3. KAPITEL
Sehr zum Kummer seines Dieners nahm Beau sich nicht die Zeit, sich hinzusetzen und sich rasieren zu lassen, sondern wusch sich flüchtig über der Waschschüssel, putzte sich kurz die Zähne und fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar. Sidney half ihm in ein frisches weißes Hemd, bevor er ihm saubere Unterwäsche und eine Wildlederhose reichte. Dann hob er empört die Hände und verließ den Ankleideraum.
Beau konnte es noch immer nicht recht glauben, dass Lady Chelsea Mills-Beckman, die Schwester seines Erzfeindes, unten in seinem Salon saß und Wein trank. Ohne Anstandsdame, in einem ziemlich aufreizenden roten Reitkleid und in der eindeutigen Erwartung, dass er mit ihr irgendwohin aufbrach.
Lady Chelsea Mills-Beckman. Und sie wusste Dinge, die sie besser nicht wissen sollte. Frech und aufmüpfig, wie sie als kleines Mädchen gewesen war … Und sie hatte angedeutet, dass sie ihm bei seiner Rache an ihrem Bruder behilflich sein könnte.
Während sie gleichzeitig sich selbst half. Das durfte er nicht vergessen. Frauen mit Hintergedanken waren eher die Regel als die Ausnahme, wie er wusste, und da diese Frau zudem intelligent war, musste er doppelt wachsam sein.
„Tja, nicht gar so Anspruchsvolle würden das wohl als kleinen Fortschritt werten“, sagte Puck, trat ins Ankleidezimmer und lehnte sich mit der Schulter an eine hohe Kommode, während er seinen Bruder musterte. „Ich habe deine Besucherin ausgekundschaftet und sie erbarmungslos nach Einzelheiten ausgehorcht. Sie lässt mich wissen, dass es hier um Leben und Tod geht. Schlimmer noch, sie scheint meinem Charme gegenüber erstaunlich immun zu sein, was mich in Verzweiflung stürzen würde, wäre ich nicht insgeheim so entzückt darüber, dass sie für ihre zweifelhaften Pläne eher dich als mich ins Auge gefasst hat. Was nicht heißt, dass ich nicht helfen will.“
Beau schnappte sich ein Halstuch und band es sich hastig um. „Die Begeisterung, mit der du in die Bresche springst, um mich zu schützen, wirft mich beinahe um“, knurrte er und stellte fest, dass der Knoten in seinem Halstuch stark an eine Schlinge erinnerte.
„Gern geschehen. Abgesehen von der weiblichen Freude an Theatralik, glaubst du, dass sie recht hat? Der Bruder ist ein Ekel, wenn ich mich recht erinnere. Willst du dich wirklich auf die Sache einlassen, von der sie faselt?“
„Sie befindet sich in meinem Haus, Puck.“
„In unserem Haus, nicht dass ich wegen einer solchen Nebensächlichkeit kleinlich sein will. Aber da ich nun mal auch hier bin, sollte ich eigentlich in Kenntnis gesetzt werden, was zum Teufel es auch sein mag, worin ich mich, wenn auch nur als Randfigur, verstrickt habe. Sie hat mir befohlen, ihr Pferd und den Reitknecht zu verstecken und Sidney anzuweisen, eine Tasche für dich zu packen, da ihr binnen einer Stunde aufbrechen werdet. Was natürlich die Frage aufwirft: Wohin wollen wir aufbrechen?“
Beau schlüpfte in eine Reitjacke und warf noch einen letzten flüchtigen Blick in den Spiegel über der Kommode. „Wir brechen überhaupt nicht auf“, erklärte er seinem Bruder. „Dieses Chaos habe ich selbst herbeigeführt, weil ich so dumm war zu denken, ich wäre die Katze, die mit der Maus spielt. Ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen, Puck, vor Jahren schon. Doch ausnahmsweise ist es meine Dummheit, nicht deine. Du hast nichts damit zu tun.“
„Was? Du willst mich hier zurücklassen und dem Zorn ihres Bruders aussetzen? Lieber nicht. Wenn ich euch nicht begleiten darf, gebe ich Gaston Anweisung zu packen und reise zurück nach Paris. Dort ist zunächst einmal das Wetter besser, und das Essen ist immerhin genießbar. An dem Speck, den dein Koch mir vorzusetzen gewagt hat, hätte ich mir beinahe einen Zahn abgebrochen. Wir sollten ihn feuern.“
