Kapitel 2
Wildfond vom Knochen
mit Knollensellerie, Möhren, Zwiebeln, Knoblauch, Johannisbeergelee, Sternanis, Piment, Sojasoße, Zartbitterschokolade und Portwein bei schwacher Hitze köcheln lassen
Eine Woche später
»Du hast wirklich geglaubt, dass die Knochen beim Bau des Hauses aus Versehen mit eingemauert wurden?«, fragt mich Hein fassungslos. Wir alle haben uns an diesem frühen Morgen um den großen runden Tisch im Gastraum versammelt und löchern Marcel mit Fragen.
Vor genau einer Woche haben Jupp und der Kaminbauer die Überreste eines Menschen in der Wand meines Wohnzimmers gefunden. Die Knochen lagen zwischen dem Bauschutt in jenem ehemaligen Hohlraum, durch den einst die Herdwärme von der Küche, abgetrennt durch die eiserne Takenplatte, in die gute Stube geleitet wurde. Von der Existenz dieses sogenannten Takenschranks, oder, wie Jupp sagt, Takenschaafs in der Wand hatten wir keine Ahnung gehabt, als wir planten, unter dem alten Schornstein meinen neuen Kamin zu bauen. Auf den ich jetzt gar keine Lust mehr habe.
Wie sollte vor ihm jemals Gemütlichkeit aufkommen können? Es würde mich eher frösteln, in romantisch flackerndes Feuer auf genau jenes Loch zu blicken, in dem einst ein Mensch eingemauert worden war. Und zwar leider nicht vor mehr als hundert Jahren, wie ich gehofft, was aber der belgische Gerichtsmediziner nach nur einem Blick schon bezweifelt hatte. Aus den Überresten konnte er sogar schon herauslesen, dass dem armen Opfer zuvor der Schädel mit einem breiten, stumpfen Gegenstand eingeschlagen worden war. Möglicherweise mit einer kleinen gusseisernen Bratpfanne, sagte er, aber darauf wollte er sich noch nicht festlegen.
Letzte Woche hat der belgische Polizeiinspektor Marcel Langer also gleich nach seinem Eintreffen den Fundort abgesichert, das heißt, mein Wohnzimmer mit hässlichem Absperrband unzugänglich gemacht und die Staatsanwaltschaft, die FKP – die Föderale Kriminalpolizei Belgiens – sowie den Gerichtsmediziner aus Lüttich herbeigerufen.
Mich scheuchte er ins Restaurant zurück, wo unter den Kaffeefahrern große Aufregung herrschte. Die Sache mit den Knochen hatte sich auf mir unbegreifliche Weise schnell herumgesprochen. Allerdings dezimierte die Nachricht vom aktuellen Leichenfund und die verblüffend lang dauernde Abwesenheit des Busfahrers unseren Vorrat an Eifeler Bränden erfreulich schnell. Auch Regine und Gudrun hatten sich auf den Schreck bereits je ein Glas Williamsbirne genehmigt. Mindestens. Ich widerstand der Versuchung, mir zur Nervenberuhigung gleichfalls einen Klaren zu schütten, wie der Eifeler sagt. Irgendjemand würde bei der Abrechnung schließlich einen klaren Kopf behalten müssen.
»Das muss man erst mal verdauen«, hörte ich nicht nur an allen Tischen, sondern vor allem von den Fenstern, vor denen eine große Gästeschar den freien Blick über die Straße nach Belgien genoss. Außer sanft geschwungenen Hügeln mit Feldern, Wäldern, Windrädern und meinem ererbten Gebäude gab es da eigentlich nichts zu sehen, da noch nicht einmal Marcel mit dem Polizeijeep aus Sankt Vith eingetroffen war. Aber mein schäbiges Eifeler Bruchsteinhaus war quasi vor aller Augen zum gruseligen Beinhaus mutiert und somit in den Rang einer Sehenswürdigkeit aufgestiegen.
Zu meinem Entsetzen sah ich, wie an einem dieser Logenplätze der Knochen, den mir Linus vor die Füße gelegt hatte, von Hand zu Hand wanderte. Der Hund selbst hatte sich mit dem Verlust seiner Beute abgefunden und sie gegen den Knochen einer Kuh ausgetauscht. Die hatte erst vor wenigen Tagen ihr friedliches Grasen auf der Weide nebenan einstellen müssen, weil sie keine Milch mehr hergab. Einen ihrer Knochen hatte Regine aus der kalten Rinderbrühe gefischt – es wurde tatsächlich nur Hühnersuppe bestellt – und Linus damit beglückt. Angesichts des aktuellen Geschehens hatte ich den Gästen die nicht ganz geleerten Suppenteller nachgesehen und mir die alte Gastwirtregel ins Gedächtnis gerufen: Sie essen dich arm, und sie trinken dich reich.
