KAPITEL 21


 

Elsa?“, rief Leslie, die gerade aus ihrem Kurs gekommen war. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst zum Fürchten aus!“

Leslie mochte recht haben. Elsa fühlte sich wie ein Schatten ihrer selbst. Ihr war vollkommen klar, dass sie gerade alles falsch machte.

Ich muss mir etwas eingefangen haben“, sagte sie. „Ich fühle mich nicht wohl. Vielleicht hilft etwas kaltes Wasser.“

Sie erhob sich und ließ es geschehen, dass Leslie sie zu den Toiletten begleitete.

Gunther-Sven war heute nicht da“, sagte Leslie, „vielleicht habt ihr das Gleiche?“

Oh, ich glaube nicht“, erwiderte Elsa

Tatsächlich war Elsa furchtbar durstig und sie trank Wasser aus dem Wasserhahn. Dann schaute sie in den Spiegel. Dort entdeckte sie etwas, das sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. In ihren Augen: Es sperrte seinen Rachen auf!

Du solltest zum Arzt gehen“, schlug Leslie vor, die sehr besorgt aussah.

Vielleicht genügt es, wenn ich mich ordentlich ausschlafe“, sagt Elsa. „Ich war die ganze Nacht wach. Ich könnte schlafen und dann wieder aufwachen und dann wäre alles wieder so wie vorgestern. Oder wie letzte Woche am besten …“

Leslie nickte. Sie schaute zwischen Elsa und ihrem Spiegelbild hin und her.

Man könnte meinen, dir sitzt der Teufel im Nacken.“

Ja, so fühle ich mich auch.“

Da sie schon dabei waren, öffnete Elsa zwei Knöpfe ihrer Bluse, zog sie über die Schulter und drehte sich zum Spiegel hin. Sie sah, was sie erwartet hatte: Pechschwarze Muster, einer Schrift ähnlich. Sie erkannte die Buchstaben. Sie wusste sogar, was dort geschrieben stand.

Ist das eine Tätowierung?“, fragte Leslie.

Ja. Die habe ich schon bekommen, als ich ein Kind war.“

Wirklich?“

Sie ist mal blasser und mal dunkler. Morgen ist sie hoffentlich wieder blass.“

Andere Mädchen betraten die Toilette. Dies war ein Anlass für Leslie, Elsa am Arm Richtung Tür zu ziehen.

Du musst jetzt unbedingt nach Hause gehen oder zu einem Arzt. Wo soll ich dich hinbringen?“

Elsa knöpfte ihre Bluse wieder zu.

Es geht schon, mach dir keine Mühe, Leslie. Ich nehme die Straßenbahn, die hält gleich bei mir um die Ecke.“

Und bevor Leslie widersprechen konnte, winkte Elsa, zwang sich zu einem Lächeln und rannte die Treppen hinab Richtung Ausgang. Wasserfälle stürzten draußen zu Boden, die Steinplatten verschwanden unter riesigen Pfützen. Elsa sprang hinüber, so gut sie es vermochte. Als sie die Haltestelle der Straßenbahn erreichte, war sie nass bis auf die Haut.

Sie machte sich nicht die Mühe, eine Fahrkarte zu kaufen, da gerade die Bahn einfuhr. Im Dämmerlicht dieses dunklen Nachmittages sank sie auf irgendeine Bank im Innern des Wagens und starrte vor sich hin, während die Bahn ruckelte und schepperte und am Kaufhaus vorbeifuhr, in dem Elsa Töpfe verkaufte. Den Fahrkartenkontrolleur bemerkte sie erst, als er vor ihr saß. Es war sinnlos, sich herauszureden, daher schaute sie ihm offen ins Gesicht und wollte gerade ihre Schuld bekennen, als sie verblüfft innehielt. Sie kannte dieses Gesicht! Da sie schon mal dabei war, es zu erkennen, fiel ihr auch ein, dass sie es schon öfter in Istland gesehen hatte. Mal gehörte es einem Würstchenverkäufer, mal einem Kunden im Kaufhaus, dann einem Fahrgast. Nie hatte sie gemerkt, dass es sich jedes Mal um das gleiche Gesicht gehandelt hatte. Das faltige, braune Gesicht mit den leuchtenden Augen. Es war der Stoffhändler, der sie nach Brisa gebracht hatte, und es war Carlos, der Mann, bei dem Nikodemia wohnte. Elsa brachte kein Wort über die Lippen, sondern starrte ihn nur an.

