14. KAPITEL

Beau saß mit dem kleinen Romeo im Schankraum des Baited Bear. Mit dem Wirt hatte er vereinbart, dass er den Jungen gut mit selbst gebrautem Bier versorgen sollte.

Zu Anfang war Jonathan ein widerwilliger Trinkkumpan gewesen, beharrte darauf, vor Emilys Tür zu warten, bis seine Knochen vertrockneten und zu Staub zerfielen, es sei denn, sie erkläre sich bereit, mit ihm zu sprechen. Sie sei seine Liebe, sein Leben. Ohne sie sei er nichts.

Doch allmählich schien sich ein Sinneswandel anzubahnen.

„Da sind dann also die gewöhnlichen Straßendirnen, sagen Sie, von denen man unbedingt die Finger lassen soll, und dann die Lebedamen – die sind zu hoch für mich, ja? Bei den Loretten wäre ich am besten aufgehoben, weil sie sauber, aber nicht so anspruchsvoll seien? Wie viel würde es kosten, eine dieser Damen ein oder zwei Wochen lang freizuhalten?“

Beau zuckte die Achseln, als wäre die Frage bedeutungslos. „Wir sprechen von Paris, Jonathan. Da ist nichts billig, aber alles käuflich. Nun, in Brüssel gibt es mehr gesetzliche Regelungen, da musst du vorsichtig sein, und in Berlin? Ah, Berlin. Und noch besser – Italien. Schulbildung ist die eine Sache, mein neuer Freund, doch manch ein Gentleman aus London verdankt den Frauen vom Kontinent seine nützlichste Bildung. Aber das alles muss ich dir ja nicht erzählen. Du bleibst schließlich hier, bei deiner Emily, im sicheren Hafen der Ehe.“

„Hmm?“ Jonathan schien sich aus einem privaten Tagtraum zu lösen. „Oh! Oh ja, ich gehe. Das heißt, nein, nein, ich gehe nicht. Verflixt langweilig, solche Kavalierstouren. Ganz in Ordnung für die Generation meines Vaters, aber ich habe keine Zeit dafür. Natürlich, mein Freund Bertie, er sagt, er geht auch, aber er ist noch ein kleiner Junge, wissen Sie, nicht trocken hinter den Ohren, und er müsste solche Dinge wissen. Vielleicht sollten Sie mir deshalb doch mehr erzählen, über – Italien, sagten Sie? Bertie sprach von Griechenland. Lauter Statuen ohne Köpfe und Arme. Finde ich albern und verflixt langweilig. Aber wenn Sie dort waren, werden Sie es wissen. Wie sind die Frauen in Griechenland? Sie haben doch Arme, oder?“

„Wir können später weiterreden. Jetzt, Jonathan, wartet dort oben eine junge Dame auf dich“, sagte Beau, der ahnte, dass der Kopf des Jungen bald engen Kontakt mit der Tischplatte suchen würde. Er musste das Eisen schmieden, solange es heiß war. „Was machen wir mit der schönen Emily?“

„Sie will mich nicht“, sagte der Junge, wurde auf Anhieb weinerlich und griff nach seinem Bierkrug. Doch weinerlich blieb er nicht lange. „Das hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben, oder? Wissen Sie“, fuhr er fort und deutete unsicher mit einem Finger in Beaus Richtung, „ich habe vielleicht ein bisschen überstürzt gehandelt. Seinerzeit gefiel mir die Idee. Durchbrennen, zur Grenze rasen, die Papas auf den Fersen. Verflixt roman… ramon… Ein toller Spaß.“

