunehmend gefährlich.
Nichts in der ersten Schublade. Oder in der zweiten. Was war mit der dritten…? Gerade als er nach der letzten Schublade griff, hörte er gedämpfte Stimmen. Ein Schlüssel drehte sich kratzend in der Tür. Er unterdrückte ein Aufkreischen, riss Lord Jarralts Lichtstein vom Schreibtisch und schlug ihn gegen das Holz, bis der winzige Funke erlosch. Mit zitternden Fingern schob er den Stein in die Tasche und machte gerade in dem Moment, als die Tür aufschwang, einen Satz hinüber zu dem Schreibtisch der rattengesichtigen Dathne. Mit hämmerndem Herzen und schweißüberströmt schlang er die Arme um den Kopf und wartete darauf, dass die Axt fiel. Ein Aufflackern von Glimmfeuer warf Schatten auf den Teppich und beleuchtete zwei Paar Beine.
»…außerordentliche Entdeckung«, sagte der König mit gedämpfter Stimme. »Ich kann kaum glauben, dass Durm es geheim gehalten hat. Wer weiß, was wir darin finden? Vielleicht ein Heilmittel…«
»Dann sucht weiter danach, verflucht, wenn Ihr es für so wichtig haltet!«, erwiderte Asher und stapfte über den Teppich zu seinem Schreibtisch. »Oder wendet Euch wieder der Lektüre von Durms Büchern zu. Ich habe es Euch schon einmal gesagt, ich brauche Euch dort nicht. Ich kann für eine Nacht auch allein zurechtkommen.«
»Nein, kannst du nicht«, gab der König zurück. »Es ist zu gefährlich.« Raschelnde Geräusche, als Asher die auf seinem Schreibtisch verstreuten Papiere durchsuchte. »Es ist jetzt nicht gefährlicher als in der vorletzten Nacht. Ich habe damals überlebt, ich werde auch heute überleben. Alles, was ich von Euch will, ist ein Ausweg aus dieser verdammten Geschichte! Ich möchte aus der Wetterkammer zurückkehren und Euch sagen hören: ›Das ist es, Asher. Das war das letzte Mal. Du brauchst nicht länger Wetter zu machen.‹«
In dem folgenden Schweigen stopfte Willer sich den Ärmel seines Mantels in den Mund, um einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken. Asher machte Wetter? Wie konnte das sein?
Der König sagte sehr leise: »Glaubst du nicht, ich wollte das nicht auch?« Ashers Antwort kam schnell und vernichtend. »Nun, der Wille allein genügt nicht, Gar. Das Stadium bloßen Willens haben wir lange hinter uns gelassen. Durm kann uns jetzt nicht mehr helfen, er ist tot. Ihr seid allein. Auf die eine oder andere Weise werdet Ihr es in Ordnung bringen, denn jeder Tag, der vorbeigeht, während Ihr Euch als König ausgebt und ich Blut pinkele, um es regnen und schneien zu lassen, ist ein weiterer Tag, an dem jemand die Wahrheit herausfinden könnte. Wie viele verfluchte Male müsst Ihr es noch hören? Ich kann nicht mehr lange so weitermachen!«
Willer hatte Angst, dass sie seinen Herzschlag hören würden, der in seiner Brust donnerte wie der Hammer eines Wahnsinnigen. Durm war tot? Wann? Wie? Sollte das etwa heißen, dass Asher ihn getötet hatte?
