KAPITEL 23


 

Morawena kam an den verabredeten Ort. Warum sie so dumm und leichtsinnig handelte, würde Gaiuper für immer ein Rätsel bleiben, doch er hatte damit gerechnet. Er kannte Morawenas Schwachstelle, fast von Anfang an, hatte es aber immer vermieden, sie wissen zu lassen, dass er sie kannte. Glücklicherweise war Morawena überheblich. Sie nahm vermutlich an, dass Gaiuper ihr nichts antun konnte, dass sie stärker war als er, selbst wenn sie sich aus der Ganduup-Festung schlich und ohne den Schutz der ihr treu ergebenen Gespenster zurechtkommen musste. Zumal sie den Tod nicht fürchtete. Mehr als einmal hatte sie durchblicken lassen, dass es ihr nichts ausmachen würde zu sterben. Falls es jemandem tatsächlich gelänge, sie umzubringen. Nun war sie also hier, stand in der Ruine einer alten Fischfabrik, die seit Jahren nicht mehr benutzt wurde und kein Dach mehr hatte, sodass die Sonnenstrahlen ungehindert ins Innere drangen und Morawena erleuchteten. Denn eine leuchtende Gestalt war sie, das musste ihr Gaiuper lassen. Stolz und aufmerksam stand sie in der Mitte der ehemaligen Produktionshalle, in sicherem Abstand von Unass und Gaiuper.

Was willst du von Nada?“, fragte sie.

Nur ein paar Antworten“, erklärte Gaiuper, „die er mir sicher nicht freiwillig geben wird.“

Auch nicht unfreiwillig“, sagte Morawena.

Ihre roten Locken flossen über ihre Schultern, ihre dunklen Augen glitzerten wie flüssiges, dunkelgrünes Glas in ihrem blassen, makellosen Gesicht. Warum nur sah sie so aus? Warum nur konnte sich Gaiuper ihrer Ausstrahlung kaum entziehen? Vermutlich, weil sie die letzte ihrer Art war. Kein schwacher, kein weltlicher Rabe wie das Mädchen, das Gaiuper erbeutet hatte. Sondern ein echter, alter Rabe, der aus Kundrien selbst stammte und über Jahrtausende hinweg sich selbst treu geblieben war, trotz des Vergessens, zu dem ihn jeder neue Tod verdammte. Mal Mann, mal Frau, stark und ungebunden, für alle Zeiten. Zumindest bis heute.

Trotzdem interessierst du dich für meine Pläne?“, fragte Gaiuper.

Ich würde Nada gerne eine Begegnung mit dir ersparen“, sagte sie. „Er besitzt Geschmack und ein feines Empfinden, daher wird er von Übelkeit geplagt sein, sobald er dich ansehen muss. Das hat er nicht verdient.“

Sie wandte sich blitzschnell um, denn sie hörte Unass, der am zweiten Eingang der Halle stand und sich gebückt hatte, um die Tiere freizulassen. Sie ahnte nicht, dass Unass die Weichen Skorpione auf ihren Geruch abgerichtet hatte. Vermutlich kannte sie diese Tiere nicht einmal. Sicher wusste sie nicht, dass die Weichen Skorpione glibberige, durchsichtige Körper hatten, dass sie Spinnen ähnlicher waren als den bekannten Skorpionen, und dass sie sehr, sehr klein waren. Es wäre ihr vermutlich nicht im Traum eingefallen, dass diese winzigen Tiere auf sie flogen und nichts sehnlicher verlangten, als ihren haarfeinen Stachel in Morawenas Haut zu stoßen, um sie zu lähmen. Sie würde nicht sterben, sondern bewegungslos den kleinen Tieren ausgeliefert sein, die auf ihr herumkrabbelten und sie kitzelten und sich von dem Salz und den Flüssigkeiten ernährten, die mit dem Schweiß aus ihren Poren treten würden. Sie wäre wehrlos und sie würde leiden, da das Gift auch die Atmung und den Herzschlag verlangsamte bis zur Grenze des Unerträglichen. All das wusste sie nicht und sie hatte auch keine Zeit, gesundes Misstrauen zu entwickeln, da Tegga für Ablenkung sorgte. Er feuerte einen vielzackigen Speer auf sie ab, dem sie mit Leichtigkeit auswich, doch dann war es zu spät. Sie verspürte eine seltsame Taubheit, die sich von den Beinen her nach oben ausbreitete, so zumindest deutete Gaiuper ihr Verhalten, als sie schwankte, sich nervös um die eigene Achse drehte und schließlich stürzte, unfähig, sich auf den Beinen zu halten oder gar zu verwandeln. Ihr Körper und ihre Arme zuckten, bevor sie taub wurden, ebenso wie ihr Mund, und dann lag sie da. Ihre feuchten, dunklen Augen waren das einzige, was an ihr noch lebendig aussah.

