Kapitel 9

Eifeler Rehkeule

achtzehn Stunden bei siebzig Grad im Ofen gegart, dazu Bratapfel mit Calvadosrosinen und Mandelknödeln

»Oh Gott, ist mir schlecht!«

Der Schritt nach vorn ist zu viel der Anstrengung. Hermann stützt sich am Türrahmen ab und lässt den Kopf hängen, der zu schwer für den Hals geworden ist.

»Aspirin ist im Bad«, sage ich, kühl den Mann musternd, der meine Flasche Single Malt geleert hat und dessen Alibi ich gründlich anzweifele. Die Morgensonne ist erbarmungslos. Vor allem, wenn der Schnee sie reflektiert. Noch nie hat jemand, der gerade mein Bett verlassen hat, derart verwahrlost ausgesehen, nicht einmal Marcel.

Aber der zieht sich die Klamotten normalerweise vorher auch aus. Hermann scheint sich nur seiner Schuhe entledigt zu haben. Über die hat sich soeben Linus hergemacht, den Geräuschen im Flur nach zu urteilen. Hermanns bleiches Gesicht ist fast so zerknittert wie das Hemd, das aus der halb offenen Jeans heraushängt. Die struppigen grauen Haare stehen nach allen Seiten ab.

Aus glasigen blutunterlaufenen Augen blickt er mich an und schüttelt in Zeitlupentempo den Kopf.

»Kein Aspirin. Asthma.«

»Habe ich nicht.«

»Ich aber.«

Ich verstehe. Asthmatiker vertragen offenbar kein Aspirin. Eine interessante Information, aber von ihm hätte ich jetzt gern andere.

»Tee?«, frage ich und stehe auf.

»Bitte«, flüstert er, schlurft an den Tisch, sinkt auf einem Stuhl zusammen und streckt die Beine aus. Die leere Whiskyflasche fällt um und rollt klirrend über den Steinboden.

»Tschuldigung.« Er bückt sich, hebt die Ursache seines morgendlichen Elends auf, schüttelt sie fassungslos und murmelt: »Ganz leer …«

»Mehr habe ich nicht. Das war ein sehr teurer Whisky.«

»Was?«, fragt er unsicher.

Zum Glück ist meine Bemerkung wohl im Rauschen des Wasserkochers untergegangen. Im Zweifel für den Angeklagten. Zu dem er sich wegen seines löchrigen Alibis für mich zwar soeben qualifiziert hat, aber ansonsten kann ich keinen schlüssigen Grund für Hermanns Täterschaft anführen.

Fest steht nur, dass die Frau, die er liebte und hatte heiraten wollen, vor nicht einmal einem Tag brutal ermordet worden ist. Sollte er an ihrem Tod unschuldig sein, müsste ich ihm aus ganzem Herzen jeden verfügbaren Whisky in meinem Haus gönnen und ihm keine spitzen Bemerkungen, sondern all mein Mitgefühl zukommen lassen. Ein Frühstück auch, aber damit müssen wir warten, bis Marcel zurückgekehrt ist.

»Ach, Hermann«, sage ich, als ich die Teekanne mit kochendem Wasser ausspüle. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

Also schütte ich sehr konzentriert dampfendes Wasser ins Teesieb mit den Early-Morning-Tea-Blättern.

»Normalerweise trinke ich nicht.«

»Ich weiß.« Ich stelle die Teekanne vor ihn auf den Tisch. »Aber das ist jetzt nicht normalerweise, Hermann. Es ist einfach nur furchtbar.«

»Ja.«

Er hebt den Kopf und blickt an mir vorbei aus dem Fenster. »Winter. So wie in mir drinnen. Alles kalt, alles stumm, leere Landschaft, ein Leichentuch. Gestern war noch alles grün. Da war noch Leben.«

Und du warst die ganze Zeit in Meerfeld? Aber die Frage stelle ich jetzt natürlich nicht.

»Regine war voller Leben«, sage ich.

»Sie war mein Leben. Auch wenn wir uns nur kurz kannten.«

Mit zitternden Händen greift er zur Teekanne.

»Was ist schon Zeit?«, sage ich hilflos und bin sehr dankbar, als ich eine Autotür vor meinem Haus zuschlagen höre. Mit Trauer kann ich nicht gut umgehen. »Marcel hat uns Frühstück geholt.«

Nicht nur Reistorte und die gewünschten Zutaten, sondern auch einen in Folie eingeschweißten Matjeshering.

»Damit dein Salzhaushalt wieder in Ordnung kommt«, sagt er zu Hermann. »So ein extrem teurer Quarter Cask Single Malt ist nämlich nicht ganz ohne.«

»Ein was?«, fragt Hermann verwirrt.

»Der Brand von gestern«, erläutert Marcel. »Übrigens geht mir dein Urknall nicht aus dem Sinn.«

»Sein was?«, frage ich, jetzt meinerseits verwirrt.

»Der Urknall«, murmelt Hermann. »Den habe ich gestern besichtigt.«

»Dafür ist Meerfeld in der Eifel weltberühmt«, sagt Marcel. »Eine Plastik, die den Urknall darstellt. Hermann hat die Inschrift auswendig gelernt. Und konnte sie sogar nach einer Flasche Whisky noch aufsagen.«

Ich blicke ihn erwartungsvoll an.