Beau wandte sich seinem Bruder zu. „Das tust du nur, um mich zu ärgern, nicht wahr?“
Puck stieß sich von der Kommode ab. „Ja, aber ich höre jetzt auf. Du bist viel zu leicht reizbar, genauso wie Jack. Das verdirbt einem jeden Spaß. Weißt du, ich habe auf der Terrasse gelauscht und fast alles verstanden, was sie gesagt hat. Du hast den Earl tatsächlich in aller Stille ruiniert? Das finde ich genial, abgesehen davon, dass Lady Chelsea dir auf die Schliche gekommen ist. Demnach kannst du nicht allzu diskret vorgegangen sein. Sie vergleicht dich mit Machiavelli? Das trifft es wohl kaum. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“
„Das ist nicht gesagt. Es sei denn, das verflixte Weib hat seinem Bruder eine Nachricht hinterlassen, bevor sie ausgerissen ist. Denn ausgerissen ist sie, Puck, so viel ist klar. Frauen sind so. Sie handeln ohne Rücksicht darauf, ob jemand vielleicht nicht einverstanden ist mit seiner Rolle in ihrem kleinen Drama.“
„Ja, da hast du recht“, pflichtete Puck ihm bei und folgte Beau den Flur entlang in das kleine private Arbeitszimmer. „Sie hätte sich lieber an Mama wenden sollen. Sie liebt Dramen über alles. Doch als ich sie verließ, um nach London zu reisen, wollte sie mit ihrer Truppe zu einer Tournee im Lake District aufbrechen. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihr zu sagen, dass sie ein bisschen zu alt für die Rolle der Julia ist. Solange Papa die Truppe finanziert, sucht sie sich ihre Rollen jedoch selbst aus, und niemand widerspricht ihr. Hörst du mir überhaupt zu? Was kramst du da in dem Schrank herum?“
Beau drehte sich zu seinem Bruder um, eine Holzkiste mit einem Paar Duellpistolen in den Händen. Dann öffnete er eine längliche hölzerne Kiste auf der Anrichte und entnahm ihr den Säbel samt Gürtel, den er im Krieg getragen hatte, sowie ein kurzes, gefährlich aussehendes Messer mit Scheide. „Lass das alles bitte nach unten bringen. Den Säbel werde ich vermutlich nicht brauchen, aber das Messer nehme ich auf jeden Fall mit.“
Puck furchte die Stirn, als sein Bruder ihm die Waffen in die Hände drückte. „Wirklich? Soll ich auch noch ein Artilleriegeschütz auftreiben, wenn ich schon mal dabei bin? Du glaubst tatsächlich, dass der Bruder hierher kommt, wie?“
„Ich war ein Mal unvorbereitet, Puck. Das passiert mir nicht noch mal. Und jetzt geh und tu, was du dir vorgenommen hast – bereite deine Rückkehr nach Paris vor. Mag sein, dass die ganze Sache im Sande verläuft, aber das Mädchen weiß Dinge, von denen sie nichts ahnen dürfte, und ich will ihr glauben, bis sie etwas sagt, was mich umdenken lässt. – Verdammt, was für ein Morgen! Hätte ich das gestern Abend gewusst, dann hätte ich nicht so tief mit dir ins Glas geschaut.“
„Ja, ganz recht, gib mir die Schuld. Es war gemein von mir, dir zur Feier deines Geburtstags die Nase zuzuhalten und drei Flaschen Wein in deinen Schlund zu gießen.“
„Für den Fall, dass du hinzufügen willst, die Frau dort unten wäre eine Art Geburtstagsgeschenk der Götter, lass dich warnen: Tu’s nicht.“ Beau ließ seinen Bruder stehen und stieg die Treppe hinunter zu Lady Chelsea, die auf dem Aubussonteppich auf und ab schritt und sich die Handschuhe in die Handfläche schlug.
Sie war, wenn er es recht bedachte – etwas, wofür er ihrer Meinung nach keine Zeit hatte: eine erschreckend schöne Frau. Er erinnerte sich, dass sie schon als Kind eine Schönheit zu werden versprochen hatte, doch er hatte geglaubt, sie würde ihrer Schwester nie das Wasser reichen können. Die Zeit hatte ihn eines Besseren belehrt.
