Kapitel 11
Kehrer Allerlei
Streifen von Paprika, Süßkartoffeln, Auberginen, Zucchini, Kohlrabi, Sellerieknollen, Zwiebeln, Mango, Äpfeln und Rote Bete, mit Knoblauch, Thymian, Rosmarin und Oregano gewürzt und mit Olivenöl besprüht, im Ofen geröstet
Ich liege mit geschlossenen Augen auf einer sommerlichen Wiese. Eine warme Brise streichelt meine Wange; Spitzen von Grashalmen kitzeln mir den Mund. Oder sind es etwa doch stachlige Insekten?
Ich mache die Augen auf.
Marcel zieht den Kopf ein wenig zurück und zupft an seinem offensichtlich frisch und wieder einmal schief gestutzten Schnurrbart.
»Es funktioniert, ma princesse«, sagt er. »Ich habe dich wach geküsst. Guten Mittag, übrigens.«
Er setzt zu einem richtigen Kuss an. Aber ich presse die Lippen fest zusammen. Den schalen Geschmack in meinem Mund möchte ich mit niemandem teilen; schon gar nicht mit dem Mann, den ich unter normalen Umständen herzlich gern küsse.
»Dann eben nicht«, sagt er friedfertig und richtet sich auf.
»Bist du krank? Oder warum liegst du immer noch im Bett?«
»Nicht noch – wieder.« Gähnend rappele ich mich hoch. »Ich war heute Nacht sehr lange unterwegs.«
»Ach ja? Bei dem fiesen Wetter? Wo denn? Und das große Auto steht auch nicht vor der Tür.«
»Hat sich Gudrun ausgeliehen«, beantworte ich die letzte Frage und stelle selbst eine: »Was machst du hier?«
»Ich habe Daniel und David zurückgebracht.«
Er setzt sich neben mich auf den Bettrand, streicht mir die Haare aus dem Gesicht und lässt seine Hände dann weiter nach unten wandern.
»Aus Sankt Vith«, murmele ich und schiebe seine Hände weg. »Ihr wart beim Bestatter?«
»Genau«, sagt er und steht mit einem Seufzer auf. »Oh je, meine Katja, es war so … furchtbar traurig. Der arme Junge. Die anderen sitzen nebenan und probieren, ihn zu trösten. Aber wer kriegt das schon hin? Wo warst du heute Nacht?«
»Erst Zähne putzen.«
Ich erhebe mich und verschwinde im Bad. Wo mich mein Spiegelbild erschreckt. Ich sehe aus, als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen. Und so fühle ich mich auch. Gar nicht dazu aufgelegt, mit Marcel Spielchen zu spielen. Ihn zum Beispiel herumraten zu lassen, wo ich in der Nacht gewesen bin.
»Ich war in Buchet«, sage ich, als ich zurückkehre. »Hast du übrigens eine Ahnung, wo Hermann steckt? Er ist gestern nicht nach Hause gekommen. Seine Schwester ist völlig aufgelöst. Schon komisch, wie sie sich benimmt. Als wäre ihr Bruder nicht ein gesetzter Mann in reichlich fortgeschrittenem Alter, sondern ein gefährdeter Teenager, der sich mit zwielichtigen Figuren in Discos die Nacht um die Ohren schlägt. Ich konnte sie einfach nicht beruhigen.«
Soll er doch denken, Frieda habe mich in Buchet einbestellt. »Mich würde allerdings auch interessieren, wo Hermann gerade steckt«, füge ich an, »weil ich ihn nämlich etwas fragen möchte.«
»Hermann Kerschenbach?«, fragt er, als ob wir noch einen anderen Hermann kennen würden.
»Ja, natürlich.«
»Der ist mit seinen Kaffeefahrern unterwegs. Wir haben sein Baby eben gesehen, als wir aus Krewinkel hochkamen. Er schoss mit ziemlichem Tempo direkt an uns vorbei. Richtung Losheim.«
Marcel hält mir meinen grünen Pullover hin. »Zieh doch bitte den an. Ich finde, du siehst in ihm besonders schön aus. Was hast du sonst noch in Buchet gehört?«
»Dass die heilige Barbara Schutzpatronin der Bergleute ist.«
Sehr seltsam, dass Hermann gestern eine Kaffeefahrer-Fuhre für heute zusammengestellt haben soll. So groß kann die finanzielle Not doch nicht sein, dass er nach dieser Katastrophe und in seinem Zustand einfach so weitermachen würde wie bisher. Komisch auch, dass Frieda von diesem Ausflug offensichtlich nichts gewusst hat.
