KAPITEL 6
An vieles konnte sich Elsa am nächsten Morgen nicht erinnern. Sie wusste, dass der Rabe geflogen war, bis die Nacht hereinbrach. Dass er auf Gemäuern herumgehüpft war, als der Mond am Himmel stand, und dass er Mäusen aufgelauert hatte. Irgendwann in dieser Nacht musste sich Elsa zurückverwandelt haben, doch sie war so schläfrig gewesen, dass sie sich nur in ein verlassenes Gebäude geschleppt hatte, um dort in die Knie zu gehen und auf dem blanken Boden einzuschlafen. Den Kopf hatte sie auf ihre Arme gebettet und während sie träumte, war es ihr, als ob ihre Arme sich bewegten und sie immer noch flöge. Dann auf einmal stülpte jemand ein unsichtbares Netz über sie und sie strampelte und flatterte dagegen an. Lange wehrte sie sich, bis sie von den Anstrengungen erwachte. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf ein Paar schwarze Stiefel. Sie glänzten im Licht und jagten Elsa einen Riesenschrecken ein. Langsam schaute sie an den Stiefeln empor und merkte, dass ein überaus komischer Mann sie anstarrte.
„Willkommen in Bulgokar“, sagte er.
Warum Bulgokar? Was war Bulgokar? Doch nicht etwa die Welt, in der Ulissa gefangen saß? Warum war sie hier, wenn sie doch auch nach Istland hätte fliegen können? Ihr Kopf schmerzte und sie spürte noch etwas: Ihre inneren Flügel waren verklebt oder vielmehr gelähmt. Sie konnte sich nicht verwandeln. Jedes Mal, wenn sie es versuchte, stieß sie gegen einen unsichtbaren Widerstand. Sie fasste sich an den Hals. Dort ertastete sie einen schmalen Reif aus Metall. Er wirkte fein und zerbrechlich, aber als sie versuchte, ihn sich vom Hals zu reißen, gab er nicht nach.
„Das ist mein Geschenk für dich“, erklärte der Mann in den Stiefeln.
Elsa sah wieder zu ihm hoch. Er hatte ein seltsames Gesicht. Es ähnelte dem eines Vogels, obwohl es menschlich war. Das mochte an der krummen, scharf geschnittenen Nase liegen oder an dem Oberkiefer, der sich der Nasenspitze entgegenreckte. Die Augen des Mannes lagen ein wenig seitlich am Kopf und hatten eine runde Form. Es waren große schwarze Punkte, umrandet von einer orangeroten Iris. Der Bart des Mannes war geflochten und am unteren Ende zu einer Spitze verklebt, die Elsa an einen Stachel erinnerte.
„Ich bin Gaiuper“, sagte er nun, bückte sich und reichte ihr eine Hand.
Sie wollte sich nicht beim Aufstehen helfen lassen, doch als sie versuchte, auf die Beine zu kommen, merkte sie, dass ihr die Kraft abhanden gekommen war.
„Was ist los mit mir?“, fragte sie.
„Ich habe mir erlaubt, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu treffen“, sagte er. „Raben sind gefährlich. Vor allem, wenn sie noch nicht wissen, was gut für sie ist. Nimm jetzt meine Hand. Wir haben nicht ewig Zeit!“
„Wofür?“, fragte sie.
„Für die Heimreise“, sagte Gaiuper in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Zur Tür kamen in diesem Augenblick zwei Männer herein, von denen sich Elsa lieber nicht anfassen lassen wollte. Daher ergriff sie Gaiupers Hand, wunderte sich kurz über seine langen, spitzen Fingernägel und fühlte sich schnell emporgezogen. Er führte sie aus dem verlassenen Gemäuer hinaus ins grelle Sonnenlicht. Zuerst war sie geblendet, dann sah sie Geschöpfe, die Vogelköpfe und verstümmelte Flügelarme hatten, was sie sehr erschreckte.
