Kapitel 13

Kapitel-13.tif

Ein maroder Weg aus Pflastersteinen zieht sich um den freistehenden Teil von Serges Haus. Ich folge ihm und achte sorgfältig darauf, auf der unebenen Oberfläche nicht zu stolpern. Es ist nicht so dunkel, wie ich es gern hätte, weil der Mond gerade erst wieder angefangen hat, abzunehmen und jedes Geräusch erschreckt mich halb zu Tode. Der Reserveschlüssel an den hinteren Stufen, an den Madigan sich erinnert, ist verschwunden. Der Nagel, an dem er hängen sollte, ist verdächtig leer. Erleichterung breitet sich in mir aus: Wir können es jetzt nicht mehr machen, wir müssen nach Hause gehen.

sei nicht lächerlich, das bedeutet nur, dass wir ein Fenster einschlagen müssen

»Bist du verrückt? Jemand wird die Polizei rufen.«

ich hatte den Eindruck, dass Serge bei seinen Nachbarn nicht gerade beliebt ist

»Was, wenn er irgendwann zurückkommt. Er wird wissen, wer eingebrochen ist.«

hör auf, dich so anzustellen. was soll er schon sagen? ›entschuldigen Sie, Officer, aber jemand hat mein Taschentuch gestohlen?‹

Mehrere der Pflastersteine unter meinen Füßen sind locker genug, um sie aus dem Boden zu lösen. Ich wickle einen davon in meine Jacke und schlage ihn gegen das nächstgelegene Fenster. Die Scheibe wackelt, bricht aber nicht.

wirf das verdammte Ding einfach

Also tue ich das, und das Geräusch splitternden Glases zerreißt unglaublich laut die Nacht. Meine Instinkte sorgen dafür, dass ich mich flach an die Wand des Hauses drücke, während ich mit rasendem Herzen darauf warte, dass überall um mich herum die Lichter angehen und die Nachbarn kommen.

Aber Madigan lacht.

es ist okay, Lexi, siehst du? wie ich dir gesagt habe, es interessiert niemanden

Ich fühle mich dämlich und wische mir die Erde von den Händen. Dann greife ich vorsichtig um das Restglas herum, entriegle das Fenster, schiebe es auf und wische mit dem Ärmel die Scherben von der Fensterbank, bevor ich hindurchklettere.

Serges Schlafzimmer. Dunkel gemusterte Tapete und noch dunklerer Teppich, ein ordentlich gemachtes Himmelbett, das in der Mitte eine ziemliche Kuhle hat, und ein paar freistehende Kleiderschränke am anderen Ende des Zimmers. Der Gestank des Mannes bringt mich fast zum Würgen.

Im Flur quietschen die Bodendielen.

sei nicht so nervös, es ist niemand da. dieser Raum dort, das ist sein Arbeitszimmer

Die Tür schwingt fast geräuschlos auf. Dunkle, schwere Vorhänge verbergen die Fenster, und ich schlurfe halbblind durch den Raum, um sie aufzuziehen. Das Mondlicht strömt in den Raum und glitzert auf den Glastüren der Bücherregale, die sich an zwei der vier Wände vom Boden bis an die Decke ziehen. Mir gegenüber entdecke ich die massige Form eines Rollschreibtisches, gesäumt von zwei Aktenschränken aus Metall. Daran versuche ich mich als Erstes; die Schubladen klappern in ihrer Führung, gehen aber nicht auf, und ich bezweifle sehr, dass Serge den Schlüssel hiergelassen hat.

nein, der Schreibtisch, da wird es sein

Madigan führt mich in die Küche, wo ich in der Dunkelheit nach einem Buttermesser suche, bevor ich zurückstolpere ins Arbeitszimmer. Ich bezweifle, dass es funktionieren wird, aber sie besteht darauf und drängt mich, es zu probieren. Ich schiebe die dünne Stahlklinge tief zwischen die Abdeckung und die Schreibtischkante und lehne mich mit meinem gesamten Gewicht auf den Griff, während ich versuche, die Vorstellung zu verdrängen, wie das Metall bricht und der Klingenrest nach hinten in mein Auge springt.