Wie ich befürchtet habe“, sagte Carlos, der für einen Istländer viel zu braun gebrannt war. Die Kontrolleurskappe auf seinem Kopf war ihm auch viel zu groß. „Was ist mit dir passiert? Ein Jahr lang hat es so gut geklappt!“

Elsa strich sich das Wasser aus dem Gesicht, das die ganze Zeit aus ihren nassen Haaren gelaufen kam.

Ich hatte Sehnsucht“, antwortete sie. „Auf einmal konnte ich nicht mehr aufhören zu träumen. Wie kommst du denn hierher?“

Die ganze Geschichte kann ich dir nicht erzählen, dazu haben wir keine Zeit“, sagte der freundliche, alte Mann. Er flößte Elsa Zuversicht ein, obwohl sie ihn kaum kannte. „Ich bin jedenfalls auch ein Rabe. Ein Altja sogar.“

Ein Altja? Dann kommst du auch von drüben? So wie Nikodemia?“

Ja, wir haben die gleiche Heimat.“

Was genau ist ein Altja?“

Ein Rabe, der dem sogenannten höchsten Kreis der Weisheit angehört. So nennen sie das, obwohl nicht jeder weise ist, der dort mitmischt. Mit den anderen Altjas habe ich mich nicht sehr gut verstanden. Das haben sie zu spät gemerkt und bevor sie mich bekämpfen konnten, bin ich hierhergeflohen. Mehr oder weniger unabsichtlich. Ich kam auch in Sommerhalt an, genauso wie Nikodemia und du. Feuersand muss direkt an der Grenze zur anderen Seite der Welten liegen.“

Elsa musterte ihren alten Freund. Sie hätte es eigentlich wissen müssen. Seine Augen waren besonders. Dieses Leuchten! Sie hatte doch damals schon gedacht, dass er dem Stoffhändler so ähnlich sah.

Hast du dich die ganze Zeit versteckt und nie verwandelt?“

Nur sehr selten verwandle ich mich und das nur unter größten Sicherheitsvorkehrungen. So wie Nikodemia. Auf den habe ich gut aufgepasst. Leider nicht auf dich. Das tut mir leid.“

Ja, das tut dir leid“, sagte Elsa. „Warum hast du nicht aufgepasst?“

Zuerst habe ich nur Nikodemia gefunden. Nachdem er mir von dir erzählt hatte, habe ich nach dir gesucht. Als ich gefunden hatte, was ich suchte, war es zu spät. Du warst schon gestorben.“

Das weiß ich inzwischen auch.“

Die Straßenbahn kam mal wieder zu einem abrupten Stillstand. Aus dem Augenwinkel sah Elsa, dass es sich um ihre Haltestelle handelte. Doch sie blieb sitzen.

Wenn man ein Altja ist“, erklärte Carlos, „dann kann man sehr viele Dinge. Ich kann sehr unauffällig sein, sodass mich die Menschen übersehen. Ich kann sie dazu bringen, dass sie etwas glauben oder sehen, was gar nicht da ist. Außerdem kann ich ab und zu einen Blick in die Zukunft werfen. Dann halte ich ein Licht hinein in etwas, das ich nicht verstehe. Außerhalb des Lichtkreises liegt die Zukunft im Dunkeln. Ich sehe nur einen Ausschnitt und den kann ich falsch deuten. Darin liegt die Gefahr. Die Altjas machen immer wieder den Fehler, neugierig in die Zukunft zu schauen und sich zu täuschen. Manchmal ist es aber auch hilfreich. Ich habe dich wiedergefunden, indem ich in die Zukunft geblickt habe. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und brachte dich damals nach Brisa.“

Aber du hast mich dort im Stich gelassen!“

Ich wusste, dass du eines Tages im Umgekippten Eimer bei mir und Nikodemia auftauchen würdest und so ließ ich dich ziehen. Ebenso wusste ich, dass du noch ein zweites Mal in den Umgekippten Eimer kommen würdest. Auch das hatte ich gesehen. Das hat mich dazu verführt, dich an diesem verhängnisvollen Wintertag nicht zurückzuhalten. Ich ließ es zu, dass du zurück zu den Möwen gehst. Weil ich hoffte, du könntest mir zu einem Wissen verhelfen, an das ich bisher nicht herangekommen war. Geheimes Wissen von und über die Möwen.“

Stattdessen kann ich dir geheimes Wissen von und über die Rabendiener anbieten!“

Auch ich bin etwas klüger geworden in den letzten Jahren. Auf das Wissen kommt es nicht an. Mehr darauf, zur Stelle zu sein, wenn es notwendig ist. Deswegen habe ich dich im Auge behalten, hier in Istland.“

Eine Frau mit vielen Einkaufstaschen und einem sehr nassen Schirm wollte sich auf den Platz neben Elsa setzen. Elsa stand auf, damit die Frau auf den Fensterplatz rücken konnte.

Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

Auch das habe ich in der Vergangenheit gesehen. Es war nicht leicht, diese Welt zu finden. Sie ist sehr abgelegen und unwichtig.“

Ja, ich weiß.“

Elsa setzte sich wieder. Ihr blieb nur noch eine Kante vom Sitz, da die Frau ihre Einkaufstaschen darauf abgestellt hatte. Auch neben Carlos nahm jemand Platz. Die Leute waren so gewöhnlich und Elsa in einer so merkwürdigen Verfassung, dass sie einfach weiterredete, ohne sich darum zu kümmern, was die Leute darüber denken mochten.

Was hast du noch gesehen? Was weißt du über meine Zukunft?“

Das elektrische Licht in der Bahn war gelblich und schwach. Draußen war es noch dunkler geworden. Auf Carlos’ Augen lagen Schatten, die hin- und herwackelten, als die Bahn das Gleis wechselte, um in die Vorstadt abzubiegen.

Es ist immer missverständlich, darüber musst du dir im Klaren sein. Manchmal will man das Richtige tun, um sich vorzubereiten oder zu schützen gegen diese Zukunft, von der man weiß – und dann führt man genau das herbei, was man um jeden Preis hatte verhindern wollen. Also bin ich mir unsicher, was ich dir sagen kann und was nicht. Du sitzt in der Klemme, das weißt du?“

Der Vertrag auf meinem Rücken ist wieder sichtbar. Das heißt, dass mich Gaiuper finden kann. Meinst du das?“

Carlos nickte. Das gelbe Licht auf seinem runzligen Gesicht sah auf einmal ungesund aus.

Ich weiß nicht, ob du fliehen kannst oder nicht. Ich weiß aber, dass du das überleben wirst. Denn eines Tages wirst du nach Istland zurückkehren. Es ist nur so …“

Er brach ab.

Ja?“ Elsa war kurz davor, Carlos an seiner zu großen Kontrolleursuniform zu packen und zu schütteln, da er nicht weitersprach.

Ich weißt nicht, ob es richtig ist, dir das zu sagen …“, fuhr er endlich fort, „Ob es dich nicht entmutigt, aber es muss nicht die letzte Wahrheit sein, sei dir dessen bewusst. Jedenfalls wird dir nicht gefallen, was du siehst, wenn du nach Istland zurückkehrst. Du wirst nicht nach Hause kommen. Sondern du wirst kommen, um wieder zu gehen. Wohin, das weiß ich nicht.“

Was werde ich sehen? Was wird mir nicht gefallen?“

Ich hab es dir erklärt – es ist nur ein kleiner Ausschnitt, ein Lichtkreis, in dem sich etwas abspielt. Du wirst hierherkommen, erschüttert sein und wieder fortgehen.“

Elsa bereute ihre Neugier. Sie wollte von keiner Zukunft hören, die sie erschüttern würde. Sie wollte nicht, dass so eine Zukunft existierte.

Kann ich das verhindern? Könnte es anders kommen?“

Wie ich schon sagte: Wenn du es zu verhindern versuchst, führst du es womöglich herbei, und zwar auf eine Weise, die Schlimmeres bewirken kann, als das, was sich sonst abgespielt hätte. Mit anderen Worten: nein. Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen. Nimm es als Hinweis, aber lass dich nicht davon lenken.“

Warum erzählst du mir das? Was soll ich damit?“

Du wirst überleben, zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, den ich gesehen habe. Das kann ich dir versprechen. Manchmal muss man so etwas wissen. Ich glaube, du solltest es wissen.“

Wie tröstlich. Was tue ich jetzt?“

Vermutlich das, was du tun würdest, wenn du mich nicht getroffen hättest.“

Elsa sah Carlos an und konnte die Trostlosigkeit ihrer Situation kaum fassen.

Ist das alles? Mehr Hilfe kannst du mir nicht anbieten?“

Er schüttelte den Kopf.

So, wie die Dinge stehen“, sagte er, „kann ich dich nicht verstecken. Die Buchstaben sind wieder schwarz, sagst du. Nur du hättest verhindern können, dass das passiert. Es rückgängig zu machen – das wird dir vermutlich nicht schnell genug gelingen. Vorher wird er dich finden.“

Also habe ich alles falsch gemacht.“

Die Frau mit den Einkaufstaschen starrte aus dem Fenster, obwohl da kaum etwas zu sehen war. Sie war in Gedanken und sah völlig unbeteiligt aus. Elsa hätte schwören können, dass sie kein bisschen lauschte. Wahrscheinlich ein Trick von Carlos. Er hatte ja gesagt, dass er das konnte.

