PROLOG
„Die Menschen sind von Zeit zu Zeit gestorben,
und Würmer haben sie gefressen, aber keiner starb aus Liebe.“
Aus: Wie es euch gefällt, William Shakespeare
Oliver Le Beau Blackthorn war jung und verliebt und somit in doppelter Hinsicht anfällig für eher unkluges Verhalten.
Und so geschah es, dass ebendieser Oliver Le Beau Blackthorn mit dem benebelten Blick des Liebestrunkenen, dazu erzogen, sich selbst zu achten und sich allen Menschen ebenbürtig zu fühlen, den sprichwörtlichen Hut in der Hand, Hoffnung im Herzen und einen Blumenstrauß an die Brust gedrückt, eines schönen Frühlingsmorgens die Marmorstufen zum Herrenhaus am Portland Place hinaufstürmte und mit dem Löwenkopftürklopfer scharf gegen die massive Tür hämmerte.
Oliver, von seiner Familie Beau genannt, ließ seine äußere Erscheinung vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Geschlagene zwei Stunden hatte er daran gefeilt und dabei ein halbes Dutzend Halstücher und die Nerven seines Kammerdieners zerfetzt.
Er präsentierte sich herausgeputzt in Vormittagsgarderobe, bestehend aus feinsten hellbraunen Wildlederhosen, strahlend weißem Leinen, einer fantastischen, aber unaufdringlichen Seidenweste, raffiniert durchzogen mit sehr hellbraunen Querstreifen, und einer tiefdunkelblauen Jacke, die ihm so eng auf den jugendlich schlanken, muskulösen Leib geschneidert war, dass er ohne Hilfe nicht hinein- oder herausschlüpfen konnte.
Den kecken Sitz seines Filzhuts mit der geschwungenen Krempe hatte er volle zehn Minuten lang vor dem Wandspiegel in seinem Ankleidezimmer korrigiert, bevor er mit dem Neigungswinkel zufrieden war. So wurde sein dichtes blondes Haar betont, aber nicht zerdrückt; die Krempe schützte seine strahlend blauen Augen, ohne sie zu verschatten.
Erst jetzt fiel ihm ein, dass er den Hut mitsamt den neuen hellbraunen Handschuhen und dem Spazierstock ja beim Diener der Breans abgeben würde. Lady Madelyn würde das alles nie zu sehen bekommen.
Hmm, noch hatte niemand auf sein Klopfen reagiert. Schäbig, solch ein Benehmen. Er hob die Hand erneut an den Klopfer; im selben Moment öffnete sich die Tür, und um ein Haar hätte er dem Diener eins auf die Nase gegeben.
Beau sah den Burschen böse an, der hastig zurücktrat. Der gut gekleidete Mr Blackthorn schlenderte in die mit schwarzem und weißem Marmor geflieste Halle, spürte, wie es ihm heiß in die Wagen stieg, und verfluchte seine lebenslange Neigung zum Erröten.
Kurz darauf gewährte ihm der Butler mit einem anscheinend missbilligenden Blick auf die Blumen Zutritt in den Großen Salon, wo er auf Lady Madelyn Mills-Beckman warten sollte, die älteste Tochter des Earl of Brean und Beau Blackthorns Geliebte.
„Reichlich viele Bs in einem Satz“, sagte Beau zu sich selbst, ein äußerliches Zeichen seiner Nervosität, die er bisher hatte verbergen können. Trotz des kleinen Patzers mit dem Diener fühlte Beau sich im Großen und Ganzen noch recht zuversichtlich.
Zumindest bis eine helle Frauenstimme seine Gedanken unterbrach.
„Selbstgespräche werden manchmal als Anzeichen von Wahnsinn gedeutet. Das hat Mama zumindest mal über Tante Harriet gesagt, und die war total verrückt. Tante Harriet, meine ich. Mama ist einfach nur dumm. Ich habe Tante Harriet einmal mit falsch herum angezogenen Kleidern gesehen. Sind die Blumen für Madelyn? Soll ich Ihnen verraten, dass sie Blumen nicht ausstehen kann? Davon muss sie niesen, ihre Augen tränen, und dann fängt ihre Nase an zu laufen …“
Beau war bereits herumgefahren und sah Lady Chelsea Mills-Beckman, ein ziemlich bösartiges Gör von höchsten vierzehn Jahren, in einem geblümten Sessel beim Fenster sitzen. Sie hatte die Beine unter den Rock ihres Musselinkleides gezogen. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch.
