Kapitel 1
Hühnersuppe
mit Karotten, feinen Lauchringen, Ingwer, Zitronengras, klein gehackten Zwiebeln, Koriander, Chilischoten, einem Hauch Knoblauch, braunem Zucker, Sherry, Kokosmilch, einer Prise Kreuzkümmel, Kurkuma und frischen Orangen
Oktober
Niemand weiß, wo die Gans hergekommen ist. Sie ist einfach da, steht frühmorgens keck erhobenen Hauptes auf den Stufen meines Restaurants und schnappt nach jedem, der sich der Tür nähert. Linus hat schon beim ersten Zischlaut seine Kampfhundgene vergessen und das Weite gesucht.
»Freches Biest«, beschimpft Gudrun den Entenvogel und wagt beherzt einen weiteren Vorstoß. Doch auch die landwirtschaftlich Geschickteste unter uns muss sich wieder zurückziehen. Unter dem Triumphgeschnatter einer Gans, die weiß ist und viel wilder als all ihre grauen Artgenossen, die uns Konrad Lorenz nahegebracht hat.
»Wir sollten den Jäger anrufen«, schlägt Hein vor, was Jupp zum Glück nicht hört, da er mit dem Handy am Ohr zur Seite getreten ist, um sich bei den Bauern der Nachbarschaft nach einer abgängigen Gans zu erkundigen.
»Hol lieber einen Besen!«, schnauzt ihn Gudrun an.
»In zwei Monaten ist Weihnachten«, fährt Hein fort. »Wir könnten sie einfrieren …«
»Mit einer Kugel im Kopf?«, fragt Regine empört. »Wir müssen geduldig sein. Die Gans kann nichts dafür, dass sie eine Gans ist. Sie glaubt, dass sie dieses Haus bewachen muss.«
»Wir sind hier doch nicht im alten Rom«, werfe ich ein.
»Was hat das damit zu tun?«, fragt Regine.
»Da haben Gänse das Kapitol bewacht.« Meine Allgemeinbildung trägt zwar nicht dazu bei, unser praktisches Problem zu lösen, untermauert aber hoffentlich meine Autorität. Diese wird von dem Federvieh vor dem Eingang auf eine harte Probe gestellt. Also setze ich noch einen drauf: »Und für die alten Ägypter war die Gans ein Bote, der zwischen Himmel und Erde vermittelte.«
»Was du alles weißt.« Gudrun erbleicht. »Vielleicht will uns Heins Vater aus dem Jenseits etwas ausrichten lassen?«, flüstert sie erschauernd. »Dass hier wieder was Schlimmes passieren wird? Vielleicht ist die Gans ein schlechtes Zeichen?«
»Wir sind hier nicht im alten Ägypten«, sagt David und legt ihr schützend einen Arm um die Schulter.
»Die Zeiten sind zum Glück vorbei«, erkläre ich und meine damit nicht das alte Ägypten. »Heute steht die Gans für Harmonie; sie symbolisiert friedliches Zusammenleben unter Freunden.«
Das habe ich zwar gerade erst erfunden, aber Zeichen entstehen bekanntlich durch ihre Deutung. Es kann nicht schaden, meinen Mitarbeiterfreunden ein friedliches Zusammenleben zu prophezeien.
»Ganz lieb sein«, säuselt Regine plötzlich. Sie hat sich in respektvollem Abstand vor die drei Stufen hingehockt und leise zu singen begonnen. »Schöne Nicolina, feine Nicolina, brave Nicolina.«
»Die spinnt, die Regine!«, bemerkt Hein anerkennend, als die Frau mit dem feurigen Haar immer weiter singend näher an die Gans heranrückt. Wir sind alle ganz still.
»Keine Gans bei niemand weg!«, ruft Jupp uns plötzlich laut zu.
»Psscht!«, fahren wir ihn an. Regine befindet sich jetzt auf gefährlicher Augenhöhe mit der Gans. Die hat das Schnattern eingestellt, sieht Regine aus ihren Knopfaugen geradezu treuherzig an und beginnt sich leicht im Takt zu wiegen.
»Schöne Nicolina, süße Nicolina, weiße Nicolina, treue Nicolina …«
Regine streckt die Arme langsam aus. In der Hocke nimmt sie erst die drei Stufen und dann sehr behutsam die Gans auf den Arm.