Marcel scheint es nicht merkwürdig zu finden, dass Hermann schon wieder mit seinem Setra unterwegs ist. Das Leben geht eben weiter, sage ich mir, und der Eifeler ist ein Meister im Herstellen von Normalität, vor allem, wenn seine Welt gerade unterzugehen droht. Dann fährt er mit Senioren nach Belgien und kauft Kaffee.
Ich ignoriere den Pullover von gestern und ziehe eine frische Bluse aus dem Schrank.
»Die steht dir auch gut«, sagt Marcel freundlich. »Und weiter? Was ist in Buchet sonst noch so los?«
»An der Geschichte von Hermann und Frieda stimmt etwas nicht«, platze ich heraus.
»Ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Wir prüfen da gerade einiges nach. Ihre enge Beziehung zu deinem Freund Konrad Meissner ist ziemlich verdächtig. Der Mann ist früher schon einmal straffällig geworden.«
Ah, natürlich hat Marcel beim EPICC nachgefragt, dem Euregionalen Polizei-Informations-Cooperations-Centrum in Heerlen, jener länderübergreifenden Einrichtung, wo seit einigen Jahren Polizisten und Zöllner aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden ihre Informationen untereinander austauschen. Ganz unbürokratisch, wie Marcel immer behauptet, und, wie ich argwöhne, gegebenenfalls auch ganz unvereinbar mit der Gesetzeslage der jeweiligen Länder. Aber was der Wahrheitsfindung dient, wird eben geduldet.
»Lass mich raten: Der Mann war früher Schmuggler«, sage ich.
Marcel schüttelt den Kopf.
»Was dann?«
»Wie gesagt, wir prüfen da einiges nach.«
»Er hat seine Frau umgebracht«, presche ich vor.
Marcel lächelt. »So ’ne große Nummer ist er nun auch wieder nicht. Ein ziemlich kleiner Fisch. Aber für unseren Fall vielleicht interessant.«
»Dann hast du ja endlich seine DNA.« Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Leider nicht«, seufzt Marcel. »Das war alles vor ganz langer Zeit. Was zum Teufel machst du da?«
Es ist gar nicht so leicht, ein zusammengeknülltes steif getrocknetes Papiertaschentuch mit einer Fleischgabel aus der Hosentasche einer Jeans herauszupfriemeln. Aber heute ist mir zuwider, das Papier mit den Fingern zu berühren, das ich gestern Nacht gänzlich bedenkenlos Konrad Meissner aus der Jackentasche gezogen habe. Als ich mich von ihm zum Abschied fest umarmen ließ. Der Mann hat sich darüber genauso gefreut wie ich mich über den gelungenen Coup.
Triumphierend halte ich das Beutestück an der Fleischgabel hoch.
»Tausche DNA gegen Infos.«
Ich trete ein paar Schritte zurück, als Marcel es ergreifen will.
»Das hier ist Unterschlagung von Beweismaterial«, warnt er mich.
»Das hier ist Deutschland«, enthülle ich ihm. »Da darfst du überhaupt nicht ermitteln. Schon gar nicht in belgischer Uniform.«
»Wenn Gefahr im Verzug ist …«
Ich winke mit dem Taschentuch am Fleischgabelende wie mit einer weißen Fahne. »Was hat sich Meissner zuschulden kommen lassen?«
»Er hat gefälschte Geldscheine in Umlauf gebracht«, knurrt Marcel und zieht eine kleine Plastiktüte aus seiner Uniformjacke.
»Wann?«
»Vor dreißig Jahren.«
»Das ist alles?«
»Wir finden bestimmt noch mehr raus. Ich traue dem Mann nicht.«
»Und was für ein geheimnisvolles Alibi hat Hermann?«
»Rahm dir doch dein Rotztuch ein«, sagt Marcel ungehalten und verlässt das Zimmer.
