Nach einem zehnminütigen Marsch erreichte er Veiras von Klee überwucherten Garten. Die Hühner sprangen auseinander, als er zwischen ihnen hindurch auf das Haus zuging, die Hintertür aufstieß und eintrat. In der Küche war niemand, aber er konnte das Murmeln von Stimmen in dem schmalen Flur hören. Er folgte dem Geräusch zu seiner Quelle: Veiras winzigem Wohnzimmer. Es war überfüllt von Leibern. Veira. Dathne. Darran? Und…
»Hallo, Asher«, sagte Gar.
Er hatte das Gefühl zu ersticken. Die Orientierung zu verlieren. Der Raum war plötzlich von einem roten Nebel erfüllt. Eine Stimme – seine Stimme – sagte belegt: »Schafft ihn hier raus.«
Hinter ihm erwiderte Matt: »Nein. Warte. Du verstehst nicht…«
»Schafft ihn raus, oder es ist vorbei!«
Während Veira mit zorniger Miene den Mund öffnete, um etwas zu sagen, das er nicht hören wollte und das sie möglicherweise bedauern würde, stand Gar auf, ließ das in Leder gebundene Buch, das er in Händen gehalten hatte, auf den verblassten Teppich fallen und zupfte an seinem von der Reise staubigen Wams. Dann blickte er in die entsetzten Gesichter der Menschen um ihn herum. »Ich würde gern kurz unter vier Augen mit Asher sprechen.«
»Ich habe Euch nichts zu sagen.«
Gar hielt seinem heißen Blick stand. »Also gut. Dann werde ich reden, und du kannst zuhören.«
»Hör ihn an«, sagte Matt mit leiser Stimme. »Bitte.«
Der Fluss aus Feuer brannte noch heißer. »Warum sollte ich?«
»Weil wir ihn brauchen – und er mir das Leben gerettet hat.«
Das hatte Asher nicht erwartet. Verblüfft sah er Matt an, der nickte. In diesem Moment musste sich in seinem Gesicht irgendetwas verändert haben, denn Dathne, Veira und Darran erhoben sich ohne ein Wort von ihren Stühlen und gingen auf die Wohnzimmertür zu. Er trat beiseite, um sie vorbeizulassen, wobei er sich weigerte, in Dathnes ängstliche Augen zu sehen oder Darran die Be– friedigung eines Grußes zu gönnen.
Matt nickte. »Danke.«
Dann war auch er fort. Die Tür schloss sich, und er war allein mit Gar. Ihm war übel, und die Welt um ihn herum war noch immer in einen scharlachroten Schleier getaucht.
»Ihr habt zwei Minuten«, sagte er. »Dann verlasse ich diesen Raum, und Ihr hört auf zu existieren.«
Gar presste die bleichen Lippen fest zusammen, dann seufzte er. »Du hasst mich. Das verstehe ich. Aber lass dich von deinem Hass nicht blind machen gegen die Wahrheit. Matt hat Recht. Du brauchst mich, Asher. Du wirst Conroyd ohne meine Hilfe nicht besiegen.«
»Conroyd?«
»Nun…« Gar bückte sich, um das Buch, das er fallen gelassen hatte, wieder aufzuheben, und betrachtete stirnrunzelnd seinen fleckigen Einband. »Das Ding, das früher einmal Conroyd war.«
Er wollte nicht fragen. Er wollte nicht… »Wovon redet Ihr, verdammt noch mal?«, fragte er rau. »Was hat Jarralt damit zu tun?«
Gar hielt das Buch hoch. »Das ist Barls Tagebuch. Durm hat es gefunden, aber niemandem davon erzählt. Er hat eine Beschwörung daraus benutzt, um die Mauer zu durchbrechen. Morg hat auf der anderen Seite gewartet. Er…« »Morg? Der Magier, vor dem Eure Vorfahren vor sechshundert Jahren davongelaufen sind?« Er lachte. »Ihr seid verrückt.«
»Ich weiß, es klingt fantastisch«, sagte Gar. »Unmöglich. Aber es ist wahr. Er kam durch die Bresche in der Mauer, die Durm törichterweise geöffnet hat, und maskiert sich jetzt als Conroyd Jarralt, Lurs König und Wettermacher. Ich denke, er ist das Böse, von dem deine Prophezeiung gesprochen hat.«
»Es ist nicht meine verdammte Prophezeiung!«
»Nun, wem immer sie gehört, sie steht kurz vor ihrer Erfüllung. Die Mauer fällt, Asher. Matt fühlt es, und ich wette, du fühlst es ebenfalls.«
Das Letzte, worüber er mit Gar zu sprechen beabsichtigte, waren Gefühle. »Ihr seid wahnsinnig. Wie kann Morg Conroyd Jarralt sein? Meint Ihr nicht, dass irgendjemand es bemerkt hätte?«
»Er hat sechshundert Jahre gelebt, Asher! Seine Fähigkeiten übersteigen jedes Vorstellungsvermögen! Und er ist es. Conroyd ist nicht länger er selbst, ich habe… Veränderungen gesehen. Und Durm hat vor seinem Tod versucht, mich zu warnen. Ich habe ihn damals nicht verstanden, aber ich verstehe ihn jetzt. Ich denke, dass Morg anfangs ihn benutzt hat. Ich denke, er ist der Grund, warum meine Familie gestorben ist. Wie ich an meine Magie ge– kommen bin und warum sie gescheitert ist. Morg steckt hinter alledem.« Asher rieb sich das müde Gesicht, die brennenden Augen. »Und Ihr wollt, dass ich es mit ihm aufnehme, hm? Mit dem talentiertesten, bösartigsten Magier, den Euer Volk je hervorgebracht hat. Einem Magier, der stark genug ist, um sechs Jahrhunderte zu überleben. Stark genug, um ganz allein Barls Mauer zu Fall zu bringen. Ich. Ein olkischer Fischer, der es zur Not regnen lassen kann und der anschließend zwei Stunden dasitzt und heult.« Er wandte sich zur Tür um. »Ihr habt den Verstand verloren.«
»Nein! Warte! Ich bin noch nicht fertig!«, sagte Gar und machte einen Satz nach vorne, um Ashers Arm zu umklammern.
Ohne nachzudenken, ohne es geplant zu haben, ließ dieser die kaum bezähmte Macht aus sich herausschießen. Ließ sie Gars Finger von seinem Ärmel reißen und ihn quer durch den Raum schleudern, sodass er einen Sessel umwarf und gegen die Wand prallte.
Hustend, würgend und blutend rappelte Gar sich hoch. »Asher… bitte…« »Fasst mich nicht an!«, befahl er, zitternd vor Zorn. »Fasst mich nie mehr an!« Die Wohnzimmertür wurde aufgerissen, und Veira kam hereingestürzt. »Was tut Ihr? Was geht hier vor?«, verlangte sie zu erfahren.
»Es ist nichts!«, antwortete Gar ächzend. »Mir geht es gut. Ein Missverständnis. Bitte, Veira, lasst uns allein, damit wir reden können.«
»Ich habe Euch nichts mehr zu sagen, Gar. Ihr hattet Eure zwei Minuten«, zischte Asher. »Und jetzt existiert Ihr nicht mehr.«
Veira stand in der Tür und versperrte ihm den Ausgang. »Was ist das für ein Unsinn? Zwei Minuten? Du wirst so lange hierbleiben und zuhören, wie es notwendig ist! Bis du alles gehört hast, was Gar zu sagen hat!«
»Es interessiert mich nicht, was er zu sagen hat! Weil ich ihm zugehört habe, bin ich überhaupt in diesem Schlamassel gelandet!«
Sie schlug ihm ins Gesicht. »Die Prophezeiung hat dich in diesen Schlamassel gebracht, Kind, sechshundert Jahre vor deiner Geburt! Hast du gestern Nacht zugehört, oder habe ich mich für nichts und wieder nichts heiser geredet? Ist mein Rafel für nichts und wieder nichts gestorben? Prinz Gar ist ein Teil dieser Angelegenheit! Er stammt aus dem Haus des Usurpators! Und du wirst ihn anhören, hast du mich verstanden?«
Mit klingelnden Ohren und brennenden Wangen starrte er die wütende alte Frau an. »Du solltest es dir gut überlegen, bevor du mich schlägst, da ich der Einzige bin, der deine runzelige Haut retten kann.«
»Kind, Kind, ich werde dich so oft schlagen, wie es notwendig ist, um Verstand in deinen törichten, sturen Kopf hineinzuprügeln! Weiß du denn nicht, dass uns die Zeit ausgeht?«
Klebrig von Blut und mit unsicheren Beinen trat Gar vor. »Was soll das heißen, Veira? Was ist passiert?«
Sie antwortete nicht, sondern drehte sich nur auf dem Absatz um und stampfte den Flur entlang zur Küche.
»Asher«, begann Gar mit nach oben gedrehten Händen. »Wir sollten herausfinden, wovon sie gesprochen hat. Es klang wichtig.«
Asher, dem es in allen Fingern juckte, Gar abermals zu schlagen, wandte sich ab und stolzierte hinter Veira her. Gars Schritte folgten ihm; sie klangen ungleichmäßig, als sei er verletzt.
Gut. Sollte er verletzt sein. Er verdiente ein paar blaue Flecken und noch eine Menge mehr.
Die Hintertür der Küche stand offen. Die anderen waren bereits draußen im Garten. Asher, dem der Sinn nach Einsamkeit stand, ging zum Hühnerstall hinüber. Gar gesellte sich zu Darran, der neben dem Schweinepferch stand, und legte der alten Krähe eine Hand auf die Schulter. Als er das Blut an ihm sah, hob Darran an zu protestieren. Gar lächelte und schüttelte den Kopf. Nicht ge ringschätzig, sondern beruhigend. Asher, der sie beobachtete, zog die Brauen zusammen. Irgendetwas hatte sich dort verändert. Irgendein Gleichgewicht hatte sich verlagert. Er wandte den Blick ab. Viel Glück den beiden, den elenden Bastarden. Sie hatten einander, verdammt noch mal, verdient. Veira, die ihre zerlumpte Strickjacke eng um ihren Körper gezogen hatte, stand bei Matt und Dathne einen Steinwurf vom Stall entfernt.
Und sie alle blickten schweigend zum Himmel empor.
Die blaue Helligkeit des Morgens war beinahe verschwunden. Jetzt war die Luft über dem Schwarzen Wald kriegsschwanger von Wolken. Sie schienen dem Boden zu nahe, beinahe tief genug, dass ein hoch gewachsener Mann sie berühren konnte. Schmuddelig weiß und schmutzig grau, wirbelten sie umher wie lebende Geschöpfe. Wie mit böswilliger Absicht.
»Es sieht aus wie in Westjammer«, sagte Gar gedämpft. »Das Wetter spielt verrückt. Macht ohne Form oder Ziel.«
Ein unheilverkündendes Grollen ließ die Luft erzittern. Vögel erhoben sich schlagartig von den Baumwipfeln und flatterten davon. Die Pferde, die dicht an dicht im Stall standen, wieherten in jäher, kreatürlicher Furcht. Man hörte das Krachen von Hufen, die nach Holz traten. Der Esel in seiner kleinen Umfriedung an der Seite tat es ihnen mit einem nervenzerreißenden Schreien nach. Asher rieb die kribbelnde Haut in seinen Hemdsärmeln. »Das Gewebe der Wettermagie franst aus. Die Fäden, die sie an die Erde binden, an die Berge, lösen sich.«
Dathne drehte sich um. »Das kannst du fühlen?«
Er hielt den Blick fest auf die Wolkenwirbel gerichtet. Das unerwünschte Wissen in ihm, übertragen von der Wetterkugel an jenen geheimen Ort in seinem Geist, schlug laut Alarm. Stellte ihm die Nackenhaare auf. Es war, als stünde man auf einer Landzunge und beobachte, wie ein böser Sturm über das Drachenzahnriff dahin–rollte: Die Luft vibrierte von Blitzen, von Wildheit. Voller Verachtung für Könige und ihre Magie. Entschlossen, ohne Barmherzigkeit über das Land zu kommen.
Es war genauso – nur tausendmal schlimmer. Er sah Matt an. »Dies ist nur der Anfang, schätze ich.«
Ein weiteres Donnergrollen, lauter diesmal. Und diesmal rumpelte der Boden unter ihren Füßen als Antwort. Matt schlug sich stöhnend die Hände vors Gesicht. Asher schloss die Augen, ließ sich von seinen erwachten Instinkten leiten und seine rätselhaften Sinne in die Luft ausgreifen. Was er fand, war so furchtbar, dass er würgte. Es war jetzt schlimmer, als es im Wald gewesen war. Die Welt um ihn herum roch faulig. Nach Verwesung, wie ein von Maden übersäter Kadaver.
Er schlug die Augen auf und spuckte sauren Speichel ins Gras. »Ich kann es vielleicht aufhalten. Ich habe die Wettermagie in mir. Ich könnte dagegen kämpfen, die schlimmsten Löcher flicken, uns ein wenig Zeit verschaffen…« »Nein«, sagte Gar erschrocken. »Verstehst du nicht? Morg wird es spüren. Er wird wissen, dass du noch lebst. Es gibt nur eine Möglichkeit, dies hier aufzuhalten: Du musst ihn töten. Und zwar schnell, bevor es zu spät ist. Bevor das Land in Stücke gerissen wird. Der Sturm von Westjammer wird nichts sein, nichts, im Vergleich zu dem, was kommt.«
»Ja, nun, Ihr müsst es wissen«, meinte Asher gedehnt. »Als Krüppel und so weiter.«
»Wie könnt Ihr es wagen!«, rief Darran und trat vor. »Undankbarer Bauer! Nachdem er so viel aufs Spiel gesetzt hat, um hierher zu Euch zu kommen! Er hat sein Leben riskiert! Ist meilenweit gegangen! Nur um dieses verflixte Tagebuch dorthin zu bringen, wo es den meisten Nutzen hat!«
»Nutzen? Welchen Nutzen hat es, Darran? Kann man sich damit den Hintern abwischen? Oder sollte ich es Jarralt an den Kopf werfen? Vielleicht fällt er dann der Länge nach hin und schlägt sich das Gehirn aus dem Kopf? Vielleicht ist das der Nutzen dieses Tagebuchs?«
Gar wandte sich zu Darran um und hob beschwichtigend die Hand, bevor er antwortete. »Es hat einen größeren Nutzen als den, Asher. Du hast mich vorhin im Haus nicht aussprechen lassen. Barls Tagebuch ist voller Zauber und Beschwörungen. Kriegswaffen, die Morg besiegen können. Und ich kann sie dich lehren.«
Asher lachte. »Ihr?«
»Also schön«, erwiderte Gar errötend. »Vielleicht ist ›lehren‹ das falsche Wort. Ich kann sie übersetzen. Sie erklären. Dir in der Theorie zeigen, wie man sie benutzt. Ich war selbst Magier, Asher, wenn auch nur kurz. Ich habe noch nicht alles vergessen. Wenn deine Freunde Recht haben, was dich betrifft, könnte es funktionieren. Schließlich bist du stark genug, um die Wettermagie zu benutzen. Du könntest auch stark genug für diese Magie Barls sein.«
»Das ist er«, sagte Veira trostlos. »Er muss es sein. Anderenfalls hätte die Prophezeiung uns in die Irre geführt, und alles, was übrig bliebe, wäre der Tod.« »Die Prophezeiung hat uns nicht in die Irre geführt!«, erklärte Dathne wütend. »Wage es nicht, den Glauben daran zu verlieren, Veira. Du bist die Hüterin des Zirkels. Du hast kein Recht, den Glauben zu verlieren.« Sie drehte sich zu Gar um. »Diese Kriegszauber. Wie lange wird es dauern, bis Ihr sie übersetzt habt? Wie schnell kann man sie erlernen?«
Gar zuckte mit den Schultern. »Lernen muss Asher sie. Was die Übersetzungen betrifft, werde ich mindestens einen Tag brauchen. Die Sprache, in der sie geschrieben sind, ist uralt und kompliziert. Ich denke, dass Barl irgendwelche Sprachrätsel benutzt hat, für den Fall, dass das Buch der falschen Person in die Hände fallen sollte.«
»Was bedeutet das?«, fragte Veira. »Ist eine Gefahr damit verbunden?« »Nicht für mich«, antwortete Gar und verzog das Gesicht. »Ich habe nicht länger die Möglichkeit, die Beschwörungen zu aktivieren. Aber falls ich sie falsch übersetze und Asher versucht, sie zu benutzen… Nun, es könnte vielleicht sehr… schmutzig werden.«
Asher schnaubte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass Ihr versucht, mich zu töten.« Veira wandte sich zu ihm um. »Hör auf damit! Hast du Zeit für schäbiges Gezänk, wenn wir unter einem Himmel wie diesem stehen?« Sie deutete mit dem Finger nach oben, und sie alle legten den Kopf in den Nacken, um emporzublicken.
Die sich verdichtenden Wolken waren dunkler geworden; sie sahen aus wie Prellungen auf der geschundenen Haut des Himmels, von ungesunden Grün– und Purpurtönen. Einige hatten sich scharlachrot gefärbt, wie blutige Blasen. Während sie stumm den Himmel betrachteten, fielen einzelne, nach Schwefel stinkende Regentropfen herab. Tropfen, die brannten, wenn sie auf nacktes Fleisch trafen.
»Es wird Zeit, dass wir zur Tat schreiten«, sagte Veira und scheuchte die anderen auf das Haus zu. »Matt, bring den Esel in den Stall und sorg dafür, dass die Pferde und der Wagen reisefertig gemacht werden. Und sie müssen so gut wie möglich gegen das Wetter geschützt werden. Ich habe genug Planen und Holz im Schuppen, um damit den Wagen abzudecken. Dathne, du gehst in die Küche und bereitest die Vorräte vor. Wir werden bald in die Stadt zurückkehren.« »In die Stadt?«, fragte Asher. »Warum das?«
»Weil Morg dort ist«, antwortete Veira. »Das ist der Ort, an dem du dich ihm stellen musst.« Sie drehte sich um. »Darran, Ihr helft Dathne. Gar, beschäftigt Euch mit diesen Übersetzungen. Asher…«
Er blickte die alte Frau mit gerunzelten Brauen an und verabscheute sie zutiefst. »Was?«
»Du kommst mit mir, Kind. Wir müssen uns um Angelegenheiten des Zirkels kümmern.«
Ein weiteres Donnergrollen erklang. Ein greller Blitz zuckte. Die letzten Fetzen blauen Himmels verschwanden nun ebenfalls.
»Beeilt Euch!«, rief Veira, als es ernsthaft zu regnen begann, und sie stoben davon, um ihren Befehlen Folge zu leisten.
Veira, die sich Ashers wütenden Grolls durchaus bewusst war, führte ihn in ihr Schlafzimmer und schloss gelassen die Tür. Dann schenkte sie ihm ein ernstes Lächeln und tätschelte seinen Arm. »Setz dich, Kind.«
Während er sich in den am weitesten entfernten Sessel warf, rollte sie den Teppich auf und legte ihr Versteck mit den Zirkelsteinen bloß. Sie blickte zu ihm hinüber und sah in seinen Augen ein kurzes Aufschimmern von Interesse, das alsbald unterdrückt wurde. Mit einem Ächzen hob sie den Deckel des Verstecks an und legte ihn beiseite. Die Zirkelsteine glänzten im fahlen Licht. Auf der anderen Seite des Schlafzimmerfensters peitschte der Regen vom Himmel.
»Hier ist der Zirkel«, sagte sie und ließ die Finger über die Steine gleiten. Sie fühlten sich warm an. Tröstlich. »Jeder Kristall steht für eine Person, die geschworen hat, zu warten und zu dienen. Sie alle haben dir ihr Leben geweiht, Asher. Deinem Kampf. Deinem Schicksal. Jeder Einzelne würde für dich sterben, so wie Rafel gestorben ist, wenn das die Niederlage des Bösen bedeutete. Nein, du darfst sie nicht zurückweisen«, fügte sie hinzu, als er sich in seinem Sessel ruckartig aufrichtete. »Sie haben dies aus freien Stücken gewählt, Asher. Niemand hat ihnen die Last aufgezwungen. Sie sind etwas Besonderes, so wie du etwas Besonderes bist. Verletze sie nicht, indem du ihr Geschenk zurückweist. Es gibt keinen größeren Dienst als den für den Unschuldigen Magier.« »Auch wenn ich sie nie darum gebeten habe?«
»Das brauchtest du nicht zu tun. Die Prophezeiung hat darum gebeten, und sie haben geantwortet. Das sollte genügen, um dich zufrieden zu stellen.« Er sah sie finster an. »Und wenn es nicht genügt?«
»Aber es genügt«, erklärte sie leise. »Was glaubst du, warum du sonst so wütend wärest?« Sie klopfte auf die Dielenbretter neben ihr. »Komm her und setz dich zu mir. Ich denke, es wird Zeit, dass du sie kennen lernst, Kind. Sie spielen eine Rolle in der bevorstehenden Schlacht, und es ist immer das Beste, nicht an der Seite von Fremden zu kämpfen.«
Widerstrebend gesellte er sich zu ihr. »Sie werden ebenfalls alle in die Stadt fahren?«
Veira schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Wir leben zu weit verstreut.« »Wie sollen sie mir dann helfen?«
»Indem sie dir ihre Kraft leihen, wenn du sie benötigst.« Sie berührte ihn am Knie. »Keine Sorge. Schon bald wird dir alles klar sein.«
Sie griff in das Versteck und nahm den einzigen Kristall heraus, den sie noch nie benutzt hatte. Dann zog sie das weiche Seidentuch herunter, in das er eingewickelt war, und hielt ihn vorsichtig in einer Hand. Es war der schönste Kristall im Königreich, ein einzigartiges Juwel, verbunden aus den Splittern aller anderen Zirkelsteine von Jervale persönlich. Sie schloss die Augen und versank in eine leichte Trance, wobei sie sich Ashers und des vielfassettigen Kristalls, der warm und wartend in ihrer Hand lag, mit allen Sinnen bewusst war. Mit der anderen Hand berührte sie der Reihe nach alle anderen Zirkelsteine und rief ihre Besitzer herbei. Nicht einen nach dem anderen, sondern alle zusammen. Zum ersten Mal in der gesamten Geschichte des Zirkels würden alle Mitglieder des Bundes füreinander sichtbar werden. Drei Steine ließ sie unberührt: Rafels Stein, Dathnes und Matts. Rafel hatte seine Rolle bereits gespielt – während Dathne und Matt dem Unschuldigen Magier auf andere Weise ihre Kraft leihen würden. Endlich waren die verbleibenden Zirkelmitglieder vereint. Durch die schimmernde Verbindung sah sie ihre geliebten Gesichter. Spürte ihre Neugier und ihre Angst. Ihre Erregung und ihre Furcht im Angesicht des Kommenden. All diese Gefühle ließ sie durch sich hindurchfließen, wie ein Fluss, wie eine sanfte Brise, wie ein Seufzer.