Widerwillig musterte er ihr langes, wild gelocktes blondes Haar, das zur Hälfte der Schleife entkommen war; die Augen, weder grau noch richtig blau, unter geschwungenen Brauen, die ihre Miene gleichzeitig teuflisch und schalkhaft wirken ließen; den erblühenden jungen Körper, den sie eindeutig mit mehr Umsicht präsentieren sollte.
Das breite spöttische Lächeln auf ihrem Gesicht ignorierte er.
Beau hatte im vergangenen Monat schon zweimal das Pech gehabt, Lady Chelseas Gegenwart ertragen zu müssen, stets mit einem Buch in der Hand und ihrem zu flinken Mundwerk, und an diesem Morgen sah er sie genauso ungern wie zuvor.
„Dein Vater sollte einen Riegel an der Tür zum Kinderzimmer anbringen lassen“, sagte er jetzt gedehnt, schritt zu den Fenstertüren und warf den Blumenstrauß mir nichts, dir nichts hinaus in den Garten.
Lady Chelsea lachte über seine augenscheinliche Dummheit, ob sie sich nun auf seine Bemerkung oder die Blumen bezog, wusste er nicht so genau. Doch das erklärte sie ihm dann, das verflixte Kind.
„Ich würde schon einen Weg nach draußen finden. Ich habe keine Mutter, verstehen Sie, da muss man Nachsicht mit mir üben. Zu jung, um zu debütieren, zu sehr zu Unfug aufgelegt, um mich auf dem Lande meiner Gouvernante zu überlassen, während Madelyn verschachert wird. Vermutlich wünschen Sie, dass ich jetzt den Raum verlasse, bevor Madelyn ihren großen Auftritt hat und Sie sie mit schmachtenden Blicken in Entzücken versetzen. Oh weh, sehen Sie nur, die Blütenstängel haben einen nassen Fleck auf Ihrer abscheulich schlichten Weste hinterlassen. Ich fürchte, das könnte Ihrem bedeutungsvollen Gestus in die Quere kommen.“
Beau wischte hastig über seine Weste, bevor sein Verstand seinem Stolz verriet, dass das vermaledeite Mädchen sich über ihn lustig machte. Hatte er sie tatsächlich nur ins Kinderzimmer verbannen wollen? Viel lieber wäre ihm, wenn das freche Kind vom Kontinent, vielleicht sogar aus dem Universum verschwinden würde, doch er versagte sich eine dahingehende ehrliche Äußerung. „Ja, ich würde gern unter vier Augen mit Lady Madelyn reden.“
„Ach, na schön, wenn Sie es so förmlich halten wollen.“ Lady Chelsea erhob sich und strich ihr Kleid glatt. Sie war ein ziemlich hübsches Kind. In ein paar Jahren würde sie vermutlich Dutzende von Herzen brechen. Doch ihrer Schwester mit den eisblauen Augen und dem beinahe weißblonden Haar, dem rosa Schmollmund und der sahnigen, makellosen Haut im tiefen Ausschnitt ihrer Kleider konnte sie nicht das Wasser reichen.
Beau schob einen Finger in seinen Kragen und versuchte, ihn zu lockern, weil er plötzlich Schluckbeschwerden hatte. Schlucken erwies sich dann jedoch als völlig unmöglich, denn das Objekt seiner Zuneigung betrat das Zimmer.
„Mr Blackthorn, welch hübsche Überraschung. Ich hatte nicht erwartet, Sie so bald nach unserem Tanz auf Lady Cowpers Ball wieder zu sehen. Wie ungezogen, ohne Einladung dort aufzutauchen. Eigentlich sogar schockierend. Und nur, um mit mir zu tanzen und dann gleich wieder zu gehen? Das war ziemlich romantisch und verwegen.“ Lady Madelyn neigte den Kopf zur Seite, als suchte ihr Blick etwas hinter seinem Rücken Verborgenes. „Haben Sie mir etwas mitgebracht? Ich liebe Geschenke.“
Beau verneigte sich vor der Liebe seines Lebens und entschuldigte sich für sein bedauerlich schlechtes Benehmen.