Gudrun ist zurück. Sie streicht sich über den Bauch und schluchzt hemmungslos.
»Wenn ich mir vorstelle, dass mein Kind mich da so liegen sieht, auf so einem kalten Tisch! Und wie dann das Laken vom Kopf gezogen wird und sie ganz grau ist und so tot und all das Blut in den Haaren …«
»Da war kein Blut«, sagt Daniel. »Mama war nicht grau. Sie sah wunderschön aus. Als wenn sie schliefe. Ihre Haare haben geleuchtet.«
»Deine Mutter hat immer geleuchtet«, sagt Hein. »Sie war so konsequent. Wusste immer ganz genau, wie sie sich stylen musste. Ich habe sie sehr bewundert.«
»Ja«, seufzt Gudrun, »das stimmt. Sie konnte sogar in richtigen High Heels bedienen. Und in weißer Kleidung. Nie kam da ein Fleck drauf. Sie war so ein guter Mensch. Vor allem zu Nicolina.«
»Die Gans ist ihr Vermächtnis«, erklärt Jupp. »Schon deswegen darf sie nicht geschlachtet werden.«
»Wird sie ja auch nicht«, sage ich. »Sie wird sich vermehren. Jakob will ihr einen Ganter besorgen.«
Daniel blickt auf und sieht mich an. »Ob ich da ein Wörtchen mitreden darf?«
»Darüber wird sich Herr Perings bestimmt freuen«, versichere ich, sehr bereit, mir den Vortrag über das Paarungsverhalten von Gänsen anzuhören, der auch prompt kommt. Gudrun ist sichtlich fasziniert.
»Erst tanzen sie, und dann gehen sie ins Wasser?«, wiederholt sie ungläubig.
Daniel nickt.
»Der Ganter packt das Weibchen am Hals und taucht es während der Begattung immer wieder unter.«
Marcel hört auch interessiert zu. Wehe, ihm kommen hier Ideen für meinen Jacuzzi!
»Und das lässt sich die Gans gefallen?«, wirft Hein ein. »Interessantes Sadomasospiel …«
»Arme Nicolina«, ruft Gudrun und schüttelt sich. »Wie furchtbar, dass sie immer nach Luft schnappen muss, wenn es gerade besonders schön ist!«
»Haben Tiere überhaupt Spaß am Sex?« Hein sieht Jupp fragend an.
»Es geht bei ihnen nicht um Spaß«, klärt Jupp ihn auf. »Sondern um Vermehrung. Das ist immer noch besser, als geschlachtet zu werden und bei Frau Schröder an Weihnachten in den Ofen zu kommen.«
»Wollen wir an Heiligabend wirklich nach Krewinkel gehen und eine fremde Gans essen?« Gudrun fährt plötzlich hoch, schlägt sich erst selbst auf den Mund und dann Daniel auf die Schulter. »Junge, du musst endlich was essen! Ofengemüse, ja? Dauert etwa eine halbe Stunde.«
David folgt ihr in die Küche. Auch Marcel erhebt sich.
»Und du musst jetzt bestimmt zur Arbeit fahren«, stelle ich fest.
Er schüttelt den Kopf.
»Nee. Noch nicht. Ich hab im Auto noch was für Daniel. Momentchen, bitte.«
Er ist sehr schnell zurück. Mit Regines roter Handtasche. Er nimmt sie in beide Hände und überreicht sie Daniel mit einer richtigen Verbeugung. Wie eine Devotionalie, denke ich, was die Tasche inzwischen wohl auch ist.
»Die Sachen von deiner Mutter.« Behutsam legt er ein Papier vor den Jungen auf den Tisch. »Bitte schau nach, Daniel, ob auch wirklich alles drin ist, was da steht, und ob nichts kaputt ist. Dann musst du bitte hier unterschreiben.«
Daniel stellt die Citybag vor sich ab. Er betrachtet sie sehr lange, ehe er sie öffnet. Zieht dann langsam einen Gegenstand nach dem anderen heraus: Regines Lesebrille, ihr Portemonnaie, ihr Handy, die Armbanduhr, ihre Brillantohrstecker, zwei Haarspangen, einen losen Knopf, ein Paket Tempotücher, den Schlüsselbund, Lippenstift und Puderdose. Er reiht alles vor sich auf und starrt so intensiv auf die Gegenstände, als könnten sie ihm über den Tod seiner Mutter Aufschluss geben. Schließlich greift er zu Regines Handy, schaltet es ein und blickt dann fragend zu Marcel.