»… meine Nicolina!«, beendet sie ihr Lied und streichelt das weiße Tier. Es sieht jetzt so harmlos aus, dass wir uns alle in Grund und Boden schämen.
»Du hast ihr einen Namen gegeben«, bemerkt Hein vorwurfsvoll. »Jetzt können wir sie nicht mehr essen. Warum Nicolina?«
»Klingt nach Gans.«
»Vielleicht ist es ja ein Ganter?«
»Schau doch nach.«
Regine hält ihm die Gans hin.
Hein lehnt dankend ab.
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, frage ich und deute auf die Straße. »Wir können sie nicht frei rumlaufen lassen, sonst wird sie von rasenden Belgiern plattgemacht.«
Jupp bietet sich an, in dem abgezäunten Teil hinter meinem Haus einen kleinen Unterstand für Nicolina zu bauen und eine Zinkwanne herbeizuschaffen.
»Gänse brauchen Wasser. Lass jetzt bloß immer den Deckel auf deinem Whirlpool.«
»Gänse sind wie Schwäne«, sagt Gudrun später in der Küche. »Sie bleiben einander bis zum Tode treu.«
»Und die einsam Hinterbliebene sucht sich ausgerechnet mein Restaurant aus, um ihr Klagelied anzustimmen.«
»Es ist schlimm, wenn der Partner stirbt.« Gudrun drückt bedeutungsvoll die Finger in den Teig für die Dattel-Roquefort-Pizza mit Speck. »Wahrscheinlich ist sie vor Kummer fortgeflogen. Sonst hätten wir ja zwei Gänse. Aber es ist schon ein großes Glück, überhaupt einen Mann gehabt zu haben, Regine.«
»Unsinn«, widerspricht die. »Ich zum Beispiel brauche keinen Mann.«
»Doch. Du willst es nur nicht zugeben. Es ist nicht gut, wenn der Mensch allein ist. Das gilt auch für dich, Regine. Du musst deinem Glück auf die Sprünge helfen. Manchmal kommt es nicht von allein.«
Sie nickt beseligt zum Küchenfenster hinüber, vor dem sich David immer noch vergeblich müht, meinem uralten Wagen auf die Sprünge zu helfen. Mit dem wage ich mich schon gar nicht mehr in die Werkstatt von Karl-Heinz, weil er mir inzwischen jedes Mal zu einem Allradmonster rät, das mich garantiert nicht im Stich lassen, sondern zuverlässig durch den kommenden Eifelwinter schleusen würde. Aber so ein Ding kommt mir nicht vors Haus.
»Der Richtige«, fährt Gudrun fort, »schneit eben nicht jedem so wie mir einfach ins Haus.«
Sie klatscht den Teig auf die Anrichte, greift zur Nudelrolle und walkt die Masse, was das Zeug hält.
Gefährliches Terrain, denke ich, schließlich muss Regine David einst auch für den Richtigen gehalten haben. Bis er sich vor sehr vielen Jahren aus dem Eifeler Staub wieder nach Texas aufgemacht hat, allerdings ohne zu wissen, dass Regine sein Kind erwartete, den inzwischen erwachsenen Daniel.
Als die feuerhaarige Regine vor mehr als zwei Jahren bei uns auf der Kehr auftauchte, war allerdings schon viel Wasser die Kyll hinuntergeflossen. Sie stellte David seinen Sohn vor und weiter keinerlei Ansprüche an den Mann, der damals mit Gudrun in einer Hinterkammer meines Restaurants lebte. Er übernahm Verantwortung für Daniel und schickte ihn nach den fürchterlichen Ereignissen rund um den einstigen Gnadenhof auf der Kehr zur Großmutter nach Texas. Dort hat der Junge auf dem College seinen Schulabschluss gemacht und widmet sich jetzt dem Studium der Tiermedizin, um aus seiner Leidenschaft irgendwann einen Beruf zu machen.
Jene dramatischen Ereignisse haben Regine, David, Gudrun, Hein, Jupp und mich damals zusammengeschweißt. Die Arbeit in meinem Restaurant verschaffte uns allen ein bescheidenes Auskommen, und alles war gut. So gut, dass sich Gudrun, David und Regine in dem frei gewordenen Hof von Davids Vorfahren, der übrigens auch einmal Gudruns Vater gehört hatte, zu einer Wohngemeinschaft zusammenschlossen.