Nach dem Krieg hatte er Madelyn während seiner Besuche in London ein oder zwei Mal gesehen, als sie in einer offenen Kutsche durch den Park fuhr. Die Jahre hatten ihren Tribut gefordert. Madelyn hatte Falten an den Lippen, die mittlerweile nicht mehr prall, sondern verkniffen aussahen, und das beinahe weißblonde Haar ließ sie eher älter erscheinen, statt ihr zu schmeicheln. Ihr Aussehen entsprach ihrem Wesen – sie war eine hochmütige, unverkennbar unglückliche Frau.
Er hatte erfahren, dass sie im Lauf der Jahre Liebhaber gehabt hatte, wobei sie manchmal die Diskretion weitgehend außer Acht ließ, und ihr Ruf wie auch ihr gesellschaftlicher Status hatten darunter gelitten. Daran gab sie ihrem Bruder die Schuld, und seit dem Tod ihres Vaters hatten er und sie kein Wort mehr gewechselt. Wahrscheinlich gab sie auch Beau die Schuld, denn ihr Niedergang hatte erst nach dem Vorfall, wie er selbst seine Demütigung umschrieb, seinen Lauf genommen.
Doch aus Lady Madelyns Problemen zog Beau keine Genugtuung. In seinen Augen hatte Lady Madelyn die gerechte Strafe für ihre Taten erhalten.
Thomas Mills-Beckman allerdings sollte seine Strafe noch am eigenen Leib zu spüren bekommen. Deshalb der Vergleich mit der Katze, die mit der Geldbörse der Maus spielte.
Und jetzt schritt diese rätselhafte und aufreizende junge Frau voller unverständlicher Bemerkungen und Angebote, ihm zur Gerechtigkeit zu verhelfen, in seinem Salon auf und ab. Sie war ihm in den Schoß gefallen wie eine reife Frucht oder aber wie ein unheilverkündendes Zeichen, wollte sich eindeutig selbst an ihrem Bruder rächen und Beaus Hilfe dafür in Anspruch nehmen.
„Mein Bruder sagt, Ihrer Überzeugung nach seien wir in eine sehr ernste Sache verstrickt. Es gehe um Leben und Tod, meinte er wohl – oder haben Sie es vielleicht gesagt? Ich muss zugeben, ich habe den Faden verloren.“
Sie blieb stehen und sah ihn an, neigte den hübschen Kopf zur Seite und musterte ihn aus klaren blaugrauen Augen von Kopf bis Fuß, als wäre er ein Pferd, das sie zu kaufen erwog. „Sie sehen ein bisschen besser aus. Sind Sie jetzt nüchtern?“
„Ja, ich glaube, ich bin auf dem besten Wege. Immerhin bin ich nüchtern genug, um noch einmal zu betonen: Ich kenne diesen Reverend Flotley nicht. Ich habe nicht veranlasst, dass er mit Ihrem Bruder bekannt gemacht wurde. Wenn der Rest Ihnen also gleichgültig ist – trotz des Gestanks verdorbener Trauben –, möchten Sie es sich vielleicht doch anders überlegen, was meine wie auch immer geartete Hilfe betrifft, und einfach gehen. Und zwar schnell.“
„Ich kann nicht. Wir wissen wohl beide, dass es dafür längst zu spät ist“, sagte sie und seufzte. „Wir haben wirklich keine Zeit mehr, aber ich habe im wahrsten Sinne des Wortes alle Brücken hinter mir abgebrochen, indem ich in aller Öffentlichkeit zu Ihnen gekommen bin, und Ihre Brücken ebenfalls, was ich Ihnen bestimmt nicht näher erläutern muss. Das tut mir leid, ein bisschen zumindest, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich habe meinem Bruder eine Nachricht hinterlassen, in der ich ihm detailliert erkläre …“
Beau schlug sich die Faust in die Handfläche. „Wusste ich’s doch! Warum glauben Frauen immer, ihre Beweggründe erklären zu müssen?“
Sie straffte die schmalen Schultern. „Ich habe ihm nicht meine Beweggründe erklärt, Sie dummer Mann. Ich konnte jedoch nicht zulassen, dass meine Zofe Hauptleidtragende seines Zorns wird, während sie mir doch geholfen hat, meine Habseligkeiten einzupacken, und an der Ecke auf mich gewartet hat, damit ich das Bündel hinter meinen Sattel schnallen konnte, ohne dass jemand von meinem Aufbruch erfuhr.“