„In Bulgokar gibt es Vogelmenschen“, erklärte Gaiuper. „Sie sind eine seltene Erscheinung, es gibt sie in keiner anderen Welt. Mischwesen sind überhaupt sehr selten. Eine Abart der Natur.“
Er ließ ihre Hand los und ging schnellen Schrittes zu einem Pferd, das für ihn bereit stand.
„Ich bin in Eile“, sagte er. „Wir sehen uns heute Abend.“
Als sie ihn davonreiten sah, zerrte sie mit beiden Händen an dem schmalen Metallreifen, der um ihren Hals lag. Er gab nicht nach, verbog sich nicht einmal. Mit Gaiupers Männern und den Vogelmenschen war nicht zu reden. Sie versuchte es, wollte sie überzeugen, sie laufen zu lassen, doch man schubste sie nur in einen Wagen ohne Fenster und schloss die Tür ab. Es war sehr dunkel um Elsa, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Das Gefängnis war solide. Nachdem sie es auf mögliche Ritzen und Schwachstellen untersucht, aber keine gefunden hatte, legte sie sich auf den Boden und fühlte sich von allen guten Geistern verlassen. Sie musste an Ulissa denken, der man die Haare abgeschnitten hatte. Sie saß wahrscheinlich in irgendeinem Kerker und würde bald Gesellschaft bekommen. Bei der Gelegenheit fiel Elsa der Spion ein, den Anbar erwähnt hatte. Es gab einen in Bulgokar. Es war zwar unsinnig, irgendwelche Hoffnungen in den antolianischen Feind zu setzen, aber sie tat es trotzdem. Nikodemia hatte ihr geraten, sich von der nächsten Klippe zu stürzen, falls die Rabendiener sie erwischten. Sie war nun vollkommen sicher, dass Gaiuper ein solcher Rabendiener war. Aber für die Klippe war sie dann doch nicht verzweifelt genug – selbst wenn eine in erreichbarer Nähe gewesen wäre. Sie starrte in die Schwärze und wartete. Den ganzen Tag wartete sie, ergab sich dem Gerumpel eines Wagens, der über eine schlechte Straße fuhr, und verspürte weder Hunger noch Durst.
Es musste schon Nacht sein, als sich die Geräusche veränderten. Sie hallten, als ob der Wagen durch einen Tunnel führe. Sehr plötzlich hielt der Wagen an und die Schlösser wurden geöffnet. Elsa stolperte der Helligkeit entgegen und wurde von einem Vogelmenschen aufgefangen, als sie fast aus dem Wagen fiel. Dabei merkte sie, dass die Arme der Vogelmenschen nicht verstümmelt waren, sondern nur sehr kurz. Das Vogelgesicht des Mannes sah sie so merkwürdig an, dass sie für einen Moment alle Furcht vergaß.
„Wo bin ich hier?“, fragte sie.
„In der Festung“, antwortete er. Die Worte kamen leicht zischend aus seinem schnabelförmigen Mund.
„Und was wird mit mir geschehen?“
Das traurige Schulterzucken des Vogelmannes und die Ratlosigkeit, die in seinen Augen stand, verursachten Elsa ein taubes Gefühl in Armen und Beinen. Sie hatte noch nie Angst um ihr Leben gehabt, noch nie so richtig. Doch jetzt, da sie der Vogelmann zwischen mehrere Männer schob, die sie mit gezogenen Schwertern in einen schmalen Gang drängten, da hatte sie auf einmal Angst, dass sie das Tageslicht nie mehr wiedersehen könnte. Je länger sich die schmalen Gänge hinzogen, desto stärker spürte sie, wie ihre eigene Schwäche sie zu Boden ziehen wollte. Der Reif um ihren Hals machte ihr das Atmen schwer und sie konnte kaum noch nachdenken oder sich auf ihre Umgebung konzentrieren. Sie kämpfte gegen die Erschöpfung an und war schließlich überrascht, als sie in eine festliche Halle geführt wurde. Der Boden des großen Raums war mit roten Teppichen ausgelegt und in seiner Mitte stand ein einzelner, vornehm gedeckter Tisch. Sie sah ein weißes Tischtuch, glänzendes Silber, Gläser aus geschliffenem Kristall, Kerzenleuchter, deren Flammen flackerten. Elsa sah genau hin, so unwirklich kam ihr die Festtafel vor.