»Am Anfang war die Welt nur so groß wie ein Gedanke«, sagt Hermann.

Marcel nickt.

»Genau. Darüber habe ich nachgedacht, Katja. Am Anfang steht doch immer ein Gedanke. Wie der, dass ich jetzt Kaffee brauche. Noch jemand?«

Ich winke ab.

Ist Hermann etwa an dieser Urknall-Plastik der Gedanke gekommen, die Zeit bis zur Abfahrt der Schlammbaderinnen zu nutzen, um Regine in mein Haus zu locken und dort zu ermorden? Weil es zwischen ihnen zu ernsthaften Unstimmigkeiten gekommen ist? Aber mit welchem Verkehrsmittel ist er dann auf die Kehr und zurück nach Meerfeld gelangt? Vielleicht im Wagen eines auswärtigen Urlaubers? Hin vielleicht, aber zurück? Selbst wenn er die Sache von langer Hand geplant und irgendwo in Meerfeld einen Wagen deponiert hätte, wären für Hin- und Rückfahrt mindestens zwei Stunden vonnöten gewesen. Und wie soll er es dann auch noch geschafft haben, Regine einzuwickeln und alles so gründlich zu putzen?

»Der Urknall, also«, sage ich, sehr bemüht, mir meine Gedanken nicht anmerken zu lassen. »Interessant. Was hast du denn sonst noch so alles in Meerfeld besichtigt, Hermann?«

»Da gibt es doch nix«, antwortet er dumpf. »Außer dem Kosmosradweg. Den bin ich ein ganzes Stück weit abgelaufen. Was sollte ich denn sonst da tun? Immer nur Kuchen essen und Tee trinken geht auch nicht.« Seiner Brust entringt sich ein tiefer Seufzer. »Ich weiß ja, dass mich Marcel verdächtigt, aber du jetzt auch, Katja?«

»Niemand verdächtigt dich«, sagen Marcel und ich wie aus einem Mund, was die Sache nicht besser macht.

»Jetzt wird erst mal gefrühstückt.« Ich beginne, die Mitbringsel von Marcel auszupacken und die Pfirsiche zu entsteinen.

Hermann schüttelt den Kopf.

»Ich werde keinen Bissen runterkriegen. Musst du heute nicht arbeiten, Marcel?«

Tut er ja gerade, denke ich, sage aber nichts.

»Warum?«, fragt Marcel.

»Weil ich eine Aussage machen möchte. Nicht hier. Ganz offiziell. In deinem Büro.«

»Mist!«, schreie ich und spucke die Reste des Pfirsichkerns aus, den ich mir vor Schreck in den Mund gesteckt und zerbissen habe.

»Wenn du ein Geständnis ablegen willst, kannst du vorher …«, beginnt Marcel sein Salduz-Gesetz-Sprüchlein aufzusagen, aber Hermann schüttelt heftig den Kopf.

»Nein. Das ist es nicht.«

Er schweigt einen Moment, bringt dann hervor: »Ich habe meiner Regine nichts getan! Es geht um etwas anderes. Ich muss es sagen. Aber nur dir. Damit du deine Zeit nicht mit mir verschwendest und den richtigen Mörder findest. So, jetzt ist es raus.«

Was nur?, frage ich mich.

»Allez«, sagt Marcel und lässt das Kaffeekochen sein. »Zieh deine Schuhe an, Hermann. Oder das, was Linus von ihnen übrig gelassen hat.«

Ich bleibe ratlos zurück.

Wenn im Wein, oder wie in diesem Fall, im Whisky, die Wahrheit liegt, hätte Marcel sie doch sicherlich in der Nacht aus dem trunkenen Hermann herausholen können. Wieso bietet sie der verkaterte Mann erst jetzt an? Weil er ernüchtert erwacht ist. Er hat plötzlich begriffen, dass er sich beim Whisky keinem Freund, sondern einem Polizeiinspektor der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens anvertraut hat. Was ihm in der Nacht bestimmt noch nicht klar war. Mit dem Morgengrauen kam womöglich der Schreck, sich verraten zu haben. Ich weiß ja, dass mich Marcel verdächtigt. Ja, Marcel kann sehr einfühlsam sein. Vor allem bei gedämpftem Licht in der Nähe einer Whiskyflasche.

Ich kann es nicht fassen. Das vollständige Personal hat sich zu dieser frühen Stunde in der Küche der Einkehr versammelt. Alle Überlebenden, denke ich und blicke auf die Überreste eines toten Tieres auf der blitzblanken Edelstahlanrichte.

»Was sollte ich machen?«, fragt Jupp und ringt die riesigen Hände. »Der Jagdpächter hat es mir förmlich aufgedrängt.«

»Wieso?«, frage ich misstrauisch.

»Ist eine Geschichte unter uns«, weicht er aus. »Jedenfalls hat er uns diese zwei Rehkeulen geschenkt.«

»Weil du sie übergefahren hast?«, fragt David.

»Überfahren«, verbessert Gudrun.