„Oh ja, natürlich. Das war überaus klug. Er wird sie nun nicht ohne Empfehlungsschreiben aus dem Haus jagen, zumal Sie sie ja gezwungen haben, zu tun, was Sie verlangten.“
„Oh“, sagte Chelsea leise. „Das hatte ich nicht bedacht. Aber ich habe ihm nicht verraten, wohin ich mich wende. Ich bin ja nicht dumm.“
„Wunderbar. Das Mädchen versichert, es sei nicht dumm. Sagen Sie, Sie Genie, haben Sie zufällig Ihrer Zofe Ihr Ziel verraten? Denn wenn ich besagte Zofe wäre und dem Verlust meines Arbeitsplatzes ins Gesicht sehen müsste, würde ich vermutlich versuchen, meine Haut zu retten, indem ich meinem Arbeitgeber entgegenkomme.“
Chelsea funkelte ihn an. „Ich könnte eine aufrichtige Abneigung gegen Sie entwickeln.“
„Das werte ich als Ja“, sagte Beau mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Weinkaraffe. „Wie lange dauert es noch, bis er Sie vermisst, seine Pistole schwingend schnurstracks hierher eilt und verlangt, dass ich mich stelle?“
Chelsea warf einen abschätzenden Blick auf die Kaminuhr. „Wir sollten uns wohl auf den Weg machen.“
„Ja. Auf den Weg machen. Und wohin sollten wir uns wohl auf den Weg machen, Madam? Ach, und noch eine klitzekleine Frage: Warum? Warum ich? Warum wollen Sie mir helfen, und wie soll ich Ihnen beistehen? Auf diese zwei Fragen findet mein benebelter Verstand noch keine klare Antwort.“
Sie blickte wieder auf die Uhr. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit.“
Beau verschränkte die Arme vor der Brust, entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Dass sie vor ihrem Bruder fliehen wollte, war anerkennenswert. Dass sie ihn in ihre Flucht hineinzog? Nicht ganz so löblich.
„Nehmen Sie sich die Zeit.“
„Nur, wenn Sie jetzt mit mir kommen“, sagte sie, ging ins Foyer und schlug dann zielsicher den Weg zum rückwärtigen Teil des Hauses ein. „Ihr Bruder hat Ihr Pferd satteln lassen, und beide Tiere stehen im Stall bereit. Wenn wir die Hauptverkehrsstraßen meiden, können wir London sicher hinter uns lassen, bevor Thomas Witterung aufnimmt und Sie umbringt.“
„Ach, das wird ja immer schöner“, sagte Beau. Puck, der sich niemals etwas auch nur annähernd Aufregendes entgehen ließ, gesellte sich zu ihnen, als sie durch die grün verkleidete Tür in den Dienstbotentrakt des Hauses gelangten. „Eben noch halte ich ziemlich glücklich bei einer guten Flasche zur Feier meines Geburtstags und der Rückkehr meines Bruders aus Frankreich Rückschau auf mein Leben, und im nächsten Moment flüchte ich vor irgendjemandes erzürntem Bruder, der vielleicht bereits auf dem Weg hierher ist, um seine Schwester aus den Klauen eines Mannes zu retten, der sich vor einer knappen Stunde nicht einmal an ihre Existenz erinnerte.“
Chelsea blieb an der Tür zum Küchenbereich stehen und drehte sich zu ihm um. „Halten Sie den Mund. Ich versuche seit meiner Ankunft, es Ihnen zu erklären, aber Sie unterbrechen mich immer wieder. Jetzt müssen wir losreiten, es sei denn, Sie sind dumm genug, Thomas entgegentreten zu wollen, während Sie immer noch so unübersehbar betrunken sind. Und unerträglich obendrein, wenngleich ich allmählich bezweifle, dass sich das ändert, wenn Sie wieder nüchtern sind.“
„Ich nehme alles zurück, Bruderherz“, sagte Puck und prustete. „Ich glaube, ich fange an, sie zu mögen.“
Chelsea legte die Handflächen an die Wangen, zählte womöglich leise vor sich hin, ließ die Hände dann sinken und stieß heftig den Atem aus.
