KAPITEL 16


 

Du solltest wachsamer sein“, sagte Anbar.

Elsa war noch ganz verwirrt von ihrem Traum. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Sie rieb sich die Augen mit den Ärmeln ihres Kleides und gab einen leisen Seufzer von sich.

Es gehört sich nicht, einfach so hereinzukommen“, sagte sie.

Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du auch nicht angeklopft“, erwiderte er. „Außerdem haben wir beide noch nie mit gutem Benehmen geglänzt. Also was erwartest du?“

Er war ungewohnt freundlich heute. Seine Stimme klang milde und die grauen Augen schauten nicht so eisig wie sonst. Eigentlich waren sie blaugrau. Da sie einander gegenüber saßen und das Licht dieses hellen und sonnigen Nachmittags zu den Fenstern hereinschien, konnte sie es deutlich erkennen. Sie versuchte einzuschätzen, wie alt er war. Aber es gelang ihr nicht. Sie fragte sich kurz, ob die Damen im Schloss auch seinetwegen schlechte Romane bestellten, hielt es aber für unwahrscheinlich. Schön genug war er ja mit seinem blonden Haarschopf und dem Heldengesicht, andererseits konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie er solche Romane und alles, was damit zusammenhing, verachtete und den Damen rechts und links um die Ohren haute, sobald sie ihn damit behelligten. Elsa hätte es durchaus begrüßt, wenn er hässlicher gewesen wäre. Das hätte es einfacher gemacht. Er saß ihr gegenüber, schaute sie an, sagte kein Wort mehr und überließ es ihr, mit dem Betteln zu beginnen. Das fiel ihr sehr schwer, aber es half ja nichts.

Ich brauche ‚Bolhins Reisen!’“, sagte sie.

Er hatte wirklich einen guten Tag. Statt sie in den üblichen Schraubstockblick zu nehmen, nickte er verständnisvoll und meinte:

Deswegen bist du hier?“

Ja. Und wenn du es mir gibst, bin ich ganz schnell wieder weg!“

Sie lächelte, wie sie hoffte, auf gewinnende Weise.

Was hast du mit dem Buch vor?“

Ich lese es. Ich habe es vor vier Jahren angefangen und frage mich seitdem, wie es ausgeht.“

Er hob die Augenbrauen.

Dann muss es ja unglaublich spannend sein!“

Oh ja! Hast du es gelesen?“

Lächelnd, doch weniger milde als vorher, erklärte er:

Antolia ist keine Leihbücherei. Du musst dir etwas Besseres einfallen lassen, damit ich versucht bin, Staatsbesitz an den Feind auszuliefern.“

Das hörte Elsa nicht gern. Tatsächlich setzte kurz ihr Herz aus, als er das sagte. Sie richtete sich auf, faltete so fest ihre Hände, dass es wehtat, und starrte ihm geradewegs in die blaugrauen Augen.

Ich brauche es. Es ist lebenswichtig für mich! Sag mir, was ich dir erzählen muss, damit du es mir gibst, und ich erzähle es dir!“

Das klingt schon besser“, sagte er. „Was macht es denn so lebenswichtig?“

Gaiuper hat mir Folter und Tod angedroht, wenn ich es nicht bekomme. Er braucht mich nicht mehr, er hat Morawena, und ich weiß, er wird seine Wut an mir auslassen, wenn ich nicht liefere, was er haben will. Aber wenn ich ihm das Buch bringe, lässt er mich laufen.“

Er lässt dich laufen? Niemals.“

Doch, das wird er tun. Wenn du als Antolianer auch nur halb so gut wärst, wie du immer tust, dann lässt du nicht zu, dass mich Gaiupers Schläger in alle Einzelteile zerlegen!“

Das möchte ich wirklich nicht“, sagte er. „Aber ich glaube nicht daran, dass er dich laufen lässt. Warum sollte er? Er ist doch nicht blöd.“

In gewisser Weise mag er mich. Deswegen glaube ich, dass er sein Wort hält. Vor lauter Freude über das Buch.“

Anbar schaute sie nachdenklich an.

Also“, sagte er nach einer Weile, „das leuchtet mir nicht ein. Er lässt dich gehen, weil er dich mag?“

Elsa nickte. Sie meinte es so. Aber es war schwer zu erklären.

Er denkt, dass er mir überlegen ist. Wie eine Katze einer Maus. Deswegen wird er mich laufen lassen, in dem Glauben, dass er mich jederzeit wieder einfangen könnte, wenn er das wollte.“

Was vermutlich auch stimmt?“

Ja … na, ja … schon, aber ich lebe seit einiger Zeit von Gelegenheit zu Gelegenheit. Wenn er zwei Jahre lang ohne mich auskommt, wäre das schon schön. Vielleicht vergisst er mich sogar, dann hätte ich eine Chance. Außerdem hat er ja etwas vor. Angenommen, er zieht mit Morawena in den Krieg, dann trifft ihn vielleicht ein verirrter Pfeil oder so etwas und ich bin frei. Alles Mögliche könnte passieren, jedenfalls könnte viel Besseres passieren, als dass ich morgen früh mit leeren Händen dastehe! Natürlich kann ich versuchen, ihnen Lügen zu erzählen, aber dann quetschen sie alles aus mir heraus, was ich über das Buch weiß, und gehen der Sache selbst nach. Dann lässt mich Gaiuper vor die Hunde gehen und hat seine grausige Freude daran, denn er hat einen Knall und zwar einen mächtigen!“

Er hörte ihr aufmerksam zu, durchaus mitfühlend, aber nicht nachgiebig.