»Dann hätten wir auch den Rücken«, bemerkt Hein. »Und die Innereien.«

»Das Restaurant ist geschlossen«, sage ich.

»Dann frieren wir die Keulen eben ein«, erklärt Gudrun. »Jetzt, wo die Hühnersuppe endlich weg ist, haben wir ja wieder Platz.«

»Das Restaurant bleibt geschlossen«, sage ich.

»Für wie lang?«, fragt Hein vorsichtig.

Ich sehe sie alle an. Gudrun, David, Hein und Jupp. Vier Menschen, mit denen ich ein gutes Stück Weges gegangen bin. Der aber jetzt sein Ende erreicht hat. Das schulde ich meinen Freunden und der einstmals so friedlichen Eifel, die mir ein Zuhause gegeben hat. Nur vorübergehend. Denn jetzt muss ich sie verlassen.

Hier weiterhin leben zu bleiben könnte bedeuten, dass noch mehr Menschen sterben müssen. Ich bin offensichtlich der Auslöser für all das Böse, das uns in den vergangenen Jahren heimgesucht hat. Wie sollte es denn anders zu erklären sein, dass eine Tragödie der nächsten folgt, seitdem ich mich auf die Suche nach meinen Eifeler Wurzeln begeben habe? Und jetzt hat das Schicksal sogar in unseren eigenen Reihen zugeschlagen. In meinem eigenen Haus. In meinem Freundeskreis. Grund genug, das Restaurant zu schließen und sich die Eifel von mir erholen zu lassen.

»Für immer«, sage ich. »Ich ziehe fort.«

Langes Schweigen. Das irgendwann durch das Kreischen einer Motorsäge in der Ferne unterbrochen wird. Und dann reden Hein, Jupp und Gudrun plötzlich durcheinander. Nur David sagt nichts.

»Kannst du nicht machen!«

»Verstehe, Katja, all diese furchtbaren Geschichten. Da muss man drüber nachdenken. Aber wo willst du nur hin?«

»Ja, ja, ist alles sehr scheußlich. Bloß nicht drüber nachdenken. Wird schon wieder.«

»Nichts wird wieder«, entgegne ich Gudrun. »Wie sollte es denn? Regine ist tot. Es ist vorbei. Alles.«

Sie streichelt ihren Bauch, in dem gerade etwas anfängt, und sagt mit kleiner Stimme: »Aber was wird dann aus uns?«

»Und aus denen da?«, fragt Jupp und nickt zu den Rehkeulen hin.

Jede mindestens drei Kilo. An ihnen könnte ich das Niedrigtemperaturgaren ausprobieren. Sollte es wirklich möglich sein, bei nur siebzig Grad das Fleisch in etwa fünfzehn Stunden gar zu kriegen? Wie es Regines Internetmann vorgeschlagen hatte, der Mann, den sie eigentlich gar nicht hatte sehen wollen, mit dem sie, Gudrun und David aber dennoch einen fröhlichen Abend verbracht hatten. Dieser Internetmann hatte behauptet, nichts mache Fleisch zarter, als wenn man es unendlich lange unendlich niedriger Temperatur aussetze. Der Internetmann, den Gudrun für Regine geordert hatte. Die jetzt tot ist. Die davor mit diesem Mann so nett übers Kochen und das Leben auf dem Land geplaudert haben soll. Regine sei nicht sein Typ gewesen, hatten David und Gudrun versichert. Vielleicht haben sich die beiden fürchterlich geirrt. Vielleicht war Regine genau der Typ, den ein Psychopath aus einem Ort fernöstlich der Westeifel gesucht hat? Vielleicht haben uns Gudrun und Hein per Internet den Tod ins Haus geholt?

Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und fange an zu heulen.

Alle scharen sich um mich.

»Lass es raus!«, fordert mich Hein auf. »Dann geht es dir gleich viel besser.«

Jupp streichelt mir die Schultern.

»Du willst nicht wirklich weg«, sagt Gudrun. Sie reißt ein Stück Küchenpapier ab und hält es mir vor die Nase. »Putzen! Wohin denn auch? Du bist doch hier zu Hause. Wie wir alle.«

»Wir wollen weitermachen«, sagt Hein. »Wir lassen uns nicht unterkriegen. Nicht nach allem, was wir schon durchgemacht haben.«

»Wir dürfen dich nicht auch noch verlieren«, flüstert Jupp und knetet meine Schulter. »Das halten wir nicht aus. Dann geht hier alles kaputt. Bitte bleib.«

Plötzlich meldet sich jemand, der bisher nur schweigend zugehört hat.

»Für Regine«, sagt David einfach.

Er hat recht. Für Regine. Und für die anderen Menschen, von denen ich Freundschaft gelernt habe. Ich kann nicht weglaufen, irgendwo anders neu anfangen – wo nur? – und so tun, als hätte es diese Vergangenheit nicht gegeben. Außerdem würde mich die Obrigkeit zurückhalten. Nicht nur in Form von Marcel, den ich aus diversen anderen Gründen auch nicht so einfach verlassen kann. Ich gehöre selbst zum Kreis der Verdächtigen. Wie wir alle. Auch so etwas verbindet.

