Kapitel 14
Der Strand ist vollkommen anders als alle, die ich je gesehen habe. Kleine, aschfarbene Steine knirschen statt Sand unter meinen Füßen und das Wasser zeigt ein schmutziges, ausgewaschenes Grau. Hinter mir ragen hohe Klippen in den wolkenverhangenen Himmel. Es ist schön, auf seine eigene, raue Weise, aber bitterkalt. Ein eisiger Wind bläst mir ins Gesicht und ich stecke meine Hände tief in die Taschen des schweren Wollmantels, den ich anhabe. Er ist dunkelblau und riecht nach Zigarettenrauch.
Der Ort ist verlassen, sogar frei vom Kreischen der Möwen, und ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Ein schmaler Pfad führt an den Klippen nach oben und ich nehme an, dass ich von dort gekommen sein muss, aber warum bin ich überhaupt hier? Und wo ist hier überhaupt?
»Irland.«
Madigan steht neben mir. Sie wirkt so gesund und lebendig, dass es fast schmerzt, sie anzusehen. Weiche, volle Wangen leuchten rot im Wind und ihre Haare sind zu einem lockeren Zopf zurückgebunden. Einige lose Strähnen wehen ihr in die Augen. Sie trägt einen dicken, schwarzen Pulli mit fast genauso dunkler Jeans und wiegt sich hin und her, während sie sich selbst umarmt.
»Dieser Wind ist heftig, oder? Seltsam, an was man sich so erinnert.«
»Träume ich das?«
Sie denkt einen Moment darüber nach. »Irgendwie schon. Aber es ist mehr als das. Im Moment befinden wir uns irgendwo zwischen Traum und Erinnerung. Noch nicht ganz eingeschlafen, nicht ganz wach – zumindest du nicht.«
Warum hier, will ich wissen. Warum hat sie mich hierhergebracht?
Weil das der Ort ist, an den sie kam, nachdem ihre Mutter gestorben war. Das Haus, in dem sie gewohnt hatte, nachdem ihr Vater und Bailey nach Melbourne zurückgekehrt waren, steht gleich oben an der Klippe und sie ist oft hier runtergeschlichen, um allein zu sein, um zu weinen und, als die Tränen schließlich versiegt waren, um nachzudenken.
»Es war friedlich«, fügt sie hinzu. »Es ist friedlich, findest du nicht?«
»Es ist kalt.«
»Ja.« Sie lächelt und dreht sich um, zieht mich in eine unerwartete Umarmung, und ich zögere nur kurz, bevor ich die Umarmung erwidere. Ich schließe die Augen, als der alte, trockene Schmerz in mir aufsteigt. Mein Gott, ich glaube, ich liebe sie immer noch.
»Wir können auch woanders hingehen, wenn du willst«, flüstert sie.
Plötzlich verklingt der Wind. Als ich die Augen öffne, stehen wir in einem kleinen, schäbigen Zimmer ohne viel Einrichtungsgegenstände: eine Einzelmatratze in einer Ecke, auf der verknitterte Decken liegen, Bücherstapel an den Wänden, ein paar Holzstühle und ein Tisch, dessen Oberfläche übersät ist mit Farben und Pinseln und terpentingefüllten Dosen, selbst ein halbgegessenes Sandwich ist dabei. In der Mitte des Raumes stützt eine Staffelei ein unvollendetes Gemälde, ein Akt von Madigan, nur Kanten und scharfe Linien: Picasso trifft Autounfall. Es ist mehr als hässlich; wer würde es wagen, sie so hässlich zu machen?
»Eins von Dorys.« Sie entfernt sich von mir und wedelt dramatisch mit den Armen, während ihre Stimme tief wird und einen heftigen Akzent imitiert. »Werde großer russischer Künstler sein eines Tages.« Die Imitation zerbricht in Lachen. »Wäre nie passiert.«
»Was war er, dein Freund?«
»Wenn du es so nennen willst. Ich habe hier mit ihm gelebt, wir haben ab und zu Spaß gehabt – wenn er nicht zu betrunken oder bekifft war, um einen hoch zu kriegen. Hat mich seine Muse genannt.«
»Also sind wir jetzt in Russland?«
Madigan schüttelt den Kopf. Berlin, erklärt sie mir. Sie wünscht sich manchmal, sie wäre dort geblieben, trotz ihres Vaters und seiner Drohung, ihr den Geldhahn zuzudrehen. Sie war glücklich hier, die Art von Glück, die man erst versteht – und sich daran erinnert –, sobald es verschwunden ist. Aber wäre sie nicht gegangen, hätten wir uns nicht wiedergefunden und das wäre eine ziemliche Tragödie gewesen.
