Kapitel 15
Flüssige Wärme umgibt mich, sanfte Hände streicheln meine Stirn und meine Wangen. Ich will diesen Ort nie verlassen, diesen Traum, was auch immer es ist. Ich will mich nur in der Wärme zusammenrollen und hier für immer schlafen.
»O nein, das tust du nicht.« Die Hände, die mich zurückziehen, sind stark. »Komm schon: Guten Morgen, liebe Sorgen …«
Das dumme Lied fällt so aus dem Rahmen, dass ich meine Augen aufzwinge. Ein rundes Mädchengesicht lächelt auf mich herunter. Ich kenne sie nicht, aber trotzdem ist sie mir irgendwie vertraut. Sie schiebt sich mit dem Handrücken blonde Haare aus dem Gesicht, und das Licht ist so seltsam. Es umspült ihren Kopf sanft und golden wie ein Heiligenschein, also weiß ich, dass ich noch träumen muss.
»Alex, geht es dir gut?« Ruth ist neben mir und drückt mit einer Hand meine Schulter. »Weißt du, wo du bist?«
Ich schlucke und sehe mich um, nur um festzustellen, dass ich in der Badewanne liege, mit nichts an außer meinem nassen, klebrigen T-Shirt. Wasser schwappt über den Rand, als ich mich nach oben kämpfe und den unteren Saum über meinen lächerlichen, verschrumpelten Penis ziehe. Überall im Raum stehen Kerzen, die mit hohen, dünnen Flammen brennen. Das ist doch alles nur ein Traum, richtig? Nur einer dieser nervösen, schrecklichen Albträume, in denen man nackt in die Arbeit geht.
Oder?
»Hey, ganz ruhig, Cowboy!« Das unbekannte Mädchen wuschelt mir durch die Haare. »Nichts, was wir noch nicht gesehen hätten. Na ja, nicht unbedingt deinen, natürlich. Außer Ruth vielleicht, für sie kann ich nicht sprechen, also …«
»Erin!«, zischt Ruth und ihre Finger graben sich in meine Schulter.
»Ja, okay. Tut mir leid.« Das Mädchen steht auf und wischt sich die Hände an den Jeans ab, bevor sie Ruths Arm nimmt und sie von der Badewanne wegführt. »Komm, wir gönnen ihm ein wenig Privatsphäre.« Sie nickt in Richtung des Wäschekorbes, der mit einem gefalteten Stapel Kleidung darauf in einer Ecke steht. »Du solltest dich abtrocknen, Alex, das Wasser wird ziemlich bald abkühlen.«
Peinlich berührt murmelt Ruth irgendwelche Entschuldigungen, bevor sie dem Mädchen erlaubt, sie aus dem Raum zu führen. Die Tür schließt sich leise hinter ihnen.
Man muss schon für kleine Gaben dankbar sein.
Ich lasse mich ins Wasser zurücksinken und bemerke zum ersten Mal, dass eine ölige Schicht darauf schwimmt, begleitet von einem seltsam scharfen Kräuteraroma. Es fällt so schwer, Traum von Realität zu trennen, wenn fast jede Sekunde der letzten Tage phantastisch erscheint, gefüllt mit Surrealismus und Wahrheit zu gleichen Teilen. In Serges Haus einzubrechen, mit Madigan wegen der Tagebücher zu kämpfen, mit ihr auf einem mir unbekannten, irischen Strand und in einem heruntergekommenen deutschen Zimmer zu reden und natürlich in dem Studio, das ich so brutal zerstört habe – nichts davon erscheint realer als das andere. Nur ein Bild erhebt sich klar aus der Masse, stark und dunkel und mächtig: die Erinnerung an das Nichts, die Farbe der Leere, das Vakuum dieses allumfassenden Hungers, das näher und näher kommt.
Ich zittere. Ich bin wach. Hier und jetzt, das ist real.
Ich klettere aus dem Bad, ziehe mir das T-Shirt von der Haut und trockne mich mit einem Handtuch ab, das nur ein bisschen weniger nass ist als ich selbst. Ein halbes Dutzend dicke, rote Kerzen steht auf dem Badewannenrand aufgereiht und rotes Wachs tropft an ihnen herunter auf den Boden. Ich halte meine Finger darunter, lasse mir von dem Wachs die Haut verbrennen. Schmerz als weiterer Beweis für mein Bewusstsein.