»Wir kümmern uns erst mal um die Keulen«, sage ich. »Dann sehen wir schon weiter. David, du machst die weißen Häute ab.«

Und dann muss ich mich meiner eigenen Haut erwehren, weil mich jeder umarmen will.

Bevor der Streit ausbricht. Soll man die Rehkeulen marinieren oder nicht? Und wenn ja, in Rotwein oder mit Öl überstreichen? Knoblauch ja oder nein? Knochen auslösen und für die Soße zerhacken oder dranlassen? Mandelknödel oder Rosmarinkartoffeln dazu? Wie wäre es mit einem Bratapfel und Rumrosinen? Nein, nicht Rum, zu langweilig; wir ertränken die vertrockneten Trauben in Calvados, passt besser zum Apfel. Seit wann muss bei dir etwas zueinanderpassen? Welche Vorspeisen sollen wir anbieten, welches Dessert? Was für eine Frage – natürlich Gudruns Apfelsinentorte!

Es ist wie früher. Herrlich chaotisch und kreativ. Jeder weiß alles besser. Insbesondere, wenn es um Wild geht. Da kennen sich alle Eifeler gut aus. Hier wird schließlich genug geschossen. In Texas auch, weshalb David aufgefordert wird, zu den Rehkeulen ebenfalls seinen amerikanischen Senf dazuzugeben. Nur mir, der Berliner Pflasterpflanze, die einst ofenfertig zubereitete Fleischscheiben im Laden gekauft hat, wird die Kompetenz für frisch erlegtes oder mutmaßlich überfahrenes Wild aberkannt. Ich hätte zwar originelle Ideen für Speisenzusammenstellungen, meinen die anderen, sei aber mit der Technik des traditionellen Zubereitens von Bambis aus Eifeler Wäldern betrüblich unvertraut.

»Bei siebzig Grad wird ganz und gar nichts gar«, versichert Gudrun, und Jupp nickt dazu.

»Ich esse nichts mit Blut am Knochen«, versichert Hein. »Das fließt bei nur siebzig Grad bestimmt immer noch. Und was ist mit den Bakterien?«

»Die sind bei sechzig Grad alle mausetot«, erkläre ich.

»Wie kommst du überhaupt auf diese wahnwitzige Idee?«

»Von Regine«, sage ich leise. »Und die hat es von einem Hobbykoch. Von diesem Internetmann, mit dem Gudrun sie verkuppeln wollte. Sie fand den Typ nett. Wer weiß, vielleicht wäre aus den beiden was geworden, wenn Hermann mit seinem Reisebus damals vor der Einkehr der Sprit nicht ausgegangen wäre.«

Ich mühe mich, normal zu atmen, habe aber alle Sinne gespitzt. Doch keiner der anderen scheint den Fremden aus dem Internet in Verdacht zu haben oder ihm den Schwarzen Peter zuschieben zu wollen.

»Dann sollten wir es ausprobieren«, sagt Jupp.

Seine Stimme klingt sehr feierlich. Als könnten wir mit dieser Garmethode der Lebensgeschichte von Regine noch posthum eine glücklichere Wendung geben. Als sei die Begegnung mit Hermann schuld an ihrem Tod. Was nicht unwahrscheinlich ist.

Die anderen nicken betroffen.

»Genau das Richtige für den Leichenschmaus«, sagt Gudrun. »Regine zu Ehren. Und wenn es nichts wird, sagen wir, dass dieses Rezept ihr Vermächtnis war. Dann traut sich keiner, sich über Blut am Knochen zu beschweren. Vielleicht sollten wir ihn doch auslösen. Wäre gut für die Soße.«

Niemand widerspricht.

Ich staune, wie schnell alles plötzlich wieder in geordneten Bahnen zu fließen scheint. Und mühe mich, meinen Argwohn und Marcels bösen Satz zu verdrängen: Das schränkt den Kreis der Tatverdächtigen doch immens ein.

In meiner Restaurantküche wird wieder geschimpft, geflucht, sich gegenseitig im Weg gestanden und gemeinsam geschnippelt, gebrutzelt und sogar gelegentlich gelacht. Auf einmal herrscht wieder eine Normalität, die ich seit Wochen nicht mehr für möglich gehalten hätte. Wir sind endlich wieder ein Team. Und wir kochen für uns.

Dennoch muss ich ständig an Hermann denken. Der Marcel gerade etwas Wichtiges erzählt, was er ihm in der Nacht und mir am Morgen verschwiegen hat. Schlimm, dass ich einem verkaterten übernächtigten Mann, dem ich in meinem eigenen Haus relativ freundlich zugewandt gewesen war, dieses Geheimnis nicht habe entlocken können. Ich lasse nach. Warum nur besteht er auf einer offiziellen Aussage? Er hat Regine nicht umgebracht, sagt er, aber irgendeine sachdienliche Information zur Tat hat er offenbar zurückgehalten.