Nada wird sich freuen, dich wiederzusehen“, sagte Gaiuper. „Leider muss er im Gegenzug meine ekelhafte Gegenwart in Kauf nehmen. Nichts ist umsonst.“

Er hielt Abstand, um nicht zufällig einem verirrten Skorpion in die Quere zu kommen.

Packt sie ein und nehmt sie mit“, befahl er Tegga und den zwei anderen Schlägern. „Wir haben es eilig.“

Sie wickelten Morawena in einen dünnen Teppich und trugen sie zu zweit zum Tor, das sich in nächster Nähe befand. Wie versprochen stand Kamark schon bereit. Wenn er überrascht war, dass Gaiuper mit Unass, Tegga, zwei weiteren Schlägern und Morawena in einer Rolle auftauchte, so ließ er sich das nicht anmerken. Er war so blass und nervös wie immer.

Wohin?“, fragte er.

Zur Burg Trotz in Sommerhalt. Es gibt ein Tor in unmittelbarer Nähe. Sieh dich vor, es könnte bewacht sein.“

Kamark nickte eifrig. Dabei warf er einen neugierigen Blick in die Runde. Der Ort, an dem sie gerade standen, war von Rabendienern umgeben, von Gaiupers Dienern, denen die Fragen ins Gesicht geschrieben standen. Sah das hier alles nicht gerade so aus, als ob sich der Anführer aus dem Staub machte und sie nicht mitnehmen wollte?

Wir werden gegen Abend zurück sein!“, verkündete Gaiuper laut. „Wartet hier auf uns und lasst niemanden – ich wiederhole – niemanden durch dieses Tor. Wir sind unserem Ziel sehr nahe!“

Ob sie ihm glaubten oder nicht, war Gaiuper in diesem Moment einerlei. Die Hauptsache war, dass sie ihn nicht behinderten, wenn er die Welt der Ganduup für immer verließ. Kamark arbeitete zuverlässig, so wie immer. Sie erreichten das Grenzland von Feuersand am frühen Nachmittag. Es gab dort niemanden, der das Tor bewachte. Die Luft an diesem Ort war schlecht und vermutlich wollte sich niemand durch den Wachdienst die Gesundheit ruinieren. Wer hätte auch hier eindringen sollen? Nada erwartete sicher keinen Besuch.

Ein einstündiger Fußmarsch trennte Gaiuper von Burg Trotz. Schnellen Schrittes ging er voraus, Tegga folgte, hinter ihnen gingen die anderen beiden Schläger und trugen die wehrlose Morawena. Kamark ließ sich zurückfallen, er war sowieso nicht der Schnellste und ahnte offensichtlich Unheil. Dass es Unass für seine Pflicht hielt, ebenfalls langsam zu gehen, um Kamark im Auge zu behalten, kam Gaiuper sehr entgegen.

Tegga!“, rief er und winkte den Anführer der Schläger herbei.

Tegga wurde hellhörig. Bald wanderte er mit Gaiuper auf gleicher Höhe.