»Für dich vielleicht«, gebe ich zurück.
»Oh, du bist immer noch wütend auf mich!« Die Idee scheint sie zu begeistern. Sie grinst, breit und bösartig, und nickt in Richtung der Matratze in der Ecke. »Hattest du je Traumsex, Lexi?«
»Ich dachte, das wäre kein Traum.«
Ein Achselzucken. »Trotzdem gelten einige derselben Regeln.«
Ich ignoriere sie und gehe stattdessen zur Staffelei, um mir das schreckliche Porträt genauer anzusehen, an dem ihr Russe gerade arbeitet. Die Ölfarben wurden in dicken Schichten mit einem Spachtel aufgetragen, Schicht über glitzernder Schicht, fast eine Skulptur aus Farbe, und sie ist noch feucht. Geistesabwesend nehme ich mir einen Pinsel vom Tisch und fange an, herumzuspielen, glätte Kanten und mache einige der Linien weicher.
»Warum hast du das getan?«, frage ich. »Warum mein Körper, und warum hast du dich überhaupt umgebracht?«
»Ich war am Sterben, Lexi, das weißt du.«
»Das ist nicht, was Bailey gesagt hat oder dein Dad. Es war nicht so schlimm, wie du es dargestellt hast, haben sie mir erklärt. Man hätte einiges machen können. Du wolltest es nicht mal versuchen.«
»Du glaubst lieber ihnen als mir?«
»Na ja, unter den Umständen …«
Madigan schnaubt abfällig. »So einfach ist es nicht. Es gab Behandlungsmöglichkeiten, klar, aber selbst im besten Falle war der Erfolg nicht sicher. Mein Vater konnte das nie akzeptieren. Bailey genauso wenig.«
»Aber du hast es nicht mal versucht.«
»Was hätte es gebracht? Selbst wenn ich mich von ihnen hätte aufschneiden lassen, von diesen Ärzten, selbst wenn sie irgendeine magische Form der Heilung gefunden hätten, ich wäre trotzdem irgendwann gestorben, oder? In diesem Punkt habe ich nie gelogen.«
»Wir sterben alle irgendwann, Madigan.«
»Ich nicht, jetzt nicht mehr. Ich habe das Kleingedruckte gelesen, die Rücktrittsklausel gefunden.«
Jetzt verstehe ich. »Es ging nie um dein Herz, richtig?«
»Am Anfang schon. So hat es angefangen, mit der Suche nach einem Ausweg, nach einer Rettung. Einem Weg, zurückzukommen, sollte es nötig sein. Aber jetzt, Lexi, sprechen wir über Unsterblichkeit, das Ewige Leben. Was würde man nicht dafür geben?«
»Du gibst überhaupt nichts«, blaffe ich. »Du nimmst nur, und du hast kein Recht dazu.«
Madigan seufzt. »Und wieder ist es nicht so einfach. Außerdem …«
Das Gemälde nimmt unter meinen Händen perfekte Formen an. Das ist etwas, was mir im echten Leben nie gelungen wäre, dieses Kreieren von Farbe und Form. Das Gefühl, etwas zu erschaffen, ist berauschend, egal, wie falsch es ist.
»Außerdem was?«, dränge ich.
»Ich liebe dich, du alter Trottel. Ich wollte dir so nahe sein wie nur irgendwie möglich, siehst du das nicht?« Sie steht jetzt neben mir, schlingt einen Arm um meine Hüfte und drückt ihren warmen Mund an mein Ohr. Sie liebt mich, sie hat mich immer geliebt. Und wir können jetzt für immer hierbleiben, nur wir zwei, hier oder wo auch immer ich sein will, wo auch immer ich mich hinwünsche. Sie hat das alles für mich möglich gemacht. Für uns.
Kann ich das nicht verstehen?
Das Porträt ist jetzt wirklich atemberaubend, erfüllt von einer sinnlichen Erotik, die ich selbst nie hätte produzieren können. Hier hat Madigan ihre Hand im Spiel. Ihr Einfluss ist nur zu offensichtlich, und jetzt verstehe ich es. Sie kann nur geben, was ihr bereits gehört. Ihr Talent, ihr einzigartiges, verdrehtes Genie. Es wird mir nie, niemals gehören.
Ich schmiere eine hässliche Linie quer über die Leinwand, die ihr Gesicht und ihre Brüste durchschneidet.