Veira… Veira… Veira…
»Meine lieben Freunde«, begrüßte sie sie. »Willkommen. Ich habe euch jetzt gerufen, zu dieser Zeit und an diesem Ort, um zur Gänze mit euch zu teilen, was viele bereits vermuten oder wissen. Die Letzten Tage sind gekommen. Der Unschuldige Magier ist offenbar geworden. Das Böse, das uns vorausgesagt wurde, hat sich erhoben – und wir sind alles, was zwischen ihm und dem Ende steht. Jetzt kommt die Zeit, da die Mitglieder des Zirkels Hand in Hand zusammenstehen und dem Bösen seine Herrschaft verwehren müssen. Steht ihr auf meiner Seite?«
Durch die Verbindung erklangen donnergleich all ihre einzelnen Stimmen. Wir stehen auf deiner Seite, Veira. Wir stehen auf deiner Seite. Sag uns, was wir tun sollen. Blind tastete sie umher und griff nach Ashers Hand. Sie spürte, dass er sich kurz widersetzte, bevor er sich ergab. Dann sog er scharf die Luft ein, als er Einlass fand in die Schattenwelt der Verbindung des Zirkels. »Seht, Freunde, dies ist Asher, unser Unschuldiger Magier. Jung und feurig und voller Zorn. Das Böse, gegen das wir kämpfen, hat ihn bereits berührt. Tapfer trägt er die Narben. Entbietet ihm ein Willkommen und teilt eure Herzen mit ihm.«
Willkommen, Asher. Willkommen, Unschuldiger Magier. Wisse, dass wir an deiner Seite stehen. Neben dir. Hinter dir. Ganz gleich, was geschehen mag.
Ashers Hand zitterte in ihrer, als die Liebe des Zirkels durch ihn hindurchlief. Sie hörte seine ungleichmäßigen Atemzüge. »Sprich, Asher«, flüsterte sie. »Der Zirkel wird dich hören wollen.«
»Ich weiß nicht… Ich kann nicht… Was soll ich sagen?«, murmelte er. »Was immer dir einfällt.«
»Ich weiß nicht, warum ich erwählt wurde«, sagte er schließlich zögernd. »Ich kann nicht glauben, dass es keinen Besseren gibt als mich. Aber da ich es nun einmal bin, da es keinen anderen zu geben scheint, werde ich nach bestem Vermögen gegen dieses Böse kämpfen. Ich kann nicht versprechen, dass ich gewinnen werde. Nur, dass ich kämpfen werde.«
Barl segne dich, Asher. Und wir werden mit dir kämpfen, bange nicht.
Veira drückte seine Finger. »Und genau das werden wir tun. Liebe Freunde, dieser Zirkel wird ungebrochen weiterbestehen. Verseht eure täglichen Pflichten, bis ich euch rufe. Und wenn dieser Ruf kommt, lasst alles stehen und liegen, wo immer ihr seid und gebt all eure Kraft, all eure Stärke in diese Verbindung. Lasst sie in Asher hineinfließen, auf dass er am Ende obsiegen möge.«
Rufe uns, Veira, und wir werden folgen.
Die Trennung von ihnen allen war ein stechender Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Ehrfürchtig legte sie den Kristall auf den Boden, dann sah sie Asher an, der verwirrt und schweigend neben ihr saß.
»Verstehst du jetzt?«, fragte sie sanft.
Er nickte; sein Ärger war verebbt und sein Gesicht weicher. »Ja. Zumindest… Ich schätze, ich fange an zu verstehen.«
»Kannst du denn keinen Weg finden, um dich mit Gar zu versöhnen? Um das Elend, das er über dich gebracht hat, beiseitezuschieben, in dem Wissen, dass alles im Dienste der Prophezeiung geschah?«
Er entzog ihr seine Hand. »Das hat nichts mit alledem hier zu tun. Was zwischen Gar und mir ist, geht niemanden sonst etwas an. Halte dich aus dieser Angelegenheit heraus, Veira. Und halte dich auch aus den Dingen heraus, die nur mich und Dathne etwas angehen. Da ich keine andere Wahl habe, werde ich euer Unschuldiger Magier sein. Ich werde eure Kämpfe für euch kämpfen. Aber das bedeutet nicht, dass ihr das Recht hättet, nach Lust und Laune in mein Leben hineinzutanzen und wieder herauszuspazieren. Hast du mich verstanden?« Sie seufzte. »Ja, Kind.«
Hineingeschmiegt in die Ecke ihres Verstecks, lag ein in Filz gewickeltes Bündel. Sie nahm es heraus und legte es auf die Dielenbretter.
»Was geschieht jetzt?«, fragte Asher. Er klang durchaus höflich, aber in seiner Stimme schwang eine versteckte Schärfe mit.
Sie blickte ihm tief in die Augen. »Vertraust du mir, Asher?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin immer noch hier, nicht wahr?« Sie wickelte das Bündel aus, und ein Hammer und ein Messer kamen zum Vorschein. Dann griff sie nach dem Hammer, und bevor sie zögern oder Zeit mit Bedauern vergeuden konnte, schlug sie heftig auf den geschmiedeten Kristall, den Jervale geschaffen hatte.
Asher schrie protestierend auf, als der Kristall in tausend Stücke sprang und in all seinen Farben aufblitzte.
»Fürchte, dich nicht«, sagte sie. »Der Zirkel ist ungebrochen. Dies ist nur der nächste Schritt.«
Mit flinken Bewegungen durchsuchte sie die Scherben nach dem perfekten Stück. Als sie es gefunden hatte, schob sie es beiseite, dann drehte sie sich wieder zu Asher um.
»Entblöße deine Brust, Kind«, befahl sie. »Auf der linken Seite. Über deinem Herzen.« Er starrte sie an. »Was?«
»Du hast gesagt, dass du mir vertraust, Asher. Ich schwöre, ich werde dir kein Leid antun.« Dann verzog sie das Gesicht. »Nun. Jedenfalls kein großes Leid und keines, das von Dauer wäre.«
Er wollte ihre Bitte ablehnen, das konnte sie in seinen Augen sehen. Aber die Erinnerung an den Zirkel stimmte ihn um. Stirnrunzelnd zog er sein Hemd auf. Als sie das Messer hob, zog er die Brauen noch fester zusammen. Im Licht der Lampe ging ein boshaftes Glitzern von der scharfen Klinge aus.
Er sog tief die Luft ein. »Veira…«
Sie stieß ohne Barmherzigkeit zu und schlitzte ihm den dicken Muskel direkt überm Herzen auf. Nachdem sie einen langen Schnitt gemacht hatte, ließ sie das Messer fallen, stieß einen Finger in die Wunde, riss die langen Fasern des Muskels auseinander und schuf ein Loch. Das Blut machte ihre Finger schlüpfrig. Sein rauer Atem strich heiß über ihr Gesicht. Sie griff nach dem Kristallsplitter, drückte ihn in die Wunde und presste ihn tief in das Gewebe hinein. Er keuchte jetzt, ächzte vor Schmerz. Vor Entrüstung und Schreck.
Sie beugte sich zu ihm vor, legte die Stirn auf seine, umfasste mit der linken Hand seinen Nacken und presste ihre blutigen Finger auf seine Brust. »Atme mit mir… atme mit mir«, flüsterte sie. »Komm, Kind, es ist fast vorüber. Und was ist Schmerz anderes als ein bloßes Gefühl?«
Verborgene Worte stiegen tumultartig in ihr auf. Worte, die sie vor langen Jahren empfangen hatte, von denen sie aber nie gedacht hatte, dass sie sie aussprechen würde. Sein verwundetes Fleisch wurde erwärmt. Geformt. Dann wurde es kühl. Sie ließ die Hände sinken, setzte sich wieder auf und lächelte ihn an. »Es ist getan. Und gut getan. Braver Junge.«
»Du verdammte, verrückte alte Frau!«, schrie er und rappelte sich hoch. »Was fällt dir ein? Mich zu tranchieren wie einen Braten am Barlstag? Was für ein Irrsinn ist das?«
Müde bis auf die Knochen und leer betrachtete sie das Fleisch seines Oberkörpers. Es war keine Wunde mehr zu sehen. Nicht einmal eine Narbe. Nur eine schwache Unregelmäßigkeit, wo der Kristallsplitter verborgen war. »Du bist jetzt eins mit dem Zirkel, Kind«, erklärte sie. »Sie sind ein Teil von dir und können nicht wieder entfernt werden. Wenn die Zeit kommt und die Macht für dich gerufen wird, wirst du sie in deinen Fingerspitzen haben. In deinem Blut und deinen Knochen.«
Diese Fingerspitzen kratzten an seiner Brust. »Was? Wovon redest du?« »Beruhige deinen Geist«, riet sie ihm. »Lass dich tief in dich selbst hineinsinken. Kannst du sie spüren, Asher? All unsere braven Freunde des Zirkels? Kannst du ihre wartenden Herzschläge hören?«
Erschrocken starrte er sie an. Dann schloss er die Augen und zuckte zusammen, als habe er sich an einer Nadel gestochen. »Verflucht will ich sein!« Sie kicherte. »Was ich dir in der vergangenen Nacht über unsere Magie erzählt habe, Asher, ist nur der Anfang. Es gibt noch mehr zu lernen und vieles, was du mich lehren könntest, wenn wir die Zeit dazu hätten. Du hast Magie in dir, von der ich zweifle, dass ich sie jemals verstehen werde. Aber so wollte die Prophezeiung es haben, und wer bin ich, die Prophezeiung infrage zu stellen? Schau einmal in die oberste Schublade meiner Ankleidekommode, ja? Dort solltest du einen blauen Filzbeutel finden.«
Verwirrt folgte er ihrer Bitte, fand den Beutel, den sie ihm beschrieben hatte, und warf ihn ihr zu. Sie sammelte die anderen Scherben des zerschmetterten Kristalls ein und schob sie in den Beutel.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er und rieb sich noch immer diese Stelle an seiner Brust, obwohl sie wusste, dass er dort keine Schmerzen mehr hatte. »Jetzt wirst du dich säubern. Und kein Wort von dem hier zu den anderen. Ich werde es ihnen selbst erzählen, wenn die Zeit gekommen ist.«
Er schnaubte. »Matt ist ohnehin der Einzige, mit dem ich rede.«
»Dann erzähl es ihm nicht«, fuhr sie ungeduldig auf. »Geh und sieh nach, ob er Hilfe bei den Pferden braucht. Oder bei den Wagen. Mach dich nützlich. Wenn diese Kriegszauber übersetzt sind und du sie üben kannst, muss alles andere fertig sein.« Sie blickte zum Schlafzimmerfenster hinüber, hinaus in den strömenden Regen. »Wir haben nur noch herzlich wenig Zeit.«
Er nickte, ging zur Tür und blieb dann noch einmal stehen. Drehte sich um. Plötzlich wirkte er jung und unsicher. »Veira. Kann ich das wirklich schaffen?« Sie gab all ihre Hoffnung und ihren Glauben in ein Lächeln. »Ja, Kind. Das kannst du.«
Er antwortete seinerseits mit einem kurzen, schiefen Lächeln. »Verrückte alte Frau«, murmelte er, dann ließ er sie allein.
Mit wundem Herzen erhob sie sich auf die Füße, räumte ihr Schlafzimmer aus und ging dann in die Küche, um dort zu helfen.
In der Stadt ergoss sich ungerufenes Wasser vom Himmel und verängstigte ihre insektenhaften Einwohner. Morg lümmelte sich auf dem Balkon seines Stadthauses und beobachtete, wie der stinkende Regen fiel, lauschte auf die plappernden Insektenstimmen auf der Straße unter ihm und kostete das anschwellende Gefühl der Angst aus.
In der Ferne lag Barls Mauer bebend im Sterben.
Der schwabbelige Willer kam hechelnd herbeigeeilt. »Eure Majestät… Eure Majestät, Barlsmann Holze erbittet eine dringende Audienz! Soll ich auch ihn wegschicken?«
Morg lächelte. Er hatte sich gefragt, wie lange er noch würde warten müssen, bevor der Barlslakai blökend herbeikam. »Nein. Führt ihn in den Salon, Willer.« Er verweilte noch ein wenig länger, nur um sein Werk zu bewundern, dann schlenderte er die Treppe hinunter, um sich zu Barls kleinem Kämpen zu gesellen. Bei seinem Eintritt sprang der Geistliche auf. Er wirkte abgehetzt und besorgt, und er trug keine Blumen in seinem Barlszopf. Auf der Brust seiner Alltagsrobe prangte ein Fleck.
»Conroyd!«, sagte er, und seine schnarrende Stimme klang unsicher. »Ich gestehe, dass ich von ganzem Herzen gehofft hatte, Euch nicht hier zu finden. Ich hatte die schwache Hoffnung, dass diese rauen Verhältnisse das Ergebnis Eurer Unerfahrenheit als Wettermacher und des Mangels an einem Meistermagier waren. Aber da Ihr hier seid und nicht bei der Arbeit in der Wetterkammer…« Seine Stimme verlor sich, während er krankhaft die Hände ineinanderschlang. »Conroyd, Ihr müsst die Mauer gesehen haben. Habt Ihr eine Erklärung dafür?« Es war noch zu früh, um sein wahres Gesicht zu offenbaren, daher zwang er seine Züge zu einer Maske des Bedauerns und wohlerwogener Bestürzung. »Efrim, lieber Efrim, Ihr habt in der Tat meine Gedanken gelesen. Ich wollte zufällig gerade nach Euch schicken. Ich brauche Eure Hilfe.«
»Ich tue alles! Alles!«, sagte Holze inbrünstig. »Sagt mir nur, wie ich Euch beistehen kann! Sagt mir, was schiefgegangen ist!«
Er begann auf und ab zu gehen und heuchelte eine Erregung, die er ganz und gar nicht verspürte. »Ich habe dies noch keiner Menschenseele offenbart, Efrim, und ich muss Euch bitten, es geheim zu halten. Wenn es sich herumspricht, fürchte ich um die Sicherheit des Volkes. Barls Mauer ist beschädigt. Nicht so weit, dass es meine Macht überstiege, den Schaden wieder zu beheben«, fügte er hinzu, als der Geistliche ein erschrockenes Aufstöhnen erstickte und sich auf den nächststehenden Stuhl sinken ließ. »Aber es wird gewiss einige Zeit dauern. Die Wettermagie der Gesegneten Barl hat mir gezeigt, wie ich eine Besserung herbeiführen kann, und ich tue alles, was in meinen Kräften steht. Mit der Zeit werde ich Erfolg haben. Aber bevor ich den Schaden endgültig behoben habe, wird es noch mehr Regen und weitere Unannehmlichkeiten geben.« »Asher«, sagte Holze mit uncharakteristischer Gehässigkeit. »Das ist das Werk dieses abtrünnigen Olken.«
Morg senkte in gespieltem Kummer den Kopf. »Ja. Ich befürchte, so ist es.« »Habt Ihr schon mit diesem Idioten, Gar, gesprochen?«
»Nein«, erwiderte Morg nach einem kurzen Schweigen. »Warum sollte ich? Gar Torvig ist jetzt ein Privatmann. Überflüssig und unnötig.«
»Ja, aber er war dabei, als Asher sich an dem Wetter vergriffen hat«, meinte Holze eifrig und erfüllt von einer jähen, falschen Hoffnung. »Vielleicht kann er uns sagen, was genau der Verbrecher getan hat. Vielleicht wird es Euch helfen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen!«
Ein einfallsreicher Gedanke, wenn auch sinnlos. Aber die Befragung des Krüppels würde Holze etwas zu tun geben. Würde dafür sorgen, dass er ihm nicht in den Weg kam. Er nickte. »Seid gesegnet, Efrim. Daran hätte ich selbst denken sollen.«
»Nein, nein, Conroyd. Ihr habt gewiss schon die Grenzen Eurer Kraft erreicht!« Morg hätte um ein Haar laut aufgelacht. »Ich fürchte, Efrim, all die wunderbaren Pläne, die wir neulich abends ausgearbeitet haben, werden noch ein Weilchen warten müssen. Wenn ich uns nicht vor Ashers perfidem Verrat rette, wird es keine ruhmreiche Zukunft für uns geben.«
»Natürlich, natürlich!«, stimmte Holze ihm zu und stand auf. »Nichts ist wichtiger als die Wiederherstellung von Barls Mauer. Das ist Eure heilige Pflicht, Conroyd!«
Er nickte. »Genau. Und nun zu etwas anderem. Wie es sich fügt, könnt Ihr mir bei zwei weiteren Angelegenheiten helfen. Zuerst einmal könntet Ihr dafür sorgen, dass die Bevölkerung der Stadt mit Gebeten beschäftigt wird. Ihr braucht keine besonderen Gründe zu nennen, eine unterstützende Ermahnung zu meinen Gunsten sollte genügen. Ich dachte, es würde vielleicht helfen, die Befürchtungen des Volks zu zerstreuen und den Menschen das Gefühl geben, sie könnten zum Wohlergehen unseres geliebten Königreichs beitragen. Außerdem wird es Eure untergebenen Geistlichen daran hindern, unkluge Spekulationen anzustellen.« Holze nickte. »Natürlich. Was noch?«
»Ich denke, es wäre klug, alle Aktivitäten der Räte, des Kronrats wie des Großrats, einzustellen, bis diese Krise vorüber ist.«
»Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Holze stirnrunzelnd. »Die Angelegenheiten des Königreichs müssen weitergehen.«
»Aber hätte das wirklich einen Nutzen, solange das Wetter… instabil… bleibt?« Morg schüttelte den Kopf, als spielte es eine Rolle. »Ich denke, wir beide kennen die Antwort darauf. Die Gilden werden die Menschen aufwiegeln, und unsere doranischen Brüder werden darauf drängen, an Dingen beteiligt zu werden, die geheim bleiben müssen. Wie die Dinge liegen, Efrim, weise ich zu jeder Zeit des Tages und der Nacht wenig zurückhaltende Bitten um eine Audienz ab.« Der Tattergreis nickte unglücklich. »Ja. Ja. Ich fürchte, diese letzte Übertragung der Macht hat viele Menschen verunsichert.«
Verunsichert? Morg wandte sich ab und verbarg ein hämisches Lächeln. Die Insekten mussten die Bedeutung dieses Wortes erst noch lernen… »Ich würde es als großen persönlichen Gefallen erachten, Efrim, wenn Ihr meine Entscheidung in einer Krisensitzung der Räte ankündigen könntet. Willer wird die Mitglieder der Räte verständigen. Ermahnt sie mit Nachdruck, mit aller Kraft um die Erlösung unseres Königreiches zu beten.«
Holze verneigte sich. »Natürlich, Eure Majestät. Seid versichert, dass ich mich darum kümmern werde.«
Morg, der seinen Abscheu verbergen musste, umarmte den leichtgläubigen Geistlichen. »Ich vertraue Euch bedingungslos, Efrim. Jetzt geht und kümmert Euch um unser Königreich. Benutzt Willer, als wäre er Euer eigener Diener.« »Ihr werdet ihn nicht brauchen?«
Willer brauchen? »Es ist ein Opfer, das ich im Dienste unseres geliebten Lurs mit Freuden bringen werde«, sagte er ernst. »Barls Segen begleite Euch, lieber Freund.«
Wieder allein, herrlich allein, streckte Morg sich auf dem Sofa im Arbeitszimmer aus, schloss die Augen und lauschte auf die Musik des Donners, während der die verletzbaren Fensterscheiben klappern ließ.
Hinter den Vorhängen von Veiras Wohnzimmer heulte der Wind gnadenlos und ohne Unterlass. Gnadenlos prasselte der Regen auf die Erde, und Hagelkörner, so groß wie Hühnereier, zerschlugen das Strohdach des Hauses. Gar blickte stirnrunzelnd auf. Er hatte vor einer Weile gehört, wie eine Fensterscheibe zerschmettert worden war, war aber nicht aufgestanden, um nachzusehen. Irgendjemand würde sich schon darum kümmern. Er musste sich auf seine eigene Aufgabe konzentrieren: Die akkurate Übersetzung von Barls furchtbaren Zaubern. Etwa ein halbes Dutzend hatte er bereits fertig gestellt und Veira überreicht, damit Asher ihre gefährlichen, verschlungenen Worte und Gesten lernen konnte. Etwa ein Dutzend musste er noch entziffern. Sie bereiteten ihm Kopfschmerzen.