Mein Kopf ist noch benebelt, aber es ist ein desorientierter Nebel, nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, gesehen zu werden. Madigan ist also noch irgendwo verschwunden, versteckt sich in irgendeiner kleinen Höhle, die sie für sich selbst geschaffen hat. Ruht sich aus, wartet. Sammelt ihre Kraft.
Ruth und das seltsame blonde Mädchen – Ellen, hieß sie so? – warten im Wohnzimmer auf mich. Ihre eindringliche, gedämpfte Unterhaltung bricht in dem Moment ab, in dem ich den Raum betrete. Drei Tassen stehen dampfend auf dem Couchtisch und daneben liegen Serges Tagebücher. Die Seiten sind gespickt mit verschiedenfarbigen Post-its.
Ruth steht auf und kommt zu mir, die Arme ausgebreitet, als wolle sie mich umarmen. Aber im letzten Moment schreckt sie doch davor zurück, entscheidet sich stattdessen für ein weiteres Schulterdrücken, kurz und schwesterlich.
»Fühlst du dich okay?« Ihre Lippen sind dünn vor Sorge und sie hat dunkle Ringe unter den Augen. So schlecht ich mich auch fühle, sie sieht schlimmer aus. Aber das werde ich ihr nicht sagen.
»Mir geht’s gut«, erkläre ich stattdessen. »Nur ziemlich benebelt. Als würde ich immer noch träumen.«
Sie führt mich zur Couch, in die ich mich nur zu gerne fallen lasse. Vielleicht stehe ich nie wieder auf.
Ruth gibt mir eine der Tassen. »Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird.«
»Ja«, witzelt das blonde Mädchen. »Und bevor er dich trinkt.«
»Dann mach du ihn doch das nächste Mal«, sagt Ruth, aber zumindest lächelt sie. Ein kurzes Grinsen, aber ehrlich, und das Mädchen erwidert es strahlend.
»Süße, damit würden wir das Schicksal auf eine Art herausfordern, auf die keiner von uns vorbereitet ist.« Sie richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich und streckt eine Hand aus. »Ich bin Erin, nur für den Fall, dass du dich wunderst.«
Ihre Finger sind schmal und olivfarben, ein Durcheinander von hellblauem Nagellack und verschnörkelten Silberringen, und sie umfassen meine Hand, noch bevor ich kapiere, dass ich meine ausgestreckt habe. Das Mädchen lehnt sich vor, ihre dunkelbraunen Elsternaugen sind hell und aufmerksam.
»Du steckst richtig in Schwierigkeiten, mein feiner Freund. Ich meine, wirklich bis zum Hals.«
Alarmiert versuche ich, ihr meine Hand zu entziehen. »Ruth? Was ist hier los?«
»Erin wird dir helfen.« Ruth setzt sich auf der anderen Seite neben mich. »Sie ist, ähm … eine Hexe.« Das letzte Wort kommt ihr nur schwer über die Lippen.
»Ach Quark, ich bin keine Hexe!« Erin lässt endlich meine Hand los. »Ich bin nur eine Frau, die zufällig eine Menge weiß. Hilfreiches Zeug, und ich nehme an, so ziemlich genau das, was du im Moment brauchst.«
»Eine Hexe.« Ich ziehe mich so höflich wie möglich zurück, während ich mich frage, was zur Hölle sich Ruth dabei gedacht hat, so eine New-Age-Spinnerin ins Haus zu holen, als wäre sie eine streunende Katze. Woher kennt sie sie überhaupt?
»Ich bin keine Hexe«, korrigiert mich Erin. »Und ich bin auch keine durchgeknallte Irre. Ich bin nur eine Freundin von Ruth, irgendwie. Wir haben eine Weile zusammengewohnt und außerdem, Süßer, wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was dieser Serge-Schwachkopf geschrieben hat, dann brauchst du mich, wie Flöhe einen Hund brauchen. Also würde ich hier keine voreiligen Urteile fällen. Okay?«
Ich bin fassungslos. »Was bist du, eine Gedankenleserin oder was?«
Erin lacht, ein so heiseres Geräusch in der Stille des Hauses, dass ich zusammenzucke. »Sei nicht blöd. Es stand dir ins Gesicht geschrieben: Wer ist diese verrückte Spinnerin und in welcher Dimension hat Ruth sie gefunden?« Sie summt die Titelmelodie von Twilight Zone und bewegt dazu geisterhaft die Finger.