Nur welche? Wenn er sich wirklich die ganze Zeit in Meerfeld aufgehalten hat, kann er nichts über den Mord wissen. Wer steht ihm nahe? Wen könnte er schützen wollen? Vielleicht seine Schwester? Ist die puppengesichtige Frieda doch nicht die patente alte Dame, als die ich sie erlebt habe, sondern eine ganz kühl berechnende Frau? Die ihren kleinen Bruder nicht loslassen kann und darum die Konkurrenz um dessen Zuwendung erschlagen hat? Könnte Geschwisterliebe wirklich so weit gehen? Als Einzelkind kann ich mir dazu kein Urteil erlauben.

Nur wie hätte Frieda Regine ermorden können, wenn sie zum Zeitpunkt der Tat in ihrem Haus von der Leiter gefallen und kurz darauf nachweislich im Prümer Krankenhaus aufgenommen worden ist?

»Mensch, Katja, pass doch auf«, schimpft Gudrun, als ich gedankenlos das heiße Ofenblech anfasse, auf das sie gerade Kartoffelschnitze mit Rosmarin verteilt hat. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken!«

»Bei Marcel«, sage ich, weil sie das bestimmt verstehen wird.

»Der gerade was macht?«, erkundigt sich Hein.

»Er vernimmt Hermann.« Dann berichte ich von meinem Morgen und meinen Zweifeln.

»Nein«, sagt Jupp, als ich geendet habe. »Ich kenne Hermann kaum, aber ich bin ganz sicher, dass er Regine nicht umgebracht hat.«

»Es war die Schwester«, beißt sich Gudrun wieder an ihrer Lieblingstäterin fest, »die war eifersüchtig auf Regine.«

»Vielleicht war sie eifersüchtig«, sage ich, »aber sie hat Regine nicht ermordet.«

»Genau«, stimmt David zu. »Eine clever lady, sieht man schon an den Augen, immer wachsam. Die hat andere Methoden, ein Liebchen vom Bruder loszuwerden, als mit Waffeleisen, sure

»Vor allem hat die Frau ein unschlagbares Alibi«, füge ich hinzu. »Sie kann schlecht gleichzeitig in einem Haus von der Leiter fallen und in einem anderen Regine erschlagen.«

»Wieso Leiter?«, fragt Gudrun misstrauisch.

»Weil sie die Gardinen zum Waschen abhängen wollte. Plumps, lag sie auf dem Boden und konnte sich nicht mehr rühren. Ist zum Glück von Herrn Meissner direkt ins Krankenhaus gebracht worden.« Ich sehe Gudrun eindringlich an. »Und zwar ungefähr zu der Zeit, als Regine in meinem Haus ermordet wurde.«

Gudrun schüttelt den Kopf. »Wer wäscht schon im Winter Gardinen?«

Und dann fahren alle Köpfe hoch. Die Tür der Einkehr ist zugeschlagen.

»Ich bin wieder da!«, ruft Jakob Perings.

Nicht allein. Er ist mit Petronella Schröder tatsächlich den ganzen Weg von Krewinkel auf die Kehr hinaufgestapft. Die beiden haben zwar rote Gesichter, wirken aber nicht sonderlich erschöpft. Ganz schön zäh, die alten Herrschaften.

»Wir müssen über eure Gans reden«, sagt Perings so eindringlich, als hätten wir keine anderen Sorgen.

Die Gans. Mir läuft es heiß und kalt über den Rücken. Ich habe das Viech weder gestern noch heute gefüttert, es sozusagen gänslich vergessen. Wahrscheinlich hätte ich das schneeweiße Tier in der winterlichen Landschaft nicht einmal sehen können, wenn es vor meinem Fenster verzweifelt auf und ab paradiert wäre. Ich habe es auch nicht schnattern hören. Vielleicht ist es sogar schon tot? Erstarrt vor Kälte und Lieblosigkeit?

Wenigstens diese Sorge nimmt mir Jakob Perings.

»Wir haben die Gans eben besucht und ihr Apfelschnitze mitgebracht.«

»Ich sollte sie den Winter über wohl ins Haus nehmen«, sage ich hilflos. »Damit sie nicht erfriert.«

Frau Schröder lacht vergnügt. »Keine Sorge, Gänse können draußen bleiben. Die sind für den Winter gemacht. Dafür haben sie doch ihre Daunen.«

»Die man ihnen früher in der Eifel bei lebendigem Leib herausgerissen hat«, sagt Jupp erschaudernd. »Lebendrupf heißt das. Dabei hat man ihnen manchmal die Knochen gebrochen. Und die Haut kam oft auch gleich mit.«

»Wie furchtbar!«, rufe ich entsetzt. »Warum wurden die Gänse nicht erst nach der Schlachtung gerupft?«

»Man brauchte das Tier ja noch für zu mästen«, erklärt Perings. »Für die Stopfleber zum Beispiel. Die Federn wachsen nach. Mehrere Ernten sind eben lukrativer.«

»Ich habe meine Gänse immer erst an Weihnachten gerupft. Nach dem Schlachten«, versichert Petronella Schröder.

»Nicolina wird nicht geschlachtet«, bestimmt Gudrun störrisch.