„Leider sind manche Ideen in der Theorie attraktiver als in der Praxis. Die meisten Frauen sind so“, pflichtete Beau ihm bei. „Verdammt, Mann, ich sehe höchst ungern zu, wie ein Geschlechtsgenosse von einem hinterhältigen Frauenzimmer an die Wand gedrängt wird. Von Mann zu Mann: Frauen können einen Mann völlig auf den Kopf stellen und fragen ihn dann, warum er auf dem Kopf steht. Ich glaube, sie können nicht anders. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Jonathan hob das Kinn, das der Tischplatte schon bedenklich nahe gekommen war. „Ja? Sie könnten mich von ihr loseisen? Nicht, dass ich das will, verstehen Sie. Sie loswerden. Glaube ich. Heult unentwegt. Macht gemeine Bemerkungen über meine Fähigkeiten als Kutscher. Als ob sie es besser könnte! Aber jetzt habe ich sie am Hals. Muss mich wie ein Ehrma…Ehrenme… muss das Richtige tun.“

„Ja, du hast dich ganz schön reingeritten, alter Junge. Trotzdem, du bist die ganze Zeit mit Mrs Claridge und mir zusammen gewesen – oder zumindest beinahe, egal. Wir können beide garantieren, dass du nie mit Emily allein warst.“

Jonathan griff jetzt so begeistert nach dem rettenden Strohhalm, dass es peinlich anzusehen war. „Das würden Sie tun? Das könnte was ausrichten beim Gutsherrn. Er geht auf die Jagd, wissen Sie? Schießt aber nie was, soviel ich weiß, aber er könnte mal Glück haben. Ich bin viel größer als ein Hase.“

Und hast ein bisschen mehr Verstand. Aber nur ein bisschen, dachte Beau. Er zückte seine Taschenuhr, klappte sie umständlich auf und blickte auf das Zifferblatt. „Na, es ist erst sieben Uhr. Wir hatten einen ausgefüllten Tag, wie? Habe ich dir schon erzählt, Jonathan … könnte sein, dass ich in Gateshead eure Väter gesehen habe. Wie wär’s hiermit? Wie wär’s, wenn ich zu ihnen gehe, ihnen alles erkläre und sie hierher hole? Emily könnte nach Hause gehen, was sie offenbar glücklich machen würde, und du könntest nach Paris zu den Loretten reisen. Nachdem der Krieg endlich zu Ende ist, wimmelt es auf dem Kontinent von feinen jungen Herren wie dir. Ach, diese Erinnerungen, du wirst dein Leben lang von ihnen zehren. Ich beneide dich um das Abenteuer.“

„Ich auch“, sagte Jonathan ernst. „Mein Vater ist ein guter Mann“, fuhr er dann munterer fort. „Er weiß, was gut für mich ist. Ja, ich tu’s. Ich bin es ihm schuldig, die Reise zu machen. Oder?“

„Unbedingt“, bekräftigte Beau und stand auf. „Du bist es jemandem schuldig.“ Dann ließ er den inzwischen schlummernden Lothario am Tisch sitzen und begab sich auf die Suche nach Chelsea, um ihr die gute Nachricht zu überbringen.

Er fand sie in dem ihm zugewiesenen Zimmer. Sie hockte auf der Fensterbank und nagte manierlich an einem Hühnerbein. Es kostete ihn äußerste Beherrschung, sie nicht in die Arme zu nehmen und zum Bett zu tragen. Schlimmer noch, er sah, dass sie es wusste. Er verlor rasant die Kontrolle über sämtliche Lebensbereiche. Sie blickte ihm hoffnungsvoll entgegen.

„Er ist einverstanden“, sagte er knapp und griff nach seinem Hut.

„Ach ja? Oh, Oliver, wie schön. Wie hast du das geschafft?“

Das konnte heikel werden. Er war nicht sicher, ob seine Taktik ihr zusagen würde.