„Setzen!“, sagte man ihr und sie fiel dankbar auf einen der Stühle, die an den Hallenwänden aufgereiht waren. Bevor sie Gaiuper sah, spürte sie schon, dass er den Raum betrat. Es lag eine Schärfe und Macht in seiner Person, die sie in ihrem Inneren wahrnahm. Sie sah zu ihm hin und bestaunte die Nadelspitze seines Kinnbarts, die aussah, als hätte er sich den ganzen Tag lang nicht vom Fleck gerührt. Gaiuper war eine elegante Erscheinung, die in dieses Zimmer und diesen festlichen Rahmen passte, im Gegensatz zu Elsa, die in ihrer schmutzigen istländischen Kleidung schwitzte und sich auch noch dafür schämte, was angesichts ihrer Situation lächerlich war, aber sie tat es trotzdem. Beherrscht von unangenehmen Gefühlen starrte sie Gaiuper in die vogelartigen Augen und spürte, dass er frohlockte. Sah sein Gesicht auch ungerührt aus, so wusste Elsa doch, dass er sich über seine Beute freute. Sie musste tatsächlich etwas Wertvolles sein, das er glänzend gebrauchen konnte.
„Wie ich höre, hattest du eine Reise ohne Zwischenfälle?“
Elsa wusste nicht, was sie sagen sollte, denn für sie war diese ganze Reise ein einziger riesengroßer Zwischenfall. Er erwartete auch keine Antwort, so schien es, denn er drehte ihr den Rücken zu, schritt auf den gedeckten Tisch zu und setzte sich auf einen der Stühle, den ihm ein Diener hinschob.
„Was ist?“, fragte er, nachdem er Platz genommen hatte. „Willst du nichts essen?“
Er wandte ihr den Kopf zu und sie sah seine scharf geschnittenen Umrisse dunkel vor den flackernden Kerzenlichtern. Sie hatte keinen Hunger, immer noch nicht, doch großen Durst, wie sie plötzlich feststellte. Benommen stand sie auf, ging hinüber an den Tisch und sah erstaunt, wie ein anderer Diener herbeisprang, um auch ihr den Stuhl hinzuschieben.
„Danke“, sagte sie und setzte sich.
Der ganze Raum war voller Diener, wie sie jetzt bemerkte. Sie standen an den vier Flügeltüren, die in diese Halle führten, jeweils einer rechts, einer links. Weitere liefen hin und her, um Platten auf den Tisch zu tragen, auf denen sich Essbares stapelte, dessen scharfer Duft Elsa in die Nase stieg. Die Diener hätten auch in König Nadas Schloss gepasst oder in Sistras vornehmen Haushalt, mit dem einzigen Unterschied, dass sie schwarze, gold geränderte Uniformen trugen, was für einen normalen Haushalt deutlich zu düster aussah.
„Der Gast, mit dem ich dir eine Freude machen wollte, verspätet sich wie üblich“, sagte Gaiuper und entfaltete seine blutrote Serviette. „Ich schlage vor, wir fangen ohne ihn an.“
Elsa wusste, dies war der Moment Fragen zu stellen. Sie durfte sich nicht einfach hin- und herschieben lassen, gefangen in einem Halsreif, behandelt wie ein Kind, das nicht wusste, was gut für es ist.