»Siebzehn zehn«, sagt der leise.
Ein Lächeln erhellt Daniels bis dahin so nachdenklich trauriges Gesicht.
»Sein Geburtstag«, sagt David, der im Gegensatz zu mir sofort verstanden hat, dass es um die PIN von Regines Handy geht. Klar, die belgische Polizei wird den geknackt und in Zusammenarbeit mit der deutschen alle jüngeren Verbindungen überprüft haben.
»Da ist auch noch ein Teil der Kleidung«, sagt Marcel leise. »Der, welcher …« Er bricht ab, setzt wieder an. »Aber die Schuhe sind …«
Daniel schüttelt den Kopf, während seine Daumen unermüdlich die Tasten des Handys bearbeiten.
»Brauche ich nicht.« Er ist sehr blass geworden. »Das hier reicht.« Er legt das Handy weg, zieht sein eigenes Smartphone hervor und daddelt auf diesem weiter.
»Nein«, melde ich mich. »Da fehlt noch etwas.«
»Ich sag ja, die Kleidung …«
»Die Kette«, unterbreche ich Marcel. »Regines Verlobungskette. Die sie von Hermann bekommen hat. Und immer unter ihrer Kleidung getragen haben soll.«
Marcel nickt. Er legt einen Arm um Daniel und bedeckt mit der anderen Hand dessen Smartphone.
»Hör mal damit auf, mein Junge. Das hier ist jetzt sehr wichtig. Du kannst nachher weiterspielen.«
»Ich spiele nicht«, entgegnet Daniel ernst. »Ich suche den Mörder meiner Mutter.«
Mit den vermutlich sehr unzureichenden Mitteln seiner Generation, denke ich und blicke Marcel genauso gespannt an wie jetzt Daniel. Der Polizeiinspektor braucht allerdings mehrere verstotterte Anläufe, ehe er einen vernünftigen Satz hervorbringen kann.
»Ja«, sagt er schließlich und gibt sich einen Ruck. »Da war eine Kette. Die ist ihr vom Hals gerissen worden.« Er räuspert sich und drückt Daniel kurz an sich. »Nach den Erkenntnissen der Gerichtsmedizin ist es zu einem kurzen Kampf gekommen, wo der Täter Regine entweder …« Über Daniels Kopf blickt er uns verzagt an. »… etwas fest um den Hals gelegt oder ihr etwas vom Hals gerissen hat.«
»Mit fest um den Hals gelegt meinst du, dass der Mörder erst versucht hat, sie zu strangulieren?«, fragt Hein. »Bevor er sie erschlagen hat?«
Ich könnte Hein strangulieren. Daniel ist noch eine Spur blasser geworden.
»Jetzt wissen wir genau, dass ihr eine Kette abgerissen worden ist«, fährt Marcel zögernd fort. »Was uns eventuell ein ganzes Stück weiterbringt. Wer kann mir die Kette beschreiben?«
Wir rufen Gudrun aus der Küche. Und erhalten von ihr die Bestätigung, dass Regine ihre Verlobungskette nie abgelegt hat.
»Sie war aus richtigem Gold und hatte einen Anhänger. In Herzform. Mit einem hübschen Muster drauf.«
»Stimmt«, bestätigt David, der mit einem Messer in der Hand in der Tür steht. »Man konnte es aufklappen. Ungefähr wie eine Taschenuhr. Und da war ein Bild drin.«
»Also eine Art Medaillon?«, hake ich nach.
»Ja, kann sein …« Gudrun blickt David fragend an. »Was genau ist eigentlich ein Medaillon?«
»Ein Pänneck«, übersetzt Marcel, der deutschsprachige Belgier aus der Nachbarschaft.
»Häh?«, macht Gudrun.