„Erstens, mein Bruder hat Ihnen vor sieben Jahren eine große, unverzeihliche Schmach zugefügt. Zweitens, er ist von Natur aus dumm – und leicht zu beeinflussen, wie Sie sich selbst anscheinend längst vergewissert haben, siehe die verdorbenen Trauben. Drittens, gleich nach dem Tod unseres Vaters wurde Thomas sehr krank und fürchtete, sterben zu müssen, bevor er als neuer Earl die Früchte der harten Arbeit meines Vaters genießen könnte. Viertens, er glaubt wahrhaftig, Francis Flotley wäre als Geschenk Gottes in sein Leben getreten, desselben Gottes, dem Thomas dann alles Mögliche gelobte, sofern der Herr ihn nur wieder vom Krankenbett aufstehen ließe. Fünftens, Francis Flotley übermittelte Thomas’ Gelöbnisse höchstpersönlich an Gott – ja, ich weiß, das ist verrückt, und Sie können aufhören, solch hässliche Grimassen zu schneiden –, und jetzt ist Thomas nicht nur immer noch dumm und leicht zu beeinflussen, sondern glaubt sich auf dem Weg der Frömmigkeit und verantwortlich für meine Seele, und das ist er nicht! Siebtens …“
„Ich glaube, Sie haben ‚sechstens‘ vergessen“, berichtigte Puck sie hilfreich. „Verzeihung“, fügte er rasch hinzu, als Chelsea ihn anfunkelte.
„Sechstens“, sagte sie mit Nachdruck, „da ich keinen Mann heiraten werde, der Thomas zusagen könnte, hat er beschlossen, mich gleich morgen früh nach Brean zu bringen, mich einzusperren und mich mit Francis Flotley zu verheiraten, sobald das Aufgebot bestellt ist. Um meine minderwertige weibliche Seele zu retten.“
„Siebtens“, fiel Beau ihr ins Wort und hob eine Hand, „da Sie klug genug waren, mich als den Verantwortlichen für die finanzielle Heuschreckenplage Ihres Bruders zu entlarven – keine Fragen, Puck, hör zu –, vermuteten Sie, wohlgemerkt: fälschlicherweise, der Reverend ginge auch auf meine Kappe. Sodass es, achtens, meine Schuld wäre, dass Sie an den Mann verschachert werden sollen. Demnach bin ich verpflichtet, Sie vor diesem Schicksal zu bewahren, was ich, neuntens, irgendwie bewerkstelligen soll, indem ich Sie aus London eskortiere, auf den Fersen gefolgt von Ihrem blutdürstigen Bruder. Wofür Sie mir, zehntens, als Gegenleistung einen Gefallen anbieten. Wozu ich, erstens – aber keine Angst, denn meine Liste ist nur kurz – Nein sage. Zu viel der Ehre, dass ich für Sie meinen Kopf hinhalten darf, aber nein.“
„Vielleicht trinke ich nie wieder“, sagte Puck ruhig. „Ich glaube doch tatsächlich, dass ich das alles verstehe. Aber was könnte Lady Chelsea dir anbieten, um dir zu helfen? Und wenn sie dir helfen wollte, hieße das, dass du dich durch ihr Angebot so an ihrem Bruder rächen könntest, dass es deine Unverfrorenheit ausgleicht, als Bastard, der du bist, in sein Haus zu kommen und das Familienwappen zu beschmutzen, indem du ihn um die Hand seiner Schwester … Oho! Beau? Kennst du überhaupt den Weg nach Schottland?“
Beau sah Chelsea an – mit vierzehn die Heimsuchung seines Lebens, sieben Jahre später eine vom Himmel gefallene reife Pflaume. Die perfekte Rache an Thomas Mills-Beckman und der gesamten Londoner Gesellschaft, die ihm in Geschenkverpackung in den Schoß fiel.
Nein. Das konnte er nicht tun. Oder? Er war stolz darauf, ein Gentleman zu sein, in einer Welt, die ihn größtenteils als etwas beinahe Nicht-Menschliches abstempelte. Ja, er rächte sich bereits an Brean, doch das war etwas anderes; es ging nur um Geld.