Seltsam, denke ich, früher kannte sie solche Skrupel nicht. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie sich auf das schöne Fell von Kälbchen gefreut hat, die sie selbst auf die Welt gebracht hatte. Um sich gleich nach der Schlachtung daraus etwas Hübsches zu nähen. Weshalb diese plötzliche Sentimentalität? Hat sie etwa ein schlechtes Gewissen? Nein, ich darf meine Freundin nicht verdächtigen. Sie hat in den vergangenen Jahren eine Wandlung durchgemacht. Eine Entwicklung, wie ich sie ja auch an mir selbst beobachte. Ich bin nicht mehr die Berliner Katja, die aus der Großstadt in die Eifel gepoltert kam und alles besser gewusst hat.

»Was habt ihr dann mit der Gans vor?«, fragt Frau Schröder verwundert.

»Kann man Gänseeier essen?«, fragt David.

»Schmecken ziemlich streng«, antwortet Gudrun. »Aber man kann Nicolina ja die Eier ausbrüten lassen, wenn man einen Ganter dazuholt.«

»Nein danke«, sage ich freundlich. »Eine Gans reicht.«

»Ist eigentlich eine zu viel«, wirft Hein ein. »Jetzt, wo Regine nicht mehr …« Seine Stimme verliert sich.

Er hat recht.

Ich blicke auf unsere Anrichte. Wo die Reste einer anderen genießbaren Kreatur liegen. Zwei Rehkeulen warten darauf, bei Niedrigtemperatur geschmort zu werden. Man kann Empfindsamkeit auch übertreiben. Die Gans mag einen Namen haben, aber keiner von uns hat eine Beziehung zu ihr aufgebaut. Wir alle haben ihre Artgenossen ungerührt in Tiefkühltruhen der Supermärkte betrachtet. Sie bisher nur deshalb von unserem Speiseplan ferngehalten, weil uns das Fleisch zu fett ist.

»Die Gans gehört Ihnen, Frau Schröder.«

Was ganz und gar der Wahrheit entspricht. Das Vieh ist mit Sicherheit von Krewinkel auf die Kehr gewatschelt und hat uns ordentlich erschreckt. Mein Gott, inzwischen sind Unzeiten und ein ganzes Leben vergangen.

»Wie schön!«, ruft die alte Frau begeistert. »Was wollen Sie für das Tier haben?«

»Nichts.«

»Umsonst ist nur der Tod«, sagt Petronella Schröder, erschrickt kurz vor diesen unbedacht geäußerten Worten und bedankt sich dann eilig.

»Frau Katja, ich bin ja so glücklich! Für Weihnachten sind Sie und Ihre Freunde bei uns eingeladen! Sie dürfen jetzt nicht Nein sagen …«

»Nellchen«, wirft Jakob Perings sanft ein. »Du kannst nicht so einfach über andere Leute entscheiden. Die haben auch Familien.«

Nein, denke ich. Keiner von uns hat eine. Wir sind eine. Oder zumindest waren wir früher so etwas wie eine Familie.

»Entschuldigung«, flüstert Petronella Schröder. »Ich meine nur, wenn Sie auf Weihnachten nichts anderes vorhaben …«

Eene jut jebratene Jans ist eene jroße Jabe Jottes, fällt mir ein alter Berliner Spruch ein. Es wäre unchristlich, eine solche Gabe zurückzuweisen.

Ich gebe mir einen Ruck. »Danke. Ich komme sehr gern.« Und werde reichlich Beilagen mitbringen.

»Katja!«, fährt mich Gudrun an. »Nicolina …«

»… ist und bleibt eine Gans«, vollendet Jupp grimmig ihren Satz. »Trotzdem ist es nicht richtig, wenn sie zu Weihnachten geschlachtet wird.«

»Du bist so was von herzlos, Katja«, sagt Gudrun, als ich nicht reagiere, wendet mir brüsk den Rücken zu und beginnt wütend die Anrichte zu putzen.

»Sie ist nur realistisch«, bemerkt Hein. »Weihnachten isst doch jeder Gänsebraten. Du hast uns letztes Jahr auch einen vorsetzen wollen, weißt du noch?«

»Halt die Klappe, Hein! Du wolltest Nicolina am Anfang ja sogar erschießen!«

»Erschießen?«, flüstert Petronella Schröder erschüttert. »Eine Gans? Warum das denn?«

»Gnade!«, meldet sich unser Amerikaner plötzlich zu Wort. »Wie mein Präsident Thanksgiving immer ein Truthahn begnadigt.«

»Ja«, ruft Gudrun begeistert. »Gnade für die Gans! Ich liebe dich, David!«

»Ich hab da eine Idee, Nellchen«, sagt Perings. »Was hältst du davon, wenn ich dir einen Ganter schenke? Für eine eigene kleine Zucht? Und für Weihnachten kaufen wir eine ganz fremde Gans, eine, die hier keiner kennt, eine aus Polen.«

Wortlos schreitet Gudrun zum Getränkekühlschrank, zieht eine Flasche Sekt heraus und stellt sie auf die Anrichte.

»Das muss gefeiert werden«, frohlockt sie, als wir plötzlich eine fremde Stimme im Flur hören: »Hallo? Ist hier jemand?«

»Ich geh schon«, sage ich zu den anderen.