Aber Nachsicht hat ihre Grenzen.
Ich schob mich durchs Lokal zu den Fenstern hin und wollte einem alten Herrn mit schütterem Haar und wachen blauen Augen den Knochen entreißen. Er hielt ihn so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten.
»Das ist Beweismaterial!«
Er lächelte mich freundlich an.
»Natürlich«, sagte er. »Sehr interessant. Dies ist eindeutig ein menschlicher Unterschenkelknochen. Kann ich als Medizinstudent sofort erkennen. Ja, da staunen Sie, was? Ich mache demnächst mein Erstes Staatsexamen. Man muss im Alter nicht nur Karten spielen, Kreuzworträtsel oder Sudokus lösen und mit dem Bus herumfahren, das werden Sie irgendwann auch noch erfahren. Bitte, darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen?«
»Geben Sie mir jetzt den Knochen!«
»Da habe ich meine Frage aber höflicher gestellt«, sagte er vorwurfsvoll, starrte auf die Finger meiner rechten Hand, die den Knochen umklammerten, und stellte mit freudiger Stimme fest: »Wie schön, Sie sind nicht verheiratet!«
Der Knochen fiel zu Boden. Von der Bemerkung erschreckt, war mir entgangen, dass auch der Mann das Beweisstück losgelassen hatte. Der bejahrte Medizinstudent bückte sich erstaunlich schnell, hob ihn auf und reichte ihn mir mit einer tiefen Verbeugung. »Konrad Meissner. Ich stehe Ihnen jederzeit zu Diensten, schöne Frau. Wollen Sie sich nicht ein wenig zu mir setzen, damit wir einander besser kennenlernen können? Vielleicht stellt sich ja heraus, dass wir Gemeinsamkeiten haben.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, um ihr Zucken nicht sichtbar werden zu lassen. Mit Anfang fünfzig muss man sich wohl gefallen lassen, von Greisen angemacht zu werden, dachte ich. Vielleicht müsste ich sogar dankbar sein, dass mich überhaupt noch einer als Sexualobjekt wahrnimmt – zu einer Zeit, in der uralte Schriftsteller die moderne Literatur mit Geschichten über die mir unverständliche Leidenschaft blutjunger geiler Frauen zu Großvaterfiguren bereichern.
Mit hoch erhobenem Knochen stürmte ich zu Jupp zurück.
»Wie kommt der Knochen ins Restaurant?«, fuhr ich den vierschrötigen Mann an, der unglücklich an die Wand gelehnt stand und dessen zitternde Hände ausnahmsweise mal zu nichts zu gebrauchen waren. »Der ist doch Beweismaterial, den müssen wir der Polizei aushändigen!«
»Liegen doch noch genug Knochen drüben rum«, murmelte er, griff dann aber doch nach dem grauen Beweisstück und schob von dannen.
Ich atmete tief durch, sah und hörte mich um. Schlecht gelaunt und unter mächtigem Druck hatte diese Reisegruppe mein Lokal gestürmt; jetzt, nachdem sie sich erleichtert und den Knochen der Endlichkeit herumgereicht hatte, erfüllte sie die Einkehr mit Leben.
Gudrun verteilte emsig Dessertkarten, und Regine wollte ihr hingehaltene Gläser gerade wahlweise mit einer neuen Ladung Schlehenlikör oder Eifelbrand füllen. Da nahm ihr die stämmige alte Dame mit dem faltigen Puppengesicht sanft die Flaschen ab und stellte sie hinter sich auf den Tisch.
»Es reicht«, sagte sie laut.
Gehorsam wurden die Gläser zurückgezogen. Offenbar akzeptierten alle, dass diese Frau in Ermanglung eines Animateurs und des Busfahrers die Leitung übernahm. Sie forderte die Herrschaften höflich auf, sich ab jetzt zurückzuhalten, da man ja noch ein Programm in Belgien zu absolvieren habe. Und dieses möglichst nüchtern.