Vielleicht hattest du keine Chance“, tröstete er sie. „Ich steige nun aus. Unsere Wege trennen sich. Ob wir uns wiedersehen, weiß ich nicht. Aber denk immer daran, dass du überleben wirst, bis du hierher zurückkehrst.“

Er stand auf, lange bevor die Bahn die nächste Haltestelle erreichte. So unauffällig verschwand er zwischen den Leuten, die im Gang standen, so unauffällig und vollkommen, dass Elsa daran zweifelte, ob er überhaupt da gewesen war. Sie war schließlich verrückt, nach istländischen Maßstäben. Er konnte eine Halluzination von ihr gewesen sein, ein Wahngebilde, das sie ängstigte. Als die Bahn endlich anhielt, stieg sie aus und fand sich an den Toren des Nordfriedhofs wieder. Er befand sich zwischen Innenstadt und Vorstadt im Niemandsland zwischen Feldern und Sportplätzen. Kein Fahrgast außer Elsa war ausgestiegen. Sie merkte es erst, als die leuchtende Bahn in der Dunkelheit verschwand.

Der Regen hatte sich in feuchten Nebel verwandelt, der die Laternen einhüllte und die Enden der Straße verschluckte. Elsa spazierte an den Gleisen entlang. Es kam ihr vor, als wäre sie gerade der einzige Mensch auf dieser Welt. Es gab keine Spaziergänger und keine Autos. Es war sehr still und außer dem Tropfen und dem Rauschen der Rinnsale am Rand der Straße hörte sie nichts. Nichts außer ihren Schritten. Ob ihr die Flucht gelang? Oder würde Gaiuper sie einfangen und sie würde es trotzdem überleben? Carlos hatte darüber nichts gesagt. Aber überleben würde sie. Ganz gleich, was sie tat. Oder nicht? Könnte sie sich darauf ausruhen oder würde sie ihr Leben riskieren, wenn sie sich auf ihre vorhergesagte Zukunft verließ? Langsam wurde ihr klar, dass sie ihre Freunde verloren hatte. Die vertrauten istländischen Gesichter waren weit fort. Sie konnte sie jetzt nicht mehr um Rat fragen, sie würden überhaupt nicht verstehen, was ihr Problem war. Die Gewissheiten der anderen waren nicht mehr ihre eigenen und so war sie wieder allein. Es war ihre eigene Schuld.

Endlich kam doch ein Auto, dessen Lichter im Nebel weich und groß waren. Es fuhr vorüber und hinterließ Stille, so lange, bis die Glocken der kleinen Kirche auf dem Nordfriedhof zu läuten begannen. Es waren kleine Glocken, die in der nassen Luft blechern klangen. Als Elsa sie hörte, fiel ihr etwas ein: Sie war ja so dumm! Wo auch immer Gaiuper sie fände, hier durfte es nicht sein! Sie konnte ihn doch nicht nach Istland locken, ihre Heimat verraten, ihm die Freunde und Verwandten ausliefern, damit er Elsa nach Lust und Laune erpressen konnte! War es das, was Carlos gemeint hatte? War es das, was sie erschüttern würde, wenn sie eines Tages nach Istland zurückkehrte?

Sie blieb stehen. Immer machte sie alles falsch. Jetzt musste sie schnell fort von hier, aber womöglich war Istland längst verloren, es reichte, wenn Gaiuper ihrer Spur folgte und Istland durchquerte, während er ihr folgte. Dann wusste er Bescheid! Außerdem – wohin sollte sie denn gehen? Nachdem sie einmal versprochen hatte, für immer hierzubleiben, für immer hier zu Hause zu sein und nie wieder in Sommerhalt oder einem anderen bekannten Ort aufzutauchen, was gab es da noch?

Neben der Straße zog sich die Mauer vom Friedhof hin. Sie war noch nicht alt, zehn Jahre vielleicht, da war der Friedhof gebaut worden, da das alte Gräberfeld im Inneren der Stadt zu klein geworden war. Da man in Istland keine halben Sachen machte, war eine riesige Fläche zu Friedhofsgelände erklärt worden. Auf dem Friedhof selbst waren die Bäume noch klein und die kurz geschnittenen Wiesen weitestgehend gräberlos. Daher war sich Elsa sicher, dass sie dort kein Tor finden würde. Sehr alte Friedhöfe beherbergten manchmal ein Tor, so wie der Friedhof in Brisa, oberhalb der Stadt. Sie brauchte ein Tor, um Istland zu verlassen. Ein Jahr lang hatte sie keine Welten mehr gewechselt und das Jahr davor auch nur mit fremder Hilfe. Ob sie es überhaupt noch konnte? Sie hatte auch keine Ahnung, wo sich das nächste Tor befand. Dass es überhaupt so etwas wie Tore gab, war ihr vor einer Woche nicht mal in den Sinn gekommen.