Die Tür wurde geöffnet, und Dathne kam herein, ein Tablett in den Händen. »Suppe«, sagte sie. »Und Brot. Ihr seid schon seit Stunden hier eingepfercht. Ihr solltet etwas essen.«
Hinter ihrer freundlichen Sorge stand tiefer Kummer. Ihre Augen waren hohl, ihre Lippen von Linien des Schmerzes umrahmt. Er schob seine Papiere beiseite und nahm das Tablett entgegen. Wohlduftender Dampf stieg von der Suppenschale auf – aber er hatte dennoch keinen Appetit. Sie ging ans Fenster, zupfte die verblassten Vorhänge auseinander und blickte in den mitleidlosen Regenguss hinaus.
Er stellte das Tablett ab, griff nach dem Löffel und zwang sich, ein wenig Brühe zu schlucken. Huhn. Als Kind war das seine Lieblingssuppe gewesen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, fragte er: »Ich nehme an, soweit es Asher betrifft, habt auch Ihr zu existieren aufgehört?«
Sie zuckte zusammen, gerade noch wahrnehmbar. »Ich würde lieber nicht darüber reden.«
»Gut«, sagte er und nahm noch einen Löffel Suppe. Kaute an dem Brot, das altbacken war. »Was machen denn die anderen so?«
»Matt hat das Geschirr in die Küche geschleppt, und er und Darran ölen es.« Er erstickte fast an seiner Suppe. »Darran ölt ein Geschirr?«
»Er ist fest entschlossen, nützlich zu sein.« Der liebe alte Mann. »Und Veira?« Dathne zögerte einen Moment. »Sie ist mit Asher draußen im Schuppen und hilft ihm, Eure Kriegszauber zu lernen.«
Er ließ den Löffel in die Schale fallen. »Veira kann Kriegszauber wirken?« »Nein«, antwortete Dathne und wandte sich vom Fenster ab. »Aber da Asher sich geweigert hat, sich beim Üben von Euch helfen zu lassen, will sie ihn einfach… im Auge behalten. Ihr wisst schon. Für den Fall…«
Für den Fall, dass er sich versehentlich selbst umbrachte. »Ich verstehe.« »Aber er macht seine Sache sehr gut. Veira sagt, man könne meinen, er hätte Kriegsbestien heraufbeschworen, noch bevor er das Laufen gelernt hat.« »Wusstet Ihr das über ihn?«
»Ich wusste nichts über ihn, abgesehen davon, dass er der Unschuldige Magier ist.« Sie rieb sich die Arme. »Es ist kalt.«
»Ja«, pflichtete er ihr bei. »Die Rückreise nach Dorana wird unerfreulich sein, denke ich.« Und das nicht nur in äußerlicher Hinsicht.
Sie deutete mit dem Kopf auf Barls Tagebuch, das auf einer Seite des kleinen Arbeitstisches lag, den er benutzt hatte. »Können die Kritzeleien einer arroganten, toten Frau uns wirklich retten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er und unterdrückte einen Anflug von Ärger darüber, dass jemand Barl mit diesen Worten beschrieb. Dann zuckte er mit den Schultern und strich mit den Fingern liebkosend über den fleckigen Einband des Tagebuchs. »Ich hoffe es. Oder zumindest hoffe ich, dass sie Asher helfen werden, uns zu retten. Wenn er es kann. Wenn er wirklich das ist, was Ihr denkt.«
»Natürlich ist er das«, entgegnete sie scharf. »Oder zweifelt Ihr jetzt an mir? Und an Veira? Und an allem anderen, was Ihr gesehen und gehört habt?« Er lächelte sie verdrossen an. »Dathne, nach allem, was in diesen letzten Wochen geschehen ist, würde ich wahrscheinlich einen Moment lang zweifeln, wenn Ihr mir sagtet, mein Name sei Gar.«
Ihre Miene wurde weicher. »Ja. Das kann ich mir vorstellen. So viele Dinge sind auf den Kopf gestellt worden.«
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht kritisch klingen. Wenn wir die kommenden Tage tatsächlich überleben – wenn Lur sie überlebt –, werden wir Euch und Eurem Zirkel dafür zu danken haben.«
»Und Asher.« Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte sich wieder dem Fenster und dem trostlosen Ausblick zu. »Ich frage mich, ob es überhaupt jemals wieder aufhören wird zu regnen?«
»Was haben Eure Visionen Euch gezeigt?«
Sie schauderte. »Gräuel, die ich lieber vergessen würde.«
»Und doch haben sie Euch auch Asher gezeigt. Können wir das eine ohne das andere haben?«
»Wer weiß?« Mit einem heftigen Ruck zog sie die Vorhänge wieder zu, dann schlang sie sich die Arme um den Leib. »Ich jedenfalls nicht.«
»Es scheint, dass wir beide zusammengenommen überhaupt nicht viel wissen«, sagte er und versuchte, seine Worte scherzhaft klingen zu lassen.
Sie sah ihn ohne jede Erheiterung an, und ihre Augen waren groß und dunkel. »Wie ist es möglich, dass Ihr es nicht wusstet, Ihr Doranen?«, fragte sie anklagend. »Ihr seid die großen Magier, diejenigen, die alle Macht besitzen. Euer Vater war der König, Gar, der Wettermacher. Ihr und Eure Familie hattet Morg in Eurer Mitte; er hat das Brot mit Euch gebrochen, hat die gleiche Luft geatmet! Wie viele Stunden habt Ihr mit ihm in einem Raum gesessen und Eure kostbare Magie studiert? Wie kommt es, dass keiner von Euch geargwöhnt hat, wer und was er war? Wie konntet Ihr es nicht wissen?«
»Glaubt Ihr, ich hätte mir diese Frage nicht selbst gestellt?«, gab er zurück. »Glaubt Ihr, es würde auch nur eine Stunde vergehen, in der ich auf jede Stunde zurückblicke, auf jede Minute, die wir in Morgs Gegenwart verbracht haben, ohne mir die Frage zu stellen, wie es möglich war, dass wir so blind waren? Ihr könnt uns unser Versagen nicht mehr vorwerfen, als ich es tue, Dathne, glaubt mir! Zu unserer Verteidigung kann ich nur sagen, dass Morg früher einmal Morgan gewesen sein mag, ein Mann aus Fleisch und Blut, aber was immer er jetzt ist, übersteigt das doranische Verständnis bei weitem. Nicht einmal Eure Prophezeiung konnte ihm einen Namen geben, oder? Ebenso wenig wie die Visionen, deren Ihr Euch rühmt.«
»Zumindest hatten wir unsere Visionen!«, gab sie zurück. »Vor sechshundert Jahren wusste Jervale, dass Ihr und die Euren einen Fehler begangen habt, aber Eure kostbare Barl hat ihn niedergeschrien! Wie viel besser wären wir auf diesen Tag vorbereitet gewesen, wenn…«
Er ließ die Faust auf den Tisch krachen. »Das könnt Ihr nicht wissen! Dathne, es ist sinnlos, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Was geschehen ist, ist geschehen. Mein Volk kam, Eures hat uns akzeptiert, und so wurde Euer Schicksal an unseres gebunden. Das ist Geschichte und lässt sich nicht mehr ändern. Wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren – und gegen alle Logik auf ein Wunder hoffen.«
»Wir haben ein Wunder«, erwiderte sie grimmig. »Sein Name ist Asher.« »Ich hoffe, Ihr habt Recht«, sagte er, plötzlich müde. »Ich hoffe, er ist all das, was Eure Prophezeiung von ihm behauptet. Denn wenn er es nicht ist, ist dieses Königreich verdammt und mit ihm jede einzelne Seele darin.«
»Ich habe Recht«, erklärte sie, dann deutete sie mit dem Kopf auf die halb getrunkene Suppe auf dem Tablett und das kaum berührte Stück Brot. »Seid Ihr damit fertig?«
Er nickte. »Ja. Danke. Es tut mir leid, dass ich dem Mahl nicht besser gerecht werden konnte.« Als sie Anstalten machte, das Tablett zu ergreifen, hob er die Hand, um sie aufzuhalten, dann blätterte er in seinen Papieren. »Hier«, sagte er und schob drei Bögen unter den Brotteller, damit der Wind sie nicht wegwehen konnte. »Weitere Zauber, an denen Euer Wunder sich üben kann.« Sie sah die Blätter an, als könnten sie sie beißen. »Wann werdet Ihr mit dem Rest fertig sein?«
»Irgendwann heute Nacht, denke ich. Hoffe ich.«
»Ich hoffe es ebenfalls«, entgegnete sie und warf einen Blick auf das Fenster, als eine neuerliche Woge von Hagelkörnern gegen das Glas prasselte. »Matt sagt, die Wettermagie zerfalle von Stunde zu Stunde schneller. Die Mauer wird jetzt nicht mehr lange stehen.«
Er verzog das Gesicht. »Dann mache ich mich besser wieder an die Arbeit. Danke für die Suppe.«
»Gern geschehen«, sagte sie und ließ ihn mit seinen Papieren und Barls Tagebuch allein.
Veira, die hinter einem Stapel alter Kisten in ihrem verwitterten Schuppen saß, hob die Stimme, um das Kreischen der Werschlacke zu übertönen, und rief: »Töte es! Töte es!«
Keuchend und mit hektischen Bewegungen zeichnete Asher ein Siegel in die Luft und sprach die Worte des Zaubers. Die zuckenden, orangefarbenen Tentakel der Werschlacke brachen in hitzelose Flammen aus; ihre acht klauenbewehrten Arme zitterten; sie schrumpfte zusammen und starb und hinterließ nur einen Ring aus rauchendem Schmutz auf dem Boden des Schuppens, wo ihr beißender Schleim hingetropft und Staub und Holz zum Kochen gebracht hatte.
»Verdammt will ich sein«, murmelte er und lehnte sich gegen einen Pfosten. »Wie viele noch, hm?«
Veira, die ein ganzes Stück entfernt gestanden hatte, um sich nicht in Gefahr zu bringen, blätterte den Stapel Papiere in ihrer Hand durch. »Das ist der letzte der Zauber, die Matt vorhin hergebracht hat.«
»Wie viele kommen noch?«
»Das wirst du Gar fragen müssen«, erwiderte sie und sah ihn herausfordernd an. Er presste die Lippen aufeinander und blickte in den tropfnassen Garten hinaus. Zum Rand des Schwarzen Waldes hin und zu den Bäumen, die vor dem bleiernen Himmel hin und her wogten. Er war erschöpft und hatte den Überblick über die Zahl der Monstrositäten verloren, die er nur mit wenigen Worten und der Macht seines Geistes herbeigerufen hatte.
Es war ein zutiefst unbehagliches Gefühl, zu wissen, dass Dinge wie Werschlacken, Trolle, Horlirs und Grausame direkt unter seiner Haut lauerten. Wenn Pa ihn jetzt sehen könnte…
Beunruhigt, den Blick immer noch auf den peitschenden Wald gerichtet, stahlen seine Finger sich auf seine Brust, und er rieb an der harten, kleinen Beule des Kristalls, der in seinem Fleisch ruhte. Wann immer er seine Macht heraufbeschwor – eine Leistung, die ihm zunehmend leichter fiel, noch etwas, auf das er gut hätte verzichten können –, kitzelte der Kristall. Er summte, als erwache er aus einem flachen Schlaf.
Er hatte wieder und wieder gefragt, aber Veira weigerte sich, ihm mehr über den Zweck dieses Splitters zu erzählen. Nur: »Du wirst es wissen, wenn die Zeit kommt. Hör auf, mich damit zu plagen, Kind.«
Jetzt stand sie nah genug, um ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben, und sagte: »Lass das! Du musst dir noch weitere Zauber aneignen, und es wird schon bald zu dunkel sein, um weiterzumachen.«
Er stöhnte. »Gönn einem doch mal einen Augenblick Ruhe, Veira. Ich mache das jetzt schon seit etlichen verdammten Stunden.«
»Und Stunden sind alles, was wir haben, bevor wir uns auf den Rückweg in die Stadt machen müssen. Ich…«
»Entschuldigung«, sagte Matt, der von draußen in den Schuppen kam. Er war behängt mit dem vom Öl dunklen Pferdegeschirr, und sein Kopf und seine Schultern waren nass von dem unablässigen Regen. »Ich wollte nicht stören.« »Das tust du auch nicht«, erwiderte Asher stirnrunzelnd. Matts Farbe war zur Gänze aus seinem Gesicht gewichen, und er war bleich und hager. »Alles in Ordnung bei Euch?«
Matt ließ das Geschirr auf einen mit etlichem Krimskrams bedeckten Tisch fallen. »Das Ungleichgewicht der Magie wird schlimmer. Mit jeder Stunde, die verstreicht, spüre ich es deutlicher.«
Asher nickte. »Ja.« Er konnte es ebenfalls spüren, wie scharfe Fingernägel, die sich in sein Gehirn gruben und über seine Haut kratzten. »Du musst es ausblenden, Matt, sonst wird es dich in Stücke reißen.«
Matt verzog das Gesicht. »Ich versuche es ja. Aber ich bin nicht du.« Er sah Veira an. »Kannst du einen Augenblick erübrigen, um mir zu helfen, dieses Geschirr zu verstärken?«
»Natürlich wird sie dir helfen«, sagte Asher frohgemut. »Sie hat gerade jetzt nichts Besseres zu tun, da ich eine Atempause einlegen werde.« Und er verschwand, bevor Veira ihn zurückrufen oder abermals schlagen konnte. Er lief durch das glucksende Gras zum Haus hinüber, stieß die Küchentür auf und flüchtete tropfnass über die Schwelle.
Die Küche war voll von weiteren gesäuberten Teilen von Geschirren, Kochgerüchen und Darran. Der nur einen Blick auf sein Gesicht warf, in einem Schrank zu stöbern begann und eine nichtssagende Flüssigkeit von etwas herausnahm, das zumindest vielversprechend aussah. Dann schenkte er ihm ein halbes Glas voll ein.
Asher trank es mit einem einzigen Schluck, dann taumelte er für eine Weile hustend und keuchend durch den Raum und schlug sich auf die Brust. »Gern geschehen«, meinte Darran. Mehl bestäubte sein Wams, sein Gesicht, sein Haar. Er war gerade damit beschäftigt, Teig auszurollen. Der verdächtig klumpig aussah.
Asher streckte sein geleertes Glas aus und wartete. Darran goss ihm mit verkniffenem Gesicht eine geizige zweite Portion ein, bevor er die Flasche demonstrativ wieder verkorkte und in den Schrank zurückstellte. Er lernte schnell. Diesmal nippte er nur, statt gierig zu trinken, leerte das Glas abermals und stellte es neben die Spülschüssel. Dann sah er Darran seufzend an, wusch das Glas aus und stellte es verkehrt herum zum Trocknen hin.
Darran wandte sich wieder seinem Teig zu. »Gar hatte nie die Absicht, Euch zu verletzen.«
Ein weiterer Seufzer. Dafür hatte er einfach nicht die Kraft. »Es ist bereits gesagt worden, und nichts hat sich geändert. Lasst gut sein, alter Mann.« Das Nudelholz schlug mit einem lauten Peng auf den Tisch. »Er hat Euch das Leben gerettet!«
»Ihr meint, er hat Matts Leben gerettet.«
»Und Eures. Interessiert es Euch nicht einmal, wie? Oder ist es wichtiger, ihn zu hassen, als die Wahrheit zu erfahren?«
Asher sah ihn an. In den Augen der alten Krähe flammten ungerechte Hoffnung und Anklage. Er wollte das nicht sehen, also schlenderte er zum Fenster hinüber und blickte in den Regen hinaus, statt diesen flehenden alten Mann zu betrachten, der von ihrer ersten Begegnung an für ihn nichts gewesen war als eine harte Leidensprüfung.
»Ja«, sagte er säuerlich. »Hass ist erheblich wichtiger.«
Darran packte ihn, schob seine Jacke und seine Hemdärmel hoch, um die gezackte Narbe aus seiner verwegenen Kindheit mit Jed zu enthüllen. »Der andere Mann hatte keine Narbe auf dem Arm. Aber Gar hat gesagt, es sei Euer Körper, der im Glimmfeuer brannte. Er wusste, dass es nicht so war, und er hat gelogen, obwohl er an Ort und Stelle dafür hätte sterben können. Er hat es ge– sagt, damit sie glaubten, dass Ihr tot wart. Das muss doch ein klein wenig Vergebung wert sein, oder?«
»Nein«, erwiderte Asher unverblümt. »Das ist es nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Darran flehentlich. »Habt Ihr nie etwas getan, das Ihr später nicht bedauert habt? Etwas, das Ihr getan habt, weil Ihr es tun musstet, obwohl ein anderer dafür leiden musste?«
Jed. Er spießte die alte Krähe mit einem sengenden Blick auf. »Ich habe nie ein Versprechen gebrochen. Und wenn Gar das Gleiche getan hätte, hätte es überhaupt keinen Leichnam gegeben, der identifiziert werden musste, oder? Es ist trotzdem jemand gestorben, Darran!«
Darran zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. »Ich weiß. Der Prinz ist zutiefst…«
»Gut. Dann könnt Ihr Rafel vielleicht bitten, Gar zu verzeihen«, sagte er voller Bitterkeit. »Nur fragt nicht mich noch einmal, Darran. Ihr werdet lediglich Eure und meine Zeit vergeuden.«
Darran griff nach seinem Nudelholz und attackierte den Teig. »Ja«, erwiderte er barsch und kalt. »Ja, ich verstehe vollkommen.«
Wütend darüber, dass er sich dazu verleiten lassen hatte, mehr zu sagen, als er beabsichtigte, ging Asher auf die innere Küchentür zu, um seine nasse Kleidung zu wechseln. Er riss die Tür auf – und Gar stand auf der anderen Seite. »Was?«, fragte Asher grob. »Was wollt Ihr?«
Dem erschütterten Ausdruck auf seinem Gesicht zufolge hatte Gar gelauscht. Stumm streckte er die Hand aus. Darin befand sich ein weiterer Stapel Papiere, die mit seiner für Asher kaum lesbaren Schrift bedeckt waren. »Neue Zauber«, sagte er gedämpft.
»Schön«, erwiderte Asher und riss sie an sich. Er würde sich später über trockene Kleidung Gedanken machen. Stattdessen drehte er auf dem Absatz um und stolzierte aus der Küche. In den Regen hinaus. Zurück zu der Arbeit daran, wie man mit Magie tötete.
Erschüttert ignorierte Gar den flehentlichen Ausdruck auf Darrans bleichem Gesicht und kehrte in das Wohnzimmer und zu Barls Tagebuch zurück. Er hatte nur noch einige wenige weitere Seiten vor sich. Erleichterung wetteiferte mit dem scharfen, unerwarteten Kummer bei diesem Gedanken. Wenn das Tagebuch zur Gänze übersetzt war, würde er Barl hinter sich lassen. Würde ihr Lebewohl sagen. Es tat weh, daran zu denken.
Barl… Barl… Wie herrlich sie war. Eine Frau, die in der Geschichte ihres Volkes ihresgleichen nicht fand. Mutig… hingebungsvoll… und durch und durch anständig und aufrichtig. Er konnte ihre Handschrift inzwischen so mühelos lesen wie seine eigene. Sie sprach ganz vertraulich zu ihm, von Geist zu Geist, ein Wispern verzweifelter Eingeständnisse. Ihm und nur ihm verriet sie die ge– heimen Qualen ihres Herzens. Ihre Zweifel. Ihre Ängste. Ihre leidenschaftlichen Sehnsüchte. Er verstand sie, wie er noch nie jemanden verstanden hatte; gewiss nicht ihr treuloser Geliebter, Morgan.
Er zog das Tagebuch zu sich heran und blätterte zur nächsten Seite weiter. Dann blinzelte er einige Male, um den Schleier vor seinen Augen zu vertreiben, und konzentrierte sich auf den hastig hingekritzelten Eintrag.
Als letzte Beschwörung bleiben mir die Worte des Ungeschehens. Sie sind etwas Schreckliches, und einzig meine überwältigenden Ängste haben mich dazu getrieben. Die Saat dieses monströsen Zaubers ist meiner Arbeit mit Morgan entwachsen, obwohl es mich jetzt beschämt, das zuzugeben. Ich glaube fest, dass die Mauer, an deren Schaffung ich arbeite, uns vor ihm schützen wird.
Ich glaube, wir werden dahinter für alle Zeit sicher sein… Aber wenn mein Glaube sich als falsch erweisen sollte, werde ich doch den Sieg gegen ihn davontragen. Denn die furchtbaren Worte, die ich im Anschluss festhalten werde, werden ihn zur Gänze vernichten. Ja, und sie werden auch den Sprecher vernichten… mich vernichten, denn niemand sonst soll sie haben.
Wenn ich sie benutzen muss – wenn ich sterben muss – wird das die gerechte Strafe für mich sein.
Stille, während die geschnitzte Holzuhr an der Wand tickend vom Verstreichen der Sekunden und Minuten kündete, mit denen vielleicht die letzten Tage Lurs abliefen.
Mit trockenem Mund und schweißnassen Händen las er den Tagebucheintrag noch einmal und blickte dann auf die niedergeschriebenen Beschwörungen. Prägte sich die Silben ein und die Siegel und die Rhythmen der Worte und sah mit hämmerndem Herzen, dass er hier den Sieg in Händen hielt.