Madigan keucht auf. »Warum hast du das getan? Es war wundervoll.«
»Es war deins.« Alles hier gehört ihr, alles Projektionen von Orten, an denen sie war, Projektionen von Dingen, die sie getan hat oder tun kann. Warum sollte ich hier sein wollen, in ihrem Palast, in ihrem hinterhältig glitzernden Netz?
»Du kannst überall sein, wo du sein willst, Lexi. Ich zeige dir, wie es geht, wir können auch deine Erinnerungen nutzen, wenn du willst.«
Ich lache, denn jetzt hat sie wirklich einen Fehler gemacht. Mein Leben? Ich habe nichts getan, was sich lohnen würde, es noch mal zu durchleben – in meiner Vergangenheit gefangen zu sein wäre schlimmer, als in einem Albtraum zu leben.
»Dann sag mir, was du willst.«
»Ich will real sein, ich will eine Zukunft – meine Zukunft, nicht eine verdrehte Reflexion der deinen. Ich will, dass du aus meinem Kopf verschwindest.« Ich packe ihre Schultern und starre ihr ins Gesicht. »Und ich will aufwachen. Jetzt.«
Jetzt ist es an ihr, zu lachen. Aber ehrlich, was habe ich auch erwartet? Das ist ihr Raum; sie kontrolliert, wer ihn verlässt und wann. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es funktioniert, und sie hat viel zu viel Übung.
Sie küsst mich sanft auf die Lippen. »Erinnere dich daran, was dir angeboten wurde, Lexi. Es ist mehr, als andere bekommen würden, und das nur, weil ich dich liebe.«
Das Lächeln, mit dem sie den Raum verlässt, ist nicht zu deuten. Die Tür schließt sich hinter ihr, aber nicht bevor ich nicht einen Blick auf den dunklen Flur dahinter erhascht habe, lang und schmal und mit Graffiti an den Wänden.
»Warte.« Ich folge ihr sofort, öffne die Tür zum – Nichts. Eine undefinierbare Farbe: nicht schwarz, nicht weiß, sondern beides gleichzeitig und doch irgendwas dazwischen; so absonderlich, dass mein Kopf von dem Versuch schmerzt, sie anzusehen. Übelkeit steigt in mir auf, als ich mich umdrehe, um wieder in die Sicherheit des Raumes zu fliehen, nur um festzustellen, dass auch er verschwunden ist, ersetzt durch dieselben wabernden Schatten aus Nicht-Farbe, dieselbe dimensionslose Leere. Nur der Türrahmen, auf dem ich stehe, hat noch eine gewisse Festigkeit. Langsam sinke ich auf die Knie, voller Angst, mein Gleichgewicht auf dem schmalen Holz zu verlieren, das als einziges noch vom Boden übrig ist. Ich drücke mich an den Rahmen und konzentriere mich auf die Astlöcher im Holz, die Kratzer und abgeschlagenen Stellen und auf die zwei Buchstaben, die jemand mit einem Messer tief ins Holz geritzt hat.
AB. Meine Initialen – eingebildet oder eine tatsächliche Erinnerung? Es ist sicherlich zu viel verlangt zu glauben, dass es in Berlin irgendwo einen kleinen, schäbigen Raum gibt, an dessen Türrahmen meine Initialen eingeritzt sind, zu absurd zu glauben, dass Madigan sie selbst dort eingeritzt haben soll.
wo willst du sein, Lexi?
Ihre Stimme ist überall und nirgends, innerhalb meines Kopfes, aber auch außerhalb, und die Stärke ihrer Stimme erschüttert mein Zwerchfell.
»Hör auf damit, Madigan. Bitte.«
dir ist klar, dass ich dich hierlassen kann. dir alles wegnehmen kann außer der Leere
Der Türrahmen flackert unter meinen daran festgekrallten Fingern.
»Nein!« Ich kreische das Wort, hasse die Panik in meiner Stimme, kann sie aber auch nicht bezähmen. Im Nichts zurückzubleiben … noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst. Wie kann sie das überhaupt tun? Es ist mein Geist, sollte ich nicht fähig sein, ihn zu kontrollieren?
ist es deiner? bist du dir sicher?
»Mein Geist«, flüstere ich. »Es ist mein Geist.«
solltest du dann nicht besser lernen, wie du ihn einsetzt?
Die Leere wirbelt jetzt überall um mich, aber trotzdem falle ich nicht. Außerhalb meines eigenen Körpers fühle ich überhaupt nichts. Ich ziehe die Knie eng an die Brust, die rechte Hand ans linke Handgelenk geklammert, und lausche auf meinen eigenen Pulsschlag. Das sanfte Pulsieren des Blutes ist mein Konzentrationspunkt, ein Geräusch, das ich fast schon hören kann.