Sie hat recht. Ich bin kaum in der richtigen Position, um die geistige Gesundheit anderer infrage zu stellen. Also berühre ich mit einem verschrumpelten Zeh die Tagebücher.
»Du hast dir das alles also durchgelesen?«, frage ich. »Steht drin, was hier vorgeht, was mit mir geschieht? Verstehst du es?«
»Ja, ja und ja.« Jetzt ist ihre Miene ernst. »Ich verstehe genug.«
»Und kannst du es aufhalten?«
»Willst du die Wahrheit? Ich weiß es wirklich nicht.« Sie seufzt, aber ihr Blick ist unerschrocken und verlässt nicht für einen Moment mein Gesicht. »Aber ich sage dir was, Alex. Ich werde mein Allerbestes geben.«
∞
Ich sitze neben Ruth am Küchentisch und beobachte Erin, wie sie auf dem Herd ein übelriechendes Gebräu anrührt. Ab und zu wirft sie eine Prise seltsame Kräuter oder undefinierbaren Puder aus der Ansammlung von Plastiktüten und winzigen Glasflaschen hinein, die neben ihr aufgereiht stehen.
»Ich könnte dir erzählen, was da alles drin ist, aber dann müsste ich euch wahrscheinlich …«
»Umbringen?«, beende ich den Satz für sie.
»Nein, erklären, wie ich an die Zutaten gekommen bin.« Sie zwinkert mir zu. »Und dann müsste ich euch umbringen.«
Ruth, die seit fünf Minuten mit sorgenvoll zusammengepressten Lippen aus dem Fenster starrt, die Augen auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet, reagiert überhaupt nicht. Ich schlage sie sanft auf die Schulter – »Komm, entspann dich ein bisschen« – und sie zuckt zusammen, bevor sie mir einen unsicheren, mahnenden Blick zuwirft.
»Ich versuche es, Alex. Das ist alles ziemlich schwer zu schlucken, weißt du?«
Ja, das gebe ich zu. Ruth ist die Tagebücher durchgegangen, während ich geschlafen habe. Erin hat sie erst angerufen, als sie mich alleine nicht wach bekommen konnte. Das, was sie gelesen hat, hatte sie genug verängstigt, um zu glauben, dass ich unter irgendeinem Zauber oder Fluch stand, also hat sie sich – wenn auch widerwillig – an die eine Person gewandt, von der sie wusste, dass sie vielleicht helfen konnte.
Im Moment dürfte sie mit ziemlich großen Verschiebungen in ihrem persönlichen Glaubenssystem zu kämpfen haben. Aber trotzdem muss ich es wissen.
»Du glaubst mir jetzt, oder? Glaubst mir wirklich, meine ich, statt nur zu glauben, dass ich glaube oder irgendwas in der Art?«
Ruth hebt eine Hand und bittet mich, sie nicht zu bedrängen. Bis letzte Woche habe sie nicht einmal die potenzielle Möglichkeit der Existenz von Hexen oder geisterhafter Besessenheit erwogen und jetzt, wo es aussieht, als müsste sie genau das tun, kämpft ihr Hirn immer noch damit. Aber im Herzen glaubt sie es. Oder zumindest beginnt sie zu glauben.
»Drängel nur nicht so«, sagt sie. »Okay?«
Ich lege eine Hand auf ihre. »Okay.«
Erin streut etwas Neues in ihre Brühe, die jetzt ein sumpfiges Grün zeigt und schlimmer stinkt als alte Sportsocken.
»Du erwartest wirklich von mir, dass ich das trinke?« Schon bei dem Gedanken hebt sich mein Magen.
»Es schmeckt nicht so schlimm, wie es riecht«, versichert mir Erin. »Na ja, nicht ganz so schlimm.« Das Zeug wird mir dabei helfen, mich von meiner Körperlichkeit zu lösen, erklärt sie. Es wird mich tief in meinen eigenen Geist reisen lassen, um Madigan zu finden und zu bekämpfen. Denn das ist etwas, was anscheinend weder Serge noch Madigan verstehen: Unsere Körperlichkeit und unser Geist sind nicht im Mindesten voneinander getrennt, sondern kompliziert miteinander verwoben. Das eine kann nicht ohne das andere funktionieren. Sobald der Geist stirbt, folgt unwiederbringlich der Körper und andersherum ebenso.