Sieg – und Tod.
Es fanden sich keine weiteren Zauber mehr in dem Tagebuch nach Barls Worten des Ungeschehens. Dem Zauber, durch den Morg sterben würde – und Asher mit ihm.
Er las ihn noch einmal. Und wieder. Und wieder. Staunte über die Schlichtheit seiner Struktur, seine exquisite Eleganz, die so durch und durch Barl war. Er kannte seine Auslöser und warum er ohne Frage funktionieren würde. Da die Magie eine verblassende Erinnerung in seinem Blut war, konnte er gerade eben noch die Macht der Beschwörung spüren. Angesichts des Potentials solch furchtbarer Zerstörung verspürte er eine flüchtige, schuldbewusste Erleichterung darüber, dass die Last, diese Worte aussprechen zu müssen, niemals ihm zufallen würde.
Und dann – als er die Beschwörung zum achten Mal las – fügte sich in seinem disziplinierten, von Gelehrsamkeit geschärften Geist etwas zusammen. Und plötzlich sah er Barls Zauber in einem ganz neuen Licht, durchschaute ihn als das, was er war. Aber auch als das, was er sein konnte. Immer noch Sieg. Immer noch Tod – und doch etwas vollkommen anderes.
Er schlug das Tagebuch zu. Stieß sich von seinem behelfsmäßigen Schreibtisch ab und durchstreifte Veiras kleines Wohnzimmer, holperte vom Kaminsims zum Sofa, zum Fenster und wieder zurück. Er schwitzte. Konnte er es tun? Wagte er auch nur, es zu versuchen? Wenn die Erinnerung an Magie nicht genug war, wenn seine vielgepriesene Gelehrsamkeit mangelhaft war. Wenn er nur eine einzige Silbe falsch platzierte…
Er konnte sie alle töten. Vielleicht sogar Morg am Leben lassen.
Nein. Er konnte es nicht tun. Sollte es nicht tun. Das Risiko war zu groß. Es war eine unaussprechliche Arroganz, auch nur daran zu denken, Barls letztes und vielleicht größtes Werk zu verändern. Wie lange war er ein Magier gewesen? Bloße Wochen. Das war nicht genug. Wenn das, was er glaubte, der Wahrheit entsprach, wenn die Kräfte, die er offenbart hatte, niemals seine eigenen waren, sondern Teil von Morgs Plan, dann war er nie ein echter Magier gewesen. War niemals etwas anderes gewesen als ein magieloser Krüppel. Eine Schachfigur, die man nach Lust und Laune benutzen und wieder wegwerfen konnte. Und doch… und doch… Er konnte es sehen. Es fühlen. Konnte die Veränderungen ihrer Beschwörung schmecken, wenn auch nur in seinem Geist. Er kannte Barl jetzt geradeso gut, wie sie sich selbst kannte. Wusste, wie ihr Verstand funktionierte, wie er die Welt sah und formte, wusste all diese Dinge mit absoluter Sicherheit.
Er konnte es schaffen.
Er warf sich wieder an seinen Schreibtisch. Schlug das Tagebuch auf, zog sich einen frischen Bogen Papier heran und füllte die Tinte in seiner Feder nach. »Ich kann es schaffen, Barl«, sagte er laut, als sei sie in der Nähe, als höre sie zu. »Ich muss es tun. Ich weiß, dass du es von mir verlangst. Und es ist die einzige Möglichkeit, meine Schulden zurückzuzahlen. Süße Dame, hilf mir…« Draußen vor dem Haus verdämmerte der letzte Rest Tageslicht, und eine vom Regen durchnässte Nacht brach an. Während die Uhren im Haus sieben schlugen, trieb Veira alle zum Abendessen in die Küche. Gerade als sie sich niedersetzten, um Darrans klumpige Kaninchenpastete zu verzehren, erschien einer der Dorfbewohner, der dem schrecklichen Wetter getrotzt hatte, an der Hintertür, um sich zu erkundigen, ob bei ihr alles in Ordnung sei. Sie scheuchte die anderen in den Flur, wo sie sich mit angehaltenem Atem versteckten, bis Gavin davon überzeugt werden konnte, dass sie wunderbar zurechtkomme, vielen Dank, und wieder ging. »Gibt es Neuigkeiten vom Zirkel, Veira?«, fragte Dathne, während sie ihre Plätze an dem überfüllten Küchentisch wieder einnahmen. »Was geschieht andernorts im Königreich?«
Veira seufzte. »Nichts Gutes, Kind. Ich habe von allen gehört, und jede Geschichte ist die gleiche. Stürme toben von Küste zu Küste. Es gibt Überschwemmungen. Brände. Beben, die die Erde auseinanderreißen, geradeso, wie es geschehen ist, als König Borne krank war. In den Straßen von Dörfern und Städten gleichermaßen grassiert unkontrollierte Angst.«
»Und was ist mit meinem Volk?«, fragte Gar. »Gibt es denn keine Doranen, die zu helfen versuchen?«
»Einige wenige«, antwortete sie achselzuckend. »Aber was können sie ausrichten? Sie haben keine Wettermagie. Ich höre, dass die meisten sich auf ihren Landsitzen verstecken, von Panik gelähmt wie die Olken.«
Während Gar, sichtlich bekümmert, auf seinen Teller blickte, räusperte Darran sich. »Was ist mit den Doranen in der Stadt? Die stärksten Magier des Königreichs sitzen im Rat, gewiss können sie…«
Sie schüttelte den Kopf. »Morg hat alle Aktivitäten des Rats ausgesetzt. Barlsmann Holze hat Befehle ausgeschickt, dass alle beten sollen.« »Also argwöhnt nicht einmal er, dass Jarralt nicht Jarralt ist?«, fragte Matt und spießte mit seiner Gabel eine Kartoffel auf.
Unwillig teilte Veira den letzten Leckerbissen Klatsch mit ihnen. »Für all diese Katastrophen wird Asher verantwortlich gemacht.«
Asher schnaubte. »Wie bequem.«
»Es ist sehr klug – und unbequem. Wir werden hart arbeiten müssen, um sicherzustellen, dass man dich nicht bemerkt, sobald wir die Stadt erreichen.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück; der Appetit war ihr gründlich vergangen. »Wir brechen beim ersten Tageslicht auf. Ich wäre weitaus glücklicher, wenn wir kurz nach dem Abendessen weggehen könnten, aber in der Dunkelheit sind die Straßen zu trügerisch, und Glimmfeuer können wir nicht riskieren.« Sie sah Gar an. »Seid Ihr mit Euren Übersetzungen ganz und gar fertig?«
Gar legte Messer und Gabel beiseite. Sein Gesichtsausdruck war wachsam. Er gefiel ihr überhaupt nicht. »Fertig?«, fragte er. »Ja, ich bin fertig. Aber der letzte Zauber ist nicht wie die anderen. Es ist keine Beschwörung für Kriegsbestien.« »Was ist es dann?«, wollte Dathne wissen.
»Ein Zauber, den Asher nur ein einziges Mal sprechen kann. Ein Zauber, den ich ihn selbst lehren muss, unterwegs nach Dorana.«
Zum ersten Mal sah Asher ihn an. »Ihr kommt nicht mit. Ihr könnt ihn mir heute Nacht beibringen.«
»Heute Nacht bin ich zu müde«, erwiderte Gar errötend. »Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, und dies ist eine schrecklich komplizierte Beschwörung. Viel schwieriger als die anderen.«
Veira, die neben ihm saß, legte ihm eine Hand auf den Arm. »Warum?« Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Weil es ein Tötungszauber ist. Mächtig genug, um Morg selbst zu zerstören.«
»Und das erzählt Ihr uns erst jetzt?«, sagte Asher und funkelte ihn an. Gar hielt seinem heißen Blick gelassen stand. »Es war der letzte Zauber in dem Tagebuch. Barls letzte Verteidigung gegen Morg. Ich musste sicher sein, dass ich ihn richtig übersetzt hatte.«
»Und habt Ihr das getan?«
»Ja. Der Zauber wird ihn töten.«
Asher starrte ihn immer noch an. »Und was noch? Ich kenne Euch, Gar, da ist irgendetwas, das Ihr uns nicht sagt. Spuckt es aus.«
»Unglücklicherweise wird er auch dich töten.« Seine Worte entfachten einen Sturm.
»Dann kann er ihn nicht benutzen!«, rief Dathne. »Wie könnt Ihr auch nur daran denken, dass er…«
»Es muss eine andere Möglichkeit geben«, schaltete Matt sich ein und schob seinen Teller von sich. »Die Prophezeiung sagt nichts über…«
»Ich habe Euch doch erklärt, dass er versucht, mich zu töten!«, bemerkte Asher entrüstet.
Veira schlug hart mit der Hand auf den Tisch, sodass sie alle zusammenzuckten und in Schweigen verfielen. »Genug! Niemand hat gesagt, dass er den Zauber benutzen muss. Es könnte sein, dass wir diesen Morg mit einer Armee der Ungeheuer töten können, die Asher heute Nachmittag beschworen hat. Aber wir können es uns nicht leisten, irgendeine Waffe zu ignorieren, die uns in diesem Krieg in die Hand gegeben wird. Ein ganzes Königreich steht auf dem Spiel und mit ihm Tausende und Abertausende von Menschenleben.« Sie sah Asher an und zwang sich, alles freundliche Verständnis aus ihren Zügen zu löschen. »Aber am Ende sind nicht wir diejenigen, die den Zauber benutzen und sterben müssen. Das wäre vielleicht dein Schicksal, Kind. Kannst du es tragen? Wenn alles andere scheitert, könntest du diese Waffe benutzen… obwohl es dich das Leben kosten würde?«
Asher stieß sich vom Tisch zurück, rieb sich das Gesicht und ließ die Hände dann wieder sinken. »Warum stellst du diese Frage überhaupt, alte Frau?« Sein kalter Blick fuhr über ihrer aller Gesichter. »Du hast mir das Versprechen abgenommen, Euch zu helfen, und du weißt verdammt gut, dass ich meine Versprechen halte –ganz gleich, was sie mich kosten. Außerdem gibt es einige, die denken könnten, ich sei bereits tot. Dass ich nur ein Mann bin, der von gestohlener Zeit lebt.«
»Denkst du das wirklich?«, fragte Matt in das rot glühende Schweigen. Asher zuckte mit den Schultern. »Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Nichts spielt noch länger eine Rolle, abgesehen davon, dieses Ungeheuer in der Stadt aufzuhalten.«
»Ja«, sagte Veira, als niemand sonst ihm antworten konnte. »Ganz gleich, was es irgendeinen von uns kostet, Morg muss auf gehalten werden. Jetzt lasst uns alle unsere Mahlzeit beenden, ja, und dann sehen wir zu, dass wir ein wenig Schlaf bekommen. Die Reise zurück nach Dorana wird mörderisch werden.«
Morg, der im Schutz der Dunkelheit in die Wetterkammer zurückgekehrt war, tobte und wütete rund um die Wetterkarte, bis er all die Politur vom Parkett abgerieben hatte und das weiche Holz einen fahlen Glanz verströmte. Die goldene Barriere der Hure war jetzt durchsetzt von Pockennarben der Erschöpfung, ihre kunstvollen Beschwörungen zerfielen Stück für Stück. Draußen heulte ein schriller Wind. Bäume bogen sich und zersplitterten unter einem Himmel, der sich in einen Malstrom von Wolken verwandelt hatte, Blitze erfüllten die Luft und zertrümmerten, was sich noch vom Boden erhob. Die Welt blutete Regen.
Auch die Karte selbst litt. Lepröse Flecken von Verfall und Zerstörung verschandelten sie von einem Ende bis zum andern. Sein lauschender Geist hörte ein fernes Heulen. Er hob den Blick und starrte durch die durchsichtige Kristalldecke in das zuckende, goldene Licht über ihm.
»Ja, Schlampe! Schrei. Schrei!«
Hinter ihm erklang eine aus dem Nichts kommende Stimme: »Conroyd? Eure Majestät? Dürfte ich ein Wort mit Euch reden?«
Erschrocken fuhr er herum. Trat ungläubig zurück. Wütend. »Sorvold? Ihr Übelkeit erregendes Geschwür, raus mit Euch! Ihr alle, raus! Ihr seid hier nicht erwünscht!«
Sie waren in einer Herde gekommen, wie Gänse. Sorvold. Daltrie. Und ungebeten zurück vom Land, auch Boqur und Hafar. Conroyds liebe Freunde und Vertraute.
Als sie ihn mit vor Schreck schlaffen Gesichtern anstarrten, lachte er sein Entzücken laut heraus. »Ihr Dummköpfe! Wisst Ihr denn nicht, dass er Euch verachtet?«
Törichterweise hatten sie dem üblen Wetter getrotzt. Feucht, vom Wind zerzaust, bedeckt mit zerfetzten Blättern, sahen sie trotz ihrer Samt– und Seidengewänder und ihrer jämmerlich geringen Magie aus wie mittellose Vagabunden. Payne Sorvold sagte sehr langsam: »Eure Majestät, fühlt Ihr Euch unpässlich?« Der Sieg war wie ein lange gelagerter Eiswein und brannte in seinem Blut. Er spreizte die Hände aus. »Unpässlich? Im Gegenteil, meine Herren. Mir geht es glänzend. Ich sagte: Hinaus mit Euch.«
Sie tauschten unsichere Blicke. Sorvold ergriff abermals das Wort. »Eure Majestät, wir sind in Sachen Eures Rates hier. Eures Volkes. Das Wetter ist… beunruhigend. Die Mauer selbst scheint… Ihr Aussehen lässt darauf schließen… Eure Majestät, hier stimmt ganz offensichtlich etwas nicht.«
Boqur machte einen Schritt nach vorne und versäumte es, sich zu verneigen. »Conroyd, in schlichten Worten ausgedrückt: Ihr habt Euch geweigert, Euch mit uns zu treffen, sodass wir Euch für diese frühen, unruhigen Tage Eurer Herrschaft mit vernünftigem Rat zur Seite stehen konnten. Gegen alles Herkommen, wider kluge Richtschnüre der Regierung, habt Ihr den gesetzmäßigen Rat des Königreichs ausgesetzt. Aus allen Winkeln des Königreichs strömen ängstliche Boten in die Stadt, verzweifelt erpicht zu erfahren, wie es angesichts der Wildheit des Wetters weitergehen soll. Und vor einer Stunde hat Euer Gehilfe, Willer, uns davon in Kenntnis gesetzt, dass unser ehemaliger Monarch, Prinz Gar, spurlos verschwunden ist.«
Morg lachte laut auf. Das hatte er noch nicht gehört. Und es kümmerte ihn nicht. »Verschwunden? Verschwunden? Oh, armer kleiner Kümmerling! Er rennt und rennt und hat doch keinen Ort, an dem er sich verstecken könnte!« Jetzt war es Hafar, der ihn ermahnte. »Conroyd, es ist offenkundig, dass Ihr unpässlich seid. Vielleicht ist bei der Übertragung der Wettermagie etwas schiefgegangen. Ihr solltet es nicht ohne einen Meistermagier versuchen, der Euch unterstützt. Wir haben versucht, Euch zu warnen, Herr.«
»Wir müssen ehrlich sein, Con!«, sagte der gutmütig derbe Nole Daltrie. »Eure Regentschaft hat einen sehr schlechten Anfang gehabt! Öffentliche Hinrichtungen, verschwundene Prinzen und jetzt dieses schreckliche Wetter! Was tut Ihr dagegen? Die Stadt ist in Aufruhr! Hauptmann Orrick kann nur mit knapper Not die Ordnung aufrechterhalten. In den Straßen herrscht Panik! Aufgebrachte Menschenmengen vor dem Palast verlangen Erklärungen! Und es sind kaum noch Doranen übrig, die helfen könnten, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, nachdem Eure dumme Frau sie aufs Land gerufen hat. Es ist eine absolute Katastrophe, und Ihr tragt die Verantwortung dafür! Also, wie wollt Ihr das wieder in Ordnung bringen?«
Er stieß einen donnernden Seufzer aus. »Oh, Nole, Nole… gönnt Eurer pausenlos plappernden Zunge ein wenig Ruhe. Ich habe nicht die Absicht, es in Ordnung zu bringen. Alles entwickelt sich so, wie ich es wünsche.«
»Wie Ihr es wünscht?«, fragte Boqur. »Conroyd! Seid Ihr dann nicht krank, sondern wahnsinnig? Habt Ihr einmal aus der Wetterkammer hinausgeblickt? Die Mauer selbst ist in Gefahr!«
Er lächelte frohlockend. »Die Mauer selbst fällt, Narr. Und schon bald werdet Ihr alle mit ihr fallen.«
»Barl rette uns«, wisperte Daltrie. »Ich denke, Ihr habt den Verstand verloren, Con. Meine Herren, Ihr habt ihn gehört?«
»In der Tat«, sagte Hafar grimmig. »Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Seine Majestät ist untauglich.«
Sorvold trat mit starrer Miene vor. »Ihr müsst uns begleiten, Herr. Unverzüglich. Was immer Euch anficht, Pother Nix wird es herausfinden und Euch mit Barls Segen wieder gesund machen.«
»Pother Nix ist eine Eiterbeule. Ich fühle mich so wohl wie nie zuvor. Meine Herren, Ihr seid entlassen.«
»Nein, Herr«, sagte Sorvold, der nun noch näher kam. »Ihr seid furchtbar krank. Ihr müsst es sein, denn der Conroyd Jarralt, den ich kenne und bewundere, würde niemals…«
Er brachte den Idioten mit einem freundlichen Lächeln zum Schweigen. Streckte die Hand aus und legte sie ganz sachte über das Herz des blökenden Narren. Beugte sich vor – und zeigte ihm sein wahres Ich.
»Payne«, flüsterte er, als Sorvolds Gesicht grau und sein Mund schlaff vor Entsetzen wurde. »Begreift endlich: Ich bin nicht der Conroyd Jarralt, den Ihr kennt und bewundert…«
Ein Gedanke, und das heftig hämmernde Herz unter seiner Hand hörte auf zu schlagen.
»Conroyd!«, schrien die restlichen Gänse auf. Wagten es, zu kritisieren und zu hinterfragen. Also schlachtete er sie ab wie Gänse. Ließ ihre Körper dort, wo sie standen, fallen, verbrannte sie mit einem weiß glühenden Gedanken zu Asche, und dann vergaß er, dass sie je existiert hatten.
Als der Hahn krähte, hatte sich der Sturm noch verschlimmert. Der Wind war wilder geworden, der Regen heftiger und durchsetzt von Hagelkörnern und umhertanzenden Schneeflocken. Der Wald rings um Veiras Haus verwüstet, weil während der Nacht Bäume umgestürzt und zersplittert waren. Die Welt schien trostlos, als gäbe es keine Hoffnung mehr für sie. Das Geräusch von fließendem Wasser erfüllte die Luft.
Während Veira sich durch den immer tiefer werdenden Schlamm kämpfte und ihre Schweine, die Hühner und den Esel befreite, half Asher Matt, die unglücklichen Pferde an den Wagen zu schirren. Matt wirkte heute Morgen noch bleicher; statt in der vergangenen Nacht zu schlafen, wie Veira es befohlen hatte, hatte er etliche Stunden damit verbracht, mit Decken gefütterte Planen für die Tiere zu nähen, um sie gegen den Regen und den Hagel zu schützen. Während er die Schnallen überprüfte und Knoten festzog, fragte Asher: »Was, meinst du, werden wir in Dorana vorfinden?«
Matt zuckte mit den Schultern. »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Asher…«
Er seufzte, denn er wusste, was Matt sagen wollte. »Tu es nicht. Es hat keinen Sinn. Wenn ich Gars Tötungszauber sprechen muss, dann soll es so sein. Du willst Morg loswerden, nicht wahr?«
»Natürlich will ich das! Aber nicht so…«
»Du meinst, indem ich dafür sterbe?«, fragte er. »Du willst sagen, dass du nie geglaubt hättest, dass es so weit kommen würde? Obwohl deine verdammte Prophezeiung genau das beschreibt?«
»Nein!«, protestierte Matt. »Ich habe nie… Zumindest hatte ich gehofft…« »Hoffnung? Seit wann rettet Hoffnung Leben, Matt? Ich könnte mitten auf dem Marktplatz in Dorana stehen und hoffen, bis mir der Kopf abfällt, dass Morg zu meinen Füßen tot zusammenbricht, aber es wird nicht geschehen, wenn ich es nicht geschehen lasse.«
»Das bedeutet nicht…«
»Wahrscheinlich bedeutet es genau das«, unterbrach er ihn. »Und du hast es immer gewusst. Beleidige jetzt nicht meinen Verstand, Matt. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben.«
Matt sah ihn erschüttert an. »Dathne hat mich davor gewarnt, mich mit dir anzufreunden. Sie wusste immer, wie schlimm die Dinge vielleicht werden würden.«
Dathne. Er wandte sich ab. »Du hättest auf sie hören sollen.«
Stirnrunzelnd schob Matt sich um das Pferd herum, um dessen Schweif zu betrachten, der zusammengebunden war, um ihn gegen den Schlamm zu schützen. »Du solltest dich mit ihr versöhnen. Dieses Schweigen bringt sie um, Asher.«
Sein Herz krampfte sich zusammen. »Das ist meine Angelegenheit, Matt.« »Du bist ungerecht!«
»Willst du, dass ich auch mit dir nicht länger rede?«, fragte er, gefährlich nahe daran, seinen Freund anzufauchen. »Lass gut sein, Matt. Es gibt schon genug Dinge, die mir Kopfschmerzen machen, auch ohne dass persönliches Gewäsch noch dazukommt!«
Die Pferde warfen die Köpfe hoch und stampften mit den Hufen, beunruhigt von ihren angespannten Stimmen ebenso wie dem heulenden Regen. Matt streichelte sie und murmelte beruhigende Worte. Dann nickte er und seufzte. »Also gut, Asher. Was immer du willst. Es ist einfach nur eine Schande. Ich sage dies jetzt zum letzten Mal, dann werde ich es nie wieder sagen: Sie liebt dich.« Asher ging davon und antwortete über seine Schulter gewandt: »Weißt du es denn nicht, Matt? Liebe ist das Geringste aller Probleme.« Schon bald darauf brachen sie auf. Matt hielt die Zügel, Dathne und Veira saßen links und rechts von ihm. Auf der Ladefläche des Wagens befanden sich unter der behelfsmäßigen Plane, auf die der Regen trommelte, Asher, Gar und Darran sowie ihre Körbe mit Vorräten. Der alte Mann wickelte sich in eine Decke und schlief schnell ein, ein Bündel schnarchender Knochen.