Das ist der Haken an der Sache“, sagte er. „Das Buch enthält wichtige Geheimnisse. Wenn er herausfindet, was es damit auf sich hat, befindet sich gefährliches Wissen in den Händen eines Mannes mit einem mächtigem Knall, wie du sagst.“

Elsa nickte. Das wusste sie leider auch.

Andererseits“, fuhr Anbar fort, „glaube ich, dass er einen willigen Raben braucht, um das gefährliche Wissen nutzen zu können. Hat er den?“

Hm … ich weiß nicht … nein, eigentlich hat er keinen. Mich jedenfalls nicht.“

Aber mit Morawena wird er in den Krieg ziehen? Hast du das nicht gerade erwähnt?“

Elsa wollte nichts Falsches sagen. Aber das war schwierig.

Zumindest hat er sie aufgeweckt. Sie ist wach und redet nur, wenn es ihr Spaß macht, also fast nie. Ich glaube, sie kann ihn nicht leiden.“

Natürlich kann sie ihn nicht leiden“, sagte er, „sie hat ja Geschmack. Aber wird ihre Abneigung sie daran hindern, mit ihm zusammenzuarbeiten? Ich will deine ehrliche Einschätzung hören!“

Muss das sein?“

Sie lehnte sich zurück und starrte vor sich auf den Tisch. Dieses Gespräch nahm einen unguten Verlauf. Sie erzählte alles, was sie wusste, und was bekam sie dafür? Nichts. Morawena hätte es anders gemacht. Sie wäre durchtriebener gewesen. Sie hätte das Buch bekommen, ohne ihr Wissen preiszugeben. Sie hätte Anbar sogar auf eine falsche Fährte gelockt und damit die Hochwelten zum Narren gehalten. Aber Elsa aus Istland fühlte sich gerade überfordert.

Du hältst es also für möglich, dass Morawena auf Gaiupers Seite kämpft?“, fragte er, ihr Schweigend deutend.

Elsa konnte es nicht leugnen. Sie erinnerte sich gut an ihr Gespräch mit Morawena. Diese Frau war so traurig gewesen. Traurig genug, um alles wegzuwerfen und verbissen das Nichts zu suchen.

Ja“, sagte sie, „es kann schon sein, dass sie’s tut.“

Das deckt sich mit meinen Befürchtungen.“

Elsa schaute auf. Er meinte es ganz ernst.

Hast du mir nicht mal erklärt, sie sei der gütigste Mensch, den es gibt?“

Ich bin von ihrer grundsätzlichen Gutmütigkeit überzeugt“, sagte er. „Aber sie war nie einfach, sie ist Ulissa ähnlicher, als die Leute denken. Das bedeutet, dass sie gut im Austeilen ist und sich nicht immer beliebt macht, aber einen starken Gerechtigkeitssinn hat. Das Problem ist, dass solche Leute Fehler machen, wenn sie verzweifelt sind. Sie war sicher verzweifelt, als sie Gerard ermordet hat, aber sie wird heute noch viel verzweifelter sein, in dem Wissen, dass sie es nicht rückgängig machen kann.“

Sie hat ihn wirklich umgebracht?“

Sie hat es tun lassen.“

Warum?“

Ich vermute, er hat sie fallen lassen, nachdem er die Wahrheit über sie herausgefunden hat.“

Elsa dachte an Morawenas Gesichtsausdruck, als sie über Gerard gesprochen hatte.

Sie mochte ihn“, sagte Elsa. „Sie mag ihn immer noch. Das habe ich ihr angesehen, als sie mir von ihm erzählt hat.“

Anbar nickte langsam.

Sie war verrückt nach ihm. Zu verrückt wahrscheinlich. Aber reden wir über das Buch. Ich gebe es dir, wenn du mir etwas versprichst.“

Das klang nun völlig unglaubwürdig.

Du gibst es mir? Was für ein Versprechen soll das sein?“

Ich möchte, dass du mir alles erzählst, was du über das Buch und seine Hintergründe weißt.“

Das ist nicht viel.“

Wir werden sehen.“

Elsa starrte ihn an. Er lachte über ihren Unglauben.

Es ist kein Trick“, sagte er. „Dort liegt es.“

Er zeigte zum Nachtschrank und Elsa drehte den Kopf. Tatsächlich – das begehrte Buch befand sich dort, es hatte die ganze Zeit dort gelegen, während sie gesprochen hatten, aber sie hatte es nicht gesehen. Er musste es dort hingelegt haben, als er gekommen war.

Das soll kein Trick sein?“, fragte sie skeptisch.

Wir beide wissen, dass du in Krisensituationen stärker bist als ich“, erklärte er ihr. „Also musst du keine Angst haben, dass ich es plötzlich an mich reiße. Es gehört dir.“

Sie prüfte noch einmal, ob er auch keinen verdächtigen Eindruck machte, dann stand sie auf, um ihr Buch zu holen. Sie verspürte ein tiefes Glücksgefühl, als sie es in beide Hände nahm und durchblätterte. Das war ihr Buch! Es fühlte sich an, als hätte es schon immer zu ihr gehört und sei nun an seinen angestammten Platz zurückgekehrt. Dabei wusste sie, dass es nur für kurze Zeit bei ihr bleiben konnte. Was hatte er eben noch gesagt? Ach ja – dass sie in Krisensituationen stärker sei als er.