Es gibt da etwas, das ich dir noch sagen wollte“, begann Gaiuper. Sie gingen schnell, doch der kräftige Tegga kam nicht außer Atem. Bald waren auch die anderen beiden Schläger außer Hörweite.

Ja, worum geht es, Gaiuper?“

Um Hoppier, wie du dir denken kannst.“

Teggas Gesichtsausdruck veränderte sich. Er war ein durch und durch brutaler, gefühlloser Typ. Aber bei seiner eigenen Brut, da wurde er weich. Gaiuper kannte mindestens drei Kinder, die Tegga ihren Vater nennen durften und unter seinem persönlichen Schutz standen. Doch Hoppier war stets sein Lieblingskind gewesen, vielleicht hatte ihm ja die Mutter etwas bedeutet. Seit Hoppiers Verschwinden hatte Tegga nicht aufgehört, Gaiuper Fragen zu stellen, und immer hatte Gaiuper beteuert, über Hoppiers Verbleib nicht Bescheid zu wissen.

Was ist mit ihm?“, fragte Tegga.

Ich kann dir nichts Gutes berichten. Ich kann dir nur die Gelegenheit zur Rache bieten. Ich brauche Unass nicht mehr und ich kann ihn auch nicht länger ertragen. Wenn du ihn also erledigen möchtest, ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Sonst müssen wir ihn wohl oder übel mitnehmen …“

Unass? Was hat er getan?“

Teggas Stimme quietschte fast. Dass sich ein erwachsener Mann wegen eines Kindes so anstellen konnte!

Du weißt, was er in seiner Hexenküche treibt. Er schreckt vor keinem Experiment zurück, auch wenn es Zutaten erfordert, die nicht leicht zu haben sind. Hoppier war ein kräftiger Junge, ein willensstarker Junge. Unass glaubte, dass ihm Hoppiers Bestandteile besonders hilfreich wären …“

Das ist nicht wahr!“, rief Tegga heiser. „Er hat ihn nicht abgeschlachtet!“

Frag ihn! Ich weiß es, weil er vor einem halben Jahr unbedingt mit der Wahrheit herausplatzen musste. Er hatte zu viel getrunken und protzte damit herum, dich hintergangen zu haben und nicht erwischt worden zu sein.“

Tegga blieb abrupt stehen. Gaiuper ging weiter, ein paar Schritte, dann hielt er inne und drehte sich nach Tegga um.

Ach ja, Tegga! Wenn du schon dabei bist: Wir werden auch Kamark nicht länger benötigen.“

Tegga nickte und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Gaiuper hingegen setzte seinen zügigen Spaziergang fort. Bald sah er die zwei Türme von Trotz vor sich aufragen, einen dicken und einen kleinen, dünnen. Die Luft hier war besser als am Tor. Das giftige Land, das nicht weit von Trotz begann, brachte im Grenzgebiet merkwürdige Erscheinungen hervor: Gaiuper sah Pflanzen, die von gelben Kristallen bedeckt waren, blutrot verfärbte Erde und kleine Eidechsen, die metallisch glänzten. Bäume wuchsen hier keine, eher trockenes Gras, Disteln und stachelige Sträucher mit vertrockneten Beeren. Alles in allem keine anheimelnde Gegend. Doch die Sonne schien an diesem Tag, über Trotz wölbte sich ein tiefblauer Himmel. Es war ein schöner Tag. Ein schöner letzter Tag.

Die Burg wirkte verlassen. Hätten sich nicht ein paar Pferde unruhig in den Stallungen bewegt, man hätte meinen können, hier sei kein Mensch weit und breit. Im Grunde war auch die Burg nichts weiter als ein hohes schmales Haus, dessen Fundament nicht mehr das jüngste war. Es hatte zwei Eingänge mit steilen Treppen. Einer der Schläger nahm Morawena alleine auf die Schulter und stieg hinter dem anderen Schläger treppan. Gaiuper folgte, hinter ihm ging Tegga. Wie erwartet war er ohne Unass und Kamark zurückgekehrt. Nun, nach vollendeter Rache, wirkte er unbeteiligt, aber aufmerksam.