»Ich fürchte, es war zu viel für ihn«, bemerkte Gar besorgt. »Ich hätte ihn im Turm zurücklassen sollen.«
Asher schnaubte. »Ihr hättet eine Menge Dinge tun sollen, schätze ich. Aber jetzt ist es ein wenig zu spät dafür, wie?«
Gar blickte auf das Papier in seinen Händen hinab. Seine Miene war verschlossen. Undeutbar. So wie sie es zu Beginn ihrer Bekanntschaft gewesen war, als Gar noch immer ›Eure Hoheit‹ gewesen war und Freundschaft nicht einmal ein Gedanke. »Ich hoffe es nicht.« Er strich mit den Fingern über das verknitterte Papier. »Ich hoffe, dass ich damit alles in Ordnung bringen kann.« »So nennt Ihr es, mich zu töten, ja? Alles in Ordnung bringen?« Er lachte. »Es macht Euch nicht das Geringste aus, nicht wahr?«
Gars Augen funkelten. »Was? Dass dieser Zauber, den ich übersetzt habe, dich umbringen wird? Wenn ich es abstritte, würdest du mir glauben?« Er lehnte den Kopf an die Plane. »Natürlich würdest du mir nicht glauben. Du hast deine Gefühle sehr deutlich gemacht, Asher. Lass uns jetzt nicht darauf herumreiten. Du hast dich bereit erklärt, dies zu tun, und ich habe mich bereit erklärt zu hel– fen. Dabei wollen wir es bewenden lassen, ja?«
Asher zog die Knie hoch und schlang die Arme darum. Dann blickte er zu dem hinter Wolken verborgenen Himmel empor, draußen grollten Donnerschläge. »Ja. So wollen wir es halten.«
»Gut«, sagte Gar angespannt. »Wollen wir jetzt an der Beschwörung weiterarbeiten? Ich weiß, es wird noch Stunden dauern, bis wir Dorana erreichen, aber dies ist keine Aufgabe, die man unter Zeitdruck erledigen sollte.« »Und wie soll ich das verdammte Ding üben, wenn die Worte mich umbringen werden?«
»Ein wenig Verstand darfst du mir schon zutrauen«, blaffte Gar. »Ich habe die Beschwörung in einzelne Teile zerlegt. Wir werden einen nach dem anderen bearbeiten und dabei nicht nach der Reihenfolge vorgehen. Und die Siegel werden wir uns bis zuletzt aufheben. Sobald du dir jeden Teil der Beschwörung eingeprägt hast, werde ich dir die richtige Reihenfolge zeigen. In Ordnung?« Er nickte widerstrebend. »Ja. Schön. In Ordnung.«
»Gut«, sagte Gar. »Und nun pass auf…«
Dathne kauerte in ihrer Decke und hielt den Blick auf den feuchten, von der Plane geschützten Rücken der Pferde gerichtet. Arme Tiere. Sie sahen so elend aus: Die Ohren an den Kopf gelegt, schnappten sie bei jedem zweiten Schritt nacheinander, und ihre zusammengebundenen Schwänze peitschten hin und her. Vor ihnen lag die von Wasser überflutete Straße, und zu beiden Seiten standen vom Wind zerschundene Bäume. Die Wagenräder rutschten immer wieder weg, und die Pferde ächzten vor Anstrengung.
Matt, der neben ihr saß, hielt die Zügel in den Händen, und sein Gesicht war gerötet von der Kälte. Auch er hatte sich in eine von Dathnes Decken gehüllt, aber sie konnte dennoch sein Zittern spüren. Er litt unter dem Zusammenbruch des magischen Gewebes Lurs. Selbst sie, die sich nie so gut auf dergleichen Dinge verstanden hatte wie Matt, konnte es langsam spüren – ein dünner, kalter Schrei, der gerade noch hörbar war.
Ihr war selbst nach Schreien zumute. Wie viel Furcht und Kummer konnte ein Mensch ertragen, bevor diese Gefühle sich in einem wütenden Sturzbach Bahn brechen mussten?«
Asher weigerte sich, mit ihr zu sprechen. Asher konnte sehr gut schon bald tot sein.
Sie drehte den Kopf, um die langsam vorübergleitende Landschaft zu betrachten, und biss sich auf die Knöchel, um ihrer Trauer und ihrer Angst Einhalt zu gebieten. Wenn er starb – wenn er starb, ohne ihr zu vergeben; in dem Glauben starb, dass ihre Liebe eine Lüge war, nichts als nüchterne, kalte Berechnung – wie konnte sie danach weiterleben? Was würde sie ihrem Kind sagen? Ihrer beider Kind… Ihre Finger tanzten über ihren Leib. War es ein Junge oder ein Mädchen? Würde es seine Augen haben? Würde sie ihn in der Art, wie es ging, erkennen? Ihn im Klang seines Lachens hören? Würde es jemals geboren werden? Oder war es wie er dazu bestimmt zu sterben? Wartete im fernen Dorana der Tod auf sie alle? Nein. Sie musste aufhören, so zu denken, oder sie würde wahnsinnig werden, noch bevor sie auch nur die Tore der Stadt erreichten. Noch bestand Hoffnung. Es bestand immer Hoffnung. Sie konnte – würde – nicht glauben, dass die Prophezeiung sie so weit geführt hatte, nur um sie am Ende im Stich zu lassen. Bitte, bitte, lass ihn nicht sterben.
Das Klappern emsiger Nadeln lenkte sie ab, und sie sah an Matt vorbei zu Veira hinüber. Die alte Frau strickte. Strickte. Als säße sie daheim in ihrer Küche oder vor dem Kamin und als seien dies gewöhnliche Zeiten.
Veira blickte auf. »Du machst dir Sorgen wegen unseres Magiers und seines Freundes, die hinter uns hocken? Das musst du nicht. Die beiden werden sich schon nicht in die Haare geraten.«
»Ich weiß«, antwortete Dathne und versuchte, nichts anderes zu sagen, aber die Worte waren heraus, bevor sie sie aufhalten konnte. »Veira, er wird diesen Tötungszauber nicht benutzen müssen, nicht wahr?«
Matt, der zwischen ihnen saß, schüttelte die nassen Zügel und hielt den Blick fest auf den Rücken der Pferde gerichtet. Wenn auch er Angst hatte, so ließ er sich nichts anmerken. Er verstand sich seit neuestem gut darauf, seine Gefühle zu verbergen. Früher einmal wäre ihr das willkommen gewesen, aber jetzt… Jetzt fühlte sie sich nur umso einsamer.
Veira zischte, als sie eine scharlachrote Masche fallen ließ. »Ich hoffe nicht«, sagte sie, während sie ihren Fehler behob. »Ich habe Schritte unternommen, um ihn mit dem Zirkel zu vereinen, sodass sie alle ihm ihre Kraft leihen können, wenn er sie am dringendsten braucht.«
Diese Bemerkung erregte Matts Aufmerksamkeit; sie tauschten einen erschrockenen Blick. »Wann?«, fragte Dathne scharf. »Und warum sind Matt und ich nicht eingeschlossen worden?«
»Es ist zu gefährlich für dich und Matthias. Die übrigen Mitglieder des Zirkels sind weit genug entfernt, um nicht in Gefahr zu geraten, aber wir werden wahrscheinlich mitten im Getümmel sein, Kind. Du würdest ihn nur ablenken.« »Wie können wir ihm dann helfen?«, fragte Matt stirnrunzelnd. »Wir können nicht gar nichts tun.«
Veira tätschelte ihm das Knie. »Ich weiß es noch nicht. Wir werden einfach abwarten müssen, wie es aussieht, wenn wir dort ankommen.«
Abwarten… warten… Ja, aber worauf? Auf einen Sieg oder auf eine verdammte Niederlage? Bei dem Gedanken daran, dass Asher die furchtbaren Worte des Ungeschehens sprechen könnte, wurde ihr speiübel. Gar sollte verflucht sein! Warum hatte er den Zauber finden müssen? Warum hatte er ihnen davon erzählen müssen?
Schick mir eine Vision, ich flehe dich an, Jervale. Zeig mir, dass er nicht sterben wird. Sie schloss die Augen und wartete, aber Jervale schwieg. Bastard! Mit brennenden Augen und von Tränen zusammengeschnürter Kehle verschränkte sie die Arme über dem Leib, sank auf dem unbequemen Sitz des Wagens zusammen und neigte den Kopf, bis er auf Matts Schulter zu liegen kam. Matt erhob keine Einwände.
Sie floh in den Schlaf und in rastlose, wenig hilfreiche Träume.
Dorana lag im Sterben.
Morg stand auf dem Dach des Wohnflügels in dem verlassenen Palast und beobachtete lächelnd die Todeskrämpfe der Stadt. Hinter ihm war der Himmel von der Farbe angelaufenen Silbers, und Barls Mauer war ein Blitzen schmutziger, zusammenbrechender Macht, vom Wind zerrissen wie eine zerlumpte Fahne.
Endlich… Die Hure war geschlagen.
Unter seinen Füßen spürte er ein unheilverkündendes Grollen. Das Dach erbebte, während der Palast wie trunken auf seinen Grundfesten schwankte. Unter ihm zerbrachen Fenster, Ziegelsteine und Dachpfannen fielen herab und barsten in den Innenhöfen. Die mächtigen Bäume in den Gärten stöhnten und schauderten, während ihre Wurzeln den vom Regen weich gewordenen Boden aufrissen. Nach sechshundert Jahren erwachte die Erde. Zuckte mit ihren Schultern, während die Bande der Magie endlich fielen.
Von den Dächern um ihn herum hörte er Schreie. Sah einige verzweifelte Doranen und noch mehr Olken: Ehemalige Ratgeber, Palastdiener, Hausmädchen, Lakaien; sie alle rannten kopflos umher, während ihre sanfte Welt um sie herum in Stücke brach. Sie sahen ihn.
»Eure Majestät! Eure Majestät!«, schrien sie wie Kinder. »Helft uns! Rettet uns!« Er hob eine Faust und ließ ihrer aller Herzen stillstehen. Der Lärm lenkte ihn ab. Er wollte seinen Sieg ungestört auskosten.
Ein Schatten berührte sein Gesicht, und als er aufblickte, sah er frische Wolken, die sich aus dem Nichts formten, aus der Luft, geboren aus der wilden, ziellosen Wettermagie, die er aus Barls Mauer entfesselt hatte. Die Wolken verdeckten das Gesicht der blass gewordenen Sonne und verwandelten den Tag in schummrige Abenddämmerung.
Mit einem knirschenden Dröhnen wogte die Erde abermals auf, spie Dampf und kochenden Schlamm aus. In der Ferne, in der Stadt sah er weitere Gebäude einstürzen. Malte sich das Grauen aus, das Entsetzen und wurde überflutet von atemberaubendem Glück.
»Eure Majestät? Eure Majestät«, krächzte eine leise Stimme hinter ihm. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Geht weg, Willer.« »Aber, Eure Majestät…« Also drehte er sich nun doch um und betrachtete ungeduldig die jämmerliche Kreatur, die katzbuckelnd über das Dach auf ihn zukam.
»Was?«
Willer starrte ihn an; sein Gesicht war fleckig vor Angst, und er stank nach Bier. »Hauptmann Orrick schickt eine dringende Nachricht! Viele Straßen haben sich in Flüsse verwandelt, und das Wasser reißt alles mit, was ihm im Weg ist. Ertrunkene Hunde, zerschlagene Kutschen, Möbel.« Er konnte kaum sprechen vor Entsetzen. »Menschen. Kinder.« Er nickte. »Gut.« »Gut?« Sprachlos vor Schreck, versuchte der kleine Wurm zu verstehen. »Aber Ihr seid der König! Ihr seid der Wettermacher!«
»Narr«, erwiderte Morg verächtlich. »Ich bin keins von beidem. Bin es nie gewesen.«
Dem fetten Mann stiegen Tränen in die Augen. »Bitte, Eure Majestät. Hauptmann Orrick fleht Euch an zu kommen. Und Barlsmann Holze ebenfalls. Die Überlebenden versammeln sich auf dem Marktplatz und beten – aber sie brauchen Euch.«
Er seufzte. »Geht weg, Willer.«
Schwitzend und weinend rang der Wurm seine schwächlichen Hände. »Fühlt Ihr Euch unwohl, Herr? Soll ich Euch einen Pother holen?«
Morg betrachtete ihn. Geschwätz, Geschwätz, Geschwätz. Das Blöken eines Schafs. »Ich frage mich, ob es einen Grund gibt, warum Ihr atmen solltet?«, überlegte er laut.
Willer gaffte ihn an. Dann zog er sich, sehr langsam, zurück. »Eure Majestät?« »Nein«, befand Morg. »Nein, Ihr habt Euren winzigen Zweck erfüllt.« Er streckte einen Finger aus und ließ die Made an Ort und Stelle erstarren. »Aber bevor ich mich Eurer entledige… Würdet Ihr gern wissen, was Ihr getan habt? Welches Wunder Euer kleiner Geist und Eure schäbigen Eifersüchteleien in diesem elenden Königreich bewirkt haben?«
Er hob den Finger und ließ den Wurm in der feuchten Luft treiben. Der Wurm kreischte. »Nein! Nein! Hört mich irgendjemand? Hilfe!«
»Schaut sie Euch an, Willer«, forderte er ihn auf. »Die Macht und Majestät der Mauer Eurer gesegneten Barl! Seht Ihr, dass sie fällt? Seht Ihr, dass sie fällt? Wisst Ihr, dass Ihr daran die Schuld tragt?«
»Ich, Herr? Nein, Herr!«, heulte die auf und ab hüpfende Kreatur.
Morg lachte über das Grauen in ihrem Gesicht. »Oh, doch, Herr! Denn der einzige Mann, der die Macht besaß, mich aufzuhalten, war Asher von Restharven, und Euch ist es zu verdanken, dass er tot ist!«
Der Wurm begann mit den Armen zu rudern und versuchte, sich auf das Dach zurückzubewegen. Es sah lächerlich aus. »König Conroyd! König Conroyd!« »Nicht Conroyd«, verbesserte er den Wurm sanft. »Morg.«
Willer kreischte. »Wer? Nein! Ihr könnt nicht Morg sein! Das ist unmöglich!« Morg atmete die schwefelhaltige Luft tief ein und ließ rund um seinen Körper eine blutrote Wolke von Macht aufflackern. Das Entsetzen und das heraufdämmernde Begreifen in den Augen des kleinen Mannes entlockten ihm ein lautes Lachen.
»Hört auf damit, hört auf!«, gurgelte der törichte Wurm. »Bevor es zu spät ist! Seht Ihr es denn nicht? Ihr tötet das Königreich!«
»Natürlich tue ich das. Um wiedergeboren zu werden, müssen alle Dinge sterben.«
»Nein! Nein! Ich will nicht sterben!«, jammerte das elende Geschöpf. »Bitte, tut mir nichts zu Leide! Bitte, lasst mich herunter!«
»Ich soll Euch herunterlassen?«, wiederholte Morg lächelnd. »Gewiss, Willer. Ganz wie Ihr wünscht.«
Und mit einem Schnippen seines Fingers ließ er den schluchzenden Willer über die steinerne Balustrade des Dachs wirbeln und auf die Pflastersteine in der Tiefe fallen, wo er wie eine Blase aus Blut und Fett platzte.
Am Himmel durchstießen die ersten leuchtend roten Speere von Blitzen die bauschigen Wolken. Schlugen mit tödlicher Wucht in Fleisch und Gebäude gleichermaßen. Der grelle Himmel zuckte –und Barls Mauer setzte sich in nutzlosem Trotz zitternd zur Wehr.
Im fahlen Tageslicht holperte der Wagen weiter. Der von Wolken erfüllte Himmel spie Schwalle von Regen und Schnee aus, manchmal wütend, manchmal mürrisch. Die Stunden rannen genauso mürrisch dahin. Die zitternden Passagiere im Wagen waren verstummt.
Sie sahen keine andere Menschenseele, während sie durch die verwüstete, durchweichte Landschaft auf Dorana zufuhren.
Matt hielt die Pferde unglücklich auf Trab und machte nur Halt, damit sie trinken und einen Bissen Gras fressen konnten. Der Morgen wich dem Mittag, dann brach der Nachmittag an und schließlich die Nacht.
»Wir werden nicht Halt machen, bevor wir die Stadt erreichen«, verfügte Veira und zündete Fackeln an, während Matt die Hände über die müden Pferde gleiten ließ und die anderen durch Pfützen und Schlamm wateten, ihre müden Beine streckten und versuchten, sich aufzuwärmen. »Wenn ihr Hunger habt, plündert die Körbe. Wenn ihr euch erleichtern müsst, verrichtet euer Geschäft schnell und lauft hinter dem Wagen her, um uns einzuholen. Wir haben keine Zeit für Annehmlichkeiten oder Hätscheleien.« Sie sah Darran stirnrunzelnd an. »Tut mir leid, alter Mann, aber es lässt sich nicht ändern.«
Darran nickte. »Ich verstehe«, krächzte er und kletterte zurück in den Wagen, fort aus dem peitschenden Wind.
»Und wann werden wir die Stadt erreichen?«, fragte Dathne schwach, während sie an einem Rad lehnte.
»Ein oder zwei Stunden nach Sonnenaufgang, denke ich«, antwortete Veira und verzog das Gesicht. »Obwohl ich bezweifle, dass wir den Sonnenaufgang werden sehen können.«
Für Asher, der bis zum Bersten angefüllt war mit der stacheligen Magie von Gars Tötungszauber und der obendrein in der unwillkommenen Gesellschaft des Prinzen festsaß, konnte dieses Ende nicht schnell genug kommen. Und wenn es ihm den Tod bringen würde…
Zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal in seinem Leben war Pellen Orrick verzweifelt. Er starrte durch die zerbrochenen Fenster seiner Wachstube, rieb sich die von Schmerz brennenden Schultern und hatte alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Die Dämmerung eines neuen Tages – des schlimmsten in seinem Leben. Seine wunderschöne Stadt – das elegante, anmutige Dorana – lag zerschmettert und zertrampelt vor ihm. Jedes zweite Gebäude, so schien es, war eingestürzt oder vollkommen ausgebrannt und spie fettigen Rauch aus. Bullen und Kühe, Pferde, Schafe und Ziegen, einst sicher eingepfercht im Viertel hinter dem Viehmarkt, streiften muhend und blökend durch die Straßen, und niemand war bereit oder imstande, sie wieder einzusperren. Einige von ihnen glitten aus, stürzten mit dem Kopf voraus in das fließende Wasser oder in klaffende Risse auf dem Boden und standen nicht wieder auf.
Es gab mehr Tote, als er in seinem ganzen Leben zu sehen erwartet hatte. Zerschmettert von herabstürzendem Mauerwerk, ertränkt von den Strömen des Regenwassers, das durch die schmaleren Straßen wogte. Um einige der Leichen kümmerte sich niemand, andere lagen in den Armen weinender Angehöriger. Olken und Doranen, dieser Wahnsinn verschonte niemanden. Ebenso wenig wie Magie sie hätte retten können.
Die meisten seiner Wachen hatten ihre Posten verlassen. Einige waren mit Familie und Freunden aus der Stadt geflohen, davon überzeugt, dass direkt hinter der nächsten Biegung, in der nächsten Stadt oder dem nächsten Dorf Sicherheit und Vernunft warteten. Die wenigen, die zurückgeblieben waren, waren tot oder hatten sich auf dem Marktplatz versammelt, um zu beten, und auch diese Männer hatten seine flehentlichen Bitten, ihren Pflichten und ihrem Eid treu zu bleiben, ignoriert.
Im Grunde konnte er ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Wenn er eine Familie gehabt hätte, hätte er alle Gedanken an Pflicht vielleicht ebenfalls über Bord geworfen. Wäre fortgelaufen oder hätte sich der Menge auf dem Marktplatz angeschlossen, auf dem Barlsmann Holze während des ganzen vergangenen Tages flehentliche Gebete um Erlösung angestimmt hatte.
Aber die Erlösung schien nicht zu kommen. Dorana war dem Untergang geweiht und das ganze Königreich mit ihm.
Beinahe zu erschöpft, um sich zu bewegen, ging er die Treppe hinunter in die verlassene Haupthalle des Wachhauses, wo Ox Bunder treu auf seinem Posten blieb.