Plötzlich hörte sie Schritte. Sie drehte sich um und sah zwei Gestalten, die gebückt unter einem Mantel gingen, den sie sich über den Kopf hielten. Dabei regnete es gar nicht mehr. Vielleicht waren es zwei ganz normale Istländer, aber Elsa konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Als sie am hinteren Eingang des Friedhofs ankam, sah die Dunkelheit jenseits der Mauer verlockender aus, als die lange, leere Straße, die vor ihr lag. Sie bog ab, umrundete die Gießkannenständer und das Sammelbecken für Regenwasser und lief über die Wiese hin zu einer schattenschwarzen Reihe von Büschen, die ein leeres Gräberfeld vom nächsten trennte. Dort wollte sie sich hinhocken und den Eingang beobachten. Aber noch auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. Zu vieles bewegte sich hier auf dem verlassenen Friedhof, in dem doch kaum jemand begraben lag. Einer plötzlichen Ahnung folgend drehte sie sich um und schlug eine andere Richtung ein. Sie lief wieder an der Mauer entlang, diesmal innerhalb des Friedhofs, zurück in Richtung Haupteingang. Denn nicht weit von ihr, ungefähr hundert Schritte entfernt, hantierte jemand mit einer Lampe herum. Dort, wo schmucke Marmortafeln die kleinen Fächer verdeckten, in denen Urnen aufbewahrt wurden, war ein Mann mit Arbeitskittel damit beschäftigt, lauter runde Dinge in seiner Schubkarre zu stapeln. Vorher wischte er sie sorgfältig mit einem Lappen ab, dann hielt er die Lampe hoch, um sie noch einmal zu begutachten. Elsa näherte sich eilig. Das Gefühl, umlagert zu sein und beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Für einen kurzen Moment blickte sie über ihre Schulter zurück, suchte in der Dunkelheit nach Umrissen oder Bewegungen, nahm aber nichts wahr außer Wind und Feuchtigkeit. Es mochten einzig und allein ihre Ängste sein, die sie jagten, daher war sie froh, als sie in das Licht trat, das die Lampe des Friedhofsangestellten um sich verbreitete.

Guten Abend“, sagte der Mann, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Der Lappen, mit dem er arbeitete, war braun von Erde und bestimmt nicht dazu geeignet, etwas sauberer zu machen, als es vorher gewesen war. Elsa schaute zu, wie der Mann einen Schädel polierte, einen Menschenschädel, der eine gelblich braune Farbe hatte.

Bei so Wetter im Dunkeln kommt normalerweise keiner hierher“, sagte der Mann.

Was machen Sie da?“, fragte Elsa, die sich nicht vorstellen konnte, dass diese Tätigkeit zum offiziellen Aufgabenbereich des Friedhofsangestellten gehörte.

Ich kümmere mich nur ein bisschen. Die Armen, die wollen auch mal etwas Aufmerksamkeit haben.“

Er streichelte seinen Schädel am Hinterkopf, legte ihn in die Schubkarre zu den anderen und holte einen neuen Schädel aus einer Kiste, die so bedruckt war wie normalerweise die Bananenkisten im Supermarkt.

Hier!“, sagte er und hielt Elsa den Schädel hin. „Willst du auch mal?“

Zum ersten Mal sah er sie direkt an, freundlich und bittend, wie ein kleines Kind. Doch die Farbe seiner Augen war rotorange.

Keine Angst, er beißt nicht!“, sagte der Mann.

Er sah kein bisschen böse aus und hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit Gaiuper – bis auf die Augen. Elsa starrte von seinem Gesicht hinab auf den Schädel, den er ihr entgegenstreckte und wieder zurück in seine Augen. Die Wahrheit war zum Greifen nah. Sie durfte nicht so panisch sein, sich nicht betrügen lassen von der Nacht, die hier herrschte, obwohl es doch in Kristjanstadt höchsten fünf Uhr abends sein konnte. Nicht spät genug für eine solche Dunkelheit.

Wo bin ich hier?“, fragte sie den Mann. „Können Sie mir das sagen?“

Er schüttelte eingeschüchtert den Kopf.