Dann gibt das Schloss plötzlich nach und Splitter lösen sich von dem polierten Holz.

hoffentlich war es kein Familienerbstück

Im Schreibtisch liegen mehrere dicke, aufeinandergestapelte Bücher, in denen die Seiten mit gelben Post-it-Notizen übersät sind, ein paar lose Papiere und ein Stapel nicht gekennzeichneter Notizbücher. Interessanter sind die kleinen Fächer hinten im Schreibtisch. Das sind ein Dutzend oder mehr kleine Vierecke, die mit winzigen Kisten und sorgfältig beschrifteten Umschlägen gefüllt sind und auch mit noch beunruhigenderen Dingen. Das einzelne Bein einer Plastikpuppe und etwas, das aussieht wie ein Fötus, der in einem Glas mit dreckiger Flüssigkeit schwimmt.

da, schau da

Ein Fach ist mit MS gekennzeichnet und darin liegt das sorgfältig in einer Tüte gefaltete Taschentuch und darunter ein einfacher weißer Umschlag, der nicht geschlossen ist.

mach ihn auf, Lexi

Eine Locke fällt in meine Handfläche, als ich den Umschlag umdrehe. Eine dichte, gelockte Strähne. Die Farbe ist im schlechten Licht kaum zu erkennen, aber nach Madigans wütendem Zischen ist es höchstwahrscheinlich kastanienbraun und leuchtet wie Feuer.

nimm sie. nimm alles mit. wir verbrennen es später

Da ist noch etwas, ein leichtes Glimmen in der Dunkelheit ganz hinten im Fach. Ich greife hinein und ziehe ein kleines goldenes Kreuz hervor, das an einer Kette hängt.

Madigan keucht auf.

wie kann er es wagen!

Die Kette gehörte Katherine Sargood und war Madigans Lieblingserinnerungsstück an ihre Mutter. Ich erinnere mich daran, wie sehr sie geweint hat, als es verschwand. Sie verfluchte sich selbst für die Dummheit, es wirklich zu tragen, statt es sicher in ihrem Schmuckkasten zu verwahren.

»Warum sollte er das überhaupt wollen?«, frage ich.

Weil es ihr gehört, erklärt sie, weil es etwas Persönliches war, etwas, das ihr viel bedeutete. Das machte es zu einem mächtigen Totem, einer Waffe, die man gegen sie einsetzen konnte. Sie wird ihn umbringen, wenn sie die Chance dazu bekommt, ihn umbringen und das Fett aus der Leiche auskochen, um Seife daraus zu machen.

Das elektrische Sirren ihrer Wut durchfährt mich, kitzelt auf meiner Haut und lässt meinen Puls rasen. Ich öffne eines der Notizbücher und versuche, mich abzulenken, indem ich die kleine, eng gesetzte Handschrift lese, die sich über die Seiten zieht. Sie ist schwer zu entziffern, und das schwache Mondlicht hilft kaum. Ich blinzle und lehne mich vor.

fass das nicht an!

Jetzt richtet sich ihr Zorn vollkommen auf mich und zwingt meine Hand dazu, das Buch zuzuschlagen.

»Hör auf, das zu tun!«, blaffe ich.

Wir haben keine Zeit, hier herumzuhängen, erklärt sie mir, wir müssen hier raus, bevor doch noch jemand kommt, um mal zu schauen, was das Geräusch zu bedeuten hatte. Ihr Tonfall ist gebieterisch, drängend, aber darunter liegt eine gewisse Panik, die nichts mit der Angst vor Entdeckung zu tun hat. Oder zumindest nicht mit der Entdeckung durch Serges Nachbarn zusammenhängt.

»Dein Name steht in diesem Buch, Madigan. Willst du nicht rausfinden, warum?«

wen interessiert schon, was dieser fette Widerling in sein Tagebuch kritzelt?

»Ich dachte, die Tagebücher von Leuten zu lesen wäre eine Art Hobby von dir.«

Ich öffne das Notizbuch wieder und fühle sofort, wie sie in mich greift, aber diesmal bin ich vorbereitet und bereit zum Kampf. Trotzdem ist es viel schwerer, als ich erwartet hatte. Ich muss jedes bisschen Konzentration aufbringen, um die Bewegungen meines Körpers zu kontrollieren, um in jeder Muskelzuckung, jedem Zittern um die Oberhand zu kämpfen und ihr nicht einmal einen halben Atemzug zuzugestehen. Ein mentaler Ringkampf. Ich kann fast sehen, wie wir ineinander verschlungen miteinander kämpfen, und das Bild scheint mir zu helfen, denn die Seiten des Notizbuchs bewegen sich.

Ich blättere sie um.