Amandis hat mir erzählt, dass du Kopfschmerzen hattest“, sagte sie, „und Schwindelgefühle. Aber du warst ja selbst schuld.“

Findest du?“

Elsa wusste überhaupt nicht, was los war. Die Sonne stand jetzt so tief, dass sie das ganze Zimmer mit Licht überflutete. Es war ein gemütlicher Ort, ein sicherer, zumindest für diesen Augenblick. Weil sie das Buch hatte. Aber warum fühlte sie sich so wohl damit? Sie blieb stehen, wo sie war, neben dem Nachtschrank, denn sie wollte nicht, dass ihr wertvoller Schatz, an dem ihr Leben hing, in Anbars Reichweite geriet.

Mir kam schon die Idee“, sagte sie, „dass du mir gar nicht den Hals durchschneiden wolltest, sondern es nur auf den Reif abgesehen hattest. Damit ich verschwinde. Stimmt das?“

Du kommst auf alberne Ideen. Dich ins nächste Leben zu befördern war zu dem Zeitpunkt das vorrangige Ziel aller Ausgleicher. Die Hochwelten wollten sich erst gar nicht mit dem Verfahren aufhalten, sondern die Gefahr möglichst schnell bannen, auch wenn es nur vorübergehend wäre.“

Was du ja getan hast. Ja, je länger ich darüber nachdenke …“

Wenn du glaubst, ich sei generell zu sanftmütig, dich über die Klinge springen zu lassen, dann täuscht du dich!“

Das war nun finster gesprochen, mit einem entsprechenden Gesichtsausdruck, aber Elsa glaubte nicht daran.

Du lügst andauernd. Ist das weit verbreitet unter euch tugendhaften Antolianern?“

Nein, ich bin eine unrühmliche Ausnahme“, sagte er. „Die Relings haben mich verdorben.“

Das erinnert mich an etwas, das mir Ulissa erzählt hat: dass du im Grunde mit Sistra zusammensteckst und ihr beide macht, was ihr wollt.“

Ja, das dachte Ulissa“, sagte er. „Es hat sie immer furchtbar aufgeregt.“

Dann stimmt es also?“

Ich mache mich bestimmt nicht zu Sistras Werkzeug. Auch wenn ich ihren Ansichten ab und zu etwas abgewinnen kann. Es ist nicht schlecht, wenn man seine Gegenspieler versteht. Es kann nur nützlich sein.“

Sistra kann deinen Ansichten auch ab und zu etwas abgewinnen?“

Ja, so ist es.“

Dann findest du es gut, dass sie Raben in Käfige sperrt und dort vergammeln lässt?“

Hier stand Anbar unvermittelt auf, worüber sie erschrak. Sie machte einen Schritt rückwärts, das Buch an sich gedrückt.

Ich setze mich nur auf den anderen Stuhl, wenn es dir recht ist, weil die Sonne mich blendet“, erklärte er. Sie sah, dass es stimmte, ein heller Streifen aus Licht lag auf seinem Gesicht und verschwand nun in Richtung Wand, da Anbar auf der anderen Seite des Tisches Platz nahm, den Stuhl ihr zugewandt.

Ich mag es nicht“, antwortete er nun auf ihre Frage. „Es leuchtet mir zwar ein, dass der Käfig die sicherste Aufbewahrungsmöglichkeit für einen Raben ist, aber als Antolianer lehne ich eine so grausame Unterbringung von Gefangenen ab. Wenn es stimmt, was Sistra und viele andere Möwen glauben, nämlich dass ein oder mehrere Raben noch eine wichtige Rolle im Ablauf der Weltengeschichte spielen werden – wenn sie auch keine Ahnung haben, welche – dann ist es nur schlüssig, die Raben aus dem Verkehr zu ziehen und unschädlich zu machen, aber am Leben zu lassen. In Sistras Augen ist das Verfahren, das die Hochwelten entwickelt haben, um euch auszulöschen, eine Katastrophe. Aber es gibt auch Möwen, die das Verfahren sehr schätzen. Du kennst Ega Miss?“

Den Namen hörte Elsa gar nicht gern.

Ja, natürlich. Das weißt du.“

Sie strebt ein Bündnis mit den Hochwelten an, da sie im Verfahren die einzig sinnvolle Lösung für das Rabenproblem sieht. Für das Problem, das sie mit dir hat, insbesondere, da du ja den guten Edon auf dem Gewissen hast.“

Er ist überhaupt nicht gut gewesen!“, rief sie. „Es war Notwehr!“

Ja, natürlich“, sagte er beschwichtigend, „ich mache dir ja keinen Vorwurf. Er wollte dich umbringen, vorher hast du ihn umgebracht, so etwas passiert nun mal im Krieg. Es haben ein paar Gerüchte über die Art und Weise seines Ablebens die Runde gemacht, die mich im Nachhinein froh machen, dass ich mit einer einfachen Kopfnuss davongekommen bin. Aber Ulissa hätte dich beglückwünscht, da bin ich sicher.“

Warum?“

Sie hat ihn gehasst“, sagte er schlicht.

Sie hatte den Eindruck, dass er Ulissas Meinung über Edon teilte. Er wollte aber kein weiteres Wort darüber verlieren, das war ihm deutlich anzusehen. Elsa war das nur recht. Sie schaute aus dem Fenster in den dunkelblauen Himmel, über den kleine, weiße Wolken zogen.