König Nada zu finden, war nicht schwer. Sie folgten dem unangenehmen Essensgeruch, der in der Luft hing, und fanden den König im Speisezimmer, wo er eine Suppe löffelte und dabei ein Buch las. Eine Bedienstete, die gerade eine Kanne mit einem dampfenden Getränk hereingetragen hatte, schrie auf, als sie die Eindringlinge bemerkte, und drückte sich in eine Ecke des Zimmers, wo sie schluchzend in die Knie ging. Der König, aufmerksam geworden, hob den Kopf, tat aber nicht viel mehr als das. Immer noch hielt er den Löffel mit Suppe in der Hand, den er gerade in seinen Mund hatte stecken wollen. Gaiuper konnte nicht umhin, sich zu wundern. Nada stand in dem Ruf, ein kluger, disziplinierter Herrscher zu sein. Was Gaiuper hier vor sich sah, war ein Berg von Mann mit einer struppigen Mähne aus roten Haaren und einem Bart, der von tropfender Suppe feucht und fettig geworden war. Das füllige Gesicht des Königs zeugte von einem übergroßen Appetit und seine blauen Augen von sträflicher Naivität. Nur so konnte es sein, dass der König seine Gäste mit Neugier betrachtete, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sein persönliches Ende bedeuteten.

Leg sie dorthin!“, befahl Gaiuper dem Schläger, der Morawena trug.

Gehorsam ließ der Schläger den Teppich auf zwei nebeneinander stehende Stühle fallen, wobei er keine Sorgfalt walten ließ. Der aufgerollte Teppich öffnete sich und zum Vorschein kam eine leichenblasse Morawena mit gequälten Augen. Ihre Hand rutschte zu Boden und schlug dort hart auf. Nada zuckte bei dem Geräusch zusammen und ließ seinen Löffel in die Suppe fallen.

Was ist mir ihr?“, fragte er schockiert. „Ist sie bewusstlos?“

Gaiuper sah zu, wie Nada langsam von seinem Tisch aufstand und auf Morawena zugehen wollte, aber von einem Schläger am Weitergehen gehindert wurde.

Halte lieber Abstand“, riet Gaiuper. „Auf ihr sitzen kleine Tiere mit giftigen Stacheln.“

Nada wandte seine blauen, treuen Kuhaugen von Morawena ab und richtete sie auf Gaiuper.

Was hat das alles zu bedeuten?“

Folgendes“, sagte Gaiuper und zog aus seiner Manteltasche eine kleine, grüne Flasche. Sie enthielt ein Gift, das er stets bei sich trug, um schnell aus dem Leben zu scheiden, falls es erforderlich wäre. „In dieser Flasche befindet sich ein Gegengift, das es dieser Frau erlaubt, wieder richtig zu atmen und sich zu bewegen. Ich hoffe, du siehst es ihren Augen an, dass sie gerade schlimme Qualen erleidet. Wenn niemand eingreift, wird sie in ein oder zwei Tagen ersticken.“

Nada war bleich. Vielleicht war er immer bleich, rothaarige Menschen neigten ja dazu, blass zu sein. Doch seine Blässe war genau die Art Blässe, die sich Gaiuper erhofft hatte.

Ich biete dir einen Handel an“, fuhr Gaiuper fort. „Ich gebe dir diese Flasche im Austausch gegen ein paar ehrliche Antworten auf meine bescheidenen Fragen.“

Wenn es weiter nichts ist“, sagte Nada und hielt sich dabei mit seinen riesigen Pranken am Tisch fest. „Was willst du wissen?“

In diesem Moment wurden sie gestört. Jemand betrat den Raum, schnellen Schrittes, und stellte sich neben Nada hinter den Tisch.