Wieder und wieder springt mir Madigans Name ins Auge. Manche Seiten sind mit aufwendigen Diagrammen oder seltsamen Berechnungen gefüllt. Die verwendeten Symbole sind für mich vollkommen unverständlich und scheinbar nicht der Mathematik entnommen, aber ich verstehe genug, um zu realisieren, dass in diesem Buch die Experimente aufgezeichnet sind, die Serge mit Madigan angestellt hat – also warum will sie nicht, dass ich mir das anschaue?

weil es privat ist, weil es nichts mit dir zu tun hat! jetzt mach das verdammte Buch zu

Ihre Stimme ist durchdringend, furchtbar verzerrt, als sie mich anschreit, aufzuhören, endlich aufzuhören und das Haus zu verlassen, weil die Polizei wahrscheinlich schon unterwegs ist. Sie hat es mir vorher nicht gesagt, aber Serge hat eine Alarmanlage, das Neueste vom Neuen, und wir müssen sofort verschwinden, noch in dieser Sekunde.

Ihre Panik ist ansteckend, obwohl ich genau weiß, dass sie lügt. Ich schmecke altes Metall im Mund, schlucke schwer und schließe fest die Augen.

»Halt’s Maul! Halt’s Maul! Halt’s Maul!«

Schweigen oder zumindest fast. Ein leises Summen hallt in meinem Kopf wider wie ein Radio, das seinen Sender verloren hat, bevor sie erneut voll aufdreht.

Bastard!

Sie ist jetzt stärker, wütend, aber gleichzeitig beherrscht. Für einen Moment bekomme ich Angst und in diesem Augenblick gewinnt sie fast die Oberhand, aber ich erhole mich gerade noch rechtzeitig, drücke gegen sie und stelle mir wieder vor, wie wir miteinander ringen. Stelle mir vor, wie ich darum kämpfe, nicht von der Stelle zu weichen, während sie langsam vorwärts drängt, die Schwachpunkte sucht, die verletzlichsten Stellen, an denen sie durch die Lücken in meiner Verteidigung gleiten kann.

bekämpf mich nicht, Lexi, es ist einfacher, wenn du nicht kämpfst

Nein. Ich verstärke das Kampfbild in meinem Kopf, fülle es mit Details: Erde unter meinen Füßen, die mir zwischen die Zehen quillt, und über uns heiße Sonne; Schweißtropfen auf unserer Haut, bis zum Zerreißen gespannte Muskeln und der scharfe Duft ihrer Haare, gärende Äpfel und zähe Kraftanstrengung. Und mit dem Bild werde auch ich stärker. Madigan zischt ungläubig, als sie ins Wanken gerät, nur ein wenig, aber genug für mich, um meinen Griff zu verlagern, sie fester zu packen und …

Plötzlich, ohne Vorwarnung, ist sie verschwunden.

Und ich falle. Die Erschöpfung und das nachlassende Adrenalin in meinen Adern verursacht mir Schwindel. In Serges Arbeitszimmer liege ich zusammengesunken auf dem Boden, schweißgetränkt und zitternd. Aber ich grinse, lache still in mich hinein, denn wie muss es von außen ausgesehen haben? Als hätte ich eine Art Anfall? Aber ich habe gewonnen, ich habe sie geschlagen.

»Hast du das gehört, Madigan? Ich habe gewonnen!«

Keine Antwort, aber ich weiß inzwischen zu viel, um mich noch der Hoffnung hinzugeben, dass sie ganz verschwunden ist. So einfach wird es nicht sein; nichts ist jemals so einfach, wenn es mit Madigan zu tun hat.

Meine Kehle ist so trocken. Ich brauche Wasser, aber nicht sofort, in einer Minute, etwas später. Jetzt will ich hier nur ein wenig liegen und wieder zu Atem kommen, meinen Triumph auskosten, bevor er verblasst. Mein Sieg, nur meiner. O Madigan, meine süße, giftige Liebe, ich werde es dir nicht so leicht machen.

Es ist nicht fair. Schließlich ist es ihr Haus und sie kennt die besten Verstecke. Und sie betrügt, ich weiß, dass sie betrügt. Sie wechselt mitten im Spiel die Position, schleicht sich an Orte, die ich bereits durchsucht habe, nur um dann herauszuspringen, kaum dass ich aufgegeben habe. Sie grinst selbstgefällig und schüttelt den Kopf, sobald ich protestiere.

Ich war die ganze Zeit hier, Lexi. Du kannst nicht richtig gesucht haben.