Im Flur stehe ich einem fremden alten Mann gegenüber. Er ist klein, verhutzelt und so formell gekleidet wie die meisten Eifeler Landwirte zum Kirchgang. In der Hand hält er ein paar Chrysanthemenstängel. Seine braunen Augen leuchten.

»Pardon«, sagt er mit dem unverkennbaren Akzent der deutschsprachigen Belgier. »Sind Sie Frau Klein?«

Ich nicke.

»Tochter von Anna Klein und von Karl Christensen?«

Die bin ich. Aber als solche noch nie angesprochen worden. Meine Knie werden weich. Ich würde mich gern setzen.

»Und wer sind Sie?« Entsetzt bemerke ich, dass meine Stimme zu einem heiseren Flüsterton herabgesunken ist.

»Backes. Josef Backes.«

Ein Name, den ich irgendwann schon mal gehört habe.

»Kenne ich Sie?«

»Nein, nein. Ich komme nicht wegen Ihnen. Aber ich habe Ihre Eltern gekannt, den Karl und die Anna. Und gehört, dass Fräulein Henkes, ich meine Frau Schröder, jetzt bei Ihnen ist. Stimmt das?«

Ich brauche nicht zu antworten. Petronella Schröder, geborene Henkes, steht bereits neben mir. Sie wird bleich und fasst sich ans Herz.

»Jupp!«, keucht sie. »Was machst du denn hier!«

Auch Jakob Perings eilt herbei. Feindselig starrt er Herrn Backes an.

»Grenz-Echo«, sagt der dumpf. »Ich habe alles gelesen, Petronella. Und im Radio gehört. Das von dem Briefträger damals. Der …« Er wirft Perings einen ungehaltenen Blick zu. »… hier an einem so wichtigen Tag ermordet wurde. Deshalb also …«

»Zapperloot noch mal, ist das der Grund, weswegen du zurückgekommen bist, Jupp?«, fährt ihn Perings an. »Ist dir jetzt erst in den Kopf gekommen, dass Nellchen sich an eure Abmachung von damals gehalten haben könnte? Diese herzensgute Frau ist wirklich zu schade für dich. Auf dein ganzes Geld und deine Frauengeschichten hast du dir ja immer schon was eingebildet, aber wieso hast du deine ganze Zukunft von einer goldenen Kette abhängig gemacht? Für die mein Bruder vielleicht sterben musste?«

»Jakob Perings?«, fragt Backes unsicher.

»Wie er leibt und lebt.« Perings legt schützend seinen Arm um die zitternde Frau Schröder. … und liebt, setze ich für mich hinzu.

Aus ganz tiefer Brust entlässt Backes einen Seufzer. Keiner sagt mehr etwas. Petronella Schröder hält Jakobs Hand fest. Farbe ist wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt. Ihre Augen blicken traurig, aber um ihren Mund spielt so etwas wie ein triumphierendes Lächeln.

»Wir haben heute leider geschlossen«, melde ich mich, als sich die drei alten Eifeler nach langer Zeit immer noch schweigend beäugen.

Backes starrt weiter von Petronella Schröder zu Jakob Perings und wieder zurück. Sagt schließlich: »Also war alles umsonst. Die weite Reise. Die Blumen.« Er drückt mir die Chrysanthemen in die Hand. »Ich wusste, dass auf dich kein Verlass ist, Petronella, das mit uns hätte nie geklappt.«

Und dann ist er genauso schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Vor der Tür heult ein Motor auf.

»Nein«, flüstert Frau Schröder. »Hätte es nie.«

Jetzt hat sie tatsächlich Tränen in den Augen. Es dauert sehr lange, ehe sie ihren Blick von der geschlossenen Tür nehmen kann.

»Was war das denn?«, fragt Gudrun, als wir in die Küche zurückgekehrt sind.

»Nichts«, sage ich. »Da hat sich nur jemand verirrt.«

»Mit Beerdigungsblumen.« Gudrun nimmt mir den Strauß ab. »Bestimmt wegen Regine. Sehr nett.«

»Ihr seht aus, als ob Euch ein Gespenst begegnet ist«, sagt Jupp zu Frau Schröder.

Die nickt nur, zieht Papier von der Küchenrolle und schnäuzt sich ordentlich.

»Armer Mann«, bemerkt sie dann sehr gefasst.

»Nicht übertreiben«, mahnt Jakob Perings.

»Welcher arme Mann?«, will Gudrun wissen.

»Der, den ich mal heiraten wollte«, schluchzt Petronella Schröder, und dann bricht die ganze Geschichte aus ihr heraus. Gudrun schenkt ihr ein Glas Begnadigungssekt ein und hört mit leuchtenden Augen zu, wie es vor über einem halben Jahrhundert um die Liebe in der Westeifel gestanden hat.

»Eine goldene Kette wäre auch schön«, sagt sie mit einem Seitenblick zu David, als Petronella geendet hat.

An die David endlich gelegt werden soll. Schließlich hatte Hermann seiner Regine auch eine Kette zur Verlobung geschenkt.

Aus Rücksicht auf Davids Unbehagen wechsele ich das Thema und schlage Perings vor, eine neue Matratze zu kaufen. Für ihn sei das nicht mehr nötig, wehrt er ab, da er auch die nächsten Nächte bei Frau Schröder verbringen wolle.