„Warum bin ich hier?“, fragte sie. „Was geschieht hier mit mir?“
„Du erfüllst deine Bestimmung“, sagte Gaiuper, nahm sein Besteck auf und wies mit dem Messer auf einen gebratenen Vogel, den ihm ein Diener sofort auf den Teller legte.
„Und was ist das?“, fragte Elsa. „Meine Bestimmung?“
„Für deine Freiheit kämpfen“, antwortete er.
Er schaute sie nicht an, sondern widmete sich seinem Vogel, während er sprach. Er nahm ihn auf höchst vornehme Weise auseinander.
„Für deine unendliche Freiheit“, fuhr er fort. „Du wirst etwas Zeit brauchen, bis du begreifst, was das ist. Du sollst diese Zeit haben. Ich werde mir erlauben, dich bis dahin auszubilden in allem, was dir von Nutzen sein könnte.“
Elsa ließ es zu, dass man ihr Wasser einschenkte und Wein, obwohl sie viel zu jung war, um Wein zu trinken. Das zumindest hatte ihre Mutter Puja immer gesagt. Die Diener hielten ihr auch Platten hin, sie fragten, ob sie von diesem oder jenem essen wollte, und da sie weder den Kopf schüttelte noch nickte, füllte man ihr von allem etwas auf.
„Und wenn ich gar nicht ausgebildet werden möchte?“, fragte sie.
„Du möchtest. Das steht fest.“
„Nein, ich möchte nicht“, erwiderte sie.
Er hob den Kopf und schaute sie an.
„Iss etwas“, sagte er höflich. „Du musst sehr hungrig sein nach der langen Fahrt. Was du möchtest und was nicht, darüber können wir uns auch später noch unterhalten.“
„Ich will nichts essen!“, erklärte sie ärgerlich, doch Gaiuper wandte sich von ihr ab und sah zu einer der Türen hin, die gerade geöffnet wurden.
Die Person, die ins Zimmer gelaufen kam, nahm Elsa den Atem: Es war das lebendigste und fröhlichste Mädchen, das Elsa jemals gesehen hatte. Sie hatte pechschwarze Augen und ebenso schwarzes Haar, das kurz geschnitten nach mehreren Seiten abstand. Ihre Haut war so hell wie Elsas, doch war sie durchströmt von wildem Lebenshunger, der ihre Wangen rötete und ihre Augen erleuchtete. Sie sah erwachsener aus als Elsa und vielleicht lag es an dieser Reife, dass jene Nase, die Elsa ihr Leben lang im Spiegel betrachtet und immer für zu groß gehalten hatte, so gut in dieses Gesicht passte. Elsa hoffte, dass sie in einigen Jahren ähnlich schön aussehen könnte wie dieser seltsame Zwilling, der hier vor ihr stand. Doch sie zweifelte daran, denn das Mädchen besaß eine Selbstsicherheit, die Elsa für immer fehlen würde. Es war Ulissa, daran bestand kein Zweifel, und sie sah nicht sonderlich eingesperrt aus.
„Hallo, Kleine, von dir habe ich schon gehört!“, rief Ulissa und streckte ihre weiße, zierliche Hand aus, damit Elsa sie schütteln konnte. „Hast du dir in die Hosen gemacht, als sie dich geschnappt haben?“
„Ja“, sagte Elsa und ergriff die Hand, die warm und weich war – nicht kalt wie Elsas.
Ulissa lachte begeistert.
„Trink Wein“, schlug sie vor, „dann fühlst du dich gleich besser. Siehst du, das geht so!“
Ulissa trank ihren Wein im Stehen aus. Elsa erinnerte sich daran, wie alt Ulissa war: Mit gerade mal sechzehn Jahren war sie nur drei Jahre älter als Elsa, aber es schien ein größerer Unterschied zwischen ihnen zu liegen. Ulissa war ein völlig anderer Mensch, ein bezaubernder Mensch, der eigentlich nicht böse aussah, zumindest konnte sich Elsa nicht vorstellen, dass man Ulissa wirklich etwas übel nehmen könnte.