Das ist der Grund, warum Madigan so schnell einen Wirt finden musste. Es wäre ihr unmöglich gewesen, längere Zeit ohne Körper zu verweilen – selbst der stärkste Geist kann sich der Auflösung nicht mehr als ein paar Tage widersetzen, ohne einen physischen Anker zu besitzen. Und diese Tatsache spielt mir in die Hände. Es ist schließlich mein Körper, es war sechsundzwanzig Jahre lang mein Körper, und deswegen ist meine Verbindung zu ihm sehr stark, egal, wie schwach Madigan sie erscheinen lässt.
»Also wird es leicht, sie loszuwerden?«, fragt Ruth. »Weil Alex stärker ist?«
»Ich habe nicht leicht gesagt, so würde ich es nicht ausdrücken.« Erin runzelt die Stirn. »Sie ist viel willensstärker als er und das schafft ausgeglichene Verhältnisse. Nichts für ungut, Alex, aber jeder, der fähig ist, etwas so Großes abzuziehen …«
»Kein Problem.«
Erin nickt. Es ist so: Madigan wird mit jeder Sekunde, die sie in meinem Körper verbringt, stärker. Sie nimmt Anpassungen vor, gewöhnt sich an das neue Fleisch, die Mechanik der fremden Anatomie. Nach dem, was ich erzählt habe, integriert sie sich mit angsteinflößender Geschwindigkeit. Sie ist bereits fähig, für kurze Zeitspannen die Kontrolle zu übernehmen, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie mein Bewusstsein vollkommen unterdrücken kann, mich vielleicht sogar töten oder Schlimmeres.
Ruth schnaubt. »Könnte es etwas Schlimmeres geben?«
»Ja«, erklärt ihr Erin. »Und ich glaube, Alex weiß das auch.«
Ich schlucke schwer, als ich mich an das Nichts erinnere, seine allumfassende, kalte Gleichgültigkeit. »Wie lange haben wir deiner Meinung nach noch Zeit?«
»Schwer zu sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Madigan einen Fehler gemacht hat, der uns in die Hände spielt. Eigentlich sogar den ältesten Fehler von allen: Stolz, Überheblichkeit, wie auch immer man es nennen will. Sie hätte sich viel besser an den ursprünglichen Plan gehalten, selbst wenn …«
»Erin!« Ruths Stimme ist scharf genug, um Metall zu durchtrennen. »Wir waren uns einig.«
»Einig worüber?«, frage ich, während die zwei Frauen einen schnellen, unlesbaren Blick wechseln.
»Es gibt ein paar Details, die du wahrscheinlich nicht wissen musst«, sagt Ruth und wählt ihre Worte sehr sorgfältig. »Zumindest nicht im Moment, nicht bis das hier vorbei und erledigt ist.«
»Zum Teufel damit. Ich bin derjenige, dem es passiert, oder? Also will ich alles wissen, jedes verdammte Detail. Falls ihr beide nicht auspackt, lese ich die verdammten Tagebücher selbst.«
Wieder ein Blickwechsel.
»Das ist eigentlich sogar eine gute Idee«, sagt Erin schließlich. »Warum den Maulesel fragen, wenn das Pferd direkt daneben steht?«
Ruth schüttelt den Kopf. »Ich halte es für eine unglaublich schlechte Idee.« Aber trotzdem nimmt sie sich eines der Tagebücher und blättert schnell durch die markierten Stellen, bevor sie es mir gibt und mit dem Zeigefinger auf einen bestimmten Absatz unten auf der Seite zeigt. »Hier fängt es an.«
Beklommen und mir der zwei Frauen an meiner Seite nur zu bewusst, halte ich das dünne Büchlein nah vor die Augen und versuche, die winzigen, engen Buchstaben zu entziffern, die sich wie Ameisenstraßen über das Papier ziehen. Die Notizen bestehen nur aus kurzen, halben Sätzen und sind gespickt mit seltsamen Abkürzungen und Formeln, die zu esoterisch sind, als dass ich auch nur versuchen könnte, sie zu verstehen, aber wenn das bedeutet, was ich glaube, dass es das bedeutet …
»Alex?« Ruth berührt meinen Arm. »Willst du dich setzen?«
Nein, was ich wirklich will, ist etwas schlagen. Vorzugsweise etwas Lebendes, das blutet, während es bricht.