Gudrun wirft mir einen triumphierenden Blick zu.

»Vielleicht ziehe ich sogar ganz in die Eifel zurück«, sagt der alte Herr und streichelt die Hand der Krewinklerin.

»Wie komisch«, sinniert Petronella Schröder, »jetzt hat mir mein Medalljong doch noch Glück gebracht. Weil ich es nicht mehr habe. Das Medalljong, meine ich.«

Hein schlägt vor, eine Zeichnung des Schmuckstücks anzufertigen und im Internet zu verbreiten. »Vielleicht kann man so doch noch auf die Spur des Mörders kommen.«

»Der hat es bestimmt schon vor Jahrzehnten versetzt«, sagt Perings.

»Man muss nicht Medaillon finden, sondern Grund für den Mord«, sagt David. »Vielleicht war nicht der Briefträger der Grund, sondern dein Bruder Siegfried.«

»Jemand, der wütend auf ihn war und wusste, dass er in ein leeres Haus kommen würde!«, ruft Gudrun aufgeregt, und dann werden alle Theorien hin und her gewälzt, die schon Wochen zuvor allesamt verworfen worden sind.

Ich höre bestürzt zu, wie wichtig ein Mord vor so langer Zeit war und wie wenig erwähnenswert jener, der erst gestern in meinem Haus verübt worden ist. An einer Freundin von uns allen. Wie dankbar jeder der Anwesenden zu sein scheint, dem Thema des Mordes an unserer Freundin ausweichen zu können.

Für mich macht das jeden Einzelnen verdächtig, ob ich das nun will oder nicht. Einer von uns muss es gewesen sein. Und ich weiß nur, dass ich es nicht war.

»Und jetzt ist es wieder geschehen«, sagt schließlich ausgerechnet Jakob Perings. »An genau derselben Stelle.«

Womöglich mit genau derselben Tatwaffe?

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Urknall: Nach dem Knochenfund hatte der Gerichtsmediziner aus Lüttich von einer kleinen Bratpfanne gesprochen. Täte es auch ein großes Waffeleisen? Eines, das über ein halbes Jahrhundert lang auf dem Dachboden meines Hauses gelagert hat? Zugeklappt etwa vierzehn mal siebzehn Zentimeter groß, mit einem langen Stiel? Ich schicke sofort eine SMS an Marcel.

»Was tust du?«, fragt David.

»Am Anfang war die Welt nur so groß wie ein Gedanke«, zitiere jetzt ich und wende mich an Jakob: »Vielleicht ist Euer Bruder sogar auf dieselbe Weise zu Tode gekommen wie Regine.«

Den Respekt gebietenden Herrn zu ihrzen fällt mir tatsächlich erheblich leichter, als ihn vertraulich anzusprechen.

»Ja, das ist alles so furchtbar unerfreulich!«, sagt Gudrun und legt demonstrativ die Hand auf den Bauch.

Petronella Schröder beugt sich zu ihr hin und berührt ihre Hand. »Schon einen Namen?«, fragt sie flüsternd.

Wieder dieses Ausweichen. Bloß nicht über Regines Tod reden. Hat Frau Schröder bisher überhaupt grandios vermieden. Was man ihr angesichts ihres späten Glücks wohl nachsehen sollte.

Gudrun hebt die Schultern und blickt David fragend an.

»Das Waffeleisen …«, setze ich nach.

Jakob Perings stellt sein halb volles Sektglas ab. »Ich packe dann mal meine Sachen.«

»Ja, Eure Fotos«, sage ich, weil ihm ja wirklich nicht viel zu packen bleibt. Es sei denn, er will Petronella Schröder auch mit seinen diversen Reinigungs-, Möbel- und Bodenpflegemitteln so beglücken wie mich.

»Hast du sie dir angeschaut?«

»Nein. Ich habe mich nur gefragt, wo die Rahmen hergekommen sind.«

»Aus Sankt Vith. Ich habe die Bilder so lange in meiner Brieftasche mit mir rumgetragen; es wurde Zeit, ihnen ein ordentliches Zuhause zu geben. Vor allem jetzt, weil ich wieder zurück bin.«

»Und wer ist darauf?«

»Meine Familie«, sagt Jakob und strebt zur Tür. »Moment mal.«

Er kehrt mit den verblichenen Fotos im Silberrahmen zurück.

Pflichtschuldig betrachten wir uns die vier abgebildeten Menschen. Und dann sehen wir fünf, David, Hein, Jupp, Gudrun und ich, einander entsetzt an.

Jupp tippt mit einem großen Finger auf einen Kopf.

»Das ist doch …«, sagt er fassungslos.

»Mein Vater«, sagt Jakob Perings. »Er war ein wundervoller Mensch. Deshalb bin ich hier im Restaurant wohl fast gestorben. Die Ähnlichkeit, nun ja, die hat mich eben umgehauen. Eine andere Erklärung dafür habe ich nicht.«

»Diese reicht völlig«, flüstere ich wahrhaft erschüttert.

Auf dem uralten Familienfoto der Familie Perings lacht mir Hermann Kerschenbach entgegen. Unverkennbar.