„Hallo Pieksebart!“, sagte Ulissa nun zu Gaiuper und dabei spitzte sie spöttisch ihre rot angemalten Lippen. Elsa betrachtete es voller Bewunderung. Ulissa hatte etwas Verführerisches an sich, etwas Mitreißendes, wenn sie sich wie jetzt auf den Stuhl fallen ließ und mit dem weißen Arm wedelte, um einen Diener herbeizurufen:
„Bring dem kleinen Mädchen ein Glas heiße Milch. Sonst fällt sie noch vom Stuhl!“
Der Diener nickte, ohne Elsa zu fragen, ob sie tatsächlich Milch haben wollte, und eilte davon.
„Bist du nun eine Gefangene?“, fragte Elsa. „Oder nicht?“
Ulissa lachte fröhlich und selbst Gaiuper lächelte.
„Ich lasse mich niemals einfangen!“, erklärte Ulissa. „Ich bin es, die anderen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben.“
„Aber deine Schwestern glauben …“
„Meine Schwestern!“ Ulissa klatschte in die Hände und dann nahm sie sich einen der gebratenen Vögel, die man ihr reichte. „Die sind leicht zu beeindrucken, meine Schwestern. Ich wollte sie nur ein bisschen ärgern. Wegen Morawena, weißt du.“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte Elsa.
„Morawena, das arme Ding, vergammelt seit acht Jahren in ihrem Käfig! Es muss schrecklich für sie sein. Deswegen habe ich diesen kleinen Erpressungsversuch unternommen. Mein Leben gegen Morawenas Leben, ist das nicht lustig? Natürlich wird sich Sistra nicht darauf einlassen, aber sie wird mal ehrlich zugeben müssen, wie wenig ich ihr wert bin!“
Elsa versuchte noch, das Gehörte zu begreifen, als man ihr ein Glas mit heißer Milch vorsetzte. Die Milch roch anders als in Istland.
„Trink!“, forderte Ulissa sie auf. „Das hilft dir. Amandis geht es auch immer besser, wenn sie heiße Milch bekommt. Das ist gut für ängstliche Mädchen mit schwachen Nerven.“
Elsa nippte an der Milch, mehr aus Verwirrtheit als aus Überzeugung. Aber es war tatsächlich ein angenehmes Gefühl, die Wärme der Milch zu spüren. Die Milch schmeckte nach Honig und Gewürzen und war gleichzeitig etwas salzig.
„Der Vogel in Sistras Käfig ist Morawena?“
„Ja. Weil sie ein Rabe ist und eine Mörderin, angeblich. Ich fürchte, wenn die Arme nicht bald befreit wird, geht sie jämmerlich ein.“
Ulissa nahm ihren Vogel nicht auseinander, sondern hielt ihn mit beiden Händen fest, um das Fleisch mit den Zähnen abzureißen. Sie aß mit großem Appetit, anders als Gaiuper, der sich nur selten seine Gabel in den Mund schob. Er wirkte ungerührt, doch aufmerksam, die ganze Zeit. Elsa fragte sich, wie er und Ulissa zueinander standen. Sie hatte offensichtlich keine Angst vor ihm und er behandelte sie wie seinesgleichen. Ob er sie besonders mochte? Waren sie Verbündete?
„Ich habe Amandis meine Haare schicken lassen“, sagte Ulissa, „damit sie Sistra die Ohren vollheult. Schade, dass ich es nicht mit eigenen Augen ansehen konnte!“
„Sie machen sich große Sorgen um dich“, sagte Elsa. „Anbar glaubt, du wärst so gut wie tot!“
Ulissa ließ interessiert ihren Vogel sinken.
„Ach ja? Hast du ihn getroffen?“
„Ja. In Brisa.“
„Er macht sich tatsächlich Sorgen um mich?“
„Ja, das macht er.“
Ulissa sah erfreut aus.