„Ich habe ihm ein paar von den Herrlichkeiten geschildert, die er auf seiner Kavalierstour sehen würde.“

„Ja, natürlich. Das war eine gute Idee. Die Kirchen von Paris, das Kolosseum in Rom, die Reste der alten griechischen Kultur. Schön und gut, wenn man unsere Museen besucht oder Zeichnungen in Büchern betrachtet, aber das alles in der natürlichen Umgebung zu erleben? Wer könnte dieser Verlockung widerstehen? Was meinst du, reist er auch nach Ägypten?“

Beau zuckte nicht mit der Wimper, doch es kostete ihn einige Mühe. „Ich weiß nicht. Glücklicherweise reichten die Herrlichkeiten, die ich ihm vor Augen geführt habe. Hm … kommst du bis zu meiner Rückkehr allein zurecht?“

Sie verdrehte die Augen. „Ich verspreche dir, ich gehe nicht weg. Ich wäre auch heute Nachmittag im Zimmer geblieben, doch du hattest Jonathan den Schlüssel gegeben. Woher hätte ich wissen sollen, dass Emily mich nicht in mein eigenes Zimmer lassen würde?“

„Ich verstehe deine Zwangslage, aber mir passt es nicht, dass du den ganzen Tag ohne Begleitung im Gasthaus umhergewandert bist.“ Er stellte fest, dass sein Beschützerinstinkt ihr gegenüber inzwischen sehr ausgeprägt war.

„Ich habe so gut wie niemanden getroffen“, versicherte sie. „Das Gasthaus ist schon ein bisschen merkwürdig, oder? So verschachtelt, mit so vielen Ecken und Winkeln? Und ich glaube, Oliver, dass der Wirt dich entweder belogen hat oder dass alle anderen Gäste den Tag verschlafen haben, bis auf diese neugierige Frau, die die Polizei holen wollte, um Emily zu helfen. Sie und ihre drei Töchter sind jedoch schon abgereist. Ich komme zurecht.“ Sie lächelte. „Aber du könntest dich beeilen.“

Er brachte es nicht über sich, sie aufzuklären, dass die neugierige Frau und ihre Töchter eine Zuhälterin und deren Prostituierte waren, auch nicht, dass sie schon abgereist waren, weil sie die Gäste abgefertigt hatten und zu ihrer nächsten Station weiterzogen. Es war höchste Zeit, hochwertigere Gasthäuser aufzuspüren.

„Kleine Hexe“, sagte er, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und war eigentlich recht zufrieden. Beinahe selbstzufrieden. Er war ein Glückspilz. „Vielleicht ist Puck während meiner Abwesenheit schon eingetroffen. Ich habe in jedem Etablissement der Stadt eine Nachricht für einen Monsieur Robin Goodfellow hinterlegt.“

„Dein Bruder? Du glaubst wirklich, er könnte uns schon eingeholt haben?“ Chelsea erhob sich von der Fensterbank und richtete sich mit entzückend eifriger Miene auf. „Mit unseren Koffern? Mit sauberen Kleidern?“

„Ja, dank des Regens und unserer zusätzlichen Übernachtung ist das möglich. Nun, willst du dich nicht nach deinen Geschwistern erkundigen? Eigentlich hätten sie schon vorbei sein müssen, könnten uns womöglich sogar schon an der Grenze erwarten. Vielleicht ist ihnen ein Unglück zugestoßen.“

„Thomas stößt kein Unglück zu.“ Doch dann lächelte sie und fügte hinzu: „Unglücklicherweise. Allerdings bezweifle ich, dass er sich in Madelyns Gesellschaft sehr wohl fühlt. Und du kannst nicht sicher sein, dass sie über Nacht in Gateshead bleiben, oder?“

„Nein“, gab Beau zu. „Aber die meisten bleiben. Wie gesagt, um vor dem letzten wilden Ansturm auszuruhen. Frische Pferde zu mieten. Schließlich gibt es zwischen Gateshead und der Grenze dann nur noch wenige sinnvolle Raststätten. Dein Bruder wird übrigens auf Probleme stoßen, besonders wenn es Puck gelingt, ihn zu überholen. In Gateshead habe ich alles geregelt.“