»Hauptmann!« Bunder runzelte die Stirn. »Wo ist Eure Schlinge, Herr? Diese Schulter ist noch nicht einmal ansatzweise verheilt.«
»Meine Schulter ist das Geringste meiner Probleme«, erwiderte er müde. »Ox, Ihr habt eine junge Familie, die auf Euch wartet. Warum geht Ihr nicht? Ich werde hierbleiben, obwohl ich nur herzlich wenig ausrichten kann.«
»Nein, Herr«, erwiderte Bunder. Halsstarrig bis zum Schluss. »Ich habe eine Pflicht zu erfüllen.«
Bis zu diesem Tag hatte er Bunder nie besonders gemocht; jetzt brach ihm beinahe das Herz, so groß war seine Liebe zu ihm. »Nein, mein Freund, Ihr habt Eure Familie. Geht zu ihnen. Das ist ein Befehl.« Er streckte die Hand aus. »Und viel Glück.«
Hin– und hergerissen zwischen Schuldbewusstsein und Erleichterung, ergriff Bunder seine Hand. »Ja, Herr. In Ordnung.«
Orrick ging mit ihm hinaus. Seine schöne Stadt stank nach verbrannten Knochen und Tod. An den Toren des Wachhauses blieb er stehen, klopfte Bunder auf den Rücken und beobachtete, wie der Mann sich einen Weg durch das Gedränge bahnte, zwischen verängstigten Tieren und Trümmern hindurch. Ein scharlachroter Blitz zerriss den Himmel und schoss mit willkürlicher Heftigkeit zu Boden. Der Goldene Gockel zerbarst. Ein gutes Dutzend Menschen starben in dem Gasthaus, zerquetscht und zerbrochen von umherfliegendem Mauerwerk, noch während sie schreiend zu fliehen versuchten. Aber in der Mitte des Platzes harrten Bürger mit mehr Glauben als Verstand tapfer aus, den Blick fest auf Holze auf den Stufen der Barlskapelle gerichtet, während sie halsstarrig den verzweifelten Gebeten des Geistlichen folgten.
Einige Menschen kletterten sogar in den Springbrunnen des Bittstellers. Andere scharten sich um die Grünsteinstatue Barls und streichelten ihre Hände, ihre Füße, die Falten ihrer Robe. Flehten sie mit hohen, schrillen Stimmen an, sie zu schützen, sie zu retten, ihnen zu vergeben.
Ihnen was zu vergeben? Welche Sünde konnte eine so harte Vergeltung rechtfertigen? Er war ein Wachmann, er erkannte ein Verbrechen, wenn ihm eines begegnete. Die Menschen von Lur hatten nichts getan – nichts! –, mit dem sie die Gräuel, die er beobachtet hatte, verdient hätten. Das Blutbad, das noch bevorstand.
Sein Leben lang hatte er sich für einen gläubigen Mann gehalten. Aber was war es, woran er geglaubt hatte? Eine kalte, steinerne Statue? Eine Frau, die vor über sechshundert Jahren gestorben war, so jung, dass sie beinahe seine Tochter hätte sein können? Magie?
Sechs lange Jahrhunderte hatte man den Olken erzählt, die Doranen seien anders. Stärker. Besser. Aber heute lagen auf den Straßen ebenso viele tote Doranen wie Olken. Ihre Magie hatte sie nicht gerettet.
Sie rettete niemanden.
Ebenso wenig wie die Gebete es taten.
In diesem Moment durchstach eine weitere scharlachrote Lanze den Himmel und legte Barls Statue in Schutt und Asche. Scherben zerbrochenen Grünsteins peitschten durch die Menge. Schreie wurden laut. Blut floss. Noch mehr Tote, noch mehr Verletzte.
Er dachte flüchtig an Asher – aber Hilfe aus dieser Richtung war offensichtlich nicht zu erwarten. Asher kam nicht. Asher war wahrscheinlich tot. Vom Blitz getroffen, in einem Graben ertrunken, verschlungen von der hungrigen Erde. Ashers Überleben wäre eine Art Wunder gewesen.
Nur Narren glaubten an Wunder, und Pellen Orrick war nie ein Narr gewesen. Benommen von Verzweiflung, taumelte er zu den Überresten des Springbrunnens hinüber. Den Überresten der armen Narren, die an Wunder geglaubt hatten, die seine Hilfe brauchten, so wenig er ihnen jetzt auch von Nutzen sein konnte. Aber er war ein Wachmann, Hilfe war seine Pflicht, und die Pflicht war alles, was er noch hatte.
»Es hat keinen Sinn!«, rief Veira, während die von panischem Schrecken erfüllten Pferde sich aufbäumten und drohten den Wagen und alle Menschen darin zu zertrampeln. »Wir werden den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen müssen!« Asher, der sich neben die alte Frau auf die Sitzbank des Wagens gezwängt hatte, damit Dathne sich hinten ein wenig ausruhen konnte, konnte ihre Worte im Heulen des Windes kaum hören. Sie waren an der Stelle, an der die Schwarzwaldstraße auf die Hauptdurchgangsstraße nach Dorana traf. In der Ferne konnten sie den schäumenden Gant sehen, dessen Ufer übergetreten waren, sodass er sich zu beiden Seiten wie ein See ausbreitete. Ein Strom von Karren und Kutschen ergoss sich an ihnen vorbei aus der Stadt heraus.
Dorana war jetzt nur noch knappe zwei Meilen entfernt. Hinter der Stadt ragten vor dem aufgewühlten Himmel die fadenscheinigen Reste der Mauer auf. Asher stöhnte, während seine Eingeweide sich vor Mitgefühl zusammenzogen. Sein Kopf war wie in einen Schraubstock gespannt, der immer weiter zugedreht wurde, je näher sie der Stadt kamen. Nichts konnte Barls Mauer jetzt noch retten, denn sie war zerfetzt und zerrissen. Er fühlte sich, als würde er mit ihr zerfetzt; all die Macht in ihm gerann und kochte, blubberte wie die Säure eines Graveurs auf einer nackten Flamme.
»Halte durch, Kind«, sagte Veira, die kalten Lippen auf sein Ohr gepresst. »Es dauert jetzt nicht mehr lange.«
Als frische Hagelkörner vom Himmel prasselten, zog er sie an sich und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Er hörte, wie die Plane des Wagens riss, dann folgte ein unterdrückter Aufschrei, als das scharfkantige Eis auf nacktes Fleisch traf; es klang so, als sei der Schrei von Gar gekommen. Dann war die Luft erfüllt von einem Kreischen und herumfliegenden Splittern, als der Blitz direkt neben ihnen in einen hohen Djelbabaum einschlug. Die Pferde brüllten abermals und wühlten mit ihren Hufen den Schlamm auf.
»Bitte, Veira, du musst mich irgendetwas tun lassen!«, bat er. »Wenn es so weitergeht, werden wir es niemals bis in die Stadt schaffen!«
Er spürte, dass sie den Kopf schüttelte. »Nein, Kind«, antwortete sie; obwohl ihre Stimme gedämpft war, duldete sie dennoch keinen Widerspruch. »Er wird dich hören und auf dich gefasst sein. Sorge dich nicht. Die Prophezeiung hat uns bisher geschützt, sie wird uns jetzt nicht im Stich lassen.«
Weitere rote Blitze peitschten die Luft und zuckten zur Erde, in den Fluss und trafen irgendwo, wo sie es nicht sehen konnten, einige der flüchtenden Städter. »Hör nicht hin«, befahl Veira grimmig, als er ruckartig den Kopf in die Richtung wandte, aus der die schrecklichen Schreie kamen. »Deine Aufgabe liegt vor dir, nicht hier. Wir müssen weiter!«
»Sie hat Recht!«, rief Matt, der mit aller Kraft die Pferde unter Kontrolle hielt. Seine Lederhandschuhe waren zu Lumpen zerfetzt, und heißes Blut tropfte ihm auf die Knie. »Jetzt hilf mir, diese verdammten Pferde auszuspannen, bevor sie stürzen und uns alle zu Hackfleisch zerquetschen!«
Asher ließ Veira los und sprang zu Boden. Als seine Stiefel den Schlamm berührten, erzitterte die Erde und stieg unter ihm auf, als säße etwas Monströses, Lebendiges direkt unter der Oberfläche und kämpfte um seine Befreiung. Die Pferde versuchten durchzugehen, und der Wagen machte einen Satz nach vorne. »Halt ihre Köpfe fest, Asher!«, brüllte Matt. »Halt sie fest, bis ich dich erreiche! Veira, runter! Und ihr da hinten im Wagen, springt!«
Asher, der durch den schleimigen Schlamm rutschte, erreichte den Kopf des ersten Pferdes und schlang die Finger in das Zaumzeug. Bleib stehen, dachte er mit aller Willenskraft, die er in sich hatte, bleib stehen, bleib stehen, du Bastard. Er bohrte die Fersen in den Boden und klammerte sich fest, bis er dachte, der Arm würde ihm aus der Schulter gerissen. Dann war Matt bei ihm, und ein Messer lag in seiner Hand. Die scharfe Klinge blitzte auf, während er Geschirr und Zugriemen durchschnitt. Die Pferde, die ihre Freiheit witterten, kämpften noch heftiger. Das Messer glitt aus. Ein Pferd wieherte gequält. Blut mischte sich mit dem Schlamm unter Ashers Füßen.
Dann gab das Leder endlich dem Stahl nach. Wahnsinnig vor Angst gingen die Pferde durch, rissen sich ganz los. Ächzend und stöhnend stützten Matt und Asher einander und beobachteten, wie die Tiere in der Dämmerung verschwanden.
Die Wolken waren noch tiefer gesunken und spien Schnee aus.
»Kommt jetzt!«, sagte Veira und trieb sie vor sich her wie ein Hirte seine Herde. »Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir erfrieren und uns in Schneemänner verwandeln, und außerdem wartet Arbeit auf uns!«
Asher richtete sich auf, zog eine schiefe Grimasse und blickte in Matts Richtung, bevor er sich in die Richtung wandte, in der ihr Ziel lag. Seine Eingeweide krampften sich zusammen; sie protestierten gegen den Tod von Barls Magie.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Matt.
Er nickte. »Ich komme schon zurecht. Und du?«
»Ich komme zurecht.«
Der Schmerz in Matts Zügen spiegelte seinen eigenen Schmerz wider. »Dann lass uns gehen, hm?«
Stolpernd und taumelnd, während der Boden unter ihnen bebte und der neuerlich anschwellende Wind ihnen Hagel und Schnee ins Gesicht wehte, kämpften sie sich weiter auf die Stadt zu. Gar, der eine blutende Wunde davongetragen hatte, stützte Darran, und Matt lieh Veira einen starken Arm, während Dathne halsstarrig für sich allein blieb. Langsam näherten sie sich der sterbenden Mauer, die sie anzog wie ein Magnet.
Als er alles in seinen Kräften Stehende für die Toten und Verstümmelten vor dem Springbrunnen getan und diesen Narren, Holze, endlich dazu überredet hatte, die Menschen in der Kapelle beten zu lassen, blieb Orrick in den Straßen und tat, was immer sonst noch getan werden musste.
Gleichgültig gegen die Gefahren, gegen Blitz, Hagel und Schnee, gegen Wind und stinkenden Regen, gegen plötzlich einstürzende Gebäude und in Panik geratenes Vieh, kletterte er über Mauerwerk und Holzbalken, lief spritzend durch rot gefärbte Pfützen und stieg über Risse in den Pflastersteinen. Was hätte er auch sonst tun können? In seine Wachstube zurückkehren, an seinen Schreib– tisch, zu seinem Papierkram?
Er versuchte gerade, sich gewaltsam einen Weg in ein halb eingestürztes Kleidergeschäft in der Spitzengasse zu bahnen, eine Straße hinter dem Marktplatz, um festzustellen, ob irgendjemand darin verletzt war, als sich eine Hand um seinen unversehrten Ellbogen legte. »Pellen!«
Er drehte sich um. »Asher!«
Er war es. Gesund, lebendig und nicht allein. Hinter ihm gingen, eingehüllt in Kapuzenmäntel, Matt, Dathne, Darran, der Prinz mit blutverschmiertem Gesicht, und eine runzelige alte Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
»Asher!«, wiederholte er, und eine Woge verworrener Gefühle schlug über ihm zusammen. Das Ende der Welt trat für einen Moment in den Hintergrund. »Wie seid Ihr…«
Asher schüttelte ihn. Schmerz flammte auf, aber es kümmerte ihn nicht. »Wo ist Jarralt? Ich meine, Morg?«
Er drückte eine Hand auf seine verletzte Schulter. Spürte, dass frisches Blut durch die Wunde sickerte, und Grauen stieg in ihm auf beim Klang dieses Namens. »Niemand hat ihn gesehen. Niemand weiß es.«
Ein weiterer Blitz, schrill und kreischend Das Grauen erregende Schreien von Pferden, das Brüllen von Bullen. Ein dröhnendes Donnern, als das Gildehaus der Musikanten einstürzte. Aus dem Nichts kam ein eisiger Wind auf, der heulend die dräuenden Wolken in Stücke riss.
Hinter den verwüsteten Läden der Gasse wurde ein erschrockener, halb erstickter Aufschrei laut. Orrick sah Asher an, und ohne ein Wort zu wechseln, rannten sie zurück in Richtung Marktplatz. Die anderen folgten ihnen. Als sie den mit Trümmern übersäten Platz im Herzen der Stadt erreichten, erwartete sie ein Anblick, bei dem sie wie angewurzelt stehen blieben. »Barl steh uns bei«, stöhnte Darran.
Die wenigen noch verbliebenen Fäden von Barls wundersamer Mauer zuckten nutzlos vor dem Hintergrund des grünen und purpurfarbenen Himmels. Einst stolz und golden und mächtig, war sie jetzt nur noch ein zerfetzter, durchlöcherter Hohn ihrer selbst. Vor ihren Augen riss die Magie stückweise von den Bergen ab, in denen sie verankert war, und setzte die Bäume auf den Gipfeln in Brand.
Dann schrien Asher und Matt gleichzeitig auf, als die letzten widerspenstigen Stränge von Barls großer Mauer barsten. Ein krachender Donnerschlag von ungeheurer Energie machte aus den bereits erschütterten Gebäuden Ruinen. Presste Fleisch gegen brüchige Knochen. Unter den Pflastersteinen der Stadt wogte die Erde in einem letzten Kraftakt empor. Die Menschen riefen durchei nander, und all die vernünftigen Leute, die in der Kapelle Zuflucht gesucht hatten, kamen wieder herausgelaufen, um selbst zu sehen, was geschehen war. Holze folgte ihnen mit fliegendem Zopf, blieb dann auf der obersten Treppenstufe seiner kostbaren Kapelle stehen und rief sie schwach zurück. Der Wind schwieg plötzlich. Kein Regen mehr. Kein Schnee. Kein peitschender Hagel. Mit weit aufgerissenen Augen rappelten Orrick und die anderen sich hoch. Der Hauptmann der Wache schaute sich um und versuchte festzustellen, welchen neuerlichen Schaden seine arme, sterbende Stadt erlitten hatte. Ob jemand getötet worden war. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Ungeachtet des Schmerzes riss er seinen verletzten Arm hoch und schrie: »Seht! Seht!« Der Zauberer Morg näherte sich.
Er schwebte auf Luft, auf unsichtbarer Macht, hoch über der in Trümmern liegenden Stadt und dem von Menschen überfüllten Marktplatz.
»Barl, meine Geliebte! Deine Mauer ist gefallen, und ich bin hier!« Eine Stimme drang zu ihm herauf. »Conroyd! Falls Ihr wirklich Conroyd seid! Im Namen Barls und aller heiligen Dinge, ich befehle Euch, jetzt zu gehen!« Ah, Holze. Der barltriefende, murrende, knurrende Holze. Er schwebte zu der Kapelle hinüber, der letzten Zuflucht Toter, wo der zitternde alte Narr auf den Stufen stand und ihm bis zum letzten Augenblick trotzte.
»Es gibt keinen Conroyd«, sagte er und blickte lächelnd auf ihn hinab. »Conroyd ist tot.«
»Ich glaube Euch nicht!«, rief Holze mit bebender Stimme. »Gebt ihn uns zurück, wer immer Ihr seid, und verlasst unsere Stadt!«
Immer noch lächelnd, beugte Morg sich vor und berührte Efrims Wange. Runzeliges Fleisch wurde versengt, schmolz. »Efrim, Efrim. Erinnert Euch an Eure Schriften. Ihr wisst, wer ich bin.«
Während der Geistliche kreischend zurückwich, drehte Morg sich in der Luft und blickte zu den bezwungenen Bergen hinüber. Schaudernd vor Wonne und erfüllt von einem gierigen Hunger öffnete er seinen Geist und beschwor seine Macht herauf, all seine Macht, auch den Teil seiner selbst, den er zurückgelassen hatte, der ihm jenseits von Barls Mauer allzu lange verwehrt geblieben war. Er beschwor seinen glorreichen Sieg herauf und empfing – nichts.
Der Schock war so groß, dass er wie ein Stein herabfiel und inmitten einer Viehherde landete. Bevor die Tiere ihn zertrampeln konnten, verwandelte er sie mit Feuer und Hass in Asche, bevor er wieder emporstieg. Das Grauen war ein lebendes Geschöpf, das ihn beinahe mit Blindheit schlug.
Nichts? Nichts? Wie konnte es nichts sein? Er war Morg, der mächtigste Magier und unsterblich! Er war ein Berg von Macht, ein Ozean von Macht, ein Himmel von Macht!
Er öffnete seinen Geist ein zweites Mal, reckte sich über die Grenzen von Fleisch und Blut, über die Grenzen dieses geborgten Leibs, dem er entwachsen war. Er berührte sein abgespaltenes Ich. Spürte, wie es zitterte, so wie er selbst zitterte. Spürte, dass es voller Sehnsucht war, so wie er voller Sehnsucht war, wieder ganz zu sein.
Und dann prallte es zurück. Wies ihn ab. Er spürte Abscheu, Ablehnung, eine absolute Zurückweisung seines Geistes und seiner Herrschaft – als sei er ein Fremder, als sei dies keine Heimkehr.
Tief in seinem Innern begann Conroyd zu lachen.
Morg, Morg, was hast du dir gedacht? Dass ich, Conroyd Jarralt, mich einfach niederlegen und sterben würde? Wie konntest du mich verschlingen, ohne etwas von mir anzunehmen? Du kommst zu spät, Cousin, und du warst zu lange verändert. Dein Geist und meiner sind eins. Unser Fleisch ist eins. Ich bin du, und du bist ich, und es gibt kein Zurück. Die Mauer ist gefallen, und du bist immer noch ein Gefangener. Taub und blind hing Morg in der Luft. Ein Gefangener? Ein Gefangener? Er öffnete den Mund und brüllte.
Asher, der vergessen hatte, dass er sie hasste, griff nach Dathnes Hand und rannte los in dem festen Vertrauen, dass die anderen ihnen folgen würden. Während Morg hilflos über ihnen baumelte und heulte wie eine gequälte Kreatur, lief er auf die nächste sichere Zuflucht zu: das Gemeinschaftshaus der Schlachtergilde. Die Hälfte des Dachs und ein Teil einer Mauer waren eingestürzt, aber der vordere Teil des Baus war weitgehend intakt. Sie eilten hinein und brachen keuchend auf dem Boden zusammen.
»Im Wachhaus wären wir sicherer«, sagte Orrick. Die Schulter seines Gewands war feucht von Blut. »Und ich habe dort jede Menge Waffen.«
Asher schüttelte den Kopf. »Knüppel und Piken können diesem Ding nichts anhaben. Veira? Was geht hier vor?«
Die alte Frau, die auf einem großen Brocken Mauerwerk saß, tupfte sich mit einem Taschentuch ihren blutenden Arm ab. »Ich weiß es nicht. Aber es ist nützlich. Geht es euch allen gut?«
Alle bejahten. Selbst Darran, der neben ihr saß und mitgenommen und bleich aussah und dessen Atem laut wie ein Blasebalg pumpte. Gar, dessen vom Hagel verletzte Wange geschwollen und blutverkrustet war, hatte einen Arm fest um die Schultern des alten Mannes gelegt und hielt ihn aufrecht. Matt und Dathne hockten neben ihnen, und Orrick stand der Straße und den Schwierigkeiten draußen am nächsten. Natürlich.
Er hätte sie nicht mitkommen lassen dürfen. Sie konnten ihm nicht helfen, und ihrer aller Leben war in Gefahr.
Gar ließ Darran los und kam langsam näher. »Asher. Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen.«
Einzelne, aus der Mauer gebrochene Steine bohrten sich ihm scharf in die Knie. Er beachtete dieses kleine Ungemach jedoch nicht und hielt den Blick fest auf den Marktplatz gerichtet. Auf Morg. »Weshalb? Es gibt nichts mehr zu sagen.« Gar hatte noch nie gewusst, wann er den Mund halten sollte.
»Doch, es gibt noch etwas zu sagen. Die Worte des Ungeschehens…« Er schenkte dem kleinen Scheißkerl einen ungeduldigen Blick. »Ich habe den Spruch gelernt. Ich kann ihn auswendig. Ihr habt Eure Aufgabe erfüllt. Jetzt haltet den Mund, ja, damit ich meine erfüllen kann. Ich versuche nachzudenken, wenn Ihr damit einverstanden seid.«
»Aber du verstehst nicht! Ich…«
Asher sprang an den anderen vorbei und stieß Gar so heftig aus dem Weg, dass dieser ins Taumeln geriet. Der Bastard schlug mit dem Kopf gegen die Wand. »Es gibt nichts mehr zu sagen!«
Während Darran schrill protestierte und die anderen sich um Gar scharten, beugte Veira sich vor und berührte seine Hand.