Was ist hier los?“, fragte er und blickte Gaiuper in die Augen, als sei er selbst der Stärkere und Gaiuper nur ein kleiner Wicht. Der Mann musste wahnsinnig sein, schließlich war er nicht bewaffnet. Selbst wenn er ein Messer bei sich trug oder gar irgendeine verbotene, moderne Waffe – gegen drei Schläger, nicht mal gegen Tegga alleine hätte er etwas ausrichten können.

Gaiuper überließ es Nada, auf Morawena zu zeigen und verzweifelt zu erläutern, in welchem Zustand sie sich befand. Der törichte Mann – dem Aussehen nach handelte es sich um einen Antolianer – hörte nicht auf, Gaiuper anzustarren. Doch Gaiuper konnte seinen Blick gelassen erwidern. Irgendwoher kannte er diesen blonden Ausgleicher. Handelte es sich womöglich um Torben Anturs Enkel?

Torben Antur lenkte seit Jahrzehnten die Geschicke der Hochwelten. Länger als jeder andere hatte er sich bisher an der Spitze der Regierung gehalten. Sein Geltungsdrang war so groß, dass er schon vor Jahren einen seiner Enkel zum Nachfolger auserkoren hatte. Er brachte den Enkel als jüngstes Mitglied aller Zeiten im Rat unter, doch anstatt die Macht zu ergreifen, die man ihm auf dem Silbertablett reichte, schaffte es dieser Enkel mit unglaublicher Regelmäßigkeit, sich alle paar Jahre ins machtpolitische Niemandsland zu katapultieren. Wovon er sich zwar stets erholte, doch niemals genug, um wieder in Reichweite des Zepters zu gelangen, das er ohne Mühe hätte haben können, wenn er sich nur ein bisschen geschickter oder klüger angestellt hätte. Torben Anturs Enkel war der größte Tölpel, den die Hochwelten jemals hervorgebracht hatten. Es sei denn, er arbeitete in Wirklichkeit auf eigene Rechnung und war mit einer Verschlagenheit ausgestattet, die die Vorstellungskraft eines gewöhnlichen Antolianers bei weitem überstieg, weswegen weder Torben noch sonst ein Mitglied der Regierung ahnten, mit was für einem Blutsauger sie es zu tun hatten.

Gaiuper war es jedenfalls nicht entgangen, dass sich der junge Antur jeden Feind der Hochwelten zum Freund machte. Er spielte den Möwen Informationen zu, war lange Zeit mit Morawena befreundet gewesen und hatte das Rabenmädchen, das plötzlich in Sommerhalt aufgetaucht war, vor dem Galgen gerettet. Es konnte kein Zufall sein, dass er auch König Nadas Vertrauen besaß, und somit zu dessen Kenntnissen über Feuersand ungehinderten Zugang hatte. Ulissa war womöglich der Schlüssel in diesem Spiel. Er hatte sie nach Antolia geholt und sich dann angeblich mit ihr überworfen. Schon immer hatte Gaiuper vermutet, dass es sich bei diesem Streit um einen Bluff gehandelt hatte. Ulissa hatte nie ein Geheimnis aus ihren Plänen gemacht: Sie wollte den Umsturz, sie wollte die bestehenden Machtverhältnisse auf den Kopf stellen. Wenn dieser Antur kein Idiot war, dann hatte er mit Ulissa unter einer Decke gesteckt. Nach ihrem Tod hatte er ihre Pläne weiterverfolgt. Sein wahres Ziel mochte dem von Gaiuper gar nicht so unähnlich sein.