Zwei Frauen und ein Mann. Der sich mit der einen ein Kind und mit der anderen das Bett teilt. Bei aller Freundschaft hielt ich das für eine bedenkliche Konstellation und mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg.
»So kleinkariert sind wir nicht«, zwitscherte Gudrun unter dem Beifall der beiden anderen. Die zwei Frauen, die nie aus der Schneifel herausgekommen waren, und der Mann aus dem Herzen von Texas musterten mich wie das konservierte Relikt einer versunkenen Werterepublik und versicherten, keiner von ihnen hätte mit dieser Situation auch nur das geringste Problem. Also wurde, wie in solchen Fällen üblich, ein gewichtiges hervorgerufen: Für Regine musste ein Mann her, fand Gudrun, und zwar schnell.
Aus Gründen des Proporzes oder der Prophylaxe? Das frage ich mich, aber natürlich nicht sie. Gudrun würde niemals zugeben, sich ihres Texaners so lange nicht sicher zu sein, wie sich das Wörtchen Heirat seinem Deutsch verweigert. Da es Regine aber ablehnt, Trierer, Prümer oder Bitburger Discos sowie Floh-, Wochen- und Mittelaltermärkte abzugrasen, hat Gudrun eine eigene Frau-sucht-Bauern-Castingshow eröffnet. Seitdem scheucht sie alle willigen Junggesellen im näheren Umkreis in die Einkehr. Was den Umsatz kaum mehr steigert als Regines Lust. Keiner der Kandidaten – ganz gleich, wie groß Hof, Mann oder Begeisterung für das Projekt – hat ihr bislang ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern vermocht. Ihre Widerborstigkeit verschlägt jedem den Appetit, und so bleibt es bei einem hastig heruntergestürzten Bier und einer in ihrer Mission gescheiterten Gudrun.
»Wenn ein Mann Glückssache ist, bleibe ich doch lieber solo«, spricht mir jetzt Regine aus dem Herzen. Ich selbst bin zwar nur eingeschränkt solo, aber mit der Massenware, zu der die Sache Glück inzwischen am Bahnhofsbuchständer verkommen ist, hat meine Beziehung zu Marcel nichts zu tun.
»Keine Männer mehr, Gudrun!«, schnaubt Regine. »Den nächsten jage ich gleich vom Hof!« Drohend hebt sie das Messer, mit dem sie gerade Kalbsleber in Streifen schneidet. Ein blutiger Schnitz fällt ab, als sie zum Fenster blickt und überrascht ruft: »Nanu, wer ist das denn?«
Wir folgen ihrem Blick. Ein fremder grauhaariger Mann redet neben der offenen Motorhaube eindringlich auf David ein.
»Viel zu alt für dich«, antwortet Gudrun automatisch.
»Aber nicht für unseren Mittagstisch.« Regine wirft das Messer auf die Anrichte und rückt näher ans Fenster heran. »Schaut mal, er hat sogar eine ganze Reisegruppe mitgebracht! Ist wohl der Fahrer und will was mit David aushandeln.«
Zu meinem Entsetzen sehe ich David bedauernd die Schultern heben und den Kopf schütteln. Dann beugen sich beide Männer wieder über den Motorraum meines alten Autos. Ich reiße rasch das Fenster auf.
»Warte!«, rufe ich. »Das regele ich!«
David richtet sich auf und sieht mich rätselnd an. Seine seltsame Bemerkung: »Wir haben doch gar kein Diesel!« registriere ich kaum, dafür aber die herrliche Tatsache, dass einem kleinen mintgrünen Oldtimer-Reisebus, der vor der Einkehr haltgemacht hat, ganz langsam vergleichbar bejahrte Passagiere entsteigen. Umständlich, aber stetig.
Hühnersuppe.
Senioren lieben Hühnersuppe am Mittag. Von meiner werden sie begeistert sein, allerdings sollten Gudrun und Regine vor dem Servieren sicherheitshalber die hauchdünn geschnittenen Orangenscheiben herausfischen. Das Auge isst mit. Obstschalen im herzhaften Allheilmittelgericht kann man nur wenigen Menschen in einer gewissen Lebensphase mit dem Begriff Bio schmackhaft machen.