»Pänneck?«, fragt Hein ungeduldig. »So ein Quatsch. Brosch heißt das!«
»Unter einer Brosche verstehe ich aber etwas anderes«, wende ich ein. »Eine Anstecknadel.«
»Ist auch eine Brosch«, sagt Hein. »Wie ein Medaillon. Eine Brosch an einer Kette.«
»Ach so …« Gudrun wirkt sichtlich erleichtert, endlich verstanden zu haben. »Ja, ja, Regines Anhänger war eine Brosch.« Sie denkt einen Augenblick nach. »Also hat die Frau Schröder damals auch eine Brosch verloren? Jetzt ist mir das klar. Stimmt schon, Hermann hat Regine eine Brosch geschenkt, mit einem Bild drin.«
Marcel und ich sehen einander an.
»Aber die Brosch, die Frau Schröder dem Herrn Backes schicken wollte, kann doch nicht die Brosch von der Regine sein, oder?«, stellt Jupp die Frage, die uns allen in diesem Augenblick durch den Kopf geht.
Noch so ein seltsamer Zufall. Jahrzehntelang hat man nichts von einem Medaillon gehört, und dann taucht der Begriff innerhalb weniger Tage plötzlich zweimal aus der Versenkung auf. Das ist ja wie mit Radevormwald.
»Wir sollten uns unbedingt noch mal mit dem Internetmann aus Radevormwald unterhalten«, schlage ich vor.
Daniel, der sich schon wieder seinem Smartphone gewidmet hat, blickt plötzlich auf.
»Wieso soll der Robert die Brosch haben?«, fragt Gudrun. Sie sieht mich misstrauisch von der Seite an. »Bist du da gestern Abend etwa hingefahren? Nach Radevormwald? Du kennst doch den Robert gar nicht! Oh Gott, dem müssen wir es ja auch noch sagen …«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Daniel und Hein einen Blick wechseln. Irgendwie verschwörerisch.
»Nicht nötig«, meldet sich Marcel. »Da läuft schon eine Anfrage bei der deutschen Polizei. Die muss ja sein Alibi überprüfen.«
»Der war es nicht!«, ruft Gudrun empört. »Das ist ein ganz feiner Mann! Sag doch auch was, David!« Zustimmung erheischend zupft sie ihn heftig am Ärmel.
Ich verstehe ihre Aufregung. Der Gedanke, aus dem ihr einst so suspekten Internet möglicherweise selbst Regines Mörder ins Haus einbestellt zu haben, ist schwer zu ertragen; zumal sie ja auch einen schönen Abend mit ihm verbracht hatte. Also erkläre ich, dass ich mit diesem Robert aus einem ganz anderen Grund unbedingt sprechen möchte, und berichte von meinem Ausflug in der vergangenen Nacht.
Die zweimalige Nennung eines Ortsnamens interessiert meine Zuhörer allerdings weit weniger als die Beschreibung meiner Rückfahrt. Bis auf Daniel, der wie ein Wilder in sein Smartphone tippt. Was ich ihm nicht verdenken kann; all die Ortsnamen sagen ihm nichts; er kennt sich in dieser Gegend ja noch weniger aus als ich.
»Spätestens in Winterspelt hättest du doch merken müssen, dass du in die falsche Richtung fährst«, sagt Marcel kopfschüttelnd.
»Du hättest links auf die L 17 abbiegen müssen«, sagt Hein.
»Und dann noch mal links auf die Hauptstraße«, fügt Jupp nickend hinzu.
»Wie hätte ich die denn sehen sollen!«, fahre ich die Männer an. »Alles war dunkel, Unmengen an Schnee, schlecht oder überhaupt nicht geräumte Straßen, die den Namen nicht verdienen; manchmal war einfach Schluss. Ich musste wieder umdrehen und einen anderen Weg suchen. Mein Gott, es war schwer genug, den Wagen überhaupt zu lenken. Und dabei hat er Vierradantrieb!«
»Und weiter?«, fragt Marcel. »Wie bist du dann gefahren?«
»Keine Ahnung. Einfach da, wo es Spurrinnen gab und das Auto Halt am Boden kriegte. Wo es eben weiterging. Ich habe immer gehofft, endlich ein bekanntes Ortsschild zu sehen. Aber nix da. Ich glaube, ich bin tief nach Belgien reingekommen, war vielleicht sogar schon in Luxemburg. Diese elenden Schneeverwehungen. Bin durch einen Ort gefahren, der ganz zu Recht Verschneid heißt.«
»Aber da warst du doch schon fast zu Hause!«
»Woher sollte ich das wissen? Bin einfach weitergefahren. Und war dann irgendwann in Amel.«
Marcel und Jupp stöhnen auf. Hein hört mir nicht mehr zu. Er hat den Kopf vorgebeugt und bespricht sich flüsternd mit Daniel.