Weißt du immer noch nicht, warum du Ulissa so ähnlich siehst?“, fragte Anbar.

Elsa riss sich von den Wolken los. Sie sah kurz Anbar an, beschloss dann, dass es keinen Unterschied machte, ob er es wusste oder nicht, und ging an ihm vorbei zu der Wand, an der die Zeichnung von Agnes hing. Als sie das Bild von der Wand nahm, wirbelte sie eine Menge Staub auf, der im Licht leuchtete.

Hier!“, sagte sie und reicht es Anbar. „Das kam mir schon immer bekannt vor.“

Er schaute sich das Bild an und sah dann zu Elsa auf.

Es sieht dem Mädchen wirklich ähnlich. Ich glaube, Ulissa hat das Bild gezeichnet. Kann das sein?“

Ja, glaube ich auch. Hast du Agnes gekannt?“

Er nickte.

Ich habe sie in dem Sommer kennengelernt, als Nada mit ihr aus Trotz zurückkam. Nada hatte nicht viel Zeit für sie, weil er Gerard vertreten musste, der auf einer großen Reise war. Das war schlimm, denn Agnes wurde nicht gut behandelt und schloss auch keine Freundschaften. Wir dachten, es tue dem Mädchen vielleicht gut, wenn Ulissa und Amandis ihre Ferien hier verbringen würden. Aber gleich bei der ersten Begegnung machte es Ulissa Spaß, die ängstliche Agnes zu Tode zu erschrecken, wie es nun mal Ulissas Art war. Das Mädchen ist in Tränen ausgebrochen und Amandis wollte es trösten. Sie hat Agnes ihre Schildkrötendose geschenkt. Das ist die Dose, die hinter dir im Regal steht.“

Elsa drehte sich um. Da stand sie, die Dose, auf ihren vier Beinen und hatte sich in all der Zeit nicht vom Fleck bewegt.

Agnes mochte die Dose“, fuhr er fort. „Sie trug sie überall mit sich herum. Ich muss dir vermutlich nicht erzählen, dass sie sich später doch noch mit Ulissa angefreundet hat? Sie fühlte sich sicher in Ulissas Nähe.“

Elsa setzte sich auf ihr Bett und starrte auf den Boden, auf die trockenen Blätter, die dort lagen. Er wusste es und sie wusste es auch, dass Agnes ihre Erinnerung an Ulissa mitgenommen hatte ins nächste Leben. Vielleicht wollte sie genauso stark und furchtlos werden wie ihre Freundin. Vielleicht war es aber auch nur Dankbarkeit, weswegen sie ihr neues Leben mit Ulissas Gesicht begonnen hatte und es seither für ihr eigenes hielt.

Agnes hatte die gleichen Augen wie du“, sagte Anbar. „Zwar waren ihre blau und nicht so dunkel wie deine, aber es steckte das gleiche Nichts darin, vor dem sich die Leute fürchten. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hätte ich schwören können, dass es die gleichen Augen sind.“

Er betrachtete wieder die Zeichnung.

Du siehst zwar aus wie Ulissa“, stellte er fest, „aber den Charakter dieses Kindes hast du behalten. Du bist Agnes wesentlich ähnlicher als Ulissa.“

Ist das so?“, fragte Elsa. „Das gefällt mir nicht.“

Oh, aber mir gefällt es“, sagte er. Er löste seinen Blick von der Zeichnung und schaute Elsa an. „Du bist wesentlich pflegeleichter als Ulissa.“

Pflegeleichter!“

Ja. Dafür steht dir ihr Gesicht ganz gut“, sagte er. „Wer hat dich eigentlich so herausgeputzt? War das Amandis?“

Elsa war kurz sprachlos.

Dann bist du vermutlich auch der Ansicht, dass meine Nase heute viel besser in mein Gesicht passt als vor vier Jahren?“

Ich wusste schon vor vier Jahren, wie sich deine Nase entwickeln würde. Ich hatte mich ja erst kurz vorher mit dem Original herumgeärgert. Wer lässt sich denn über deine Nase aus? Romer?“

Ja“, sagte Elsa, nahm Anbar die Zeichnung aus der Hand und brachte sie an ihren Platz zurück. „Er will heute Nachmittag Amandis’ Seele erobern, weil sein Leben ohne sie sinnlos ist, und danach will er mit mir Wein trinken.“

Was du hoffentlich nicht tun wirst, denn weder Romer noch Wein sind gerade gut für dich.“

Nein, das hatte ich auch nicht vor.“

Er beugte sich über den Tisch und beschattete seine Augen mit den Händen, um sie besser sehen zu können.

Kannst du dich an Agnes erinnern?“, fragte er. „Weißt du, dass du schon mal hier gewesen bist?“

Ich träume manchmal von ihr. Aber es macht mir keinen Spaß. Glaubst du, dass Romer bei Amandis Erfolg hat?“

Ich hoffe es. Ich habe ihm sehr dazu geraten, es zu probieren.“

Elsa war überrascht. Sie war gerade dabei gewesen, das Bild wieder aufzuhängen, doch nun ließ sie es sinken und sah Anbar erstaunt an.