Ich entdecke nie, wo sie sich wirklich versteckt.

Aber diesmal habe ich das Erdgeschoss sorgfältig durchsucht, habe alle Türen hinter mir geschlossen und ständig auf das verräterische Quietschen der Angeln gelauscht. Jetzt schleiche ich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und achte darauf, die knarzende Stufe in der Mitte auszulassen. Hier oben ist jede Tür offen, bis auf die zum Schlafzimmer ihrer Eltern, zu dem uns der Zutritt streng verboten ist.

Nein, Moment. Die Tür ist nicht geschlossen, nicht ganz. Die kleine Schummlerin muss sich doch da drin verstecken, an der einen Stelle, an der ich nicht suchen kann. Ich bin wütend und aufgeregt gleichzeitig – diesmal werde ich sie erwischen, ich kann mir den überraschten, schmollenden Ausdruck auf ihrem Gesicht bereits lebhaft vorstellen. Ich schleiche lautlos an die Tür heran und spähe durch den Spalt, um zu sehen … oh. Oh, um zu sehen.

Katherine, die neben dem Bett steht, ihren Rücken mir zugewandt. Bereits halb nackt schiebt sie ihren Rock nach unten, dann die Unterwäsche. Mir stockt der Atem, mein Gesicht wird rot vor Verlegenheit und Überraschung und etwas weniger Greifbarem – meiner Erregung, Madigan zu finden, die plötzlich in eine andere Erregung umschlägt. Katherine beugt sich vor, um ihren Bademantel vom Bett zu nehmen, und als sie den Satinstoff überwirft, dreht sie sich so, dass ich die Kurve ihrer Brust sehen kann. Sie bindet den Bademantel zu, dann verschwindet sie im angrenzenden Bad.

»Das ist es also, was du so getrieben hast, wenn ich nicht dabei war.«

Madigan ist neben mir. Ihr kantiges Erwachsenengesicht ist überraschend und verstörend, bis ich auf meine eigenen, erwachsenen Hände hinuntersehe, auf meine großen Füße und mich wieder erinnere.

»Diese Seelenklempnerin hat vielleicht recht.« Madigan lächelt, seltsam traurig. »Warst du eigentlich die ganze Zeit in meine Mutter verliebt?«

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich darauf reagieren soll, also bleibe ich stumm.

»Dummer Junge, du hast immer geglaubt, ihr scheine die Sonne aus dem Arsch.« Madigan schüttelt den Kopf. »Sie war nicht perfekt, weißt du? Dich hat sie total verwöhnt, hat dir jede Menge seltsame Ideen in den Kopf gesetzt darüber, wie talentiert du bist, wie brillant, dass du zu etwas Großem geboren bist. Ist diese Prophezeiung schon eingetreten, Lexi?«

»Halt’s Maul«, blaffe ich. »Warum willst du immer alles zerstören, was nicht dir gehört?«

»Sie gehört nicht dir. Hat sie nie.« Madigan starrt mich mit in die Hüften gestemmten Händen böse an. »Weißt du, wie sehr ich mir gewünscht habe, sie würde diese Dinge zu mir sagen? Aber nein, bei mir war es immer Übung macht den Meister, Madigan, und streng dich ein bisschen mehr an, Madigan, und mach es so, Madigan. Du musstest nur irgendwas auf ein Blatt Papier kritzeln und schon warst du der nächste Picasso, aber nichts, was ich je getan habe, war gut genug.«

»Sie hat dich nur ermuntert, wahrscheinlich wusste sie, dass du es besser kannst.«

»Und bei dir wusste sie, dass du es nicht besser kannst?«

Das tut weh, und das weiß sie auch.

»Mach es dir hier nicht zu bequem, Lexi.« Madigan dreht sich um und stiefelt den Flur zu ihrem eigenen Zimmer entlang, um dann die Tür hinter sich zuzuknallen.

Ich folge ihr und als ich die Türklinke herunterdrücke und über die Türschwelle trete, fühle ich ein kurzes Ziehen wie einen kleinen elektrischen Schlag in mir, um dann Madigan, wieder als jungem Mädchen, gegenüberzustehen. Sie sitzt mit verschränkten Armen auf dem Bett. »Raus! Das ist mein Zimmer!«

»Ist das ein Traum?«, frage ich.