Mit der Schwester des Mannes durchzubrennen, mit der Schwester des Mannes zu schlafen? Das war nicht nur verachtenswert, es kam der Unterzeichnung seines eigenen Todesurteils gleich, falls sie vor der Schaffung vollendeter Tatsachen gefasst wurden und das Mädchen nicht schon entjungfert und ihr Ruf dermaßen zerstört war, dass die Situation durch Beaus Ermordung nur noch verschärft werden konnte.
Brean wäre blamiert, die gesamte Familie wäre blamiert.
Madelyn hatte gesagt, er würde niemals einer von ihnen sein. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass er den Spieß praktisch umdrehen könnte, sodass sie eine von seinesgleichen sein würde, dass sie erfahren könnte, wie es war, heimlich ausgelacht, mit Herablassung behandelt, vom inneren Kreis der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Seit dem Vorfall hatte Beau die Gesellschaft studiert, und er wusste, was geschehen würde. Der Ruin ihrer Schwester wäre auch Madelyns endgültiger Ruin, auch noch nach all diesen Jahren.
Doch das wäre kleinliche Rache, seiner nicht würdig. Er konnte ihr niemals verzeihen, doch der Grund dafür war, dass er seiner eigenen jugendlichen Torheit, seinem blinden Vertrauen auf das Gute in der Welt nicht verzeihen konnte. Er konnte in der vornehmen Gesellschaft Freunde haben, sogar echte Freunde. Doch so reich, so wohlerzogen, so gebildet und umgänglich er auch sein mochte, der außereheliche Sohn des Marquess of Blackthorn würde niemals eine von ihren Schwestern heiraten.
„Beau? Du starrst ins Leere, und ich muss sagen, es ist ein bisschen abstoßend“, sagte Puck und riss seinen Bruder aus seinen Gedanken. „Was hast du jetzt vor?“
Beau fand zurück in die Gegenwart und sah Lady Chelsea an, die seinen Blick erwiderte und nervös an ihrer Unterlippe nagte.
„Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht tun. Es tut mir leid, aber einer von uns muss an die Konsequenzen denken. Die Gesellschaft würde Sie schneiden, Ihre Familie Sie enterben. Vielleicht erscheint Ihnen das alles in einem romantischen Licht, vielleicht betrachten Sie es als Abenteuer wie in einem Roman, aber …“
„Seine Lippen sind immer feucht“, sagte Chelsea leise. „Er sagt, eine Frau auf den Knien ist eine Frau, die weiß, wohin sie gehört. Er predigt, dass Frauen intellektuell minderwertig sind und der Führung bedürfen oder aber als Dirnen anzusehen sind, die den Stock zu spüren bekommen sollen.“
Puck zerrte seinen Bruder am Arm, nahm ihn beiseite und flüsterte: „Welchen Stock, Bruderherz? Meint er den Rohrstock oder seinen ganz privaten Stängel? Feuchte Lippen, religiöses Geschwafel, ein so knuspriges Mädchen wie dieses – ich glaube, wir beide kennen die Antwort. Keine hübsche Vorstellung, und ich möchte nachts ruhig schlafen, danke. Verdammt noch mal, Beau, das können wir nicht zulassen, nicht, nachdem wir Bescheid wissen. Wir können sie nicht zurück zu ihrem Bruder und diesem Flatley schicken.“
„Flotley“, berichtigte Beau ihn geistesabwesend und spürte die würgenden Finger der Schicksalsgöttin an seinem Hals.
„Egal. Der Mann ist jedenfalls ein Schuft. Wenn du sie nicht heiratest, tu ich es. Es gibt Schlimmeres als eine Ehe mit einem reichen, gut aussehenden und ungemein liebenswerten Bastard. Damit meine ich mich, wohlgemerkt. Du bist lediglich reich und einigermaßen gut aussehend.“
Beau warf einen Blick in den Flur auf Chelsea und sah, wie eine einzelne große Träne über ihre Wange rann. Das Mädchen weinte, sein Bruder wollte sich opfern, der Bruder des Mädchens befand sich vermutlich schon bis an die Zähne bewaffnet und in Begleitung der Hälfte seiner Dienerschaft auf dem Weg zum Grosvenor Square. Wenn das Mädchen fort war, konnte Brean nichts ausrichten. Traf er sie aber hier an, konnte er womöglich behaupten, sie wäre entführt worden, und ihn und Puck erschießen, ohne dafür belangt zu werden. Immerhin war ihre gemeinsame Geschichte bekannt; man würde Brean glauben.