»Ich verspreche es«, erwiderte der König nach einer langen, angespannten Pause. »Du wirst nicht mehr lange so weitermachen müssen. Ich weiß genau wie du, dass dies aufhören muss.«
Das Klatschen einer Hand auf Holz war so laut, so unerwartet, dass Willer sich um ein Haar an der Unterkante von Dathnes Schreibtisch den Kopf angeschlagen hätte. »Seid Ihr sicher, dass Ihr den neuen Wetterplan hier drin gelassen habt?« »Ich habe ihn selbst auf deinen Schreibtisch gelegt«, antwortete der König. »Lass mich mal sehen.« Ein weiteres Rascheln von Papier und Pergament. »Hier ist er. Du hast ihn unter deinen Notizen für Glospottles Anhörung begraben.« »Nein, habe ich nicht! Ich bin gar nicht… Ach, egal!«, sagte Asher, und Willer stieß einen Seufzer lautloser Furcht aus. »Der verdammte Darran hat wahrscheinlich hier herumgeschnüffelt, während Dathne ihm den Rücken zukehrte. Also, Ihr seid Euch sicher, dass Ihr es richtig gemacht habt? Ich werde nicht Schnee dorthin schicken, wo Regen sein sollte, und Eis, wo man Schnee erwartet?«
»Es hat alles seine Richtigkeit«, sagte der König. »Ich mag meine Magie verloren haben, aber ich kann immer noch lesen und zählen.«
Einen Moment lang dachte Willer, dass er in Ohnmacht fallen würde. Der König hatte seine Magie verloren?
»Freut mich, das zu hören«, erwiderte Asher. »Jetzt kehrt zu Euren Büchern zurück, und ich werde mich um diese Angelegenheit hier kümmern.«
»Also gut«, sagte der König widerstrebend. »Aber um Barls willen, sei vorsichtig. Überanstrenge dich nicht. Und trink unbedingt anschließend Nix Trank.« »Nörgel, Nörgel, Nörgel«, sagte Asher unfreundlich. Oh, er war ein so unhöflicher Mann…
Als Nächstes hörte man das Geräusch von Pergament, das zusammengerollt wurde. Zwei Paar Stiefel, die den Raum verließen. Willer hielt den Atem an, bis die Tür hinter ihnen klickend zufiel und Ashers Schlüssel sich abermals im Schloss drehte.
Wieder allein und unentdeckt, blieb Willer unter Dathnes Schreibtisch und zitterte so heftig, dass er glaubte, seine Zähne würden bersten wie Glas. Durm tot, der König seiner Magie beraubt – und Asher von Restharven ein Verbrecher! Der Mann, der an eben diesem Morgen in der Halle der Gerechtigkeit gestanden und es gewagt, gewagt hatte, über das Wohlergehen des Königreichs zu entscheiden. Die Heiligkeit von Barls hehren Gesetzen.
Er machte Wetter. Noch unglaublicher, er tat es mit König Gars Wissen! Sogar mit seinem Segen. Wie konnte das sein? Gar war nicht böse. Es gab nur eine Erklärung: Asher musste ihn irgendwie verzaubert haben. Ihn dazu gebracht haben, sich seinem verderbten Willen zu unterwerfen. Vielleicht war er es überhaupt, der ihm seine Magie gestohlen hatte.
Monströs. Monströs!
Und dann machte das Entsetzen langsam einem heraufdämmerndem Glück Platz. Wie dies alles geschehen war, war nicht länger wichtig. Es war geschehen, und das war mehr als genug.
Gepriesen sei Barl! weinte er in stiller Ekstase. Gepriesen seien Barl und all ihre mächtigen Werke! Meine Gebete sind endlich erhört worden!
Dann meldete sich unerwartet und trotz seines überschäumenden Triumphs ein dünnes, scharfes Gefühl der Furcht.
Wenn das Königreich alles erfuhr, was er wusste – wenn Ashers Widernatürlichkeit und der blinde, törichte Glaube des Königs offenbart wurden –, dann würde Chaos ausbrechen. Der Aufruhr nach Timon Spakes Entdeckung würde nichts, nichts sein im Vergleich zu der Krise, die sich jetzt zusammenbraute. Es war unausweichlich: Alle Olken würden in irgendeiner Weise, sei sie groß oder klein, für Ashers Verbrechen zahlen. Auch wenn sie unschuldig waren. Auch wenn dies nicht ihr Vergehen war.