»Von da fand ich dann den Weg nach Sankt Vith.« Ich erinnere mich daran, wie warm mir ums Herz wurde, als ich endlich begriffen hatte, wo ich mich befand. Dass ich nicht dazu verdammt war, den Rest der Nacht im Kreis durch die Eifeler Schneewüste zu gondeln. »Und von da wusste ich ja, wie ich nach Hause komme.«
»Da hättest du ja direkt in Sankt Vith bleiben können«, sagt Marcel leise.
»Na, da hättest du dich aber riesig gefreut, wenn ich dich um drei Uhr nachts aus dem Bett geklingelt hätte!«, fahre ich ihn an.
Mein Tonfall scheint den anderen mehr über unser derzeitiges persönliches Verhältnis zu verraten, als mir lieb ist. Marcel antwortet nicht. Unbehagliches Schweigen breitet sich aus. Daniel hat inzwischen das Tippen eingestellt und das Smartphone vor sich auf den Tisch gelegt. Er zieht das Papier mit der Aufstellung des Handtascheninhalts zu sich heran und unterschreibt, ohne es durchzulesen.
»Das Ofengemüse!«, ruft Gudrun und springt auf. »Der arme Junge verhungert uns noch.«
Ich folge ihr in die Küche und frage, wie das Gespräch mit dem Pfarrer verlaufen ist. Sehr gut, erfahre ich, Pastor May sei bereit, die Trauerfeier auf der Kehr zu halten, obwohl sich die Kapelle eigentlich außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs befinde.
»Aber er war doch Regines Pfarrer!«, rufe ich, während ich das Gemüse auf dem Blech großzügig mit Olivenöl einsprühe.
»Ja, und meiner ist er auch. Weil unser Haus in Rheinland-Pfalz steht«, antwortet Gudrun und schließt die Ofentür mit einem Knall. »Zwanzig Minuten reichen.« Sie stellt die Ofenuhr ein. »Deshalb wollte Regine ja auch in der Kirche von Hallschlag heiraten. Eben weil wir zum Bistum Trier gehören.«
Im Gegensatz zu unserer Kapelle auf der Kehr. Die, wie auch mein Restaurant und das Wohnhaus von Jupp und Hein, Nordrhein-Westfalen zugeordnet ist, also dem Aachener Bischof untersteht, wie mir Gudrun mitteilt. Der sei aber nicht zuständig für die katholischen Belgier auf der Kehr, das sei der Bischof von Lüttich.
Erstaunt registriere ich, dass auch das Personal des lieben Herrgotts sich den willkürlich gezogenen weltlichen Grenzen zu beugen hat. Ich verstehe nichts von Glaubensbehörden, hatte aber bisher angenommen, dass sich in einer pfarrerlosen Kirche wie unserer jeder katholische Pastor an den Altar stellen dürfe.
»Dann wird Pastor May seine Amtsbrüder in Nordrhein-Westfalen also erst um Erlaubnis fragen müssen?«
Gudrun schüttelt den Kopf. »Ist alles viel zu umständlich. Er weiß zwar nicht, wie der zuständige Pfarrer im Bistum Aachen darüber denkt, aber er wird es einfach tun, ohne groß zu fragen.«
So wie ja auch Marcel, ohne groß zu fragen, in Deutschland ermittelt, denke ich. Was er allerdings eher heimlich tut und am liebsten im Kreise seiner Freunde. Für offizielle Amtshandlungen hat er sich, soweit ich weiß, bisher immer Erlaubnis von deutscher Seite eingeholt.