„Was hast du geregelt? Was hat Puck vor?“

Beau lächelte gegen seinen Willen. Es war eine kostspielige Angelegenheit, aber seiner Meinung nach grenzte sie an Genialität. „Ich habe doch gesagt, dass ich einen Plan habe. Während meiner Überprüfung sämtlicher Hotels und Gasthäuser habe ich auch jede Pferdestation aufgesucht und alle Gespanne für die nächsten drei Tage gemietet. Puck tut das Gleiche von Gateshead bis nach Gretna Green. So mancher Vater auf Verfolgungsjagd wird dadurch festgesetzt sein, bis seine eigenen Pferde ausgeruht sind und er weiterziehen kann. Wir haben bisher vielleicht ein durchgebranntes Paar an der Hochzeit gehindert, Chelsea, aber jetzt unterstützen wir wahrscheinlich Dutzende.“

Chelsea öffnete und schloss ein paar Mal den Mund, bevor ihre wunderbaren Augen frech zu blitzen begannen. „Aber Oliver, das ist gemein. Du bist ein Genie!“

„Das finde ich auch, ja. Kann sein, dass du einen Mann mit einem hinterhältigen Einschlag heiratest.“

Sie zuckte gelassen die Achseln. „In der Hinsicht passen wir dann ganz gut zusammen, schätze ich. Müsstest du nicht aufbrechen? Ich habe Emily informiert, dass du ihren Papa herholst, und sie ist wieder in Tränen ausgebrochen, versicherte mir jedoch, dass es Freudentränen sind, die sie jetzt vergießt. Ganz gleich, was für Tränen es sind, ich bin mit meiner Geduld am Ende. Das ist ein weiterer Grund, warum ich bis zu deiner Rückkehr mit den besorgten Papas in diesem Zimmer bleibe.“

„Und dann gesellst du dich zu uns und beteuerst, dass Emily die ganze Zeit über unter anständiger Aufsicht war?“

Sie schnaubte hörbar. „Das wäre zu viel gesagt, Oliver, und würde nur Fragen nach unserer Identität aufwerfen. Nein. Ich habe gründlich darüber nachgedacht, und ich glaube, ich habe eine bessere Lösung gefunden. Ich habe einen Plan.“

Beau kratzte sich hinterm linken Ohr. „Wird er mir gefallen?“

Jetzt lächelte sie, und ihm wurde klar, dass er schon wieder die Kontrolle über die Lage verloren hatte. Das passierte ihm oft in Chelseas Gegenwart. Bald würde sie ihn völlig unter ihrer Fuchtel haben, bis er schnurrend zu ihren Füßen hockte und auf ein Tätscheln oder einen Leckerbissen hoffte. Wie tief war er in wenigen Tagen gesunken! Wahrscheinlich würden ihn nicht einmal seine eigenen Brüder wiedererkennen. Erstaunlicherweise störte es ihn nicht.

„Das ist nebensächlich, Oliver, denn er muss dir nicht gefallen. Mir gefällt er.“

Gebührend zurechtgewiesen, was ihn ebenfalls nicht sonderlich störte, salutierte Beau übermütig vor ihr und verließ das Zimmer. Zwei Sekunden später schaute er noch einmal hinein und wies Chelsea darauf hin, dass sie die Tür abschließen musste.

Sie streckte ihm die Zunge heraus.

Er machte sich auf den Weg zum Stall und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihm das Lächeln verging.

Chelsea spürte überdeutlich, dass Beau dicht neben ihr stand, als sie dem Baron und dem Gutsherrn im fast leeren Schankraum gegenübertraten. Das kleine Gasthaus bot keine Séparées. Ich habe dich wieder, sagte ihm seine Nähe, wenngleich er nicht wusste, was sie plante. Mit jedem Augenblick, der verging, mochte sie ihn mehr.

Was sie in der vorangegangenen Nacht getan hatten, was sie heute getan hatten – das war etwas anderes. Das war … das waren Glückstreffer gewesen. Ihr war es wichtiger, dass sie ihn mochte und dass er sie anscheinend auch mochte. Immerhin könnten sie jahrzehntelang verheiratet sein, und Menschen mussten sich hin und wieder unterhalten, selbst wenn sie größtenteils ihr jeweils eigenes Leben führten.