Auf diesen Tag hat die extra angeschaffte Kühltruhe im Nebenraum gewartet. Bis oben hin ist sie mit Würfeln tiefgefrorener Hühnersuppe vollgestopft. Die ich vor ziemlich langer Zeit in einem Anfall von Notwendigkeit und Trauerbewältigung gekocht habe. Die Schar mir persönlich bekannter namenloser Hühner habe ich nicht selbst umgebracht. Ich habe das Gemetzel ausgesourct, wie man neudeutsch sagt, meine Hühner aber nach ihrer Enthauptung voller Ehrfurcht gerupft, abgeflämmt, überbrüht, von Häuten befreit und ihnen auf würdevolle Weise das letzte Geleit gegeben. Mit Ingwer, Zitronengras, Karotten, Lauchringen, Zwiebeln, braunem Zucker, Koriander, Chili, einem Hauch Knoblauch, Sojasoße, Sherry, Kokosmilch, einer Prise Kreuzkümmel, Kurkuma sowie ebenjenen Orangenscheiben und einer großen Liebe, die gar nichts mit Glück, sondern mit dem zu tun hat, was geschehen kann, wenn man es mit ihm verwechselt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, die ich den Gästen bestimmt nicht erzählen werde, die jetzt auf die Einkehr zustreben. In ihren Gesichtern lese ich freudige Erwartung. Die ist möglicherweise auf den wundervollen neuen Internetauftritt zurückzuführen, den Hein für unser Restaurant gestaltet hat.
Dass heutzutage jedes vernünftige Unternehmen auf einer eigenen Homepage seine Unverwechselbarkeit propagieren sollte, habe ich eingesehen. Ein Bekenntnis zu Facebook, wie es mir Hein auch aufdrängen wollte, lehne ich allerdings kategorisch ab. Nicht mit mir.
»Wer sich in den Achtzigern gegen die Volkszählung aufgelehnt hat, verwirkt jedes Recht auf Glaubwürdigkeit, wenn er sich Facebook ausliefert«, habe ich ihm gesagt und nur Kopfschütteln geerntet.
»Wir sind inzwischen ein Jahrtausend weiter, Katja. Heute geht es um Präsenz. Das ist doch gut fürs Geschäft. Wir erfinden tolle Namen für deine schrägen Gerichte. Deine Followers werden in Scharen herströmen. Um auszuprobieren, ob man wirklich essen kann, was du da aufschreibst. Das glaubt dir doch keiner. Außerdem kannst du selbst bestimmen, was du von dir preisgibst.«
»Und ich muss mir gefallen lassen, was sogenannte Freunde und Followers von mir preisgeben. Nein danke.«
»Mensch, Katja, was hast du denn schon zu verbergen?«
Dieser blöde Satz. Den hat meine Mutter damals auch geäußert und mich gedrängt, bloß nicht dadurch aufzufallen, dass ich mich der Befragung durch den Staat verweigere. »Ich habe nichts zu verbergen«, hatte sie erklärt. Was übrigens eine eklatante Lüge war, wie ich bei meiner Ankunft in ihrer heimatlichen Eifel drastisch erfahren durfte. Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn sie früher weniger verborgen gehalten hätte. Nicht vor der Welt, sondern vor mir, ihrer Tochter. Selbst wenn es damals schon Facebook gegeben hätte und sie dort Mitglied gewesen wäre, hätte ich mit Bestimmtheit keinen Deut mehr über ihr Vorleben erfahren, nur alles über ihre Vorlieben, die ich ohnehin kannte. Bis auf die nicht ganz Unwesentliche für den verheirateten Mann in der Eifel, den ich nie kennengelernt habe, aber dessen Tochter ich bin und dessen Haus mir heute gehört. Dessen Existenz schon erloschen war, als ich von ihr erfahren hatte. Was ich nicht wusste, als ich in Vor-Facebook-Zeiten meinen Erzeuger in der Eifel aufsuchen wollte und über die Leiche eines Mannes gestolpert bin, der mein Halbbruder gewesen sein soll. Fürchterliche Erinnerungen prägen meine Ankunft in der Eifel. Wie hätte ich damals ahnen können, dass die Pflanze meiner Zukunft auf dem Dung der alten Zeit so wohl gedeihen würde! Auch wenn ich später unter Tränen Hühnersuppe brauen sollte. Die heute ihren Auftritt haben wird.