Das hast du? Gehört sich das für jemanden, der bei der Hochzeit für Amandis’ Vater einspringen soll?“

Als Bruder springe ich ein, nicht als Vater. Ich will ihr Bestes und das Beste für Nada. Beide bedeuten mir sehr viel. Sie sollten auf keinen Fall heiraten.“

Amandis sollte lieber Romer heiraten?“

Nein, das nun auch wieder nicht. Aber Romer ist weg, bevor es dazu kommen könnte. Es hält ihn nie lange bei den Seelen, ohne die sein Leben sinnlos ist.“

Ach ja? Vielleicht ist es diesmal anders?“

Nein, so weit ist er noch nicht.“

Elsa war verwirrt. Sie hängte das Bild an die Wand, kehrte zu ihrem Bett zurück und setzte sich ans Fußende. Anbar fest im Blick, ihr Buch immer noch an sich gedrückt, machte sie ihrem Unmut Luft:

Das willst du ihr antun? Amandis mit einem Mann verkuppeln, der sie im Stich lassen wird?“

Das macht doch nichts“, sagte er ungerührt. „Romer ist so etwas wie eine Kinderkrankheit. Die Mädchen erwischt es, wenn sie erwachsen werden. Das Fieber ist kurz und heftig und wenn es vorüber ist, sind sie schlauer als vorher.“

Schlauer sind sie dann? Unglücklicher wahrscheinlich!“

Eins bedingt das andere, aber das Unglück geht vorbei. Es ist ja nicht so, dass Romer die wahrhaftige Erfüllung eines Mädchentraums ist, sondern dass er genau weiß, was er tun muss, um dafür gehalten zu werden. In Amandis’ Fall wäre mir das nur recht. Sie ist sowieso anfällig für solche Schaumschläger und dann ist es doch besser, sie fällt vor ihrer Ehe auf Romer herein als während ihrer Ehe auf irgendeinen anderen.“

Vielleicht liegst du aber auch vollkommen falsch“, sagte Elsa. „Wenn Nada und Amandis heiraten wollen, dann werden sie schon wissen, warum.“

Findest du denn, dass sie zusammen passen?“

Elsa ließ sich Zeit mit der Antwort.

Nun ja“, sagte sie nach einer Weile, „ich finde, er ist etwas zu alt für sie.“

Nein, das wäre kein Grund. Da habe ich schon Schlimmeres gesehen.“

Aber er ist mindestens fünfzig!“

Anbar zeigte sich überrascht.

Mindestens fünfzig? Da tust du ihm aber Unrecht. Was kann er dafür, dass es hier keine richtigen Ärzte gibt und nur fettige Brotas? Außerdem hat er viele Sorgen und so ein langer Bart lässt einen älter aussehen …“

Wie alt ist er denn nun?“

Näher an Amandis als an der Fünfzig.“

Dann ist er nicht so alt, wie ich dachte, aber rein äußerlich passen sie nicht gut zusammen. Was nicht heißen soll, dass sie sich nicht mögen. Wenn sie sich mögen, dann ist das wichtiger als der Rest.“

Sicher mögen sie sich. Aber deswegen müssen sie ja nicht gleich heiraten.“

Meine Tante Sani hat immer gesagt, dass solche Ehen die besten sind. Wenn man sich nur mag und nicht mehr als das. Weil man dann nicht zu viel erwartet.“

Das mag auf einige Leute zutreffen, aber nicht auf diese beiden. Nada ist immer noch vernarrt in Morawena und glaubt, mit Amandis könne er sie vergessen. Amandis denkt, sie entkommt ihrer Familie und ihren Sorgen und wird endlich ernster genommen als Königin von Sommerhalt. Aber nichts davon wird sich erfüllen. Beide werden heimlich noch unglücklicher sein als vorher, doch sie werden zu anständig sein, um es den anderen wissen zu lassen. Findest du das gut? Soll ich das zulassen?“

Elsa wollte nicht nachgeben.

Nur weil du es so kommen siehst, muss es ja nicht so kommen.“

Er stand auf, weniger plötzlich als das letzte Mal, und zog seinen Stuhl in den einzigen schattigen Winkel, der noch übrig war.

Ich bin ja auch nicht hier, um mit dir über meine Sorgen zu plaudern“, sagte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. „Obwohl es ganz unterhaltsam ist. Trotzdem sollten wir jetzt über das Buch sprechen.“

Ja“, sagte Elsa und rutschte ans Kopfende ihres Bettes. Dort konnte sie sich an die Wand lehnen und ihr Kissen in den Arm nehmen, zusammen mit dem Buch. Sie fühlte sich besser so. „Was ist damit?“

Es ist aus dem Nichts aufgetaucht. Sollte das Buch früher schon existiert haben, in irgendeiner Welt, dann hat es bisher keiner bemerkt oder für wichtig gehalten. Was darin steht, ist Möwen und Ausgleichern neu. Vermutlich hat es vor sehr langer Zeit ein Rabe geschrieben, der sich vor dem Vergessen schützen wollte. Er wollte sein Wissen festhalten, damit er in seinen nächsten Leben darauf zurückgreifen kann.“

Elsa dachte gleich an den Dichter mit den schmutzigen Fingernägeln. Sie hatte ihn schon immer für einen ehemaligen Raben gehalten.