Dass Gaststätten dem Alkoholismus Vorschub leisten, ist nicht meine Erfindung. Aber unter anderem bestreite ich davon meinen Lebensunterhalt, so wie die Ärzte in Suchtkliniken den ihren ja auch. Deshalb schritt ich ein.
»Es kann noch eine Weile dauern, bis Herr Kerschenbach mit dem Diesel zurück ist«, erklärte ich laut, hob aufmunternd die Flaschen und setzte hinzu: »Uns geht der Sprit eben nicht so schnell aus. Der Kaffee übrigens auch nicht, falls jemand noch eine Tasse bestellen will. Herr Kerschenbach wird vor der Weiterfahrt bestimmt auch einen haben wollen.«
»Er trinkt grundsätzlich nur Tee.«
Ich sah die Dame fragend an.
»Ich bin Frau Kerschenbach.«
»Ach, Ihr seid seine Mutter!«, erklärte Regine überrascht.
Der schmale Mund wurde noch ein bisschen schmaler, entließ aber Worte in einem überaus herzlichen Ton: »Nein, nein, ich bin seine Schwester.«
»Entschuldigung«, stotterte Regine.
»Ich weiß, mein Kind«, Frau Kerschenbach tätschelte ihr die Wange, »Hermann war ein Nachzügler. Es ist an mir, mich zu entschuldigen. Weil ich es nicht lassen kann, mich für meinen kleinen Bruder verantwortlich zu fühlen. In diesem Fall für sein neues Reiseunternehmen.« Sie hob die Stimme: »Bitte keinen Alkohol mehr. Es geht gleich weiter.«
Dann wandte sie sich wieder mir zu.
»Eure Hühnersuppe ist ausgezeichnet, Frau …«
»Klein«, nannte ich meinen Namen, der mir selten zuvor so passend erschienen war. Schon gar nicht in meinem eigenen Herrschaftsbereich.
»Frau Klein. Nicht das, was man sonst darunter versteht, aber sie hat eine aparte schmackhafte Würze. Aus frischen Zutaten bereitet, ohne künstliche Aromen und Zusatzstoffe, nicht wahr?«
»Selbstverständlich!«, versicherte ich eilig.
»Sehr bekömmlich. Darauf muss man in unserem Alter achten. Wir sollten bei unserer nächsten Tour hier wieder haltmachen. Können Sie uns vielleicht ein Arrangement anbieten?«
Ich hätte das faltige Puppengesicht küssen können. Und vergaß zumindest einen schönen Augenblick lang, welche Entdeckung diesem Angebot vorausgegangen war.
Natürlich wird unser Freund als Polizeiinspektor die Ermittlungen nicht leiten dürfen, aber da er als Erster vor Ort war, die Kehr und uns alle bestens kennt, dient er, wie schon bei früheren Fällen, als Bindeglied und Mittelsmann zwischen den zuständigen belgischen Behörden und uns, der betroffenen Bevölkerung.
Eigentlich müsste er für die Befragung meiner Freunde erst die Genehmigung der deutschen Polizei einholen, für Jupp und Hein, die in Nordrhein-Westfalen wohnen, also in Euskirchen vorstellig werden und für das Trio, dessen WG sich ein paar Meter weiter in Rheinland-Pfalz befindet, bei den Ordnungshütern in Prüm oder Trier. Aber da sind wir in unserer winzigen Dreiländerortschaft nicht so kleinlich; wir wollen von ihm ja auch wissen, was die Belgier herausgefunden haben. Soeben hat uns Marcel über die ersten forensischen Erkenntnisse der Gerichtsmedizin Lüttich informiert. Demnach war der etwa zwanzigjährige Mann keinesfalls vor, sondern erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingemauert worden. Also nicht beim Bau des Hauses.
Ich hebe die Schultern.
»Hätt ja sein können«, flüstere ich, nicht sonderlich beschämt über meine Vorstellung von schlampig arbeitenden belgischen Maurern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Königreich ist man nicht so pingelig wie in Deutschland und die Bauaufsicht bestimmt erheblich gnädiger; eine Annahme, zu welcher der Anblick manch eines Gehöfts in den belgischen Ardennen durchaus verleiten könnte. Jupp hat mir zudem erzählt, dass er bei Renovierungsarbeiten in alten Bruchsteinhäusern immer wieder auf die seltsamsten Verfüllungen zwischen den dicken Mauern gestoßen sei. Jede Menge Schutt und Unrat sei da früher als Dämmmaterial entsorgt worden. Er habe auch schon mal Knochen rausgezogen, von Hühnern, Rindern oder Schafen. Und andere irre Dinge. Aber natürlich nie etwas so Grausiges wie ein komplettes menschliches Skelett.