Ich trete vor die Tür und brauche kein künstliches Lächeln aufzusetzen. Ich bin in Hochstimmung. Ein Reisebus! Wenn sich erst mal rumgesprochen hat, wie phantasievoll wir hier fast im Verborgenen kochen, werde ich mich mit Parkplatzproblemen konfrontiert sehen! Wie viel würde es wohl kosten, den Vorhof meines Privathauses auf der belgischen Seite zu einem Parkgelände umzubauen?
»Guten Tag«, begrüße ich eine stämmige weißhaarige Dame, die erheblich flotter als die hinter ihr Gehenden bereits bei den Stufen angekommen ist und sehr ausgehungert aussieht.
»Ist das ein Gasthaus?«, fragt sie knapp und öffnet den obersten Knopf ihrer grünen Lodenjacke.
»Sie sind herzlich willkommen.« Ich breite die Arme zu einer einladenden Geste aus.
Ein Strahlen fliegt über ihr faltiges Puppengesicht.
»Gott sei Dank! Dann habt Ihr wenigstens eine Toilette.«
Bevor ich diese Bemerkung verdaut habe, ist sie schon an mir vorbei ins Haus gestürmt. Drei weitere Frauen sind ihr auf den Fersen, dahinter ein Mann mit gequältem Gesicht.
»Der Bus hat eine Panne«, sagt David.
»Panne?«
Meine Stimme klingt mir sehr schrill in den Ohren.
»Ja, entschuldigen Sie bitte«, meldet sich der Grauhaarige neben ihm und deutet auf die Schar der Strömenden. »Ich bin der Busfahrer, und meinem Setra ist leider der Diesel ausgegangen. Wir sitzen fest.«
»Hier?«
»Ja.«
Er nickt zum Bus hinüber, aus dem gerade sehr umständlich ein Rollator herausgehievt wird. »Genau vor Ihrer Tür, und jetzt wollte ich fragen …«
»Nur ein Damenklo!«, gellt eine klagende Stimme aus dem Haus. »Ich halte das nicht mehr aus!«
»Dann geh eben auf Männer«, dröhnt ein Bass, »da ist auch eine Kabine.«
»Und noch peinlichere Keramik, ogottogott … Herbert, das geht wirklich nicht, nein …«
Eine andere Stimme: »Schnell! Ich muss wirklich dringend.«
»Nun mach schon!«
Der Grauhaarige mit den witzigen Doppelgrübchen im Kinn schüttelt verzweifelt den Kopf. »Tut mir so leid, junge Frau! Dass ich Ihnen solche Umstände mache. Ausgerechnet auf meiner ersten Kaffeefahrt …«
»Kaffeefahrt!«, töne ich voller Verachtung. »Arme alte Leute stundenlang herumfahren, um ihnen bei einer Plörre namens Kaffee überteuerte Heizdecken und Migränebrillen anzudrehen! Wundermittel gegen Harndrang haben Sie wohl nicht im Angebot?«
Er hört, was ich höre; den Mann, der am Eingang zur Einkehr umstandslos fragt: »Wo ist Ihr Garten?«
Gudrun: »Wieso?«
Regine: »Danke, aber unser Gemüse düngen wir schon selbst! Warten Sie bitte, bis Sie an der Reihe sind. Setzen Sie sich erst mal. Möchten Sie was trinken?«
»Kein Busch, nirgendwo?«
»Hühnersuppe!«, trällert Gudrun. »Beruhigt die Nerven. Hilft beim Zusammenreißen!«
»Wo ist Ihr Animateur?«, belle ich den Busfahrer an. »Irgendjemand muss das hier doch koordinieren. Eine Kaffeefahrt …«
»Nein, nein.« Abwehrend hebt er die Hände. »Das ist was anderes. Wir sind eine anständige Kaffeefahrt. Wir wollen in Belgien Kaffee kaufen. Den Grenzmarkt besuchen, die Krippana und die Eisenbahnausstellung. Alles ganz ehrlich. Kein Aminatör mit Heizdecken oder so.«
»Diese Wasserrechnung wird mich ruinieren!«
»In Belgien ist Diesel billiger«, wirft David ein.