»Irgendwie. Irgendwie aber auch eine Erinnerung oder beides.« Sie gähnt und erklärt mir, dass sie müde ist und jetzt schlafen muss. Ich muss gehen.

»Ich weiß nicht, wie.«

Madigan lacht, dieses süße Kleinmädchenkichern, von dem ich nicht wusste, wie sehr ich es vermisst habe, dann klettert sie von ihrem Bett. Der Teddybären-Pyjama ist an ihren Knöcheln hochgerollt. Sie ist jetzt genauso groß wie ich – oder vielmehr bin ich so klein wie sie, ebenfalls wieder ein Kind – und sie packt mich problemlos an den Schultern und dreht mich mit schrecklicher Kraft Richtung Tür.

»Geh einfach!«

Kleine Hände stoßen gegen meinen Rücken und ich stolpere aus dem Zimmer und ins Nichts, in Schwärze, Leere, und falle, falle –

– und als ich keuchend die Augen öffne, krallen meine Hände sich immer noch auf der Suche nach Halt in den Boden unter mir. Ein Traum, versuche ich mich selbst zu überzeugen, nur ein weiterer, irrer Traum. Ich rolle mich auf den Rücken und stelle fest, dass ich an die helle, weiße Decke von Serges Arbeitszimmer starre. O Gott, war ich die ganze Nacht hier?

Ich rapple mich auf, ignoriere die Schmerzen in meinem Rücken und meiner Hüfte und schlurfe zum Fenster. Nach dem schwachen, gräulichen Sonnenlicht, das gerade erst über die Dächer der Umgebung gleitet, ist es früher Morgen. Ich habe stundenlang geschlafen, aber trotzdem bin ich immer noch unglaublich müde und mein Rücken schmerzt, weil ich auf dem harten Holzboden gelegen habe. Ich muss raus aus diesem Haus. Meinen Serge-verpesteten Lungen frische Luft gönnen.

Die Tagebücher liegen immer noch auf dem Schreibtisch, und ich greife mir eine Menge von ihnen, als ich gehe. Sie müssen wichtig sein, wenn Madigan so entschlossen ist, ihre Geheimnisse vor mir zu bewahren. Sie sind wahrscheinlich auch das Erste, das Serge vermissen wird, wenn er zurückkommt, aber darüber kann ich später nachdenken. Lass ihn doch kommen, Belials Söhne und all das.

Es ist nicht Serge, um den ich mir Sorgen mache.

Als ich nach Hause komme, steht Ruths weißer Toyota in der Einfahrt. Sie ist die letzte Person, die ich im Moment sehen will, und ich hoffe, dass sie nur gekommen ist, um ein paar Sachen zu holen. Das, was Madigan zu ihr gesagt hat, tut mir leid, mehr leid, als ich in Worte fassen kann, also bin ich erleichtert, als ich entdecke, dass ihre Schlafzimmertür geschlossen und der Türspalt darunter dunkel ist. Ich muss definitiv noch mal schlafen, bevor ich die Dinge mit ihr in Ordnung bringen kann. Aber erst muss ich duschen.

Ich wasche mir den Schweiß und den Dreck von der Haut, und die Schmerzen in meinen Muskeln verklingen langsam unter dem fast kochend heißen Wasser. Ich bleibe mit geschlossenen Augen stehen, bis der Strahl kalt wird. Wie üblich ist das Handtuch feucht und ich verziehe das Gesicht, als mir klar wird, dass keines davon jemals trocken ist, weil Madigan – immer eine Vielduscherin – wahrscheinlich mindestens so oft duscht wie ich.

Aber für den Moment scheint sie sich zumindest zurückgezogen zu haben – sie muss ebenfalls vollkommen erschöpft sein –, nachdem ich nicht das leiseste Flüstern höre, sich in meinem Kopf nicht das Geringste regt. Vielleicht ist es jetzt auch für mich sicher zu schlafen.

Mit noch tropfenden Haaren tapse ich zu meinem Schlafzimmer. Ich ziehe wahllos ein T-Shirt aus dem immer größer werdenden Stapel dreckiger Wäsche, ziehe es mir über, lasse mich ins Bett fallen und vergrabe mich unter der Decke. Serges Tagebücher liegen auf dem Nachttisch, aber sie werden warten müssen. Ich bin so müde. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein …

Jemand berührt meine Schulter und ich springe fast aus meiner eigenen Haut.