Denn wenn ich glaube, was die fette Kröte hier geschrieben hat, war Madigans Schwangerschaft Teil der großen Unsterblichkeitsverschwörung. Der ursprüngliche Plan war, den Körper des Kindes zu übernehmen – mein Kind, meine Tochter –, sobald es, sobald sie erst ein paar Monate alt wäre. Eine so neue, ungeformte Persönlichkeit sollte einfach zu unterdrücken sein, oder zumindest lautete so Serges Hypothese. Ein Kind würde einer solchen Übernahme nur geringen Widerstand entgegenzusetzen haben.
Geringen Widerstand …
Die Sprache ist so kühl, die Handlung selbst so kalkuliert, so frei von jedem Mitgefühl – das ist nicht die Madigan, die ich zu kennen glaubte, von der ich glaubte, sie zu lieben. War denn alles nur eine Farce, nur Theater? Und wie lange schon?
Ich schließe das Buch und gebe es Erin. »Hätte es funktioniert?«
»Ich glaube, ja«, antwortet sie. »Aber nicht genau so, wie dieser Serge-Kerl es sich ausgemalt hat. Madigan war – ist – offensichtlich um einiges cleverer, als er gedacht hat.«
»Was bedeutet?«
Geist und Körper, sagt Erin wieder. Wegen der Art, wie sie miteinander verbunden sind, wie jeder Teil den anderen beeinflusst, hätte Madigan ihre Persönlichkeit während eines solchen Vorgangs unmöglich intakt halten können. Ein Baby zu benutzen hätte sie auf unvorstellbare Weise verändert, sie auf alle möglichen Arten verbogen und behindert. Selbst ein erwachsener Wirt, besonders ein männlicher, muss ihr Selbst schon dramatisch verändern – aber egal, gegen welche Desorientierung sie momentan zu kämpfen hat, es ist nichts gegen das, was sie im Körper eines neugeborenen Kindes erlitten hätte.
»Ihre gesamte Persönlichkeit hätte sich neu geformt, es ist möglich, dass sie sogar vergessen hätte, wer und was sie in erster Linie war. Babys können nicht wie Erwachsene denken, sie können es physisch nicht. Es geht nicht nur darum, dass sie ohne das Wissen um die Welt geboren werden, ihre Hirne sind einfach noch nicht entwickelt genug, um komplexe Gedanken zu verarbeiten.« Erin zuckt mit den Achseln. »Oder vielleicht hat sie auch gar nicht darüber nachgedacht; vielleicht ging es nur um altmodische Ungeduld.«
»Ungeduld?«
»Na ja, denk doch mal eine Sekunde darüber nach. Selbst wenn du du selbst bleiben könntest, alles bewahren, was du weißt, denken könntest, wie du es jetzt kannst, all das gute Zeug eben, willst du wirklich im Körper eines hilflosen kleinen Kindes gefangen sein und darauf warten, endlich erwachsen genug zu sein, um etwas zu tun? Selbst wenn sie als sie selbst überlebt hätte, hätte Madigan achtzehn ganze Jahre warten müssen, bevor sie vor dem Gesetz wieder als erwachsen gilt.«
»Aber zumindest wäre sie eine Sargood gewesen«, hebe ich hervor. »Mit ihrem Geld und den Verbindungen und allem anderen, was sie braucht. Bailey und ihr Dad hätten sich für sie alle Beine ausgerissen. Jetzt hängt sie in meinem Leben fest – kein allzu toller Tausch, oder?«
Erin schüttelt den Kopf. »Ich nehme an, sie ist ein bisschen cleverer. All das zu schaffen, ein solches Risiko auf sich zu nehmen, ohne vorher etwas für schlechte Zeiten beiseitegelegt zu haben? Ich bin nicht auf ihrer Seite oder irgendwas, aber lasst uns dem Mädchen doch etwas mehr zutrauen.«
»Sie hat mir ein bisschen Bargeld hinterlassen«, erkläre ich. »Ein paar Tausend, aber die Hälfte davon ist bereits weg und außerdem ist das nicht mal ein Bruchteil der Summe, zu der sie über ihre Familie Zugang hätte.«
»Da war auch der Schlüssel«, sagt Ruth leise. »Erinnerst du dich?«
Scheiße. Der Schlüssel. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn vergessen habe.