Wenn er sich einer ungepflegten Sprache bedienen oder mit offenem Mund kauen würde wie ihr Bruder, dann könnte sie es nicht länger als eine Minute im selben Raum mit ihm aushalten, ganz gleich, wie wunderbar sie sich im Bett verstanden. Wenn er sie ansehen würde, als würde ihr Anblick düstere lüsterne Gedanken in ihm wecken, oder wenn er keinen Sinn für Humor hätte – beides traf auf Francis Flotley zu –, dann würde sie sich vielleicht eines Tages gezwungen sehen, sich wie Jonathans Mutter aus dem Staub zu machen.

Doch sie und Beau kamen so gut miteinander aus. Es war beinahe unheimlich. Sie hätte beziehungsweise hatte gedacht, alles, was sie gemeinsam hatten, sei die Abneigung gegen Thomas.

Beau legte ihr eine Hand auf den Rücken und zwickte sie leicht in die Taille, als hätte er gemerkt, dass ihre Gedanken abschweiften, während der Gutsherr mit rotem und ziemlich unschönem Gesicht anführte, dass er „Satisfaktion von diesem verworfenen Emporkömmling“ fordere, der seine Tochter ruiniert habe.

Ja, sie hatte den Mann jetzt wohl lange genug geifern lassen. Jetzt war sie an der Reihe.

„Sie fordern?“, sagte sie und richtete sich hoch auf. Sie war immerhin die Tochter eines Earls, auch wenn diese beiden Narren es nicht wissen durften. Sie brauchten nur zu wissen, dass sie sie einzuschüchtern verstand; das hatte sie zu Füßen von Meistern in dieser Kunst gelernt. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter den Haushofmeister von Brean nur mit einem Blick und wenigen gut gewählten Worten zum Weinen brachte. „Sie fordern? Und wer sind Sie, Sir, dass Sie sich so etwas anzumaßen wagen?“

Der Gutsherr verzog sein tomatenrotes Gesicht und stieß den Kopf vor, als könnte er nicht recht glauben, was seine Ohren gerade an sein Hirn gemeldet hatten. „Dass ich es wage? Ich?“

„Ja, Sie“, gab Chelsea ihm unumwunden Bescheid. „Sie, der tatenlos zugesehen hat, wie Ihr mutterloses Kind von den Schwestern gehänselt und herumgestoßen wurde. Sie, der es zugelassen, dass sie sie belogen, ihr weismachten, ein paar neugierige Küsse bedeuteten, dass sie gleich ein Kind von dem Jungen bekommt. Wissen Sie nicht, was unter Ihrem eigenen Dach vorgeht? Sie sind kein guter Vater, Sir. Sie sind nicht einmal geeignet, diese großartigen Hunde dort zu halten. Sie sind geradezu eine Schande.“

Der Baron an seiner Seite kicherte. Wie Chelsea es sich gedacht hatte, waren die beiden Männer sich nicht grün; der eine wollte nicht, dass sein Sohn unter seinem Stand heiratete, der andere sah seine Hoffnungen auf eine vorteilhafte Verheiratung zunichtegemacht. Der Gutsherr hatte sich vermutlich nur an dieser Reise beteiligt, um sicherzugehen, dass seine Tochter es über die Schwelle geschafft hatte. Der Rest war nichts als Getöse.

Chelsea wandte sich abrupt dem Baron zu und genoss es insgeheim, dass der Mann leicht zu schrumpfen schien, als sie ihn fixierte. „Und Sie. Oh, ich weiß alles über Sie. Sie sollten sich schämen!“

„Ich?“ Der Baron blickte so schuldbewusst drein, dass der Henker nicht gezögert hätte, ihm die Schlinge um den Hals zu legen – auch wenn Chelsea keine Ahnung hatte, wessen der Bursche sich schuldig gemacht hatte. Sie war der Meinung, dass alle Männer irgendeinen Grund hatten, sich schuldig zu fühlen, und war beruhigt, als der Baron es bestätigte.