Lady Madelyn wirkte zunächst leicht geknickt, doch schon hellte ihre Miene sich wieder auf. „Na gut, Entschuldigung angenommen. Beim nächsten Mal könnten Sie mir vielleicht Blumen mitbringen. Ich liebe Blumen.“
Ein Kichern aus der Zimmerecke verriet Beau, dass die Göre sich wieder mal an einem kleinen Spaß auf seine Kosten freute, doch er sah sie nicht an und ignorierte den Treffer. „Ich werde Ihnen ein ganzes Treibhaus voller Blumen schenken“, versprach er Lady Madelyn mit ernster Miene und verneigte sich erneut. „Und wenn ich jetzt ein paar Worte mit Ihnen unter vier Augen wechseln dürfte? Ich möchte Ihnen eine Frage von großer persönlicher Bedeutung stellen. Vermutlich wissen Sie aufgrund der gestrigen Ereignisse, welche.“
Sie rührte sich nicht, zuckte nicht mit der Wimper, und doch ging eine Veränderung in Lady Madelyns eisblauen Augen vor sich. Ihr Lächeln gefror, und ihr sahneweißer Teint schien noch mehr zu verblassen, sah aus wie Porzellan und genauso kalt und hart.
„Aber, Mr Blackthorn, Sie wissen, dass das völlig ausgeschlossen ist. Keine Dame von Stand ist jemals ohne Anstandsdame mit einem Herrn zusammen, wie wir beide wissen. Und falls ich Ihre Andeutung richtige verstehe, glaube ich, dass Sie bei meinem abwesenden Vater vorstellig werden müssten, nicht bei mir“, schimpfte sie mit reichlich erstickter Stimme. „Chelsea, bist du so lieb und bittest unseren Bruder kurz herein? Mrs Wickham ist noch mit Ankleiden beschäftigt, fürchte ich.“
„Aber ich habe sie eben auf der Treppe gesehen, und sie war völlig …“
Lady Madelyn fuhr herum und funkelte ihre Schwester an. „Tu, was ich dir sage!“
„Du bist dermaßen versnobt“, sagte Chelsea und stürmte aus dem Zimmer.
Oliver Le Beau Blackthorn war jung und verliebt und wie so viele seiner ähnlich heimgesuchten Brüder keines allzu klaren Gedankens fähig. Aber man musste nicht klar denken können, um zu erkennen, dass die rosarote Szene, die er sich ausgemalt hatte, meilenweit von dem entfernt war, was sich vor seinen Augen abspielte.
Vermutlich war sie aufgeregt. In Situationen wie dieser neigten Frauen zur Nervosität; sie konnten nicht anders. Das wollte er ihr zugutehalten.
„Lady Madelyn … und wenn ich so kühn sein darf, liebe, liebste Madelyn“, sagte er, indem er die Gelegenheit ihres Alleinseins nutzte, sich auf ein Knie niederließ und ihre rechte Hand ergriff, wie er es mit Sidney, seinem entsetzlich verlegenen Kammerdiener, geprobt hatte. „Es ist kein Geheimnis, dass ich Sie seit unserer ersten Begegnung über alles bewundere. Mit jedem Wiedersehen ist meine Zuneigung gewachsen, und ich glaube, sie wird erwidert, besonders nach unserem Spaziergang neulich abends, als ich es wagte, Sie zu küssen, und Sie mir die große Ehre erwiesen, mir zu gestatten …“
„Kein Wort mehr! Wie aufreizend ordinär von Ihnen, über solche Dinge zu reden! Kein Gentleman wäre jemals so unhöflich, einer Lady einen Augenblick der Torheit ins Gesicht zu schleudern. Ein einziger Kuss? Es war ein Spaß, eine Mutprobe, mehr nicht. Stehen Sie auf! Sie sind ein grässlicher Anblick.“
Ein einziger Kuss? Es war entschieden mehr als ein einziger Kuss. Sie hatte ihm gestattet, durch den dünnen Stoff ihres Kleides ihre Brust anzufassen, hatte voller Wonne unter seinem Kuss geseufzt, als er mit dem Daumen über die harte, kecke Brustwarze gestrichen hatte. Hätten sich nicht Schritte genähert, wäre er noch viel weiter gegangen. Er wäre beinahe explodiert, hatte kurz davor gestanden, sich gründlich zu blamieren, um Gottes willen.
Wenn er bei Verstand gewesen wäre, hätte er sie nun für ein kaltes, herzloses Flittchen gehalten. Aber nein, er war verliebt. Und sie war eindeutig verärgert.