Mein Puls. Meiner. Ich.
schau dich um, Lexi
Ich erkläre ihr, sie solle sich verpissen und mich in Frieden lassen, während ich versuche, meinen Körper vollständig zu halten, mich nicht von der Auflösung um ihn herum anstecken zu lassen.
sei lieb
Ihr Tonfall ist jetzt um einiges schärfer.
schau dich um
Aus Angst, was eine erneute Weigerung für Entsetzen nach sich ziehen könnte, öffne ich die Augen. Und blinzle in der plötzlichen Helligkeit.
»Du machst Witze.«
Ich habe mir früher das perfekte Studio ausgemalt. Ein makelloser Arbeitsplatz, der mir eines Tages gehören würde, ein Ort, der schon von sich aus meine Kreativität beflügeln und zu immer weiteren Höhen antreiben würde. Es war ein Tagtraum, mit dem ich mir die lähmende Langeweile der Highschool vertrieb, und später nutzte ich ihn, um an der Kunstakademie mein bröckelndes Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten. Es war ein Traum, den ich liebevoll gepflegt und aufwendig ausgearbeitet hatte, bis hin zu den Farben und der Marke der Farben, der Stärkegrade der Haarpinsel und selbst der Aussicht aus den riesigen Panoramafenstern.
Und jetzt stehe ich in diesem Raum.
Alles, was ich mir je vorgestellt habe: jeder Kunstband, den ich mir je in einem Buchladen angesehen habe; ein Dutzend oder mehr leere Leinwände, glänzend weiß und bereits grundiert, und auch die massive Staffelei, um sie zu halten; selbst ein Balkon mit Ausblick über den Strand.
Noch das letzte, wertvolle, verdammte Detail ist hier umgesetzt.
Woher wusste Madigan es? Dieser Traum wurde geboren, lange nachdem sie nach Irland verschwunden war, und zerbrach lange vor ihrer Rückkehr. Ich habe seine Existenz nie jemandem gestanden, keiner einzigen Menschenseele.
Also woher zur Hölle wusste sie davon?
»Es ist alles in deinem Kopf, Lexi.« Madigan sitzt auf der Couch und hat das purpurfarbene Samtkleid an, das sie am Abend des schrecklichen Geburtstagsessens trug. Es lag tief in meinem Geist vergraben, erklärt sie mir, das ganze Zimmer sicher verstaut und so gut versteckt, als könnte ich es nicht ertragen, etwas so Schönes zu zerstören, wollte aber auch nicht riskieren, noch einmal darauf zu stoßen. Sie hat da unten tatsächlich einige interessante Dinge gefunden, aber das hier ist bei Weitem das Beste und Strahlendste davon.
Ich durchschreite das Zimmer, halb ehrfürchtig, halb in der Erwartung, dass es jeden Moment wieder verschwindet. Ein gerahmter Edvard-Munch-Druck hängt an der Wand, ein wirbelnder roter Sonnenuntergang und dieser stille Schrei. Eins meiner Lieblingsbilder, aber ich stelle entsetzt fest, dass es gar kein Druck ist, weil ich auf der Oberfläche die Pinselstriche sehen kann. Was für eine Anmaßung, mir das vorzustellen.
»Du kannst für immer hierbleiben, Lexi. Kannst lesen, malen, was auch immer dir gefällt. Betrachte es als mein Geschenk an dich.«
Ich starre sie böse an. »Es gehört dir nicht. Es steht dir nicht zu, es zu verschenken.«
»Jetzt gehört es mir.« Sie kommt durch den Raum auf mich zu, der Rock schwingt um ihre Knöchel, der Inbegriff von Grazie. Verstehe ich denn nicht, dass sie das alles aus Liebe tut? Sie muss keine Energie darauf verschwenden, so etwas Feines, Detailliertes zu erschaffen und aufrechtzuerhalten; sie könnte mir einfach nur eine kleine Zelle erschaffen, in der ich verrotten kann. Sie könnte mich einfach im Nichts zurücklassen.
Sie liebt mich, ist das so schwer zu akzeptieren?
»Denn ich könnte dich ganz einfach dazu zwingen, es zu akzeptieren.« Ihre Augen sind so schillernd wie radioaktive Strahlung und zweimal so tödlich. »Das solltest du nicht eine Sekunde lang bezweifeln.«
Diese Madigan habe ich nie geliebt, diese verrückte, gefährliche Kreatur, zu der sie geworden ist. Oder die sie vielleicht schon immer war.