Aber wenn es Beau gelang, dem Earl ein Loch in den Kopf zu schießen? Das würde für ihn und wahrscheinlich auch für Puck den Galgen bedeuten.
Und für Chelsea den Mann mit den ewig feuchten Lippen.
Warum stand er dann noch hier? Es gab nur eine Lösung, nur eine Reiseroute, und die führte direkt nach Gretna Green zu einer Hochzeit über einem schottischen Amboss.
„Verdammt noch mal“, sagte er, packte Chelsea am Ellenbogen und zog sie wieder in Richtung Küche. „Puck, du musst raus aus London. Mach dich jetzt gleich mit uns zusammen auf den Weg. Nimm die Jacht und lass dir dein Gepäck nach Paris nachsenden. Brean ist vermutlich im Begriff, seinen neu gefundenen Glauben zu verlieren, und wenn das geschieht, will ich dich nicht in der Nähe wissen. Gib mir fünf Minuten, um Wadsworth meine Anweisungen zu geben, dann reiten wir los.“
„Dann … dann wollen Sie es tun? Mich heiraten?“
„Oder bei dem Versuch sterben, ja. Sie lassen mir keine Wahl.“
Ihr Lächeln haute ihn beinahe um. „Ja“, sagte sie zuckersüß, und ihre Tränen waren versiegt. „Ich weiß. Flucht ist nur eine vorübergehende Lösung. Doch die Ehe befreit mich von Thomas und wird Ihnen, auch wenn Sie uns Francis Flotley nicht auf den Hals gehetzt haben, sicherlich viel Vergnügen bereiten – denn über unsere Heirat wird er sich totärgern. Sehen Sie? Die Rechnung geht auf.“
„Dann ist alles geregelt? Ich dachte, sie würde sich wehren. Ich habe gebetet, habe unseren Herrn angefleht, einzugreifen und sie auf den rechten Weg zu führen.“
Der Earl of Brean hob den Blick von den Unterlagen seines Gutsverwalters, die er seit einer Stunde studierte, ohne viel zu begreifen – irgendetwas über Ertrag pro Morgen und den Vorschlag, vier Felder im nächsten Jahr brach liegen zu lassen, was er auf gar keinen Fall genehmigen würde, jedenfalls nicht, wenn es Auswirkungen auf seine Brieftasche hatte. In letzter Zeit hatte er einige unkluge Investitionen getätigt. Er wies dem schwarz gekleideten Reverend einen Sessel zu.
„Sie hat sich gewohnt hitzig gewehrt. Doch sie kommt wieder zu sich“, versicherte er dem Mann. Schließlich war Chelsea nicht dazu erzogen, unter der Brücke von London zu hausen. Außerdem blieb ihr kein Ausweg. Im Zweifelsfalle sollte sie nicht vergessen, wer die Zügel in der Hand hielt, und die Zügel hielt er.
„Ihre Schwester ist eigensinnig, Thomas. Ich habe auch für sie gebetet, und die einzige Lösung ist, sie mit starker Hand zu führen. Ich werde bei ihren Büchern ansetzen. Zu viel Bildung tut Frauen nicht gut. Ihr Verstand ist zu schwach, um komplexe Themen zu verarbeiten. Ich war so frei, eine Liste der löblicheren Werke für ihr empfindlicheres Zartgefühl vorzubereiten. Bücher über anständiges Benehmen, rationelle Haushaltsführung. Und natürlich eine gute Auswahl an Predigten.“
„Schön, hm, schön“, sagte der Earl und dachte womöglich an das Predigtbuch, das ihm erst kürzlich an den Kopf geworfen worden war. „Mein Vater hat ihr die Zügel schießen lassen, wissen Sie. Fand es lustig, dass sie Griechisch lernen wollte.“
„Heiden“, sagte Reverend Thomas Flotley mit tonloser Stimme. „Mit unnatürlichen Sexualpraktiken.“