Das nun gar nicht so lange wie erhofft dort lag. Wer seit mehr als hundert Jahren tot ist, wird von niemandem mehr betrauert. Und was in diesem Fall für mich wichtiger gewesen wäre: Ein Mord in so ferner Vergangenheit entzieht sich polizeilicher Ermittlung und kann keinem Lebenden angelastet werden. Und keine Tochter müsste sich dann mit finsteren Gedanken abquälen, ob ihr Vater ein Mörder gewesen sein könnte. Bedauerlicherweise widersprechen die kriminaltechnischen Erkenntnisse meinen archäologischen Spekulationen. Die ich nach wie vor nicht absurd finde, schließlich kann es gerade in Erdbebengebieten vulkanischen Ursprungs bestimmt auch zu Bodenverschiebungen kommen: »Bei der Kirche hat es sicher irgendwann mal einen Friedhof gegeben …«
»… von dem aus der Knochenmann dann über die Straße gewandert ist und als Kalkzusatz in die Wand verbracht wurde!« Hein springt hoch, reißt Augen und Mund weit auf, wankt wie ein Zombie mit ausgebreiteten Armen und steifen Knien durch den Raum.
Marcel schlägt mit der Faust auf den Tisch. Wir erstarren alle, einen derartigen Temperamentsausbruch von diesem Mann der leisen Töne nicht gewöhnt. Mit welch sanfter Stimme der belgische Polizeiinspektor selbst die beinhärtesten Verhöre führt, habe ich einst am eigenen Leib erfahren dürfen.
»Verdammt noch mal, die Sache ist überhaupt nicht komisch, Hein!«
»Na… natürlich nicht«, stottert der Gemaßregelte. Er schleicht zu seinem Stuhl zurück, hockt sich auf dessen Kante und tastet nach der Hand seines Lebensgefährten Jupp.
»Der junge Mann ist brutal erschlagen und dann im Takenschaaf eingemauert worden«, fährt Marcel fort, »und zwar zu einer Zeit, wo einige von uns schon auf der Welt gewesen sein könnten.«
»Oder auch nicht«, wirft Jupp ein. »Du hast doch gesagt, es dauert noch, bis man das so genau weiß.«
»Die Radiokarbonmethode hat ergeben, dass der Mann keinesfalls vor hundert Jahren erschlagen wurde, sondern wahrscheinlich eher vor fünfzig.«
»Das ist doch auch schon furchtbar lange her«, bemerkt Gudrun versöhnlich. »Der Mörder ist bestimmt längst tot und begraben. Wie bestattet man eigentlich Knochen, die keiner kennt? Vielleicht war es ja ein Deserteur, der im Krieg vor der Wehrmacht im Takenschrank versteckt wurde? Ein unbekannter Soldat der Alliierten? Vielleicht ein Amerikaner wie David? Dann könnten wir an Katjas Haus eine Gedenktafel anbringen. Das wäre doch schön.«
Ja, es wäre erheblich schöner, mit Vorfahren aufzutrumpfen, die sich der Nazidiktatur widersetzt hatten. Dagegen steht nur die mir auf der Kehr von älteren Bewohnern zugeflüsterte Tatsache, dass ebendiese meine Ahnen unter großem Jubel als Erste im Ort die deutsche Reichsflagge gehisst hätten, während Hitlers Truppen in Belgien einmarschierten.
»Nein, Gudrun, es gibt keinen Hinweis darauf, dass er Soldat war, keine Marke oder was Ähnliches«, sagt Marcel, der mit Gudrun immer viel geduldiger als mit uns anderen umgeht.
»Schade«, sagt Gudrun. »Trotzdem sollten wir in der Kapelle für seine Seele ein Gesätz vom Rosenkranz beten und Kerzen anzünden.«
»Gute Idee«, stimmt Regine zu.
»Von uns kann es jedenfalls keiner gewesen sein«, flüstert Jupp.
»Deshalb erzähle ich euch das alles nicht«, fährt Marcel fort, »sondern weil ihr alle, außer Regine, von hier seid …«
»Ich nicht«, werfe ich ein.