Das hier“, sagte er und hob den Schädel ein wenig an, „war ein Mann, der früh gestorben ist. An einer Krankheit vermutlich.“

Elsa wandte sich ab und betastete die Friedhofsmauer. Für eine solide Mauer, wie sie in diesen Tagen in Istland gebaut wurden, war sie viel zu weich und ausgewaschen. Hellrotes Pulver blieb an ihren Händen hängen, als sie darüber strich. Wo auch immer sie war, dies war nicht Kristjanstadt und auch nicht Istland. Wann sie die Grenze überschritten hatte und wie, das war ihr nicht klar. Sie musste im Zwischenraum gelandet sein, ohne es zu merken. Wenn sie die Zeichen nicht missdeutete, so kündeten die roten Augen des Friedhofsangestellten davon, dass Gaiuper die Verfolgung aufgenommen hatte. Er würde sie schnell einholen, nicht mal Nikodemia hatte es das letzte Mal verhindern können.

Ich muss weg!“, sagte sie, drückte sich am Schubkarren vorbei und rannte in die Nacht, dorthin, wo normalerweise die leeren Gräberfelder waren, doch jetzt das ungewisse Nichts des Zwischenraums.

Pass gut auf“, rief der Mann hinter ihr her, „nicht dass du in ein offenes Grab fällst!“

Damit hatte er wohl recht. Elsa blieb stehen und erinnerte sich an das, was sie von Nikodemia gelernt hatte. Der Zwischenraum steckte voller Spalten und Abgründe. Wer da hineinfiel, war tot. Was in Elsas Fall vielleicht nicht tragisch gewesen wäre, angesichts der Situation, in der sie sich befand. Trotzdem wollte sie nicht sterben und schon gar nicht so. In Nikodemias Gegenwart hatte sie ihr Empfinden geschult. Konnte einen Hauch der unsichtbaren Löcher wahrnehmen, die den Zwischenraum so gefährlich machten. Aber eben nur einen Hauch. Vorsichtig ging sie voran, den Fuß tastend vor den anderen setzend, und das war natürlich zu langsam.

Den Friedhofsangestellten und sein Licht ließ sie dennoch weit hinter sich. Bald konnte sie keinen Lichtschimmer mehr ausmachen, abgesehen von einem fahlen Lichtfleck am Himmel, der von einem Mond hinter Wolken zeugen mochte, aber wer wusste das schon. Wie man im Zwischenraum die Sonne aufgehen ließ, das war immer noch Nikodemias Geheimnis. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn zu rufen, ohne zu wissen, ob das überhaupt Sinn machte, bis ihr einfiel, dass sie damit nur den Feind anlocken würde.

Nach einer Zeit des fieberhaften, aber langsamen Vorwärtskommens, die ihr in etwa wie eine Stunde vorgekommen war, hielt sie an. Sie atmete tief durch, lauschte. Außer einem Rauschen von Wind in dürren Zweigen hörte sie nichts. Sie ärgerte sich über die verfluchten Zeichen auf ihrem Rücken. Sie hasste sie. Wenn sie aufhören würde, an diese Zeichen zu glauben, dann würden sie verschwinden. So wie das letzte Jahr in Istland. Aber wie sollte sie aufhören, an etwas zu glauben, das ihr Angst machte?

Widerwillig ging sie weiter. Irgendwo zwischen dem vierten oder fünften Schritt wurde alles anders. Denn sie verfing sich in einem Netz oder einem riesigen Sack, so richtig war es im Dunkeln nicht auszumachen, da war jedenfalls etwas Weiches, das sie umfing und einsperrte. Den Boden zog es ihr unter den Füßen weg, sodass sie purzelte, in ihr weiches Gefängnis hinein. Es musste wohl doch ein dicht gesponnenes Netz sein, denn eine kaltfingrige Hand griff hinein und tastete nach ihrem Gesicht. Kaum dass sie es gefunden hatte, kam etwas Kaltes, Feuchtes, das auf Elsas Nase und Augen gedrückt wurde. Den Geruch kannte sie. Es roch wie das Zeug, mit dem Puja die Rosen gegen Schädlinge besprühte. Wenn man es einatmete, hatte man ein bisschen das Gefühl zu ersticken. Doch Elsa erstickte nicht, sie verlor nur das Bewusstsein.