Thomas horchte auf. Die einzige unnatürliche Sexualpraxis, die er seit Jahren ausübte, war der Verkehr mit seiner prüden Frau, und wenn andere das auch nicht für unnatürlich hielten, war es doch zumindest verdammt langweilig. Beten war in Ordnung, das war ihm bewusst, aber wenn die Frau unter ihm laut betete und fragte: O Gott, wann ist er endlich fertig? Nein, manchmal hatten nicht einmal seine Gebete ihn von der Erinnerung an seine letzte Geliebte, Eloise, befreit, an ihre Bereitwilligkeit, alles zu tun, was er verlangte. Sie hatte ihn viel Geld gekostet, aber was bedeuteten schon ein paar Klunker, wenn sie ihm dafür eines Nachts geholfen hatte, ihre Seidenstrümpfe samt Strumpfgürtel anzulegen? Das war ein Spaß gewesen! „Tatsächlich? Was für welche? Perversionen vermutlich?“
Flotley überging die Frage. „Ich bin zuversichtlich, dass sie sich mit der Zeit in ihr Schicksal fügt. Wenn wir verheiratet sind. Eine Frau muss zu ihrem Mann halten.“
„Wenn ein paar Gelübde in der Kirche ausreichten, Francis, würde Madelyn nicht in Mayfair durch alle Betten wandern. Meine größte Sorge ist, dass Chelsea genauso wird wie sie.“
„Ja, ich weiß von Ihren Sorgen. Aber ihr Mann ist schwach. Ich bin es nicht. Zweifeln Sie an mir, Thomas? Habe ich Ihnen nicht den Weg gewiesen?“
Darüber musste der Earl kurz nachdenken. „Sie wirft mit Gegenständen.“
„Nicht unter meinem Dach, seien Sie versichert. Apropos, Thomas, haben Sie mir den Vertrag nicht zur Verlobung versprochen?“
Der Earl hatte zwar den Glauben gefunden, aber das hieß nicht, dass er vorbehaltlos bereit war, sich von seinem Geld zu trennen, sofern er nicht eine gute Chance sah, etwas dafür zu bekommen. „Zur Hochzeit, Francis. An dem Tag werde ich Ihnen Rosemount Manor überschreiben, wie versprochen.“
„Und die Mitgift? Ich verlange nichts für mich selbst, wie Sie wohl wissen.“
„Flotleys Hafen für gefallene Mädchen. Ja, ich weiß. Sie sind ein guter Mensch, Francis.“
Der Reverend nickte ernst. „Ich werde sie in die Knie zwingen, sodass sie ihre Sünden bereuen und ihre Seelen gerettet werden können.“
Dem Earl fielen ein paar andere Gründe ein, warum sich die gefallenen Mädchen, die er im Lauf der Jahre kennengelernt hatte, auf die Knie niederließen, doch das war ein schlechter Gedanke, der gebannt werden musste. Francis war so rein, und er selbst war immer noch ein erbärmlicher Sünder. „Wie Sie meine Seele gerettet haben, Francis. Nicht wahr?“, sagte er dann und wandte sich zur Tür um, wo der Butler sich herumdrückte. Er sah aus, als würde er am liebsten in ein Mauseloch kriechen.
„Bitte verzeihen Sie die Störung, My Lord, aber offenbar ist Lady Chelsea … verschwunden.“
„Was? Hat sie sich in Luft aufgelöst? Rede keinen Unsinn, Mann.“
„Nein, My Lord. Das heißt, sie … Allem Anschein nach ist sie durchgebrannt. Sie hat eine Nachricht hinterlassen.“
„Was?“ Der Earl sprang auf und ballte die Hände zu Fäusten. „Wenn ich sie in die Finger bekomme, werde ich …“
„Thomas? Setzen Sie sich, Thomas“, sagte der Reverend ruhig, aber im Befehlston. „Zorn führt nirgendwo hin, ebenso wenig wie Gewalt. Wir schauen uns diese Nachricht an, dann suchen wir sie. Wir beten gemeinsam für ihre sichere Rückkehr in den Schoß der Familie, und der Herr wird uns zu ihr führen. Aber es ist nun mal so, wie ich gesagt habe, Thomas. Sie ist ein Weib und somit eigensinnig. Ich verspreche Ihnen, dies ist der letzte Akt der Auflehnung, den Sie mit ihr erleben. Ich werde sie auf den Weg zum Allmächtigen führen, und mit mir an ihrer Seite als ihr Herr und Meister wird sie die Schwächen ihres Geschlechts erkennen und auf den richtigen Weg finden.“
„Das ist alles schön und gut, Francis“, sagte Brean mit einem Anflug von Klugheit. „Aber zuerst müssen wir sie finden.“