„Schön“, sagte sie. „Das ist doch mal was.“
„Stimmt es, dass ihr euch in Antolia gestritten habt? So lange, bis er dich vor die Tür gesetzt hat?“
„Ach ja, wir hatten ein paar Auseinandersetzungen“, antwortete Ulissa. Sie putzte sich die Finger an ihrer Serviette ab und blickte verträumt zwischen zwei Kerzenflammen hindurch. „Antolianer sind so engstirnig und fantasielos, mit denen muss man sich einfach streiten. Andererseits sehen sie sehr gut aus. In der Beziehung war Antolia der reinste Süßigkeitenladen: einer feiner als der andere. Mit Anbar habe ich mich am liebsten gestritten. Er hat so eine tolle Ausstrahlung, wenn er wütend ist.“
Elsa staunte über diese Einschätzung.
„Seine Ausstrahlung wird unbeschreiblich sein, wenn er erfährt, was du hier machst.“
„Ganz bestimmt!“, rief Ulissa und lachte. „Aber nun erzähl mir von dir! Da haben wir immer geglaubt, es gäbe nur einen einzigen Raben und plötzlich tauchst du auf. Ich möchte mal wissen, wie du an mein Gesicht geraten bist.“
Die Milch und Ulissas Fröhlichkeit taten ihre Wirkung: Elsas Herz war leichter geworden. Sie fühlte sich nicht mehr so hilflos und selbst Gaiuper verlor etwas von seinem Schrecken. So lange Ulissa hier war, konnte nichts Schlimmes passieren – diese Gewissheit tat gut und machte Elsa sogar hungrig. So nahm sie sich einen der Spieße, die auf ihrem Teller lagen, und biss in die gebratenen Stücke, die daran steckten. Was auch immer das war, was sie hier aß – Ei oder Gemüse oder gar Fleisch – es war zart und schmackhaft und von einer milden Schärfe, die am Gaumen kitzelte.
„Ich dachte, ich wäre mit diesem Gesicht geboren worden“, sagte Elsa. „Zumindest habe ich es, seit ich fünf Jahre alt bin. Von der Zeit davor weiß ich nichts mehr.“
Ulissa wurde fast ernst, als sie das hörte. Sie schaute Elsa an und sagte dann:
„Also seit ungefähr acht Jahren? Na so was!“
„Kannst du dir vorstellen, woran das liegt?“
Hätte es Elsa nicht besser gewusst, sie hätte gedacht, dass Ulissa einer traurigen Erinnerung nachhing. Aber was sollte eine Erinnerung von Ulissa schon mit Elsa zu tun haben?
„Ach nein“, sagte Ulissa nun und trank von dem Wein, den man ihr nachgeschenkt hatte. „Es war nur so eine verrückte Idee.“
Gaiupers Blick erschien Elsa noch lauernder als zuvor. Elsa beschloss, Ulissa noch einmal unter vier Augen danach zu fragen. Doch zu diesem Gespräch sollte es nie kommen. Einer der Diener, die an den Türen standen, bewegte sich. Es war nur eine kleine, schnelle Bewegung, doch Elsa bemerkte sie. Es war eine Bewegung, die ihr verdächtig vorkam und sie dazu veranlasste, sich zu ducken. Etwas flog über sie hinweg, etwas Zischendes, und es knallte leise, als es in die nächste Mauer einschlug.