Als er sich die Konsequenzen ausmalte, geriet sein Mut ins Wanken. Er hielt ihrer aller Leben in der Hand. Er, Willer, würde, sobald er Lord Jarralt von dieser Entdeckung berichtete, der unmittelbare Grund für ihr ungerechtes Leiden sein. Die Menschen würden es wissen. Und ihm die Schuld geben. Er schluckte weitere Tränen herunter. Oh, wie ungerecht. Wie ungerecht.
Ein weiteres Verbrechen, das er vor Ashers Füße legen konnte.
Und doch, er hatte keine Wahl. Er musste sprechen. Zum Wohle des Königreiches durfte er nicht schweigen. Asher durfte der Strafe nicht entrinnen. Der König musste von seinem verderblichen, bösartigen Einfluss befreit werden, ganz gleich, um welchen Preis. Ganz gleich, dass der arme Willer, Barls schuldloses Werkzeug, dennoch einen Teil der Verantwortung dafür würde tragen müssen. Die Geschichte würde ihn freisprechen. Mit der Zeit würde er als Held betrachtet werden. Ein Kämpe für Recht und Gerechtigkeit.
Das ist es, was ich bin, Barl! Ich bin dein Kämpe!
Als er fand, dass genug Zeit verstrichen war, schloss er die Tür mit Lord Jarralts magischem Schlüssel auf, stahl sich ungesehen aus dem Turm und ging zur Wetterkammer hinüber. Er wollte diese ungeheuerliche Nachricht Lord Jarralt erst dann überbringen, wenn er die schmutzigen, stinkenden Ausmaße von Ashers Verbrechen mit eigenen Augen gesehen hatte.
Zweimal kam er vom Weg ab. Die königlichen Angestellten wussten in der Theorie, wo die Kammer lag, aber keiner von ihnen hatte jemals Grund gehabt, sie zu besuchen. Kurz nachdem er das zweite Mal falsch abgebogen war, begann es zu schneien. Als er endlich auf den richtigen Pfad stolperte, fror er, war durchnässt und außer Atem, seine Pantalons waren zerrissen und seine linke Hand blutig gekratzt, nachdem er über eine Baumwurzel gestolpert und unbeholfen der Länge nach zu Boden gefallen war.
Die Wetterkammer war Ehrfurcht gebietend. Beängstigend. Es war ein Wunder, dass Asher es wagte, sie mit seinem Schatten zu besudeln und erst recht mit seiner Gegenwart zu schänden. Ganz oben auf der Kuppel flackerte ein eigenartiges Leuchten, Blitze in verschiedenen Farben, blau, silberweiß und scharlachrot.
Willer stahl sich näher heran und zuckte bei jedem Wispern im Gras, jedem Knarren in den Bäumen zusammen. Der klagende Ruf einer niedrig über ihn hinwegkreischenden Eule führte beinahe dazu, dass er sich in die Hosen machte. Mit heißem Gesicht und keuchend lehnte er sich schwer gegen die Tür der Kammer. Das Hämmern des Blutes in seinen Ohren war so laut, dass er fast nichts hören konnte.
Zu seiner Überraschung war die Tür unverschlossen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Maßlos von sich eingenommen in seiner Arroganz, hielt Asher sich für unverletzbar. Unentdeckbar. Er konnte es gar nicht erwarten, das Gesicht des Bastards zu sehen, wenn ihm klar wurde, wie sehr er sich geirrt hatte. Er betrat die Kammer. Da er es nicht wagte, den Lichtstein zu benutzen, tastete er sich im Dunkeln die Treppe hinauf, stieß sich die Zehen an und kaute auf seiner Unterlippe, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Schwere Eisenbänder schnürten ihm die Brust ein. Er würde einen Schlag bekommen, seine Beine würden in Flammen aufgehen.
Gerade als er dachte, dass er sterben würde, fand die endlose Treppe doch ein Ende, und er stand draußen vor der Wetterkammer selbst. Die Tür stand einen winzigen Spaltbreit offen. Durch den haarfeinen Riss konnte er ein wildes, grelles Licht sehen und eigenartige, grauenhafte Geräusche hören. Jemand schrie, ein verzerrtes Ächzen tiefsten Ungemachs, und inmitten dieses Geräusches konnte er eine Abfolge unverständlicher Worte ausmachen.