Er beschreibt den Untergang der Alten Welt“, erklärte Anbar weiter. „Er behauptet, dass diese Katastrophe das Universum in zwei Teile gesprengt hat, zwischen denen es keine Verbindung mehr gibt. Universum ist eigentlich das falsche Wort, denn jede Welt hat ihr eigenes Universum. Aber wenn wir jetzt mal die Vielheit der Welten als riesengroßes Universum bezeichnen, so behauptet dieser Mann, dass es jetzt zwei davon gibt. Kannst du dir das vorstellen?“

Ja“, sagte Elsa. „Aber es gibt eine Verbindung zwischen beiden Universen, denn ich komme aus dem anderen.“

Genau das wollte ich von dir wissen“, sagte Anbar. „Agnes konnte unsere Sprache nicht sprechen.“

Ja, weil sie dort tausend unterschiedliche Sprachen sprechen.“

Aber sie konnte kundrisch. Deswegen liegt das Wörterbuch hier.“

Ach ja? Das wusste ich nicht. Vielleicht ist das die Sprache, die die Raben drüben sprechen. Untereinander. Es gibt dort viele von uns.“

Das war eine Neuigkeit für Anbar.

Es gibt viele von euch?“, fragte er. „So wie den Jungen, mit dem du im Zwischenraum gewesen bist? Die Möwen konnten ihn nicht sehen, aber sie haben ihn gehört.“

Er und ich sind aus Versehen hier gelandet. Wir sind über eine Grenze gegangen, irgendwo im Zwischenraum, und konnten nicht mehr zurück. Er hat mich verloren oder ich bin weggelaufen, jedenfalls sagt er, ich wäre plötzlich weg gewesen. Ich weiß das alles nicht mehr, weil ich zwischendurch gestorben bin, aber er kann sich daran erinnern.“

Er muss mittlerweile erwachsen sein“, sagte Anbar. „Das ist mehr als erstaunlich, denn normalerweise entdecken Raben mit zwölf oder dreizehn Jahren ihre Fähigkeiten, probieren sie aus und verraten sich damit. Es sei denn, sie wissen so viel über sich selbst und ihre Feinde, wie es Morawena getan hat. Aber dieser Junge ist nie entdeckt worden. Als er mit dir geflohen ist, hat er sich kurz bemerkbar gemacht. Seitdem ist er wieder verschwunden. Spurlos. Ich kann ihn nur bewundern dafür!“

Elsa hörte es nicht gern, wenn Nikodemia gelobt wurde. Es stimmte zwar, er hatte sich viel geschickter angestellt als sie. Aber er hatte auch mehr gelernt als sie und konnte sich an früher erinnern.

Das haben ihm die Altjas beigebracht“, sagte sie. „Das sind Rabenlehrer. Sie sind im anderen Universum die Anführer der Raben. Sie wollen, dass alle Raben arm sind und ihre Kräfte nicht benutzen. Weil sie sonst den Welten schaden. Das hat mir der Junge erzählt. Seinen Namen verrate ich dir nicht.“

Weißt du, wo er ist? Könnte er dir helfen, wenn du jetzt gleich von hier verschwinden wolltest?“

Nein“, sagte Elsa. „Ich habe keine Ahnung, wo er steckt.“

Wenn du es genauso machen würdest wie er, wenn du dich genauso gut verstecken könntest, dann wärst du vielleicht nicht auf Gaiupers gute Laune angewiesen. Du könntest irgendwo leben, ohne in Gefahr zu sein.“

Es klang, als ob ihm wirklich etwas daran läge. Aber es war ja aussichtslos.

Gaiuper wird mich immer finden. Auf meinem Rücken steht ein Vertrag. Anders als bei dem Jungen. Der hat keinen Vertrag auf dem Rücken stehen.“

Wenn dich Gaiuper wirklich laufen lässt, aber jederzeit finden kann, dann solltest du auf keinen Fall nach Istland zurückgehen. Er könnte dir folgen und dich dann erpressen.“

Ich weiß“, sagte Elsa. „Ich weiß, dass ich nicht nach Hause kann. Ich würde es ja nicht mal dorthin schaffen. Ich habe keine Ahnung, wie man von der einen Welt in die richtige andere Welt kommt. Das einzige Mal, als ich versucht habe, nach Hause zu gehen, bin ich in Bulgokar gelandet.“

Ja, man muss es erst lernen. Welche Gestalt ein Rabe annimmt, was er bei sich hat, welche Kleidung er trägt und wohin es ihn verschlägt, all das ist von seinem Unterbewusstsein abhängig. Du musst dich selbst schon sehr gut kennen, um deine Gestalt auswählen zu können. Ebenso dein Ziel.“

Ich kann gar nichts auswählen“, sagte Elsa. „Also kenne ich mich überhaupt nicht.“

Das sieht dir ähnlich“, erwiderte Anbar. „Du tust immer so, als hättest du keine Ahnung, aber dafür hast du schon ziemlich lange überlebt. Du bist besser, als du denkst oder behauptest.“

Manchmal kannte sich Elsa tatsächlich gut. Zum Beispiel wusste sie ganz genau, dass Äußerungen wie diese dazu geeignet waren, sie aus der Fassung zu bringen. Lieber war es ihr, wenn man sie mit ihren Unzulänglichkeiten konfrontierte.

Was ist nun mit dem Buch?“, fragte sie.