Sie hatte ihre Kapuze abgestreift, und die silberne Schlange ihres Haares war durchnässt und fiel ihr wirr um die Schultern. »Ich werde jetzt den Zirkel zu dir rufen, Kind. Lass sie herein. Lass dir von ihnen helfen. Hab keine Furcht.« Er hatte keine Furcht, er hatte verdammte Todesangst. Mit dem Sturz der Mauer war all der quälende Schmerz in ihm beinahe verblasst, aber an seiner Stelle floss jetzt etwas Dunkleres bitter und morastig durch seine Adern, klebrig wie Teer. Die Verderbtheit Morgs. Nach dem verzerrten Ausdruck auf Matts Gesicht zu urteilen, spürte sein Freund es ebenfalls. Aber nicht so scharf wie er, nicht so unmittelbar. Matt war nicht der Unschuldige Magier.
Er ist es nicht… Aber ich bin es!
Zum ersten Mal akzeptierte Asher es, akzeptierte es wirklich. Bedeutete das, dass er auch den Tod akzeptierte?
Veira stieß ihn an. »Asher! Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
Er wartete, bis sein Herz zu galoppieren aufhörte und er darauf vertrauen konnte, dass seine Stimme nicht brechen und dass seine Füße ihn nicht von hier forttragen würden, ohne zuerst um Erlaubnis zu fragen.
»Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut.«
»Dann sei still und schweige, und ich werde den Zirkel rufen.«
Asher sah zu, wie sie in die Tasche griff, den blauen Filzbeutel herauszog und einen Kristallsplitter in die Hand nahm. Der Splitter schimmerte in dem fahlen Licht, dann lag er verborgen zwischen ihren Händen. Sie schloss die Augen… ihre Lippen bewegten sich lautlos – und der Kristallsplitter, den sie in seinem Fleisch vergraben hatte, erwachte zu brennendem Leben.
In seinem Geist hörte Asher einen Chor von Stimmen. Wir sind hier, Asher. Wir sind bei dir. Benutze unsere Stärke, wenn du sie brauchst. Sie gehört dir. Die Furcht verebbte und mit ihr ein wenig von der Schwärze in seinem Blut. Er spürte, wie sich seine Macht regte, unbesudelt. Spürte, wie auch der Rest von Schmerz von ihm abfiel. Er war jetzt erfüllt von einer tröstenden Wärme, die ihr Zentrum über seinem Herzen hatte. In dem Kristall.
Draußen auf dem Marktplatz waren Morgs schreckliche Schreie verstummt. Asher stand auf. Ob er bereit war oder nicht, ob er dies wollte oder nicht, seine Zeit war gekommen. »Ich schätze, ich bringe es wohl am besten zu Ende.« Die Art des Schweigens hinter ihm veränderte sich. Der Zorn verebbte, und an seine Stelle trat Trauer. Unausgesprochene letzte Worte hingen in der Luft. Er wollte sie nicht hören. Er tat dies, weil sie ihn darum gebeten hatten. Ihn angefleht hatten. Weil niemand außer ihm es tun konnte. Weil er versprochen hatte, ihnen zu helfen, ganz gleich um welchen Preis, und im Gegensatz zu manchen Leuten hielt er sein Wort.
Was nicht bedeutete, dass er eine Szene wollte.
»Was tust du? Geh nicht dort hinaus!«, sagte Dathne. »Bekämpfe ihn von hier aus, wo du in Deckung bist!«
Pellen Orrick antwortete ihr. »Wie könnte er das tun, Dathne? Es sind Menschen im Weg.«
Der Marktplatz war voller Olken und einer Handvoll Doranen. Menschen, die nirgendwohin flüchten konnten. Einige von ihnen kannte er aus früheren Zeiten, als er ein anderer Mann gewesen war. Benommen und taumelnd krochen sie durch die Trümmer, das ziellos umherirrende Vieh, die am Boden liegenden Leiber. Einige mühten sich, Barlsmann Holze zu erreichen, die letzte Autorität, die in der Stadt verblieben war. Der Geistliche lag reglos und mit gespreizten Gliedern auf der Treppe seiner Barlskapelle. »Asher!«, rief Dathne, als er noch einen Schritt in Richtung Tür trat. Er blieb stehen, die Finger auf das schartige Mauerwerk gepresst. Schau nicht hin, schau nicht hin, es hat verdammt noch mal keinen Sinn!
Er schaute hin. Er musste es tun.
All ihre Liebe lag in ihrem Gesicht. Als er sie sah, zerbrach etwas in ihm. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist schon gut, Dathne. Der Bastard wird dich nicht anrühren.«
In ihren Augen und auf ihren Wangen waren Tränen. »Da ist etwas, das ich dir sagen muss, ich…«
Er ging zu ihr und ließ sich auf ein Knie nieder. Strich mit den Fingern sachte den Bogen ihrer Augenbrauen nach, ihre geschwungenen Wangenknochen, ihre Lippen. »Erzähl es mir später.«
»Aber…«
Er stand auf, und sie wurde still. Mit einem letzten Lächeln kehrte er ihr den Rücken zu. Kehrte ihnen allen den Rücken zu: Veira, Darran, Pellen, Matt und Gar. Dann trat er aus ihrer dürftigen Zuflucht heraus und betrachtete die Kreatur, die über ihm in der Luft umherwirbelte und nichts anderes wahrnahm als ihren eigenen privaten Schmerz.
Aber für wie lange…
In seinem Geist wartete der Zirkel.
Er lief, ohne auf seine Schritte zu achten, die Treppe der Kapelle hinunter, wich immer wieder Tieren aus und ignorierte die am Boden liegenden Menschen, die seine Hilfe brauchten, selbst die Kinder. Holze richtete sich jetzt auf. Als er ihn sah, sog der Geistliche scharf die Luft ein. »Asher?«
Er streckte die Hand aus. Über ihren Köpfen baumelte Morg stöhnend in der Luft. »Holze.«
Fünf verkohlte Fingerabdrücke waren auf dem schmerzverzerrten Gesicht des Geistlichen zu sehen. »Ihr lebt?«
»Nein, ich bin ein Geist«, sagte er und half dem zitternden Holze auf die Füße. Trotz der schmutzigen Vergangenheit, die sie miteinander teilten, empfand er einen widerstrebenden Respekt: Holze hätte fliehen können und hatte es nicht getan.
Die bleichen Lippen des Barlsmannes wurden schmal. »Wisst Ihr, was das ist?«, fragte er und deutete auf Morg.
»Ja. Wisst Ihr es auch?«
»Ich denke, möglicherweise ja«, erwiderte Holze stirnrunzelnd. »Obwohl mein Verstand es kaum glauben kann.«
Asher schnaubte. »Glaubt es, Holze. Das ist Morg.«
Der letzte Rest von Farbe wich aus dem Gesicht des Geistlichen, sodass die Fingerabdrücke noch deutlicher hervortraten, und er küsste mit Inbrunst seinen Heilsring. »Barl rette uns.«
»Wenn Ihr es sagt.« Asher drehte sich um und betrachtete die benommenen Menschen auf dem Platz. »Diese Leute können nicht hier draußen bleiben. Könnt Ihr sie wieder in die Kapelle bringen?«
»Ja, ja, natürlich, aber warum? Was habt Ihr vor?« Er deutete mit dem Kopf nach oben. »Dieses Ding umbringen.«
Holze schnappte nach Luft. »Wie?«
»Was glaubt Ihr?«, fuhr er ihn an und beschwor eine Flamme herauf. Kein zahmes, sanftes Glimmfeuer, sondern die grausame, gierige Hitze von Kriegsfeuer. Einer von vielen Tricks, den man in Barls Tagebuch finden konnte, auf das er so gut hätte verzichten können.
»Was ist das für eine Ketzerei?«, fragte Holze und starrte das Feuer an, das von olkischen Fingern züngelte. »Das ist keine Magie, die ich kenne! Wie kommt Ihr dazu? Wer hat sie Euch gelehrt? Morg?«
Asher grinste boshaft. »Nein, Holze. Barl.«
Holze fiel um ein Haar mit dem Kopf voraus die Treppe hinunter. »Nein… nein… Das ist nicht möglich!«
Mit einer knappen Drehung seines Handgelenks löschte er die Flamme aus. »Wir können darüber streiten, was möglich ist und was unmöglich, wenn dies vorbei ist. Vorausgesetzt, dass wir beide dann noch stehen.«
Erschüttert richtete Holze den Blick wieder auf Morg. »Ihr könnt ihn nicht töten, Asher. Wir müssen an Conroyd denken.«
Er hätte den alten Narren am liebsten geschlagen. »Natürlich kann ich es! Ich muss es tun! Und wenn Jarralt noch dort drin ist, werde ich ihm einen Gefallen tun. Jetzt schafft diese idiotischen Leute hier weg, ja? Ich habe genug Leichen für ein ganzes Leben gesehen!«
Er kehrte dem protestierenden Geistlichen den Rücken zu, stolzierte die Treppe der Kapelle hinunter und bahnte sich einen Weg über den Platz, bis er direkt unter Morgs Körper stand. Ohne auf die Gefahr zu achten, schloss er die Augen und rief zum ersten Mal bereitwillig nach der Macht in ihm.
Die Flammen zuckten auf und verbrannten den letzten Rest von Unreinheit. Dunkelrot, Gold, Silber, Himmelblau: Die Farben seiner eigenartigen Magie strömten wie ein Wasserfall durch Ashers Adern. Und geeint wurden sie von der Macht einer anderen Farbe: erst Braun, gemischt mit Grasgrün. Reine olkische Magie, bezogen von dem Zirkel. Plötzlich war er mit einer Macht, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte, mit der natürlichen Welt verbunden. Als sei er selbst ein Berg, geschmiedet aus lebendigem Gestein. , Durch den Regenbogennebel hörte er Schreie. Ausrufe der Überraschung und des Staunens. Er verschloss die Ohren dagegen. Blickte nur in sich hinein, sammelte die Fäden seines vielfarbigen Talents zusammen und rüstete sich für die Schlacht. Barls grimmige Kriegszauber siedeten unter seiner Haut und verlangten danach, freigesetzt zu werden.
Der Schrei einer Frau erklang und wurde abrupt zum Schweigen gebracht. Aus seiner Trance herausgerissen, öffnete er die Augen –und starrte in das Antlitz des Todes selbst.
»Asher!«, rief Morg, der vor ihm schwebte. Jarralts Schönheit war verzerrt und besudelt von Hass. »Immer noch nicht tot?«
Er schlug mit seinem Geist um sich und zeichnete die Siegel in die Luft, während sich die Worte, die er brauchte, aus seinem Mund ergossen. Irgendwo tief in seinem Innern spürte er ganz sanft das Erschrecken und die Überraschung des Zirkels.
Mit einem gehässigen Lachen lenkte Morg die Macht ab. Ließ die rote Flamme nach links und rechts zucken und setzte hilflose Olken in Brand, die zu nahe standen.
Von Übelkeit überwältigt, drehte Asher sich zu den übrigen Menschen um. »Lauft, Ihr Idioten! Lauft!«
Hämisch und boshaft wirbelte Morg über ihnen in der Luft. »Nein, nein, lauft nicht! Verändert Euch!« Er streckte die Finger aus und schrie eine Abfolge schrecklicher Worte, Silben, um das Blut gerinnen zu lassen. Macht ergoss sich aus ihm, schwarz und stinkend. Die flüchtenden Olken, die sie besudelte, fielen aufschreiend zu Boden und verwandelten sich.
Sie wurden zu Dämonen.
»Jervales Barmherzigkeit!«, rief Veira, die das Grauen beobachtete. »Die Prophezeiung möge uns schützen!«
Dathne sah zitternd zu, wie verletzbares Fleisch kochte und Blasen warf, wie es sich immer weiter und weiter dehnte, bis ihm Reißzähne und Klauen wuchsen, Schnauzen und Hörner. Bis es Schuppen bekam und Borsten. Bis es sich verdickte, verhärtete und alle Menschlichkeit verlor. Nach Luft ringend beobachtete sie, wie die Tiere sich mit den Menschen veränderten: Wie ihnen stählerne Flügel und Krallen wuchsen und Zähne, so scharf wie Dolche. Nichts Lebendes, das von Morgs verderbter Magie berührt wurde, wurde verschont.
Asher, der sich jetzt auf Morgs Schöpfungen konzentrieren musste statt auf Morg selbst, versuchte, den schrecklichen Verwandlungen Einhalt zu gebieten. Er schleuderte seine eigene Magie hinter der von Morg her, Licht in der Dunkelheit. Der finstere Magier löschte es und schnippte ihn mit verächtlicher Mühelosigkeit beiseite. Katapultierte ihn durch die stinkende Luft und ließ ihn auf den Boden krachen, wo er atemlos und mit schwächlich zuckenden Gliedern liegen blieb. »Asher!«, rief Matt.
Dathne umklammerte seinen Ärmel. »Nicht. Du kannst ihm nicht helfen. Wir können gegen das da nicht kämpfen.«
»Welchen Nutzen haben wir dann, Dathne?«, fragte er. »Wozu sind wir hier?« Veira drehte sich zu ihm um. »Wir haben unseren Teil getan, Matt. Wir haben das Geheimnis des Unschuldigen Magiers gehütet und ihn an den Ort gebracht, an dem er sein sollte. Dathne hat Recht, wir sind nicht dazu geschaffen, gegen diese böse Magie zu kämpfen. Das ist der Grund, warum er geboren wurde!«
»Das ist nicht genug!«, schrie Matt. »Ich kann nicht einfach hier sitzen und zulassen, dass er sich diesem Ding allein stellt!«
»Er ist nicht allein! Der Zirkel ist bei ihm!«
»Sind wir nicht der Zirkel?«
»Nicht mehr!«, sagte Veira scharf. »Wir haben unsere Rolle gespielt. Wenn wir uns jetzt einmischen, würden wir damit alle in Gefahr bringen!«
Pellen Orrick starrte die Ungeheuer an, die überall auf dem Platz knurrend, taumelnd und flügelschlagend zum Leben erwachten. »Aber ich bin Hauptmann der Stadt! Ich sollte dort draußen sein und kämpfen!«
»Wenn Ihr dort hinausgeht, wird er versuchen, Euch zu schützen!«, erklärte Veira. »Was wahrscheinlich zu seinem Tod führen wird. Also, haltet den Mund und bleibt außer Sicht! Ihr alle! Das ist das Beste, was wir jetzt für Asher tun können!« Ihre Worte schmerzten, aber sie hatte Recht.
Dathne tauschte einen erschütterten Blick mit Orrick, Gar und Darran, dann wandte sie sich zu Matt um, der mit gequälter Miene neben ihr stand, und berührte seine Hand. »Er wird schon zurechtkommen, Matt. Wir müssen daran glauben. Wir dürfen um seinetwillen nicht das Vertrauen verlieren.« »Ich versuche es ja, Dathne«, flüsterte er. »Jervale weiß, ich versuche es.« Er sah so ganz anders aus als sonst, verloren und verängstigt, dass es leichter war hinauszublicken, als ihn anzusehen.
Asher stand wieder auf den Beinen, benommen und unsicher. Verzehrt von Rachsucht, zischte Morg über seinen schrecklichen Schöpfungen in der Luft. »Tötet ihn, Kinder!«, schrie er. »Tötet sie alle!«
Die bestialischen, grunzenden, brüllenden Kreaturen, die noch Augenblicke zuvor Menschen oder Tiere gewesen waren, wandten sich zu Asher um. Schlugen mit den Flügeln. Peitschten mit den Schwänzen. Ließen ihre Stoßzähne blitzen – und griffen an.
Asher riss beide Hände hoch und beschwor Barls Kriegsbestien herauf. Die Luft um ihn herum schimmerte und brodelte, während Ungeheuer, die noch schlimmer waren als die Dämonen, vor ihm aus dem Nichts erschienen. Kreaturen, die aus dem Herzen eines Albtraums gerissen worden waren und nach Blut dürsteten.
Als Ashers Ungeheuer Morgs Schöpfungen angriffen, heulte der Zauberer seinen Zorn heraus. Er beschwor seine eigenen Kriegsbestien herauf, die nicht minder grauenhaft waren. Die Welt war mit einem Mal erfüllt vom Lärm und vom Gestank gewaltsamen Todes. Das schwarze Blut der Dämonen tropfte Schwefelsäure gleich auf den zerrissenen Grund, und die magischen Kriegsbes– tien verwandelten sich in Wolken stinkender Säure.
Dathne sah mit angehaltenem Atem zu, wie Asher kämpfte, um die Gräuel zu vernichten, die Morg gegen ihn in den Kampf schickte. Aus gewaltiger Ferne hörte sie, wie Gar sie beim Namen nannte – eine endlose Litanei von Verderbtheit und Verfall.
Asher hielt dem Ansturm stand, aber nur mit knapper Not.
Und dann erklang ein schrilles Schreien, und sie riss den Kopf herum. Nicht alle Dämonen versuchten, Asher zu töten. Manche von ihnen waren auf der Jagd nach anderer Beute. Sie sah etwas, das einst ein Pferd gewesen war – und das jetzt Augen aus Feuer hatte und knochige Stacheln auf seinem mit scharlachroten Schuppen bewehrten Körper –, durch eine zertrümmerte Ladenfront springen und mit einem doranischen Jungen im Schlepptau wieder herauskommen. Das Ungeheuer hielt seinen Arm zwischen den Zähnen, und der schöne, blonde Junge weinte und kämpfte mit seiner unzureichenden Magie gegen die Kreatur an. Der Dämon ließ ihn los, bäumte sich hoch auf und zermalmte den Jungen ei– nen Lidschlag später auf den Pflastersteinen zu Brei.
Weitere Schreie erklangen, diesmal aus der Kapelle, als ihre Türen aufbrachen und vier Bullendämonen eine Horde von Olken aus ihrer Zuflucht trieben. Die meisten waren Kinder. Holze torkelte blutend hinter ihnen her, aber seine Wunden überwältigten ihn, und er brach zusammen, ob tot oder bewusstlos, konnte sie nicht feststellen. Asher sah die Kinder, konnte ihnen nicht helfen …
Und Matt rannte schreiend und mit den Armen rudernd direkt auf die Dämonen zu. Pellen Orrick folgte ihm auf dem Fuß, vom gleichen Wahnsinn getrieben wie er.
»Komm zurück, Matthias!«, rief Veira ihm nach. »Tu es nicht! Komm zurück!« Dathne lief hinter ihnen her. Sie spürte die Berührung von Veiras Fingern, als die alte Frau versuchte, sie am Arm festzuhalten, und schüttelte sie ab. Fluchend folgte Veira ihr. Sie blickte nicht zurück, sah nichts als Asher – Asher… Er hatte Matt und Orrick bemerkt. Sie hatten die ersten der fliehenden Kinder erreicht und schoben sie verzweifelt nach links und rechts hinter irgendetwas, das sie vor den Ungeheuern verbergen würde.
Der führende Bullendämon erreichte das langsamste Kind, ein Mädchen, und spießte es auf. Asher tötete ihn mit einem Speer aus Feuer. Matt und Orrick rissen weitere Kinder hoch und warfen sie hinter sich.
Und dann griff Morg an. Er kam wie ein Falke vom Himmel geschossen, sein Gesicht eine verzerrte Maske von Hass und Zorn.
Asher schleuderte einen gewaltigen Ball Kriegsfeuer in seine Richtung. Die zuckenden Flammen verschlangen den Zauberer und rissen ihn seitlich gegen die majestätische, geschnitzte Front der Halle der Gerechtigkeit. Mauerwerk stürzte zu Boden, Buntglas zersplitterte. Benommen und brennend stürzte Morg auf den harten Marmor tief unter ihm und blieb reglos liegen.
Asher schlitterte durch Schlamm und blutiges Wasser zwischen Trümmern und Leibern hindurch und versuchte, Matt und Orrick und die fliehenden Kinder zu erreichen, während er Kriegsfeuer nach den Dämonen schleuderte. Eins von Morgs Ungeheuern bäumte sich hinter ihm auf.
»Asher!«, rief Dathne, und er drehte sich um und tötete es. Er sah sie – stockte – fuchtelte mit den Armen – Geh zurück! Geh zurück!
Dann ging eine Veränderung in ihm vor. Jemand schrie: »Veira! Vorsicht!« Dathne drehte sich taumelnd um und sah Veira, deren geringe Kräfte verausgabt waren, über den Platz humpeln. Sah Pellen Orrick, der, ein langes Brett wie eine Lanze in Händen haltend, auf sie zurannte. Sah einen riesigen Bullen mit blutbefleckten Hörnern hinter der alten Frau herdonnern. Er kam näher… näher…
Veira stolperte und schlug der Länge nach hin. Orrick stieß der Kreatur seine behelfsmäßige Waffe in das offene Maul. Die Kreatur brüllte, spie Blut und krachte zu Boden…
Und zerschmetterte unter ihrem Leib Veira – und Pellen Orrick.
Asher schrie auf und ließ sich auf die Knie sinken, krallte die Hände überm Herzen in sein Hemd und schien die Schlacht, die um ihn herum tobte, nicht länger wahrzunehmen.
»Veira!«, rief Dathne und rannte los. Matt vergaß die Kinder und rannte ebenfalls zu der alten Frau hinüber.