»Du auch«, widerspricht Marcel. »Selbst wenn du das vor ein paar Jahren noch nicht gewusst hast. Aber du lebst im Haus von dem Mann, der dein Vater war. Und hast dort zum Glück noch immer nicht jede Ecke ausgemistet, vor allem nicht den Speicher. Überlass das jetzt bitte uns, und damit meine ich die belgische Polizei. Vielleicht finden wir da noch einen Hinweis, der uns weiterführt. Und ihr anderen: Denkt mal bitte gründlich darüber nach, ob ihr früher was gehört habt, von euren Eltern oder Nachbarn, über jemanden, der plötzlich verschwunden ist …«
»Ein Schmuggler!«, ruft Hein. »Könnte doch sein, dass der mehr als nur Kaffee bei sich hatte, Wertsachen zum Beispiel, und dann wegen der Beute eins übergebraten bekommen hat …«
Er bricht ab. Alle sehen mich an. Und alle denken das Gleiche.
»Entschuldigung«, bringt Hein hervor, »ich wollte damit nicht sagen, dass …«
»Ich habe meinen Vater nicht einmal gekannt«, unterbreche ich ihn flüsternd.
»Alles ist möglich.« Marcel streichelt mir mitfühlend die Hand und setzt hinzu: »Große Armut kann solche Verzweiflungstaten hervorrufen.« Er blickt vielsagend in die Runde. »Keiner von uns hat sich seine Eltern ausgesucht.«
»Mein Vater war auch nicht wirklich nett«, steht mir Gudrun bei.
»Und meinen habt ihr ja fast alle gekannt«, setzt Hein finster hinzu. »Mehr habe ich zu diesem Thema nicht zu sagen.«
»Meiner war ganz in Ordnung«, sagt Jupp, wozu David nickt: »Meiner auch.«
»Und deiner?«, frage ich Marcel.
»Der steht hier jetzt nicht zur Debatte, Katja. Bevor wir ermitteln können, wer schuld am Tod dieses Mannes ist, müssen wir wissen, wer das Opfer gewesen ist.«
»Er könnte ja Zöllner gewesen sein«, wirft Gudrun ein.
Beifälliges Nicken. Das wäre nicht ganz so schlimm. Schließlich hat fast jeder auf der Kehr jahrelang durch den Schmuggel überlebt. Da war der Zöllner ein natürlicher Feind. Den man allerdings eher um sein Erfolgserlebnis als um die Ecke brachte. Und Kunde über einen verschwundenen Zöllner wäre garantiert an die nächste Generation weitergegeben worden.
»Was ist mit alten Vermisstenfällen?«, frage ich hilflos.
»Der Sache gehen wir gerade nach, Katja, aber es wird dauern. So lange …«
So lange werden mich die anderen als die Tochter eines Mannes betrachten, der im günstigsten Fall einen Zöllner erschlagen hat, denke ich und erhebe mich mühsam. »Ich mache mich jetzt an den Fond für das Wildschwein.«
Gudrun steht ebenfalls auf.
»Soll ich dir die Knochen zerhacken?«, bietet sie eilfertig an.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Ein paar Stunden später
Gudrun und Hein sitzen vor dem aufgeklappten Notebook in einer fernen Ecke des Restaurants und kichern vor sich hin.
»Was ist denn so lustig?«, will ich wissen, während ich das Besteck am Nebentisch nachpoliere. Ich rechne auch an diesem Abend nicht mit vielen Gästen. Die Herbstferien, die zumindest einige Wanderer in unsere abgelegene Gegend verschlagen haben, sind längst vorbei. Es ist kühl geworden, und gelegentlich schneit es ein wenig, aber längst noch nicht genug, dass man die Loipe am Schwarzen Mann spuren oder ich mit hungrigen Wintersportlern rechnen könnte. Auch die Schneekanonen für die Abfahrt in der Wolfsschlucht sind noch nicht angeschmissen worden.
»Was macht Regine gerade?«, fragt Gudrun flüsternd.
»Hat eben altes Brot zu Nicolina rübergebracht. Wieso?«
Gudrun winkt mich mit einer verschwörerischen Handbewegung zu sich hinüber.
»Schau her, Katja, wie gefällt dir dieser Typ?«
Ich beuge mich vor und sehe auf dem Bildschirm das Foto eines adretten Mittvierzigers vor dem Kölner Dom unter dem Logo einer Partnerbörse.