All diese Gedanken schossen Gaiuper blitzschnell durch den Kopf, während sein Gegenüber nicht aufhörte, ihn eindringlich zu mustern, als könne er in Gaiupers Schädel hineingucken und dort etwas Unsichtbares ausfindig machen. Doch natürlich spielte sich Antur nur auf. Er war im Grunde überflüssig und ungefährlich. Gaiuper nickte Tegga zu und dieser verstand sofort, was zu tun war. Auch Nada verstand, was Teggas Aufgabe war, und schob sich mit seiner ganzen Fülle und Größe zwischen Tegga und seinen antolianischen Freund. Dieser hatte wiederum nichts Besseres zu tun, als an Nadas sicherer Seite wieder aufzutauchen und Gaiuper weiterhin Löcher in die Augen zu starren. Hatte er noch nicht begriffen, dass er so gut wie tot war?

Pfeif deinen Schläger zurück, Gaiuper“, sagte der Antolianer nun, nicht ohne Hast, da Tegga Anstalten machte, über den Tisch zu springen. „Ich weiß genauso gut Bescheid wie Nada, eigentlich sogar besser. Er wird dir kein Wort sagen, also bist du auf mich angewiesen.“

Tegga sah Gaiuper fragend an. Gaiuper zeigte ihm an zu warten.

Nada war vorhin sehr gesprächig. Warum sollte er seine Meinung geändert haben?“

Weil ich es ihm sage“, antwortete Antur. „Er wird seinen Mund halten, auch wenn es ihn oder Morawena das Leben kostet. Wenn du Fragen stellen willst, dann stell sie mir.“

Als wolle er Anturs Worte unterstreichen, setzte sich Nada wieder auf seinen Stuhl. Er sank hinab und eine Ruhe breitete sich im Zimmer aus, die unheimlich war. Niemand machte ein Geräusch, außer der Dienerin, die immer noch in ihrer Ecke hockte und leise heulte.

Gaiuper war verärgert. Warum war dieser Antur hier aufgekreuzt? Warum tat Nada, was ihm der Kerl sagte? Was rechnete sich Antur überhaupt noch aus? Er würde dieses Zimmer nicht lebend verlassen. Nicht mit drei Schlägern, von denen einer genügt hätte, um ihn zur Strecke zu bringen. Es war nicht mal so, dass Gaiuper auf die Antworten angewiesen war, die er sich von Nada erhofft hatte. Es ging ihm nur darum, sich abzusichern und das Risiko zu begrenzen.

Warum solltest du mir die Wahrheit sagen?“, fragte Gaiuper. „Wenn du schon bereit bist, das Leben des Königs und seiner gelähmten Freundin zu opfern?“

Weil mich das nichts kostet, zum ersten“, antwortete Antur, „und zum zweiten, um dich loszuwerden. Sobald du weißt, was du wissen willst, wirst du fortgehen und deinen Schlägern die Arbeit überlassen. Ob sie die gewissenhaft ausführen oder nicht, wird dir egal sein, denn du hast nicht vor, jemals zurückzukehren. Die Schläger aber werden begreifen, dass du sie im Stich gelassen hast, und darin erkenne ich eine Chance für uns.“

Versuch nicht, meine Schläger von meiner Untreue zu überzeugen“, sagte Gaiuper schnell. „Das wird dir nicht gelingen.“

Warum solltest du treu sein, Gaiuper?“, fragte Antur. „Was hättest du davon?“

Gaiuper war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Er brauchte den Schlägern nur einen Befehl zu geben und dann war dieser lästige Antur tot. Dieser ahnte wohl, dass ihm nicht mehr viel Luft blieb, darum fing er ungefragt zu reden an:

Du möchtest sicher wissen, Gaiuper, ob sich im Inneren von Feuersand ein Tor befindet, und wenn ja, ob es das Tor ist, wonach du und deinesgleichen schon immer gesucht haben. Richtig? Ich kann dir sagen: Ja, genau dieses Tor befindet sich in Feuersands Mitte. Aber ein Mensch kommt nicht hindurch, man muss schon ein Rabe sein, um es zu überleben.“

Es entging Gaiuper nicht, dass Nada seinen Blick auf Antur gerichtet hatte und ihn forschend ansah. Log Antur? Oder sagte er die Wahrheit und Nada wunderte sich darüber, dass er es tat?