Gaiuper und Ulissa sprangen gleichzeitig auf. Während sich Gaiuper umdrehte, um den Attentäter ausfindig zu machen, warf sich Ulissa über Elsa. Elsa wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie spürte Ulissas schützende Arme und hörte dann ein schreckliches Geräusch. Es war ein Geräusch, das Elsa später noch oft in ihren Träumen hörte, etwas wie ein Spritzen, ein dumpfer Knall und gleichzeitig etwas Berstendes. Wenn es überhaupt ein Geräusch war und nicht eine Sinnestäuschung, die auf Gefühlen beruhte, die sie nicht anders fassen konnte. Vielleicht hatte das zweite Geschoss, das Ulissa soeben getroffen hatte, überhaupt kein Geräusch gemacht. Doch drang es nun auf grausame Weise in Ulissa ein und vergiftete ihre Lebensgeister in kürzester Zeit. Sie sank hinab. Elsa versuchte sie aufzufangen und festzuhalten. Dabei sah sie Ulissas Gesicht, das einen bläulichen Schimmer bekommen hatte, und ihre Augen, die aufgehört hatten zu strahlen. Langsam wurden sie trübe und leer. Doch Ulissa war noch bei Bewusstsein, ihre Finger hielten sich an Elsas Kleid fest.
„Ein Arzt!“, rief Elsa. „Holt schnell einen Arzt!“
Sie schaute auf und erschrak über das, was sie sah. Die Diener an der Tür hatten den Attentäter erfasst und drückten ihn zu Boden. Gaiuper stand neben ihnen und machte ein zufriedenes Gesicht.
„Alles in Ordnung, wir haben die Situation im Griff“, sagte er zu Elsa und erlaubte sich dazu ein Lächeln.
„Aber Ulissa! Sie stirbt!“
„Das trifft sich gut“, sagte Gaiuper, „sonst hätte ich selbst nachhelfen müssen. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, denn du bist hier. Ich brauche sie nicht mehr.“
Bei diesen Worten zog er sein Schwert und beendete ohne viel Aufhebens das Leben des Attentäters. Elsa fürchtete, dass der Attentäter der antolianische Spion war, den Anbar erwähnt hatte. Er hatte versucht, sie zu töten. Sie erinnerte sich, wie Anbar gesagt hatte, dass ein Rabe niemals in die Hände der Rabendiener gelangen dürfe. Der Spion hatte es verhindern wollen. Obwohl sie ihr Leben verloren hätte, wenn er erfolgreich gewesen wäre, brach es ihr das Herz, als Gaiuper den Mann erstach. Weinend hielt sie Ulissa fest.
„Ulissa! Bitte nicht sterben! Lass mich nicht alleine hier! Bitte!“
Das waren wohl die Worte, die sie stammelte, aber später wusste sie es nicht mehr genau. Jedenfalls nahm sich Ulissa ihr Flehen zu Herzen und öffnete noch einmal den Mund.
„Das Ding“, flüsterte sie und packte mit den Fingern den Reif um Elsas Hals, „das ist nur ein Trick … gib ihm nach … und dann …“
Mehr brachte Ulissa nicht heraus. Elsa hörte sich selbst weinen. Wie gerne hätte sie Ulissa gesagt, dass alles gut werden würde, dass sie sie liebte wie eine Schwester und alles tun würde, um sie zu retten. Doch sie konnte nichts von alldem sagen oder tun. Sie konnte nur zusehen, wie das Leben Ulissa verließ. Viel zu schnell ging es fort und ließ Ulissas Körper schwer und kalt in Elsas Armen zurück. Ulissa sah nun jünger aus als zuvor, so zart und so hilflos. Es war Elsa, als ob sie sich selbst sähe, wie in einem Spiegel, für immer verloren.
Gaiuper ließ den getöteten Spion forttragen und Ulissa wurde Elsa entrissen, obwohl sie sich heftig dagegen wehrte. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, auch dann nicht, als ein Vogelmädchen kam, das sie an die Hand nahm und in ein Schlafgemach führte.
„Ich bin Sinhine“, sagte das Vogelmädchen. „Ich werde deine Freundin sein und zu dir halten, wenn du möchtest.“
Elsa achtete nicht darauf. Sie befand sich im Dunkeln und wusste, die Dunkelheit und die Einsamkeit würden nie mehr aufhören. Nicht bevor alles vorbei wäre.