Wie alle Amerikaner verschmäht Daniel beim Essen das Messer, wenn er es nicht unbedingt braucht. Allerdings hält er die Gabel in der linken Hand. Weil er mit der Rechten immer noch unentwegt an seinem Smartphone herumfummelt. Am Gespräch beteiligt er sich überhaupt nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Großmutter solche Tischmanieren duldet. Verkneife mir angesichts seiner Traurigkeit allerdings die Frage. Hein ist der Einzige, der nicht immer wieder verstohlene Blicke zu dem Jungen sendet. Zu meiner stillen Empörung nickt er ihm sogar aufmunternd zu. Ganz offen, als verhalte sich Daniel, wie es sich gehöre. Den anderen geht es wohl so wie mir: Ich frage mich, ob der Junge die schlimme Erfahrung vom frühen Morgen offenbar nur durch unermüdliches Gedaddel verarbeiten kann, und wundere mich darüber, wie sich die Zeiten verändert haben.
Plötzlich springt Daniel auf, geht zu Hein und hält ihm sein Spielzeug vor die Nase.
»Sehr gut«, sagt Hein, strahlt uns an, greift nach dem Gerät und reicht es Marcel.
Der blickt ratlos auf das Display und drückt irgendwo drauf.
»Nein.« Hein nimmt ihm das Ding wieder ab. »Jetzt ist es weg. Warte, ich zeige es dir.«
»Wollt ihr uns Unwissende nicht auch an eurem Spiel teilhaben lassen?«, frage ich Hein mit mühsam unterdrückter Entrüstung.
»Es ist kein Spiel«, sagen Hein und Daniel wie aus einem Mund.
»Robert hat eben eine sehr interessante Info geschickt«, erklärt Daniel. »Auch wenn ich noch nicht weiß, ob sie uns zu dem Mörder meiner Mutter führen wird.«
»Robert?«, frage ich verwirrt.
»Der aus Radevormwald?«, kommt es ungläubig von Gudrun. »Aber den kennst du doch gar nicht, Daniel!«
»Doch. Seit gestern.«
»Er hat über Facebook mit ihm Kontakt aufgenommen«, erklärt Hein. »Ich kannte ja seinen Account.«
»Und jetzt ist er also einer deiner viertausendachthundertsiebenundneunzig Freunde, oder was?«, wende ich mich ungeduldig an Daniel.
»Sind nur zweihundertzweiundzwanzig.«
»Aber der Erste, der bei der Stadtverwaltung Radevormwald arbeitet«, merkt Hein an. »Und jetzt ratet mal, was er für Daniel herausgefunden hat. Ach so«, sagt er zu Marcel, »die deutsche Polizei hat ihn übrigens noch nicht befragt. Er war noch nicht über Regines Tod informiert. Das haben wir gestern getan, Daniel und ich. Robert war echt geschockt und hat uns seine Hilfe angeboten. Tja, und die …«
Er bricht erschrocken ab. Wir sind alle zusammengefahren.
»Stell den Klingelton deines Handys doch mal auf normale Lautstärke!«, belle ich Marcel an.
Der hört mich nicht. Wirft sein Glas um, als er vom Tisch aufspringt.
»Entführung?«, brüllt er ins Telefon. »Was? Wann? Geiselnahme? Gibt’s nicht! Incroyable!«
Er atmet sehr schwer und starrt mit aufgerissenen Augen zu uns herüber. Wir sind alle ganz still.
Ich kann kaum glauben, was da gesagt wird. Klingt nach Großeinsatz. Aber Marcel gehört doch keinem Sonderkommando an. Er ist nur ein kleiner Polizeiinspektor. Wieso sollte er zu einer so riesigen Sache gerufen werden?
»Wie viele Geiseln? Gut. Bin in einer Minute da. Ist ja hier vor der Tür.«
Er kappt die Verbindung.
»Was ist hier vor der …«
Marcel reißt seine Mütze vom Tisch.
»Hermanns Setra«, sagt er tonlos. »Ist entführt worden. Mit allen Leuten drin.«
»Wo ist der Bus?«, fragt Gudrun atemlos. »Etwa hier auf der Kehr?«
Marcel ist schon an der Tür.
»Auf der Grenze«, ruft er in den Gastraum zurück.
»Auf welcher?«, fragt Jupp schnell.
»Auf allen«, hören wir noch, und dann ist Marcel verschwunden. Es gibt kein Halten mehr. Wir rennen ihm hinterher.