»Du bist so verdammt selbstsüchtig, Madigan. Wie kannst du erwarten, mir etwas zu bedeuten?«
»Achte auf deine Worte.« Ihr Lächeln ist humorlos und es liegt eine Warnung darin. »Ich werde stärker und stärker, Lexi. Nicht einmal Serge wusste, dass es so sein würde.«
Dann ist sie wieder verschwunden. Sie verblasst nicht, es gibt nicht mal ein Aufflackern; sie ist einfach nicht mehr da, war nie da. Entschlossen, ihr zu folgen, nähere ich mich der Studiotür.
das würde ich nicht tun, wäre ich du. denk an die letzte Tür, die du geöffnet hast?
Meine Finger zögern auf der Klinke. Zornig ziehe ich sie zurück. Ich bin wütend, dass sie das tun kann, wütend auf mich selbst, weil ich nicht weiß, wie ich sie aufhalten kann. Auf einer Bank in der Nähe steht ein Glas mit Tusche. Ich hebe es auf und werfe es gegen die Tür. Das Splittern von Glas und der plötzlich entstandene schwarze Fleck sind so befriedigend, dass ich anfange, alles zu werfen, was ich in die Finger bekomme. Ich zerstöre den Raum – und warum auch nicht? Es ist schließlich mein Zimmer. War es immer.
Aber dann öffnen sich die ersten Risse.
Zuerst bricht die Tür genau in der Mitte durch, gefolgt von den Wänden, der Decke, selbst dem Boden – die hölzernen Bodendielen splittern, als die Leere von unten dagegen drückt. Das langsame Einsickern des absoluten Nichts ist unmöglich zu ertragen, und ich wende mich auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit dem Fenster zu, aber auch dort sind schon Risse.
Draußen bricht der Himmel selbst auseinander.
»Madigan, hör auf damit!«
Ich schließe die Augen, drücke mir die Hände über die Ohren und verzehre mich danach, aufzuwachen. Wach einfach auf, um Himmels willen, es ist nur ein Albtraum. Bitte, lass das nur einen Albtraum sein.
Und dann zieht etwas an mir, ein sanftes, beständiges Ziehen, und jemand ruft meinen Namen, erst weit entfernt, aber dann immer lauter und befehlender. Nicht Madigan, sondern eine völlig andere Stimme, fremd und unbekannt. Vielleicht ist es die Stimme des Nichts, das droht, mich in Stücke zu reißen, mich aufzulösen. Ich öffne den Mund, um zu schreien, um meine Existenz bis zum letzten Moment zu verkünden –
– und etwas Nasses, Eiskaltes trifft mich, ein so plötzlicher Schock, dass ich die Augen öffne.
Ein fremdes Mädchen steht über mir. Aus der Kanne in ihren Händen tropft immer noch Wasser und hinter ihr steht mit weit aufgerissenem Mund Ruth, o Ruth, danke Gott, Gott sei Dank.
»Ruhig jetzt.« Das Mädchen zieht an meinen Armen. Sie ist erstaunlich stark und zieht mich zitternd aus dem Bett. Meine Zähne klappern unkontrolliert und ich habe Gänsehaut am gesamten Körper. Mir ist so kalt, dass es fast schon wieder brennt.
»Ruth, lass ein heißes Bad ein, ja?« Sie legt sich meinen Arm über die Schulter und zerrt mich Richtung Schlafzimmertür. »Komm schon, Cowboy, das Letzte, das wir wollen, ist, dass du uns eine Lungenentzündung bekommst.«
Wer ist sie, versuche ich zu fragen, was macht sie hier?
»Es ist egal, lass uns erst mal versuchen, dich wieder aufzutauen.«
Ich kann meine Beine nicht spüren und stolpere. Fast hätte ich das Mädchen mit mir zu Boden gerissen, als ich auf den Teppich falle. Vielleicht, wenn ich einfach eine Sekunde hier liegen bleiben kann, nur eine Sekunde …
»Hey, Alex?« Fingerschnippen vor meinem Gesicht, der Schlag einer warmen Hand auf meiner Wange. »Bleib bei mir, hörst du? Geh nicht zu ihr zurück.«
Zu spät: Das Nichts hat mich wiedergefunden und reißt sein riesiges, farbloses Maul auf. Ich stöhne, zu verängstigt, zu erschöpft, um noch länger zu kämpfen, und kneife die Augen zu, als es sich langsam über mich schiebt, um mich in einem Stück zu verschlingen.