„Sie schulden diesen beiden verzweifelt unglücklichen Kindern eine Entschuldigung, Sie beide. Dass sie das Wagnis einer so katastrophalen Ehe auf sich genommen haben, beweist doch nur, wie unglücklich Sie die beiden gemacht haben. Und obwohl sie schuldlos sind, hocken sie völlig verängstigt dort oben und warten voller Grauen darauf, was Sie mit ihnen machen werden. Sie wollen nicht aus Liebe heiraten. Nein, nein – sie wollen heiraten, um ihrer untragbaren Situation zu entfliehen. Und wessen Schuld ist das? Ich glaube, wir kennen die Antwort. Sie beide, die wie wilde Bestien hier hereingestürmt kommen? Und ich sage es noch einmal, Sie sollten sich schämen. Gefühllose Monster, Sie beide.“

Der Gutsherr wurde als erster mürbe. „Was? Meine kleine Emily – hat Angst vor mir? So etwas Grausames dürfen Sie nicht sagen, Madam! Ich bin dem Mädchen von Geburt an Mutter und Vater gewesen.“

Um nicht als schlechterer Vater dazustehen, schlug sich der Baron mit der Faust gegen die Brust. „Dort oben wartet mein Junge, mein Erbe. Ich würde mir selbst die Augen ausreißen, bevor ich ihm ein Härchen krümmen könnte. Das ist die reine Wahrheit, Madam!“

„Ich bezweifle, dass Sie so weit gehen müssen“, sagte Beau und trat vor Chelsea. „Ich glaube, es reicht jetzt. Allerdings wäre eine Entschuldigung bei Mrs Claridge hier wohl angebracht, falls immer noch infrage gestellt wird, dass Ihre Kinder bei uns absolut sicher waren. Wie Sie sehen, ist meine Gattin eine respekteinflößende Frau von großer Charakterstärke. Sie ist energisch dagegen, dass junge Leute ausreißen, um zu heiraten. Geschmacklos nennt sie es. Nicht wahr, Liebste?“

Sie war sehr gut. Sie lachte nicht. Trat ihn auch nicht hinterrücks.

Sie musste sich jedoch auf die Zunge beißen, als sie die Hand ausstreckte und den beiden Männern die Ehre erwies, sie sich von einem nach dem anderen küssen zu lassen. Dann hielt sie die Luft an, bis Beau die Männer zu den zwei Zimmern im Obergeschoss geschickt hatte, wo die Kinder auf sie warteten und das Schlimmste befürchteten, bevor sie sich abrupt hinsetzte und lachte, bis ihr die Tränen kamen.

Beau lehnte sich an den Tisch und schmunzelte. „Und das, meine liebe Frau, war äußerst amüsant. ‚Ich weiß alles über Sie, Sir.‘ Was zum Teufel sollte das heißen?“

Sie nahm das Taschentuch, das er ihr reichte, und tupfte sich die Augen trocken. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber du musst zugeben, dass es funktioniert hat.“

Er lachte wieder. „Das werde ich mir merken, und ich werde mich nie entschuldigen, bevor du mir gesagt hast, wofür ich mich entschuldige. Ich könnte ja unschuldig sein.“

„Bist du jemals unschuldig gewesen, Oliver?“, fragte sie ihn, als er ihr die Hand reichte und ihr auf die Füße half.

„Nein, das bezweifle ich ernsthaft.“ Er hob ihre Hand, drehte sie um und küsste die Innenfläche. „Du warst genial. Wütend und fordernd sind sie hereingekommen und dann ordentlich gedrückter Stimmung mit eingezogenem Schwanz wieder gegangen, um sich bei ihren irregeleiteten Kindern zu entschuldigen. Ein gewöhnlicher Mann könnte dich für eine Hexe halten.“

„Ach? Und du bist kein gewöhnlicher Mann? Was für ein Mann bist du dann?“

„Der Mann, für den du mich halten möchtest, solange nur der Schwachkopf abreist und du heute Nacht und in allen Nächten, bis wir Gretna Green erreichen, meine Bettgefährtin bist“, antwortete er, was ihr die Röte in die Wangen trieb. Der Mann war offenbar unersättlich.

Wie schön.