»Was für ein Schlüssel?«, verlangt Erin zu wissen. »Schlüssel zu was? Wo ist er?«
Ich muss zugeben, dass ich absolut keine Ahnung habe. Der letzte Ort, an dem ich ihn gesehen habe, war hier in der Küche, als ich am Tag nach der Beerdigung verkatert mit Ruth hier am Tisch hing und seitdem … Madigan hätte alles damit tun können. Wer weiß, was er aufschließt?
»Ich kann mich auch nicht erinnern«, sagt Ruth. »Ich glaube, ich habe ihn dir zurückgegeben, Alex, oder einfach auf dem Tisch liegen lassen. Zu der Zeit erschien es mir nicht besonders wichtig.«
»Das wird es sein, vertraut mir.« Erin schnüffelt an dem Gebräu auf dem Herd und rührt noch einmal um, bevor sie den Löffel in die Spüle wirft und eine saubere Tasse aus dem Schrank zieht. »Aber halb so wild, Ruth kann später danach suchen. Im Moment haben wir uns um ebenso wichtige Dinge zu kümmern. Das hier ist so gut wie fertig.«
Wieder steigen Zweifel in mir auf. »Und du bist dir sicher, dass es funktioniert?«
Ja, sagt sie, es wird funktionieren, aber es kann mir nur den Boden unter den Füßen wegziehen und mich an einen Ort bringen, an dem ich stark genug bin, um mich Madigan zu ihren Bedingungen zu stellen. Danach wird alles von mir abhängen. Ich muss herausfinden, wo sie jetzt lebt, die Festung finden, die sie für sich errichtet hat, und sie dann zerstören. Das Gebräu, der Trank, wie auch immer ich es nennen will, ist nur ein Führer – und eine Art Wächter. Die ganze harte Arbeit ist meine Aufgabe.
Während sie spricht, gießt Erin die suppig-grüne Flüssigkeit in die Tasse und gibt sie mir. »Letztendlich kommt es auf eine Sache an, Alex: wie gut kennst du dich selbst?«
Die Tasse ist fast zu heiß, um sie zu halten, und ihr Inhalt ist nicht gerade appetitanregend. Meine Eingeweide heben sich bei dem Gedanken, dieses Zeug schlucken zu müssen. Vor ein paar Stunden hatte ich Erin noch nie gesehen; wie kann ich mir so sicher sein, dass sie wirklich weiß, was sie tut, dass es nicht nur Kleinmädchengetue und Angeberei ist? Was, wenn dieses sumpfig riechende Zeug gefährlich ist? Was, wenn sie mich vergiftet? Noch schlimmer, was, wenn ich letztendlich nur ein paar unangenehme Stunden über die Toilette gebeugt verbringen muss, weil mein Magen Galle und »Da hast du es« von sich gibt?
Denn, trotz allem, was bleibt, ist diese reflexartige, nagende Sorge, die einfach nicht ganz verschwinden will: Was, wenn all das einfach nur Schwachsinn ist, eine verschlungene, irre Wahnvorstellung, die sich immer wieder in den eigenen Schwanz beißt? Ich schaue zu Ruth, die einer Kontrollinstanz in diesem psychotischen Experiment noch am nächsten kommt. »Glaubst du wirklich, das wird funktionieren?«
»Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Ich bemühe mich hart, nicht allzu sehr darüber nachzudenken.«
Erin führt uns ins Wohnzimmer und weist mich an, mich auf die große, viereckige Samtdecke zu setzen, die sie auf dem Boden ausgebreitet hat. »Im Schneidersitz wäre am besten, aber die Hauptsache ist, du sitzt bequem.«
Als ich mich setze, schwappt die Flüssigkeit über. Ich fluche und drücke die verbrannte Hand gegen mein T-Shirt. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das trinken kann, ohne mich zu übergeben.«
»Puste drauf, damit es kühler wird.« Erin gräbt in ihrer alten Ledertasche herum. »Ich kümmere mich um den Rest der Vorbereitungen.«
Sie zieht einen Ring aus Salz um mich, schüttet das Zeug aus einem Beutel, der aus mitternachtsblauem Samt mit Sternen darauf gefertigt ist. Zum Schutz, erklärt sie, und sie werden aufpassen, Ruth und sie, dass der Kreis nicht gebrochen wird, dass ich mich nicht aus ihm heraus bewege. Sie kniet sich hin und wäscht mir Hände und Füße, zuerst mit Wasser, dann mit einem süßlich riechenden Öl. Sie erklärt, dass es ein Reinigungsritual ist, das mich davon abhält, im Hier verankert zu sein, wenn ich doch eigentlich fliegen soll.