»Tut mir leid«, sagt Ruth und zieht sich zurück, als ich mich herumrolle. »Kann ich mit dir reden?«

»Jesus, Ruth, erschreck mich doch das nächste Mal gleich zu Tode.«

Sie entschuldigt sich wieder, aber sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Hat gehört, wie ich nach Hause kam, und, na ja, sie muss mir etwas sagen und findet, es kann genauso gut jetzt sein.

Ich stemme mich auf einen Ellbogen hoch. »Ruth, hör zu …«

»Lass mich zuerst, okay?« Sie hebt beide Hände. »Ich habe die ganze Nacht nachgedacht und ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich denken soll, bis darauf, dass ich einfach nicht glauben kann, dass es wirklich du warst, der … gesagt hat, was du gesagt hast. Vielleicht will ich es einfach nicht glauben, und vielleicht bedeutet das, dass ich genauso verrückt bin wie du …«

»Ruth, ich hätte nichts … davon wissen können.«

Sie schüttelt einmal heftig den Kopf. »Doch, doch hättest du, Madigan hätte es dir erzählen können. Aber ich glaube einfach nicht, dass du so grausam, so herzlos sein kannst. Und ich bin der Meinung, dass meine Menschenkenntnis nicht schlecht ist.«

»Dann glaubst du mir das über Madigan?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Sie seufzt und reibt sich die Stirn. »Ich habe es dir schon gesagt, ich weiß im Moment nicht, was ich glauben soll. Außer dass entweder einer von uns oder beide verrückt sind, und ich bin mir nicht mal sicher, was mir lieber wäre.« Sie zögert. »Ich muss noch weiter darüber nachdenken.«

»Ich weiß nicht, ob es was hilft«, erkläre ich ihr, »aber es tut mir leid.«

Sie nickt, ohne etwas zu sagen.

»Hier.« Ich hebe die Tagebücher vom Nachttisch und halte sie ihr entgegen. »Kannst du die für mich aufbewahren? Irgendwo verstauen?«

»Was ist das?« Ruth nähert sich dem Bett, macht aber keine Anstalten, mir die Bücher abzunehmen. Ihr Gesicht ist geschwollen und sie hat dunkle Augenringe; ich frage mich, wie lang sie geweint hat und wann sie damit aufgehört hat.

»Sie gehören Serge. Du kannst sie lesen, wenn du willst. Ich weiß es nicht sicher, aber vielleicht finden wir darin eine Erklärung.«

Sie seufzt und streckt die Hände aus und ich lasse die Bücher hineinfallen. Sie hebt eines davon an die Nase, schnüffelt und verzieht angewidert das Gesicht. »Nett.« Dann blättert sie durch die Seiten. »Was ist das alles?«

»Vielleicht nichts, vielleicht auch ein Ausweg aus der ganzen Scheiße.«

Ein kryptischer Seitenblick, bevor sie das Buch wieder schließt. »Okay, ich hebe sie für dich auf. Wenn es dir so wichtig ist.«

»Ist es.« Ich berühre ihre Hand kurz mit den Fingern und versuche zu ignorieren, dass sie zurückzuckt. »Danke, Ruth. Ich meine es ernst. Und nicht nur dafür.«

Fast lächelt sie. »Du siehst schrecklich aus.«

Ich fühle mich auch schrecklich, so vollkommen erschöpft, dass Schlaf mir wie ein weit entferntes Land erscheint, ein Ort, an dem ich vor langer Zeit einmal gewesen bin. Wieder versuche ich, mich bei ihr zu entschuldigen, aber sie schüttelt den Kopf und bringt mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Wir reden später darüber, wenn du wieder bei dir bist.«

Sie hat schon die Tür erreicht, als die Frage in mir aufsteigt. »Hey, Ruth? Warum bist du nicht weg?«

»Was?«

»Diese Sache. Wenn jemand so etwas zu mir gesagt hätte, würde er nur noch die Staubwolke hinter mir sehen. Also warum bist du noch hier, besonders, wenn du mir in Bezug auf Madigan nicht glaubst?«

Ruth steht für einen Moment einfach nur da. »Sag nicht, dass du das nicht erraten kannst«, erklärt sie schließlich und wendet sich ab, die Bücher fest an die Brust gedrückt. Ich bin mir fast sicher – nach dem kurzen Blick auf ihr Gesicht, bevor sie geht –, dass sie wieder weint. Aber als sie spricht, ist ihre Stimme so fest wie immer.

»Schlaf, Alex. Ich hoffe, deine Träume sind schöner als meine.«