„Ich weiß, ich bin dreist“, fuhr Beau hartnäckig fort – er hatte seine Rede die ganze Nacht hindurch geübt. „Ich bitte Sie nur um die Erlaubnis, mit Ihrem Vater zu sprechen. Das möchte ich nämlich nicht tun, wenn meine Zuneigung nicht aufrichtig erwidert würde.“
„Tja, sie wird nicht erwidert“, entgegnete Lady Madelyn hitzig und entzog ihm ihre Hand. „Sie unverschämter Niemand. Nur weil Ihr Vater einer von uns ist und Sie um seinetwillen und wegen des lächerlichen Vermögens, mit dem er Sie ausgestattet hat, in einigen Häusern akzeptiert sind, werden Sie doch niemals wirklich einer von uns sein. Merken Sie es denn nicht einmal, wenn jemand sich über Sie lustig macht? Sie sind ein Witz, Beau Blackthorn, die größte Lachnummer in ganz Mayfair, und Sie sind der Einzige, der es nicht weiß. Als ob ich oder sonst eine anständige Dame der guten Gesellschaft sich zu einem … einem Bastard wie Ihnen herablassen würde.“
Später erinnerte Beau sich daran, dass irgendwann im Verlauf dieser niederschmetternden Erklärung der Bruder der Lady den Salon betreten hatte, begleitet von zwei stämmigen Dienern, die Beau flugs bei den Armen gepackt und ihn hochgezerrt hatten, sodass er, die Stiefelsohlen gut zwei Zentimeter über dem Fußboden, zwischen ihnen baumelte.
Er rief den Namen seiner Liebsten, doch sie hatte ihm längst den Rücken gekehrt, ließ ihn zurück und hob den Saum ihres Kleids an, wie um zu vermeiden, dass sie in etwas Ekliges trat.
Eine Mutprobe? Ein Spaß? Mehr war er nicht? Sie – und Gott allein wusste, wer sonst noch – hatte ihn ermutigt und doch insgeheim über ihn gelacht? So sah die Gesellschaft ihn in Wirklichkeit? Als eine Art Affen, den sie tanzen lassen konnten? Wie einen Tanzbären, den sie mit einem Stock stießen, nur um zu sehen, wie er reagierte? Komm, Bastard, küss mich, fass an, was du niemals haben kannst. Und dann kannst du gehen. Du bist keiner von uns.
Seine Mutter hatte ihn gewarnt, hatte ihre drei Söhne allesamt gewarnt. Beau hatte die grässlichen Prophezeiungen, die sie aus den lächerlichen Ansichten und Taten seines Vaters herleitete, nie ernst genommen. Die Welt konnte nicht so schlecht sein, wie sie sie darstellte. Doch sie hatte recht gehabt, und er und sein Vater hatten sich geirrt.
Endlich kam Beau zu Verstand, nachdem alle Voraussetzungen und Hoffnungen seines jungen Lebens zerschmettert vor seinen Füßen lagen. Er versuchte wild, sich loszureißen, vergebens, bis er ohne viel Aufhebens nach draußen befördert und die Marmorstufen hinunter aufs Pflaster gestoßen worden war. Er hörte und spürte, wie beim Aufprall auf eine Stufenkante ein Knochen in seinem linken Unterarm brach und in einem schmerzhaften Schwall alle Luft aus seiner Lunge wich.
Dann traf der erste Peitschenhieb seinen Rücken, und er konnte nichts anderes tun, als sich zusammenzurollen, jeden Schlag hinzunehmen und zu versuchen, Gesicht, Augen und den verletzten Arm zu schützen.
„Sie wollen meine Schwester beleidigen? Schindluder mit ihrer Unschuld treiben?“ Immer wieder ließ der Viscount die Peitsche niedersausen. Der geflochtene Lederriemen mit der harten Metallspitze zerriss Beaus neuen Frack und seine Haut, dass sein Rücken brannte. „Den großen Mann spielen, sich über Ihren Stand erheben? Das kommt davon, wenn Ihresgleichen verhätschelt wird, verdammt noch mal. Die Gesellschaft geht in die Brüche! Dass einer wie Sie atmet, ist ein Gräuel für alles, was Anstand hat. Ich sollte Sie fesseln und in die Themse werfen lassen wie den Straßenköter, der Sie sind!“
Endlich hörten die Peitschenhiebe auf. Darauf folgten noch ein paar gut gezielte Fußtritte von den Dienern, dann hörte Beau im Innern des Hauses eine Tür schlagen. Zaghaft kam er auf die Füße. Sein Körper bestand nur noch aus Schmerzen, sein Herz und seine Seele waren ebenso zerrissen wie sein schöner Frack. Einer der Diener spuckte ihn an, bevor beide ihn anschnauzten, er solle sich trollen, und sich endlich ins Haus zurückzogen.