Aber selbst wenn du ein Rabe wärst“, fuhr Antur fort, „dürfte es dir schwer fallen, das Tor zu erreichen. Bleibst du diesseits, könntest du vergiftet oder zerschmettert werden, bevor du dort ankommst. Probierst du es über den Zwischenraum, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du von ihm verschlungen wirst. Der Zwischenraum ist in der Umgebung des Tors instabil. Du müsstest schon sehr geübt sein, um ihn unversehrt zu durchqueren. Es nutzt dir aber auch nichts, wenn du das Tor erreichst und keine Puste mehr hast. Du musst schon bei Kräften sein, um auf die andere Seite zu kommen.“

Was du mir nicht zutraust.“

Dir nicht, Gaiuper. Aber du bedienst dich fremder Fähigkeiten, das sehe ich dir deutlich an.“

Wie könnte ich?“, sagte Gaiuper. „Wenn es so einfach wäre, als gewöhnlicher Mensch zu Rabenkräften zu kommen, dann hättest du sie schon, nicht wahr?“

Einfach ist es nicht“, erwiderte Antur, „aber möglich ist es.“

Jetzt starrte Nada seinem Freund ungläubig an. Er war schockiert.

Ich weiß alles über das Verfahren“, erklärte Antur, ohne Nada zu beachten, „ich habe seine Pläne studiert und alle Berichte über seine Gefahren und die Möglichkeiten, es zu missbrauchen, gelesen. Natürlich weiß ich, ebenso wie du, dass das Verfahren so abgewandelt werden könnte, dass die einzelnen Bestandteile eines Raben nicht zerstört, sondern absorbiert werden. Auf diese Weise könnte eine Versuchsperson zu einem Raben werden oder einen Raben soweit unter die eigene Kontrolle bringen, dass es sich so anfühlt, als wären die Fähigkeiten des Raben seine eigenen.“

Er wusste also Bescheid. Das bestätigte Gaiuper in seiner Annahme, dass Antur eine andere Macht im Auge hatte als die, die sein Großvater ihm angeboten hatte. Er wollte nicht der Hampelmann einer müden Mehrheit werden, die seit Jahrtausenden immer das Gleiche tat und sich im ewigen Frieden sonnte. Er wollte stattdessen mit einer Macht ausgestattet sein, die es ihm erlaubte, alle Welten nach seinem Wunsch zu verändern. Ob ihn Ulissa auf diese Idee gebracht hatte oder umgekehrt – das wusste Gaiuper nicht. Ulissa war jedenfalls schon lange tot und Antur musste sich seither bemüht haben, das Rabenmädchen, das Ulissas Gesicht getragen hatte, unter seinen Einfluss zu bringen. Was auch immer er mit ihr vorgehabt hatte, er hatte zu lange gewartet.

Am Ende gewinnt der Mutige“, sagte Gaiuper.

Du wirst das Tor nicht erreichen“, erwiderte Antur.

Und wenn doch?“, fragte Gaiuper.

Nada hatte aufgehört, den Antolianer anzustarren. Stattdessen blickte er vor sich auf den Tisch, über die kalte Suppe hinweg. Er schien enttäuscht zu sein und hoffnungslos. Ein trauriger Riese, der an nichts mehr glaubte.

Wenn doch“, sagte Antur mit einer Stimme, die viel zu milde klang für diesen Anlass, „dann wünsche ich euch beiden viel Vergnügen.“

Gaiupers Zeitpunkt war gekommen. Er sammelte sich kurz und stellte die kleine, grüne Flasche, die er immer noch in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. Im nächsten Augenblick, bevor sich ihm auch nur irgendjemand oder irgendetwas in den Weg stellen konnte, schoss er in Gestalt eines fliegenden, panzerhäutigen Reptils durch das Fenster in Nadas Rücken, dessen hölzerne Verstrebungen und kleine Scheiben in tausend Stücke zersprangen.