»Fliegen?«, wiederholt Ruth zweifelnd.
»Nur eine Redensart, Süße«, antwortet Erin, während sie eine Duftlampe mit Rosenessenz und Moschus füllt. »Sein Hintern wird auf dem Boden bleiben.« Sie zieht einen weiteren kleinen Beutel aus ihrer Ledermappe und kippt ascheähnliches Pulver in ihre Handfläche.
»Was ist das?«, frage ich.
»Das willst du gar nicht wissen.« Sie verschmiert es zwischen ihren Fingern und malt mir damit Zeichen auf Wangen und Stirn, zieht eine trockene, geschmacklose Linie über meine Lippen, während sie die ganze Zeit unverständlich vor sich hin murmelt. »Jetzt trink.« Sie nickt Richtung der Tasse in meiner Hand. »Wenn du willst, halt dir die Nase zu, um den Geschmack zu dämpfen.«
Ich folge ihrem Ratschlag und kippe fast das gesamte Zeug auf einen Sitz weg.
Für einen kurzen Moment hoffe ich, dass es nicht so schlimm wird, dann würge ich heftig, mein Magen verkrampft sich und meine Kehle brennt, als hätte ich gerade eine superscharfe Chilisauce geschluckt. Ich habe mich noch nie so schlimm gefühlt. Es ist, als würden meine Eingeweide durchgerührt, auseinandergezogen und über weißglühender Kohle geröstet. Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen, umklammere meinen Magen und stöhne mit Tränen in den Augen.
Dann ist jemand neben mir. Erin. Sie befühlt meine Stirn und ihre Finger drücken mir etwas in den Mund. Mit fester Stimme ermahnt sie mich, als ich versuche, mich abzuwenden, sie wegzuschubsen. »Es ist nur Brot, Alex, einfaches trockenes Brot. Es sorgt dafür, dass du dich besser fühlst, okay?« Und erstaunlicherweise tut es das wirklich. Die Übelkeit lässt ein wenig nach, als ich langsam und sorgfältig kaue und mich zwinge, kleine, mit Spucke umgebene Stücke zu schlucken. Mir fallen die Augen zu, meine Lider werden schwer und ich bin mir nur noch vage bewusst, dass Ruth fragt, ob es mir gut geht. Ihre Stimme ist voller Sorge. Erin versichert ihr in der Ferne, dass alles okay ist, dass das Schlimmste jetzt vorüber ist. Dann flüstert Erin mir ins Ohr, warnt mich davor, mich zu übergeben, bittet mich, es im Magen zu behalten, weil wir sonst von vorne anfangen müssen. Und da mir das schlimmer als der Tod erscheint, nicke ich und erkläre ihr, dass ich mein Bestes gebe.
Weiteres Flüstern. Erin redet so leise, dass ich sie nicht verstehen kann, aber ich will wissen, was sie sagt.
»Shh, ich rede nicht mit dir, lass dich einfach fallen.«
In meinem Kopf höre ich etwas, das klingt wie das Rauschen des Windes, eine wüstenheiße Brise voller Sand und Steinen und Eidechsenscheiße bläst durch meinen Kopf, und o Gott, ich falle, falle, strecke die Arme aus, um mein Gleichgewicht zu finden, während mein Magen sich hebt und mir Galle in die Kehle steigt. Ich schlucke schwer, kämpfe gegen die erneute Übelkeit und winde mich. Schließlich, endlich … nichts. Schweben. Fallen und schweben und weit entfernt eine Stimme, irreal und geisterhaft.
Er geht jetzt.
Wohin, will ich fragen, wohin gehe ich?
Schwärze umfließt mich, schwärzer als schwarz und trotzdem liegt etwas Bösartiges in der Farbe, etwas Gefährliches. Ich habe Angst, aber ich kann die Augen nicht öffnen, als die nächste Welle der Übelkeit mich überschwemmt. Ich versuche zu rufen, aufhören, bitte aufhören, ich will das nicht mehr, es ist alles ein Fehler, bitte lass mich nicht gehen. Bitte zwing mich nicht …
Und dann schluckt mich die Schwärze und es fühlt sich an, als würde jede Zelle meines Körpers explodieren.
Und ich kann nicht. Aufhören. Zu. Schreien.