Seine Nackenhaare stellten sich auf.
Während er zaudernd dort stand, schwoll der Schrei zu einem rauen Höhepunkt an und brach abrupt ab, wie von einem Messer durchschnitten. Einen Moment später hörte man den Aufprall eines Körpers auf dem Boden.
Zitternd und kaum atmend drückte er die Tür weit auf und sah sich satt. Ein karger Raum, tapeziert mit komplizierten Karten und Diagrammen. Regale, die vollgestopft waren mit uralten Büchern. In ihrer Mitte ein wunderbares Ding, ein Modell des Königreichs, und darüber winzige Wolken, aus denen funkelnde Schneeflocken fielen. Reglos daneben, Asher. Blut beschmierte sein Gesicht und tröpfelte ihm aus dem Mund. Er war also tot? Bitte nicht. Bitte nicht, denn er musste leben, um sich für seine Verbrechen zu verantworten, um zu Füßen seines siegreichen Widersachers zu knien. Um vor der ganzen Stadt nackt entblößt zu werden, vor dem ganzen Königreich, auf dass man ihn als das Ungeheuer erkannte, das er war. Und er sollte genau wissen, wer ihm die Maske vom Gesicht gerissen hatte.
Er stahl sich näher heran. Asher atmete. In flachen Zügen und stöhnend, und in sein Fleisch waren tiefe Linien des Schmerzes eingemeißelt. Blut verkrustete seine Lider, klebte ihm in der Nase, leuchtete rot auf seinen Lippen. Er war tief und wunderbar bewusstlos.
Willer zog sich verstohlen zurück und benutzte Lord Jarralts Zauber, um die Tür hinter sich abzuschließen, wenig später wendete er ihn abermals an der Tür am Fuß der Treppe an.
Und dann begann er zu rennen.
»Conroyd, Conroyd, wach auf, Lieber, wach auf!«
Morg öffnete die Augen. Wer…? Ah, ja. Seine dümmliche, geschwätzige Gemahlin – zumindest für den Augenblick. »Ethienne?«
»Oh, Conroyd«, sagte sie verdrießlich und schmollend. »Da ist ein schrecklicher kleiner Olk unten, und er will nicht weggehen, ganz gleich, was ich sage! Er besteht darauf, dass du ihn empfangen musst, und er wird nicht fortgehen, bevor du es tust!«
Morg reckte sich und schwelgte in der anmutigen Leichtigkeit seines herrlichen neuen Körpers. »Hat er dir seinen Namen genannt?«
»Willim. Oder Wolter. Oder irgendetwas anderes, das mit einem ›W‹ beginnt«, sagte Ethienne immer noch schmollend. »Schick ihn weg, Conroyd, bitte. Es ist mitten in der Nacht, und er ist wirklich ganz und gar widerwärtig!«
Morg warf die Decken beiseite. »Willer?«
»Ja, das ist es. Willer. Was, in Barls Namen, hast du mit solch einem…« Er sprang fluchend aus dem Bett. »Sei still, du lächerliches altes Weib!« Er ignorierte ihren ächzenden Schock, während er sich in Jarralts Morgenrock hüllte und aus dem Raum eilte.
Willer wartete in der Halle, zerzaust, blutbeschmiert, schlammverkrustet und ekelhaft. »Mylord!«, rief er und huschte über den Teppich, um ihm am Fuß der Treppen entgegenzukommen. »Oh, Mylord! Der Meistermagier ist tot, und… und…«
Morg packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Und was, Mann? Geht es um Asher? Schnell, sagt es mir, geht es um Asher?«
Die Augen des fetten kleinen Olk leuchteten wie Sterne. »Oh, Mylord, ja, es geht um Asher! Endlich, Herr, endlich! Lord Jarralt, wir haben ihn!«