»Ich muss knapp kalkulieren«, vertraut mir der Fremde an, »und da dachte ich, dass ich es bis zur Tankstelle gerade noch schaffe …«
Aus dem Inneren meines Restaurants dringen Stöhnen und Eifeler Flüche, die ich inzwischen verstehen kann. Es drängt bei allen. Aber es gibt nur zwei Toiletten. Und eine ganze Kühltruhe voller herrlicher Hühnersuppe …
»Wir führen keinen Sprit. Jedenfalls keinen, der Ihren Bus antreiben könnte.«
»Ja, ja, deswegen habe ich gerade mit Ihrem Mechaniker gesprochen.« Er nickt unglücklich zu David hin, der diese unzutreffende Berufsbezeichnung unwidersprochen lässt. »Es sind ja nur noch ein paar Hundert Meter bis zur Zapfsäule. Ob ich mit Ihrem Wagen meinen Kanister …«
»Der Wagen geht nicht, und deshalb gehen Sie lieber«, verkünde ich so hochnäsig, wie es einer Frau eben möglich ist, die Essen an Leute bringen will, die sehr hörbar anderswo Verzehrtes bei ihr loswerden wollen.
»Geht doch«, murmelt David.
»Geht doch?«, wiederhole ich verwirrt.
»Geht doch!«, ruft uns Regine fröhlich zur Tür hinaus zu. »Alles unter Kontrolle. Die Herrschaften wünschen Hühnersuppe.«
»Der Mann versteht was von Lichtmaschinen«, sagt David. »Dein Wagen geht wieder, Katja. Dafür könnten wir Herrn …«
Er sieht den Grauhaarigen fragend an.
»Kerschenbach«, stellt der sich eilig vor und kratzt sich am Zwillingsgrübchen, »Kerschenbach, Hermann.«
»… Herrn Kerschmann doch entgegenkommen, oder?«
Tellerklappern und Besteckklirren übertönen jetzt das Schlagen der Toilettentüren. Das ist Musik in meinen Ohren.
»Geh schon«, sage ich zu David. »Fahr den Mann runter zur Tankstelle.«
Ich umarme ihn und flüstere ihm ins Ohr: »Lasst euch Zeit. Alte Leute essen langsam. Außerdem möchten sie bestimmt einen Nachtisch. Komm also bloß nicht in Lichtgeschwindigkeit zurück.«
Mit einer solchen stürzt Linus über die Straße. Jupp hinterher.
»Katja«, japst er. »Dein Takenschaaf, da haben wir was gefunden.«
Wie auf Kommando legt Linus einen Knochen vor mir ab.
Hermann Kerschenbach beugt sich vor.
»Da sind noch mehr«, ächzt Jupp. »Der Kaminbauer hat so was noch nie gesehen. Ich auch nicht. Marcel soll sofort herkommen. Ruf ihn an, Katja. Mach schon! Das ist ganz furchtbar!«
Ich verstehe überhaupt nichts. Linus buddelt dauernd Dinge aus und hat mir schon unendlich viele unansehnliche graue Knochen vorgesetzt. Er lässt zu, dass der Busfahrer den für mich bestimmten aufhebt.
»Ich könnte mich irren«, sagt Hermann Kerschenbach langsam, »aber …«
»Aber was?!«
Er reicht mir das Stück so vorsichtig, als bestünde es aus Porzellan. »Für mich sieht das nach einem Unterschenkelknochen aus.«
»Na und? Von was für einem Tier? Sitz, Linus!«
Der Busfahrer wechselt einen Blick mit Jupp.
»Kein Tier«, sagt Jupp heiser und ringt die riesigen Hände, ohne die weder mein Restaurant in Deutschland noch mein Privathaus in Belgien auskommen können.
»Den Schädel haben wir auch gefunden. Im Schutt von der Wand, Katja, da, wo du deinen Kamin hinhaben willst.«
»Was sagst du da?«
»Hier schwimmt eine Apfelsinenschale«, höre ich es aus dem Restaurant greinen und gleich darauf Regines beschwichtigende Stimme: »Die können Sie essen. Die hebt das Aroma.«
»Eierlikör«, meldet sich eine Frauenstimme. »Haben Sie denn keinen Eierlikör?«
Jupps Antwort hebt meine Stimmung nicht.
»Ein Skelett, Katja. In deiner Wand. Jemand ist da begraben worden.«
»Offenbar eingemauert«, sagt der Busfahrer finster.
Ich weiche zurück. Vor dem Knochen, vor dem Fremden, vor der ungeheuerlichen Behauptung, die da aufgestellt worden ist. Und vor dem Gedanken, jahrelang mit einer Leiche zusammengelebt zu haben.