Beau hockte da wie ein geprügelter Hund, hielt seinen gebrochenen Arm und drehte sich zum Herrenhaus um, nur um zu sehen, wie die Tür sich einen Spalt öffnete und Lady Chelsea mit Tränen in den Augen zu ihm hinunterblickte.
„Es tut mir so schrecklich leid, Mr Blackthorn“, sagte sie schluchzend, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Madelyn ist eingebildet und herzlos, und Thomas ist nichts weiter als ein Dummkopf. Beide können wohl einfach nicht aus ihrer Haut. Ich halte Sie nicht für eine Witzfigur. Ich … ich finde Sie durch und durch ebenbürtig, wenn auch vielleicht ein bisschen albern. Aber Sie sollten jetzt womöglich gehen. Weit, weit fort.“
Und dann schloss sie die Tür, und Beau blieb zurück und musste seinen eigenen Pferdeknecht zum Wegsehen zwingen, der mit dem neuen Zweispänner, gekauft, um Lady Madelyn zu beeindrucken, auf ihn gewartet hatte. Er hatte mit ihr ausfahren wollen, nachdem er mit ihrem Vater gesprochen hatte. Vielleicht hätte er ihr auf dem Weg zum Richmond Park noch einen Kuss geraubt – und mehr.
„Nein, vielen Dank, und ebenfalls danke, dass du treulose Tomate mir selbstlos zur Hilfe geeilt bist“, sagte Beau steif und biss gegen die drohende Übelkeit die Zähne zusammen, als der Pferdeknecht ihn stützen wollte. „Bring die verdammte Kutsche zurück in meine Ställe. Ich gehe zu Fuß zurück zum Grosvenor Square.“
Und genau das tat Beau dann auch. Zu Fuß folgte er den langen Straßenzügen bis zum Haus seines Vaters. Taumelte gelegentlich, fing sich aber immer wieder, trug das Kinn hoch, hielt sich gerade, blickte jedem Passanten in die Augen. Sollten sie doch sehen, sollten sie alle sehen, was sie ihm antaten, während sie sich als Gentlemen und Ladies bezeichneten und sich für besser, zivilisierter hielten als ihn. Sollten sie jetzt lachen, wenn sie konnten. Und sollten sie das alles nicht vergessen, damit sie sich beim nächsten Mal, wenn sie Oliver Le Beau Blackthorn sahen oder seinen Weg kreuzten, tunlichst in Acht nahmen.
Mit jedem Schritt und während Passanten, die ihm begegneten, rasch die Straßenseite wechselten, um seinem abgerissenen, blutverschmierten Anblick zu entgehen, während keiner von ihnen, sei es Bekannter oder mutmaßlicher Freund, einen Finger krümmte, um ihm zu helfen, ließ besagter Oliver Le Beau Blackthorn ein Stück seiner Jugend hinter sich, bis ihm nur noch ein Gedanke, eine Wahrheit blieb.
Sein Geld, sein Aussehen, sein Charme, die Freundschaften, die er in der Schule und hier in London geschlossen zu haben glaubte, die Akzeptanz, die er meinte gefunden zu haben – unterm Strich bedeutete das alles gar nichts.
Er war ein Narr gewesen, das wusste er jetzt. Jung und hochmütig und dumm. Die Lachnummer, als die Lady Madelyn ihn bezeichnet hatte.
Im Alter von zweiundzwanzig Jahren sah der älteste Sohn des Marquess of Blackthorn sich selbst endlich so, wie die Welt ihn sah. Nicht als Mann, nicht als Freund, nicht als Partner. Man sah ihn als das, was er war. Unehelich. Außerhalb der Ehe geboren, Sohn eines Marquess und einer einfachen Schauspielerin. Ein gebildeter und betuchter Bastard, ja, aber dennoch ein Bastard.
Er ging weiter, sein Herz verhärtete sich, in seinem Kopf kreiste nur ein Gedanke, der einzige Gedanke, der verhinderte, dass er sich seinen Schmerzen überließ und noch einmal kopfüber in die Gosse fiel.
Er würde tun, was die Göre ihm geraten hatte. Er würde fortgehen. Weit fort.
Doch er würde zurückkommen.
Eines Tages.
Und, bei Gott, dann sollte es noch einmal jemand wagen, über ihn zu lachen!