Chelsea hielt sich die Hand vor den Mund und gab vor zu gähnen. „Aber es ist fast zehn Uhr, Oliver. Ich glaube, ich bin müde.“

„Wag es nicht“, sagte er und griff nach ihr. Sein Lächeln war hinreißend verrucht.

Sie wurden von einer Vielzahl trampelnder Füße auf der Treppe vor dem Schankraum gestört. Beau nahm Chelseas Hand und führte sie zur Tür, wo sie zusahen, wie zuerst der Baron und sein stöhnender betrunkener Sohn, grün im Gesicht, eilig das Gasthaus verließen, gefolgt von einer endlich nicht mehr weinenden Emily und ihrem rotgesichtigen Papa … und hinter ihnen tollte ein halbes Dutzend weißbrauner Hunde mit hängenden Zungen die Treppe hinunter.

Beau legte einen Arm um Chelseas Taille. „An diesen Anblick werde ich mich bis an mein Lebensende gern erinnern“, sagte er inbrünstig.

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Vielleicht können wir ihn in Öl verewigen und überm Kamin aufhängen. Die Flucht nach Gretna Green, vereitelt, mit Jagdhunden.“

„Und Puck hat es verpasst. Er wird tief betrübt sein, wenn ich es ihm erzähle. Er hätte uns geraten, die beiden einfach am Straßenrand stehen zu lassen. Man könnte meinen, mein Bruder sei herzlos. Aber ich bin sicher, meine Einkäufe sind inzwischen in unserem Zimmer, wie auch die Badezuber, die ich für uns beide bestellt habe. Und habe ich dir gesagt, dass Puck vor seinem Aufbruch nach Norden schnell noch die Bond Street aufgesucht und ein paar Sachen für dich gekauft hat? Er hat mir versichert, er wäre außergewöhnlich versiert in der Wahl weiblicher Kleidungsstücke, weil er im Lauf des vergangenen Jahres in Paris genügend Geliebte hatte, um sich zum Experten heranzubilden.“

Chelsea fuhr hoch und stieß einen kleinen Entzückensschrei aus. „Puck ist in Gateshead? Und das erzählst du mir erst jetzt?“

„Puck trifft morgen Vormittag mit der Kutsche hier ein, doch dann sind wir schon fort, denn ich finde, wir sollten uns an unseren ursprünglichen Plan halten und nach Schottland reiten. Das Letzte, was wir uns wünschen, ist, so kurz vorm Ziel auf deine Geschwister zu stoßen. Puck holt alles ab, was wir nicht einpacken und mitnehmen können, also entscheide dich, was du am liebsten hast, und lass den Rest hier. Und, ja, ich hätte es dir vermutlich gleich sagen sollen. Da du mich immer noch böse anschaust, möchte ich jedoch zu meiner Verteidigung vorbringen, dass ich gerade fast eine Stunde damit verbracht habe, zu verhindern, dass diese zwei Riesentölpel sich gegenseitig umbrachten. Einer war für die Ehe, der andere dagegen. Aber das hast du auch schon gewusst, oder?“

„Ich hielt es für wahrscheinlich, ja. Auch im Hinblick auf unsere Heirat könnte man sagen, dass einer von uns dadurch mehr gewinnt als der andere.“

Sein Blick verschattete sich flüchtig. „Ich. Alle Vorteile gehen an mich.“

Sie sah ihn an, ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, und das Herz wurde ihr weit. „Aber nein, Oliver, danke. So hätte ich ganz und gar nicht geantwortet.“

Und dann sah sie, wie er vergaß, den Mund zu schließen, drehte sich um, hob ihren verhassten roten Rock an und rannte hinauf zu ihrem Zimmer, zu ihrem Bad, ihrer Seife und den hübschen neuen Kleidern. Sie hielt sich für schrecklich oberflächlich, weil die Aussicht auf neue Kleider sie trotz allem, was um sie herum geschah, so maßlos freute. Doch sie schämte sich deswegen nicht. Sie hoffte nur, dass sie nichts Rotes vorfand.