Das Buch verrät uns viel über die Vergangenheit“, sagte Anbar. „Aber ich glaube, es steckt noch mehr darin. Wahrheiten, die nur ein Rabe versteht. Gaiuper wird nicht schlauer sein als all die Möwen und Hochweltler, die es studiert haben. Morawena hingegen könnte mehr entdecken. Sie wurde als Möwe aufgezogen und hatte eine antolianische Mutter. Wenn sie nicht herausfindet, was das Buch einem Raben zu sagen hat, dann wird es niemand herausfinden. Ich glaube immer noch daran, dass Morawena zu gut ist, um uns alle zu vernichten. Deswegen wird sie mit diesem Wissen das Richtige tun. Hoffe ich. Wenn nicht, müssen wir den Krieg gewinnen. Könnte ich mit ihr sprechen, würde ich ihr sagen, dass Nada ihr verziehen hat. Das ist wichtig. Sie darf sich nicht selbst hassen, sonst wird sie gefährlich.“

Aber du kannst nicht mit ihr sprechen.“

Schlag das Buch auf. Auf der ersten Seite, wo die Leute normalerweise ihren Namen hineinschreiben.“

Elsa löste ihre Finger vom Buch. Erst jetzt merkte sie, wie krampfhaft sie es festgehalten hatte. Sie schlug es auf und fand einen langen, in feiner blauer Tinte geschriebenen Namen: Nada Saffanes Harard von Sommerhalt.

Ist das Nadas Schrift?“

Ja.“

Was sagt ihr das?“

Früher, als Gerard noch lebte, war Nada der Prinz von Narben. Zu Nada von Sommerhalt wurde er erst, als man ihn zum König gekrönt hat. Den Namen Saffanes konnte er nie ausstehen. Morawena hat ihn ständig so genannt, nur um ihn zu ärgern. Wenn er ihn heute freiwillig benutzt, dann nur ihr zu Ehren.“

Sie wird also diesen Namen lesen und wissen, dass er sie immer noch mag, obwohl Gerard tot ist und er deswegen König?“

Genau das.“

Vielleicht denkt sie, dass er nicht weiß, dass sie Gerard auf dem Gewissen hat?“

Das wusste er vom ersten Tag an, denn sie hat ihm Gerards Tod angekündigt, kurz bevor er passierte. Nada hat noch versucht, Gerard zu warnen, aber da war es schon zu spät.“

Elsa betrachtete die feine Handschrift, die gar nicht zu dem großen, breiten König passte.

Sie hat ihm verraten, dass sie seinen Bruder umbringen wird, und er liebt sie immer noch? Warum das denn?“

Er glaubt eben, dass er sie versteht. So etwas gibt es.“

Das fand Elsa sehr merkwürdig.

Wann hat er den Namen hineingeschrieben?“

Kurz nachdem mir Romer das Buch gegeben hat. Ich habe Nada darum gebeten, weil ich verhindern wollte, dass das Buch in einem antolianischen Archiv verschwindet. Mit Nadas Namen darin ist es Sommerhalts Besitz und Antolia darf es nur ausleihen, nicht behalten.“

Dann ist es gar nicht Staatsbesitz? Wie du behauptet hast?“

Doch, Staatsbesitz von Sommerhalt.“

So ist das also“, sagte Elsa und klappte langsam das Buch zu. „Jetzt weiß ich auch, warum ich es bekommen habe. Und ich dachte schon, du möchtest mir etwas Gutes tun.“

Das würde mir im Traum nicht einfallen.“

Das Licht im Raum wurde goldener. Elsa fand den Gedanken schön, dass ein Mensch so beharrlich lieben konnte wie Nada. Dass Morawena nie sein Herz verlieren würde, egal, was sie tat. So etwas gab es bestimmt nur selten. Sehr selten.

Oh je!“, rief sie auf einmal und starrte schuldbewusst auf ihr Buch.

Was ist denn los?“

Ich hätte Nada etwas mitbringen müssen! Einen Gruß von Morawena. Aber ich habe ihn versteckt. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn wiederfinden werde.“

Du hast etwas von Morawena? Für Nada?“

Gaiuper hat es mir gegeben, um Nada gesprächig zu machen.“

Wo ist es jetzt?“

In einem Kästchen in irgendeiner Mauer in den Zerfurchten Wiesen.“

Das ist kein einfacher Ort. Gleich hinter dem Tor sitzen die Möwen im Zwischenraum. Seit sie wissen, dass du hier bist, haben sie die Wachen verstärkt.“

Das hörte Elsa gar nicht gern. Genau dort musste sie am nächsten Morgen ihr Buch abliefern. Da konnte sie keine Möwen gebrauchen.

Aber sie sind nur im Zwischenraum?“, fragte sie. „Nicht davor?“

Ich wette, sie beobachten das Tor. Wir gehen zusammen hin. Du bleibst in sicherer Entfernung und sagst mir, wo ich suchen soll.“

Wir gehen dorthin? Jetzt?“

Er sah aus dem Fenster.

Wir warten besser, bis es Nacht ist.“

Und dann spazieren wir zwischen all den Hochzeitsgästen hindurch?“

Nein, wir sollten einen unterirdischen Gang nehmen. Davon gibt es hier einige. Einer führt zum Wald.“

Durch die Erde? Im Dunkeln?“

Ja, das haben unterirdische Gänge so an sich.“

Elsa gab einen Laut der Entrüstung von sich.

Ich gehe ganz sicher durch keinen unterirdischen Gang mit dir! Schon gar nicht bei Nacht!“

Wo wirst du dein Buch an Gaiuper übergeben. Hier? In diesem Zimmer?“

Elsa schüttelte den Kopf.