 

Als sie wieder zu sich kam, sah sie seltsame Dinge. Nämlich einen Raum von außen und von innen gleichzeitig. Immer noch war es Nacht, ob im Zwischenraum oder außerhalb, das wusste sie nicht. Sie sah die Umrisse einer Burg auf einem Berg. In dieser Burg leuchtete ein Fenster und zu dem konnte Elsa hineinschauen. Nur eine Kerze brannte in dem großen Raum, dessen Fenster kein Glas hatten. Überhaupt sah alles sehr mittelalterlich aus: Die Holzbänke, der Tisch, die Werkzeuge und die beiden Gestalten in langen Gewändern. Elsa erkannte Gaiuper nur an dem blassen Gesicht mit den roten Augen, das in einer großen Kapuze fast verschwand. Der andere war Unass, Gaiupers Oberpriester, wobei Elsa nie so richtig verstanden hatte, warum er Priester genannt wurde. Ein heiliger Mann war er bestimmt nicht, er predigte auch keine Religion, sondern war nur der durchtriebenste Giftmischer von allen, die Gaiuper beschäftigte. Er hatte ein paar Zaubertricks auf Lager, hielt sich gerne in dunklen Räumen auf und flüsterte Gaiuper Geschichten von einer glorreichen Zukunft ins Ohr. Mit Unass hatte Elsa das Vergnügen gehabt, als sie ihren Vertrag unterschreiben musste. Die unheilvolle Wirkung der Buchstaben auf ihrem Rücken ging auch auf Unass’ Künste zurück. Ein paar Dinge beherrschte er, aber die gereichten niemandem zum Segen. Hier war er nun, zusammen mit Gaiuper in lächerlicher Aufmachung in einer verlassenen Burg mitten in der Nacht. Es hätte Elsa weit weniger beunruhigt, hätte nicht auf einem der beiden Tische sie selbst gelegen, festgebunden von Kopf bis Fuß und daher nicht in der Lage, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Es waren auch keine normalen Seile, die sie banden, sondern sie ähnelten in ihrer Wirkung dem Reif, den Elsa in Bulgokar hatte tragen müssen, oder auch den Schnüren und Fäden der Möwen. Es war komisch, sich selbst von außen zu sehen, das hatte Elsa bisher noch nie getan. Wie konnte es sein, dass sie dort lag und sich doch betrachten konnte? Wenn sie gewollt hätte, hätte sie auch umschalten können, und sich von innen sehen, auf dem Tisch liegend und festgeschnürt, aber so unbeteiligt von außen war es angenehmer und so beließ sie es dabei. Zumindest so lange, wie sie es vermochte.

Die Werkzeuge, die Unass auf dem anderen Tisch ausgelegt hatte, verhießen nichts Gutes. Nadeln waren da, Schalen mit Pulver, ein Mörser, mehrere Flaschen und Gläser mit Flüssigkeiten, ein Hammer, Klammern aus Metall, eine Spritze.

Wie lange wird es dauern?“, fragte Gaiuper.

Nicht lange. Soll ich anfangen?“

Eines Tages, daran musste Elsa gerade denken, würde sie nach Istland zurückkehren. Sie würde erschüttert sein, das hatte Carlos ihr angekündigt. Aber mal abgesehen davon würde sie tatsächlich zurückkehren. Wie das unter diesen Umständen, die sie gerade unfreiwilligerweise beobachten musste, möglich sein könnte, war ihr ein Rätsel. Aber es machte ihr Mut. Sonst hätte sie sich in diesem Moment aufgegeben.

Als Unass auf ein Nicken von Gaiuper hin anfing, mehrere Nadeln in Elsas Schädel zu bohren und mit einem Hammer nachzuhelfen, wenn sie stockten, da wandte sie schnell ihren Blick ab und schaute in die Landschaft. Tannenwald musste das sein, unterhalb. Sie sah die Spitzen der Bäume. Ein kurzer Blick zurück verriet ihr, dass Unass ein Tuch in mehrere Flüssigkeiten tunkte und dann gegen Elsas Nase drückte. Als nächstes träufelte er ihr aus einer sehr kleinen Flasche mehrere Tropfen auf die Zunge. Da Elsa mehr oder weniger bewusstlos war, öffnete er ihren Mund mit einer Zange, klemmte etwas zwischen die Zähne und träufelte dann. Elsas Aufmerksamkeit wandte sich wieder den Tannen zu.