»Du gibst wohl nie auf«, seufze ich.
»Hein hat völlig recht«, erwidert Gudrun. »Wie blöd von mir, für Regine Männer anzuschleppen, die vorher schon keine andere Frau haben wollte, wenn es doch das Internet gibt.«
»Radius und Angebot sind sehr viel größer«, sagt Hein.
»Habt ihr Regine etwa bei einer Partnervermittlung angemeldet?«
»Ja«, erklärt Gudrun freudig.
»Nicht direkt«, murmelt Hein.
»Was heißt das?«
»Gudrun hat sich angemeldet. Sie spielt Regine. Und wir haben schon ganz interessante Reaktionen.«
»Die von Regine kann ich mir vorstellen.« Kopfschüttelnd klopfe ich Gudrun auf die Schulter. »Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Sie will solo bleiben. Kannst du das nicht respektieren?«
»Manche Leute muss man eben zu ihrem Glück zwingen. Kein Mensch will in Wirklichkeit allein bleiben. Auch Regine nicht.«
»Sie hat doch uns.«
»Du hast Marcel, Hein hat Jupp, ich habe David …« Gudrun macht eine bedeutungsvolle Pause. »… aber Regine hat niemanden. Außer Nicolina. Aber eine Gans ersetzt keinen Mann. Der da würde ihr bestimmt gefallen. Und wenn nicht, haben wir immer noch genügend Auswahl.«
»Wir haben schon vorsortiert«, sagt Hein. »Über zwanzig Kandidaten, die zu Regines Profil ganz gut passen. Leider haben wir nicht von allen Fotos.«
»Und wie soll das ablaufen? Wollt ihr hier etwa einen nach dem anderen antanzen und von Regine abkanzeln lassen?«
Gudrun sieht Hein flehentlich an. »Ich würde sie mir ja einzeln vorholen, aber Hein hat sich was anderes ausgedacht. Das wird dir nicht gefallen.«
Hein denkt sich oft Dinge aus, die mir nicht gefallen. Ich hake nach, aber er schüttelt den Kopf.
»Reden wir später drüber. Der Moment ist ungünstig, nach all dem, was letzte Woche passiert ist und was uns Marcel heute Morgen erzählt hat.«
»Was hat das denn damit zu tun?«, frage ich ungehalten. »Hat mein Restaurant plötzlich einen schlechten Ruf, weil bei mir zu Hause ein altes Gerippe in der Wand gefunden wurde?«
»Er will sie alle auf einmal hierher einladen«, platzt Gudrun heraus.
»Einladen! – Da hast du recht. Das gefällt mir überhaupt nicht. Die sollen ihren Verzehr gefälligst selbst bezahlen! Ich füttere doch nicht zwanzig einsame Kerle durch!«
»Sollst du doch auch nicht«, sagt Hein. »Natürlich werden die für ihre Party zahlen.«
Ich muss nicht lange nachrechnen. Wenn ein knappes Dutzend Männer auf Freiersfüßen eine längere Anfahrt in Kauf nimmt, wird es in der Kasse klingeln.
»Na gut, dann habe ich nichts dagegen. Nur kann ich mir nicht so recht vorstellen, wie ein solcher Abend ablaufen soll. Etwa Speed-Dating?«
»Was ist das?«, fragt Gudrun beunruhigt.
»Dass sich Regine fünf Minuten zu jedem an den Tisch setzt und den Typen peilt«, erklärt Hein. »Nein, das wäre zu unromantisch und …«
»… Regine zu unberechenbar«, setze ich nickend hinzu. »Wenn die Wind von der Sache kriegt, und das wird sie wohl müssen, nimmt sie glatt den Hinterausgang, und wir sitzen mit einer Horde angeschmierter Männer da. «
»Genau!«, ruft Hein. »Deswegen schmeißen wir eine richtige Party, die wir unter ein Motto stellen, unter eins, das jetzt ganz groß in Mode ist.«
»Das wird dir nicht gefallen«, murmelt Gudrun wieder.
»Als ehemaliger Eventmanager wird Hein schon wissen, was bei den Leuten ankommt. Also wie soll das Motto für diese Partnerparty lauten?«
Hein schweigt eine ganze Weile. Dann stößt er einen tiefen Seufzer aus und sagt: »Krimidinner.«
Gudrun hat recht. Das gefällt mir überhaupt nicht.