Sie erreichten Veira und Orrick gemeinsam, warfen sich auf die vom Blut schlüpfrige Straße und griffen nach ihrer Hand, um sie zu befreien. Es hatte keinen Sinn. Sie war tot. Ihre halb geöffneten Augen starrten zu dem hinter rotem Nebel verborgenen Himmel empor. Ein zerbrochener Kristallsplitter, dessen Schönheit verkohlt war, fiel ihr aus den Fingern. »Veira!«, flüsterte Matt. »Es tut mir leid! Es tut mir leid!«
Ein Stöhnen erklang, voller Schmerz und Verwirrung. Benommen von Trauer, blickte Dathne über den klobigen Kadaver des Dämonenbullen hinweg, und dort lag Orrick. Sein Bein war eingeklemmt, aber er lebte.
Matt stand auf. »Hilf mir, Dathne. Ich werde dieses Ungeheuer anheben – du ziehst ihn heraus…«
Aber ohne Hilfe konnten sie es nicht schaffen. Sie sah sich nach Gar um, der ihnen helfen sollte…
»Dathne! Pass auf!«, brüllte Matt und stieß sie brutal beiseite. Sie fiel über einen Haufen Schutt und spürte, wie ihre Haut aufriss und Blut aus der Wunde quoll. Als ihr Kopf gegen etwas grausam Hartes schmetterte, schrie sie auf. Matt hatte einen Satz nach vorne gemacht und ruderte mit den Armen. Er tänzelte zur Seite, weg von ihr, und schrie dabei wie ein Wahnsinniger. Was… was…
Ein gewaltiger, mit gepanzerten Flügeln versehener Dämon, der nicht länger Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, kam auf sie zugetaumelt. »Hier! Hier!«, rief ihr wahnsinniger Freund – ihr Kompass – ihr Anker – ihre Kerze in der Dunkelheit. »Hier, du abscheulicher Bastard.«
»Nein, Matt! Lauf! Lauf!«
Aber ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, und die Welt um sie herum verblasste sehr schnell… Aber nicht schnell genug.
Morgs riesiges Ungeheuer packte Matt mit seinen massigen Armen und zerriss ihn in der Luft. Heißes Blut spritzte auf die Pflastersteine und färbte sie scharlachrot.
Auf den Knien liegend und verstört durch die Trennung von dem Zirkel, hörte Asher Matts verzweifelten Schrei. Er blickte auf. Durch grausamen Schmerz sah er den Dämon. Sah Dathne, die in Gefahr war. Sah Matt, wie er sie mit einem Stoß in Sicherheit brachte, sich dem Ungeheuer in den Weg stellte – und eines blutigen, sinnlosen Todes starb.
Die Zeit blieb stehen und die ganze Welt mit ihr.
Als sie wieder einsetzte, war er bereits auf den Beinen. Tobend, weinend und mordlustig. Eine Kriegsbestie nach der anderen flammte um ihn herum auf. Er ließ sie frei – und sprang dann hinterher, um sich ihnen anzuschließen. Töten! Töten! Töten!
Sein erstes Opfer war das Ding, das Matt niedergemetzelt hatte.
Als es vorüber war und sämtliche Ungeheuer Morgs erschlagen oder vernichtet waren, senkte sich Stille herab, durchsetzt von Schluchzen und Stöhnen. Über dem Platz wehte schwefelhaltiger Rauch. Der Boden war schlüpfrig von Blut, das schwarz oder rot war. Unvorstellbar müde hob Asher eine Hand, die so schwer war wie Blei, und ließ seine überlebenden Kriegsbestien erlöschen. Dann taumelte er zu Dathne hinüber. Gar war bei ihr; er war anscheinend unverletzt und half ihr, sich hinzusetzen. Er gab keinen Pfifferling auf Gar. »Mir geht es gut, Asher«, beharrte sie, obwohl sie Blut auf dem Gesicht hatte und ihr Blick trüb war. »Lass mich allein. Beende dies. Vernichte Morg und lass den Albtraum aufhören.«
Es brachte ihn beinahe um, aber er ließ sie allein. Ohne auf Gar zu achten, der seinen Namen rief.
Morg, der Zauberer, lag so reglos wie der Tod auf den Stufen der Halle der Gerechtigkeit.
Überquellend von Schmerz ging Asher zu seinem gefallenen Feind hinüber, blickte auf ihn hinab und betrachtete seine kostbare Kleidung, die an manchen Stellen vom Kriegsfeuer verbrannt war. Betrachtete auch die unversehrten Rubine auf seiner Brust, die mit jedem Atemzug blinkten und blitzten. Er bückte sich und rollte Morg herum.
Conroyd Jarralts ungezeichnetes Gesicht war so hübsch wie eh und je. An seinem Gürtel hing, gesichert in seiner mit üppigen Juwelen geschmückten Scheide und von den Flammen kaum berührt Conroyds Messer. Asher zog es heraus, wog es in der Hand und bewunderte seine Balance. Bewunderte die olkische Kunstfertigkeit. Eigenartig, dass Conroyd sich für einen von einem Olk geschaf– fenen Dolch entschieden hatte, wenn man bedachte, wie sehr er alle Dinge verachtete, die nicht doranisch waren.
Eigenartig… und zutiefst befriedigend.
In diesem Moment verspürte er ein winziges Aufflackern von Trauer. Conroyd Jarralt war ein Bastard, aber es war unwahrscheinlich, dass er darum gebeten hatte, von Morg verschlungen zu werden. Und jetzt würde er sterben. Musste sterben, damit Lur leben konnte.
Er schüttelte sich. Denk nicht darüber nach, denk nicht darüber nach. Es heißt, er oder du und alle anderen. Du rettest hier Leben, erinnerst du dich?
Und er tat es nun doch nicht, indem er sein eigenes Leben opferte. Wenn er nicht mehr so müde und voller Schmerz war und die Ereignisse dieses Tages ein gutes Stück hinter ihm lagen, würde er vielleicht darüber lächeln.
Aber nicht jetzt.
Er durchschnitt Conroyds geschwärzte Kleidung und legte seine Brust bloß. Dann ließ er seinen Geist leer werden und rammte das Messer durch Muskeln, zwischen Knochen hindurch, tief in Morgs schwarzes, fauliges Herz und drehte es mit aller Kraft, die ihm noch verblieben war. Fleisch bebte. Blut floss. Der Zauberer atmete einmal aus und starb.
Außerstande, irgendwo hinzugehen, ließ Asher sich auf die Treppe der Halle der Gerechtigkeit sinken, bettete die Stirn auf die Knie und ließ sich von dem Zittern übermannen.
Es war also getan. Die Prophezeiung war zufriedengestellt worden. Sogar überlistet, da er noch immer lebte. Die wahnsinnige Welt kehrte langsam zur Normalität zurück. Jetzt konnte er nach Hause gehen, nach Restharven. Konnte ein neues Leben anfangen mit Dathne. Seiner Frau. Seiner Geliebten. Die Augen geschlossen und bebend wie ein Mensch mit Schüttelfrost, sah er die Sonne über dem Hafen aufgehen, roch die salzige Luft, spürte die Gischt feucht auf seinen Wangen. Ein heißes Schluchzen stieg in seiner schmerzenden Kehle auf. Zu Hause…
Neben ihm hustete Conroyd Jarralts Leichnam.
Nein. Nein. Das war einfach nicht möglich!
Wieder auf den Beinen, die Augen weit aufgerissen, sog Asher die Luft ein wie ein Ertrinkender und beobachtete, wie das Messer langsam, aber sicher aus Conroyds blutüberströmter Brust glitt und mit einem metallischen Auf prall auf die Marmorstufen fiel. Er beobachtete, wie die Wunde sich schloss, als hätte es sie nie gegeben, und der Brustkorb sich hob und senkte, hob und senkte. Die Augenlider flackerten, eine schreckliche Warnung.
Verdammt! Verdammt! Morg war immun gegen Stahl, und jetzt hatte er keine andere Wahl mehr: Er musste Gars verdammten Zauber benutzen. Anscheinend hatte er die Prophezeiung doch nicht überlistet.
Es war nicht gerecht. Es war nicht gerecht! Er wollte nach Hause gehen! Die Worte des Ungeschehens waren in ihm und warteten. Er drehte den Kopf, nur ein klein wenig, gerade weit genug, um Dathne zu sehen, die am Rand des Platzes stand. Von Gar war keine Spur zu entdecken.
Dathne. Dathne.
Er hätte um ein Haar laut aufgeheult.
Dies war so verdammt ungerecht!
Zu seinen Füßen seufzte Morg und bewegte sich.
Jetzt oder nie. Die Zeit war abgelaufen.
Seine rechte Hand zitterte nur ein klein wenig, und seine Stimme brach nur gerade eben, als er die Siegel in die Luft zeichnete, den Zauber sprach und die Augen schloss.
»Hier komme ich, Pa… hier komme ich…«
Nichts geschah. Kein Aufwallen von Macht. Kein Blitzen von Licht. Kein Tod, weder für ihn noch für Morg.
Ungläubig öffnete er die Augen. »Verflucht will ich sein!«, rief er und fuhr herum. »Gar!«
»Hier entlang, Asher!«, rief der kleine Mistkerl aus tiefen Schatten zu seiner linken Seite. »Schnell! Hierher! Bevor er aufwacht!«
Der Zorn trübte seinen Blick wie ein roter Nebel, als er die Stufen hinunterschlitterte, um zu Gar hinüberzulaufen, in die schmale Gasse zwischen der Halle der Gerechtigkeit und der Kapelle. Als er ihn erreicht hatte, packte er ihn am Hemd und schüttelte ihn mit aller Kraft.
»Ihr habt gesagt, der Zauber sei übersetzt! Ihr habt gesagt, er würde verdammt noch mal funktionieren!«
Gar wehrte ihn mit einiger Mühe ab. »Das tut er auch! Er wird funktionieren! Lass mich los, Asher! Hör zu!«
»Ich soll Euch zuhören?«, fragte er. »Ich bin fertig damit, Euch zuzuhören! Ich habe Euch zugehört, und seht nur, was es mir eingetragen hat! Verflucht, was tue ich jetzt? Der Bastard will einfach nicht sterben! Ich habe ihm ein Messer ins Herz gerammt, und er ist immer noch nicht tot! Und Euer Zauber – Euer verdammter Zauber…«
»Wird nicht funktionieren, es sei denn, er läuft durch mich.«
Er trat einen Schritt zurück und starrte Gar an. »Was?«
Gars Gesicht war blutleer, und seine Augen waren tief in die Höhlen eingefallen und blau gerändert. »Ich habe Barls Beschwörung abgewandelt, Asher. Nicht viel. Nur ein klein wenig. Jetzt bin ich ein unabdingbarer Teil der Magie. Die Macht muss durch mich hindurchfließen, bevor sie Morg töten kann.«
War Gar wahnsinnig? Von Sinnen? Hatten die Strapazen der vergangenen Wochen ihn vollkommen um den Verstand gebracht?
Gar, der die Fragen in seinem Gesicht las, seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch klar denken, das verspreche ich dir, Asher. Und was ich gesagt habe, ist die simple Wahrheit. Das ist es, was ich dir erzählen wollte, bevor du versucht hast, mir das Hirn aus dem Schädel zu schlagen.«
»Ihr habt die Beschwörung verändert? Warum?«
»Ich hatte meine Gründe.«
Beinahe bis zur Sprachlosigkeit verblüfft, wandte Asher sich ab. Dann drehte er sich um, immer noch fassungslos. »Aber… Aber das bedeutet, dass auch Ihr sterben werdet, nicht wahr?«
Gar zuckte mit den Schultern. »Was kümmert es dich, solange nur Morg tot ist?« »Ihr seid wahnsinnig«, flüsterte Asher und trat zurück, bis er mit den Schulterblättern auf kalten, feuchten Stein traf. »Ihr habt einen Sonnenstich.« »Du weißt, dass es nicht so ist. Morg muss sterben, und dies ist die einzige Möglichkeit.«
»Das kann nicht wahr sein!«, schrie er. »Ihr seid der Kluge, der Gelehrte, der Historiker! Lasst Euch etwas anderes einfallen! Es ist schon einmal ein Mann für mich gestorben, Gar, ich werde nicht zulassen, dass es zwei sind!« Gar schüttelte den Kopf. »Diese Entscheidung liegt nicht bei dir. Es ist meine Entscheidung, und ich habe sie getroffen.«
»Aber warum?«
»Warum ist das wichtig? Ich bin dir gleichgültig.«
Das stimmte, aber darum ging es nicht. »Tut so, als wäret Ihr mir nicht gleichgültig, und sagt mir, warum!«
Gar stieß einen Seufzer aus und starrte zu Boden. »Ich habe Fane versprochen, dass ich nicht nach ihrer Krone trachte, und ich habe mein Wort gebrochen. Ich habe dir versprochen, dass ich dich vor Schaden bewahren werde, und ich habe wieder mein Wort gebrochen. Ich habe Barl versprochen, ihr Volk mit meinem Leben zu schützen – und das ist das eine Versprechen, das ich zu halten gedenke. Ich mag ein magieloser Krüppel sein, aber ich bin immer noch Lurs König. Ich werde nicht zulassen, dass mein Vermächtnis eine Abfolge gebrochener Versprechen ist. Mein Vater hat mich etwas Besseres gelehrt. Ich habe es dir irgendwann einmal erklärt, ich habe ein Schicksal. Erinnerst du dich? Nun, dies ist es.« Dann blickte er auf, und sein Gesicht war so steinern wie ein Bildnis. »Versuch nicht, mich aufzuhalten, Asher. Ich werde dich hassen, wenn du es tust.«
»Und wenn Ihr mich zwingt, bei diesem Wahnsinn mitzumachen, werde ich Euch hassen!«
Ein verzerrtes Lächeln spielte um Gars Lippen. »Du hasst mich auch jetzt schon.« »Dann werde ich Euch noch mehr hassen!«
Ein weiteres gleichgültiges Achselzucken. »Hasse mich, so viel du willst. Es ändert nichts. Asher, es gibt keine andere Möglichkeit, und uns geht die Zeit aus…«
Gefangen. Er war gefangen, und es gab kein Entrinnen. Der Bastard. »Dies hier werde ich Euch nie verzeihen, Gar«, flüsterte er. »Niemals.«
»Das weiß ich bereits«, sagte Gar. »Jetzt halt den Mund und hör zu. Uns bleiben nur noch Augenblicke. Alles, was ich dich im Wagen gelehrt habe, gilt nach wie vor. Einzig die Art, wie du den Zauber sprichst, hat sich verändert. Du hältst mich an der Schulter fest, und du lässt nicht los. Verstehst du mich? Wenn du mich loslässt, wird der Zauber versagen, und Morg wird ewig leben.« Er fühlte sich taub. Ihm war schwindelig. »Nur über meine Leiche.« »Nein«, erwiderte Gar, ohne zu lächeln. »Über meine.« Darauf wusste Asher keine Antwort.
Mit unverändert ernster Miene griff Gar in seine Jacke und zog das vom Alter fleckige Tagebuch heraus, mit dem dieser ganze Schlamassel begonnen hatte. Zwischen den Seiten steckten hier und da Papierfetzen. Als Gar auf das Buch hinabblickte, wurde sein Gesichtsausdruck weicher. »Ich habe Barls Tagebuch mitgenommen. Es tröstet mich irgendwie, obwohl ich weiß, dass das für dich keinen Sinn ergibt.« Er hielt es ihm mit unsicherer Hand hin. »Nimm es. Bewahre es. Es ist das Letzte, was die Welt von einer großartigen, wunderbaren Frau hat, die ihr Leben für etwas gegeben hat, das größer und besser war als sie selbst. Lass sie nicht in Vergessenheit geraten. Bitte.«
Widerstrebend nahm Asher das Tagebuch entgegen und steckte das verdammte Ding in sein Wams. Gars Gesicht war zu schrecklich, um es anzusehen. »Was jetzt?«, murmelte er.
»Jetzt legst du eine Hand auf meine Schulter – und wir beenden, was Morg begonnen hat.«
»Und Ihr seid Euch sicher, dass dies funktionieren wird? Ihr habt es selbst gesagt, Ihr seid ein magieloser Krüppel, was ist, wenn…«
Gar reckte das Kinn vor, und sein Gesicht war jetzt voller Stolz. »Du hast es besser ausgedrückt. Ich bin der Gelehrte. Vertrau mir, Asher. Dies wird funktionieren.«
Seite an Seite gingen sie zum Eingang der Gasse.
»Beginne die Beschwörung«, flüsterte Gar. »Aber sorg dafür, dass wir bis zum allerletzten Wort verborgen bleiben. Dann werden wir ihm gegenübertreten. Vergiss nicht: Du musst seine Augen sehen. Und um Barls willen, Asher…« »Ich weiß, ich weiß, verdammt, ich weiß! Was immer ich tue, ich darf nicht loslassen!«
Die Worte des Zaubers waren immer noch da. Warteten immer noch. Er holte tief Luft und stieß sie sachte wieder aus. Dann krampfte er die Finger um Gars ruhige Schulter.
»Senusartarum!«
Er zeichnete das erste Siegel.
»Belkavtavartis!«
Das zweite Siegel, dann das dritte.
»Kavartis thorsatis domonartis ed…«
Diesmal war es anders. Die Magie entzündete sich, dunkel und schrecklich, und setzte seine Knochen in Brand. Den linken Arm auf Schulterhöhe gehoben, die Finger gespreizt, trat Gar mit geschmeidigen Bewegungen aus dem Schatten. Zitternd, brennend folgte Asher ihm.
Morg stand oben auf der Treppe der Halle der Gerechtigkeit; seine Kleidung war wieder so makellos und glitzernd wie zuvor. Er sah sie und lachte, gewappnet mit strahlender Macht.
»Da seid Ihr also! Und seht Euch nur an! Seht Euch an! Der kleine Krüppel und sein zahmer Olk halten am Abgrund des Todes Händchen! Wie poetisch! Wie romantisch!« Er hob die Arme und warf den Kopf in den Nacken. Unheilvolles, grünes Feuer knisterte um ihn herum und entzündete die dumpfige Luft. »Oh, was für eine wunderbare Art zu sterben! Ihr beide zuerst und dann alle, die noch übrig sind. Oder sollte ich Euch bis zum Rest aufsparen?«
Gar zitterte. »Beende es, Asher! Schnell! Jetzt! Bevor er noch irgendjemand anderen tötet!«
Ja, ja, es war höchste Zeit, es zu beenden. Er konnte den Malstrom, der in ihm tobte, kaum noch bezähmen. Mit einem bebenden Atemzug hob er den Kopf, um direkt in Morgs wahnsinnige, leuchtende Augen zu blicken. Öffnete den Mund und flüsterte: »Nix.«
Tötende Magie flammte durch seine Adern. Aus seinen Fingern, die sich in Gars Schulter krallten, in Gars Körper und Gars Arm hinab, um als ein Strom aus rein goldenem Feuer aus dessen Fingerspitzen zu schießen.
Die Magie traf Morg in sein gegen Messer immunes Herz und verwandelte ihn in eine Flammensäule. Gar sackte ächzend und schaudernd zu Boden. Asher, der ihn immer noch nicht losließ, folgte ihm nach unten, während der Zauber des Ungeschehens wie Blut aus einer tödlichen Wunde strömte.
Für fünf langsame Herzschläge brannte Morg lichterloh. Dann kam ein ohrenbetäubendes Krachen. Das goldene Feuer schwoll an. Blühte auf. Verschluckte die Sonne.
Morg verschwand und seine toten Dämonen mit ihm.
Ohne ein Wort sackte Gar auf die Pflastersteine. Mit dem Gesicht nach oben, und seine grünen Augen starrten zum bewölkten Himmel empor. Dem Himmel ohne Mauer. Asher fiel mit ihm. Er durfte nicht loslassen, ganz gleich, was geschah. Nach und nach wurde Asher sich der Füße bewusst, die an ihm vorbeieilten. Geräusche wie von Schutt, der beiseitegetreten wurde. Stimmen, die Befehle schrien, die riefen: »Hilfe, hierher, Hilfe!« Er wollte antworten, aber sein Kopf schmerzte, und er war so furchtbar, furchtbar müde.
Schritte blieben neben ihm stehen. Er öffnete die Augen. Dathne. An ihrer Seite, Darran. Nicht tot also, die alte Krähe, trotz eines trägen Herzens und angesichts solch furchtbarer Trauer…
Es gelang ihm zu lächeln, als sie neben ihm niederkniete und eine Hand fest auf seine kalte, feuchte Wange presste. »Du wolltest mir etwas erzählen«, flüsterte er, obwohl seine Stimme nur ein kränkliches Krächzen war.
Ihre Augen waren heller als jeder Stern. »Das wollte ich, Liebster, nicht wahr?« Sie legte die Stirn auf seine. »Wir haben ein Baby gemacht«, sagte sie leise. Ein Baby. Ein Baby? Wie war das passiert?
Er drehte den Kopf und sagte zu seinem Freund: »Habt Ihr das gehört, Gar? Ich bekomme ein Baby!«
Aber Gar war tot und konnte ihn nicht hören.
Darran begann zu schluchzen, ein dünnes, gebrochenes Geräusch. Asher richtete sich mit Dathnes Hilfe auf und starrte die elende alte Krähe zornig an. »Gebt nicht mir die Schuld, Ihr verfluchter alter Mann! Dies ist nicht mein Werk!«
Auf die Schulter von Gars blauem Mantel war sein brutaler Handabdruck eingebrannt.
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte er noch einmal. »Ich hätte niemals daran gedacht. Ich bin nicht der Gelehrte. Es war seine Idee. Ganz allein seine. Nicht meine.« Er bettete die Stirn auf Gars regloser Brust. »Ich verzeihe dir, Gar«, flüsterte er. »Ich verzeihe dir. Bitte verzeih du jetzt auch mir…«
Stille. Und dann ein langer, träger, weinender Regen.