Ein Knacken und Kratzen war zu hören, dann bat Unass um die Spritze, die bereit lag. Er hatte keine Hand frei. Gaiuper reichte sie ihm, vermutlich, denn kurze Zeit später, geschah etwas mit Elsa, das sie nicht länger ignorieren konnte. Etwas bemächtigte sich ihrer und zerrte sie geradezu in den Schädel zurück, der da auf dem Tisch lag, und nicht anders konnte, als wild zu denken oder vielmehr zu erinnern. Eine Flut von Bildern strömte auf einmal auf sie ein. Als hätte man die festen Grenzen zwischen all ihren unzähligen Leben eingerissen, flossen die unterschiedlichsten Gedanken, Namen, Erinnerungen und Gefühle ineinander. Ein Chaos, eine Lebensbrühe entstand, der sie kaum Sinn abgewinnen konnte. Nur einzelne Szenen wurden ihr deutlich klar. Mal war es ein kurzer Wortwechsel zwischen ihr und einem Altja. Dann sah sie ein Baby, das sie in den Armen wiegte, aber hergeben musste. Einmal starrte sie auf ihre alten, knorrigen Hände und wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Dann war sie wieder ein Kind, das mit Usido über einen Schrottplatz rannte und nach Teilen suchte, aus denen man sich etwas bauen könnte. Usido. So hatte Nikodemia einmal geheißen. Es waren nur Bruchstücke, die sie bewusst erleben und denen sie einen Zusammenhang abtrotzen konnte. Der Rest überforderte sie vollkommen.

Das Durcheinander von Bildern fraß sie regelrecht auf. Sie spürte keinen Körper mehr, wusste nicht mehr, wo sie war, und hatte keine Ahnung von dem Raum, in dem sie sich befand. Sie schien aus nichts mehr zu bestehen als aus Erinnerungsfetzen, die wie wild um sie herumwirbelten und kreisten, oder vielmehr: Sie war nur noch dieser Wirbel selbst, in dessen Zentrum nichts war. Ein Wirbel mit einer leeren Mitte. Bisweilen hatte das Loch in der Mitte die Gestalt oder den Umriss eines Raben. Er entstand aus dem absoluten Nichts, er gewann nur Kontur aus der Grenze zum Sein. Aber vielleicht war das auch eine Sinnestäuschung. Elsa erlebte all das ganz deutlich und gleichzeitig wie betrunken. Später, als sie die Muße hatte, sich zu erinnern, da tauchte dieses und jenes auf, da schälte sich das eine oder andere vergangene Leben aus dem Chaos, sodass sie zu dem Schluss kam, dass sie sich in diesem Moment an alle Leben gleichzeitig erinnert hatte, doch nicht in der Lage gewesen war, diese Erinnerung zu fassen. Wie lange dieser Zustand anhielt, das konnte sie beim besten Willen nicht sagen, nicht jetzt, da es geschah, und auch später nicht mehr, denn die Zeit war wie ausgesetzt. Ihr wurde nach und nach klar, dass jemand all die wirbelnden Gedanken und Bilder verdichtete, zusammendrängte und in etwas hineinstopfte, wofür sie eigentlich zu groß und zu ausladend waren. Mitsamt der leeren Mitte in Gestalt eines Raben wurde der Wirbel in ein Behältnis gesteckt, das zur Langsamkeit zwang. Die Bilder hörten auf zu wirbeln, sie setzten sich, sie klebten aneinander. Zu benommen war der Patient, um zu begreifen, was mit ihm passiert war.

Ich bin müde“, hörte Elsa sich selbst sagen. Doch sie hörte nicht ihre eigene Stimme, sondern die von Gaiuper.

Das ist nicht verwunderlich“, antwortete Unass. „Dein Geist muss sich erst an die neuen Bedingungen gewöhnen. Bis du ihre Kräfte benutzen kannst, wird einige Zeit vergehen.“

Ich kann sie beherrschen“, sagte Gaiuper. „Das konnte ich immer schon. Was will ich mit einem starken Raben, wenn ich mir einen schwachen einverleiben kann? Wann können wir nach Ganduup zurückkehren?“

Elsa schauderte. Immer wenn sie sprach, dann hörte sie Gaiupers Stimme. Es waren auch nicht ihre eigenen Gedanken, die ausgesprochen wurden, sondern seine. Sie strengte sich an, etwas anderes zu sehen als nur Dunkelheit. Langsam lichtete sich das Blickfeld. Was sie sah, war das durchschnittliche, ungesunde Gesicht von Unass.

Wir sollten noch einen halben Tag abwarten. Es soll ja auch niemand merken, dass mit dir etwas nicht stimmt.“

Elsa konnte sich ihre Blickrichtung nicht aussuchen. Sonst hätte sie sich von Unass abgewandt und nach dem Tisch Ausschau gehalten, auf dem sie eben noch gelegen hatte. Sie ahnte jedoch, dass der Tisch leer war. Sie ahnte, dass sie in einem Gefängnis steckte. Diesmal war es kein Käfig. Diesmal war es nicht dunkel. Vielleicht war es schlimmer. Der Vogel war in einen Kopf gesteckt worden. In einen fremden Geist. Und mit diesem Geist wollte sie nichts gemein haben.