Also außerhalb der Schlossmauern?“

Sie schwieg. Er musste das nicht wissen.

Wann?“, fragte er. „Da draußen laufen eine Menge Leute herum. Soldaten, Möwen, Ausgleicher. Glaubst du, da wäre es klug, mit deinem Buch herumzulaufen? Oder willst du zum Treffpunkt fliegen und riskieren, dass du dich zurückverwandelst und das Buch weg ist? Du weißt, dass so etwas passieren kann, wenn du Pech hast! Ich halte es für klüger, das Schloss heute Abend auf sicherem Weg und ungesehen zu verlassen. Dann weiß niemand, wo du bist. Du zeigst mir, wo Morawenas Gruß ist, und ich zeige dir, wo du übernachten kannst.“

Klingt wunderbar, aber ich kann dir nun mal nicht vertrauen.“

Er gab einen leisen Stoßseufzer von sich.

Dass du ausgerechnet vorsichtig wirst, wenn es völlig überflüssig ist. Du weißt doch, dass ich will, dass Morawena das Buch bekommt. Sie bekommt es nur, wenn du sicher den Treffpunkt erreichst, an dem du es übergeben sollst.“

Das könnte aber auch eine erfundene Geschichte sein. Ein Trick.“

Aber du glaubst mir, dass ich dieses verdammte Kästchen von Morawena unbedingt brauche, um Nada vom Heiraten abzuhalten? Bevor ich es habe, kann dir also gar nichts passieren.“

Auch das könnte ein Trick sein.“

Du traust mir aber viele Tricks zu!“

Alle.“

Und das war die Wahrheit. Leider wollte sie tatsächlich gerne aus dem Schloss herauskommen, ohne gesehen zu werden und ohne sich verwandeln zu müssen. Wenn sie nur irgendeine Sicherheit hätte, dass in den unterirdischen Gängen weder Ausgleicher noch Möwen lauerten, um sie einzufangen.

Ich habe eine andere Idee“, sagte sie. „Sie ist weniger gefährlich für mich. Deine Hilfe brauche ich leider trotzdem.“

Welche Hilfe?“

Ich fliege, du bringst mir das Buch. Wenn es dunkel ist.“

Gut. Das geht auch. Es ist sogar praktischer. So langsam, wie du läufst, hätten wir die halbe Nacht gebraucht.“

Ich bin nicht langsam.“

Die Sonne hatte ihn wieder eingeholt. Er drehte den Kopf, damit sie ihn nicht blendete, und erklärte:

Quälend langsam. Jede Minute war damals wichtig, aber du bist vor dich hin getrottet wie ein Schaf.“

Wenn Romer nicht so freundlich zu mir gewesen wäre, im Gegensatz zu dir, dann wäre ich stehengeblieben und hätte mich nicht mehr von der Stelle gerührt.“

Ich hätte dich schon zum Laufen gebracht“, sagte er. „Aber so war es mir angenehmer. Romer hat sich beliebt gemacht und ich konnte in Ruhe nachdenken.“

Elsa schaute hinaus. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne hinter der Bergkette am Horizont verschwinden würde.

Wirst du eigentlich nicht gebraucht?“, fragte Elsa. „Als Ersatzvater der Braut? Oder Bruder, wenn’s dir lieber ist?“

Nein, werde ich nicht. Beschäftigen könnten sie mich, aber dazu habe ich keine Lust. Wenn es dir also nicht unerträglich ist, werde ich mich hier verstecken, bis es dunkel wird. Du liest am besten ‚Bolhins Reisen’ bis zur letzten Seite, bevor du es wieder hergeben musst. Es betrifft dich weit mehr als mich. Ich störe dich auch nicht.“

Ja, klingt sinnvoll“, sagte sie, auch wenn es ihr fast unmöglich erschien, sich in dieser Situation auf ein umständlich geschriebenes Buch zu konzentrieren. Anbars Interesse galt schon nicht mehr ihr, sondern dem Bücherstapel, der auf dem Tisch lag. Gerade zog er sich Nadas Buch über Feuersand heraus, setzte sich damit am Tisch zurecht und begann zu lesen. Das ermutigte Elsa, einen Becher Holundersaft zu trinken und ein Brota in die Hand zu nehmen.

Während sie ihr Brota aß, blätterte sie und suchte nach der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen. Bolhin war zuletzt aus dem Land der Armut geflohen und trieb nun in einem Boot auf dem Meer. Ja, das war die richtige Stelle. Sie warf Anbar einen prüfenden Blick zu, ob er auch wirklich mit Nadas Legenden beschäftigt war. Es sah ganz so aus. Er saß völlig still, die Augen auf sein Buch gerichtet, von der Sonne beschienen wie ein ehrwürdiges Standbild in einem Lesesaal. „Der Lesende“ würde die Statue heißen, aber irgendwann musste der Lesende umblättern, wenn er wirklich las. Elsa konnte nicht anders, als abwartend in seine Richtung zu schielen. Blätterte er um? Oder würde er nach zehn Minuten immer noch die gleiche Seite anstarren, was beweisen würde, dass er doch nicht las, sondern in Wirklichkeit Pläne schmiedete, wie er sie möglichst geschickt in einen Hinterhalt locken könnte? Dann geschah es – er blätterte um. Das beruhigte sie weitestgehend und so begann sie zu lesen.