KAPITEL 17
Bolhin trieb in seinem Boot auf dem Meer. Er hatte keine Vorräte bei sich, der Wind war schwach, das Meer still. Er fürchtete, es könnte seine Schuld sein, dass sich nichts bewegte. Sein letztes Abenteuer hatte ihn entmutigt. Er dachte nach, was er sonst nie tat. Er fasste sein Leben zusammen – insbesondere das in der Fremde – und kam zu dem Schluss, dass es keinen Schluss gab. Er würde nie mehr nach Hause zurückkehren, es sei denn, der unwahrscheinlichste Zufall wehte ihn dorthin. Diese Erkenntnis vermochte sein Boot nicht zu bewegen, darum legte er sich hin und die Sonne schien auf seine geschlossenen Lider.
Elsa hob den Blick. Anbar hatte unterdessen dreimal umgeblättert und einmal am Ende des Buches etwas nachgeschaut. Er war wirklich beschäftigt. Das war angenehm. Sie klopfte sich die Brotakrümel vom Kleid und fuhr fort.
Bolhin hörte eine Möwe schreien, eine Möwe auf dem offenen Meer, die sich anscheinend über seinem Boot festgeflogen hatte, denn ihr Gekreische nahm kein Ende und wurde nicht leiser. Er öffnete die Augen und merkte, dass er die Möwe verstehen konnte, wenn er ihren Schnabel beobachtete. Sie erklärte ihm, dass er verloren gegangen war und sie ihm helfen konnte. Er war bereit, ihre Hilfe anzunehmen. Die Möwe überließ ihm eine weiße Feder, die er in der Hand halten sollte, während er sein Boot in Richtung der untergehenden Sonne lenkte.
Nachdem sie fortgeflogen war, legte er sich auf den Bauch und versuchte das Boot mit einer Hand zur Sonne hin zu bewegen. Darüber schlief er ein. In der Nacht wachte er wieder auf und sah, dass sein Boot durch einen schwarzen Himmel voller Sterne flog. Die Luft war so kalt, dass er zitterte. Das Boot wurde von unsichtbaren Mächten gezogen, immer höher, immer tiefer in den Nachthimmel hinein. Er hörte Musik oder Gesang und fürchtete sich. Man sollte keiner Möwe trauen, dachte er, vor allem nicht, wenn sie spricht. Ein plötzlicher Knick in der Flugbahn nahm ihm den Atem: Es ging nicht mehr aufwärts, sondern abwärts, steil und schnell, und er verlor das Bewusstsein. Da mochte es knallen, ein Aufprall stattfinden, er wusste es nicht genau, spürte nur den Sand unter seinem Gesicht, als er die Augen wieder öffnete.
Es war Tag und er lag in einer Wüste. Sandberge, so weit das Auge reichte. Er beglückwünschte sich. Nun hatte ihn die Möwe tatsächlich davor bewahrt, auf dem Meer zu verdursten. Er versuchte sich auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis er bei lebendigem Leib mumifiziert wäre, doch er wurde sehr bald abgelenkt: eine Karawane zog über den Horizont und kam auf ihn zu. Zum Glück bestand sie weder aus Räubern noch aus Menschenfressern. Die Leute brachten ihn in eine Wüstenstadt, die es in sich hatte. Was zuerst wie ein Dorf aussah, entpuppte sich als die Spitze eines Labyrinths unter der Erde. Da gab es riesige kühle Hallen, deren Wände die Geschichte der Welt erzählten. Bolhin bewunderte die Schlichtheit seiner Gastgeber. Kein anderes Land, das er bisher bereist hatte, war so unkompliziert und gleichzeitig so hoch entwickelt gewesen. Für einige Monate vergaß er, dass er auf Reisen war, und versuchte zu lernen.
Elsa und Anbar hoben gleichzeitig den Kopf. Seit sie begonnen hatten zu lesen, mochten fast zwei Stunden vergangen sein. Die Sonne näherte sich dem Horizont, sie war goldorange geworden und über den Himmel zogen milchige Schwaden mit rosaroten Rändern. Die Luft war deutlich kühler, doch immer noch mild. Alles in allem war die Stimmung friedlich, hätten sie nicht beide im gleichen Moment gehört, dass jemand die Treppe zum Turmzimmer hinaufstieg. Elsa dachte sofort, dass es eine Möwe sein musste. Jemand, der Ärger machte. Anbar dachte etwas Ähnliches, dem angespannten Gesichtsausdruck zufolge.
Der Besucher machte sich nicht die Mühe, die Tür zu öffnen. Er schritt einfach hindurch. Der Mann befand sich in einem schlimmen Zustand: Sein Gesicht war aufgedunsen, auf einer Seite sogar aufgeschlagen und von Blut verkrustet. Er schwankte, seine Kleidung hing ungepflegt und teilweise zerrissen an ihm herunter. Er hatte sich sehr verändert, seit Elsa ihn das letzte Mal gesehen hatte. Der Rabendichter sah ganz so aus, als hätte er mehrere Nächte in einer Kneipe verbracht, um sich dort den Kummer von der Seele zu saufen, und das ohne Erfolg. Nun warf er sich auf den Boden, lehnte sich schwungvoll an das Regal in seinem Rücken und vergrub seinen Kopf irgendwo zwischen Ellenbogen und Knien.
Anbar war mehr als verblüfft. Er starrte erst den Mann an und dann Elsa. Elsa wunderte sich kaum. Zumindest nicht über die Anwesenheit des Dichters, wohl aber über seinen Zustand. Sie wollte wissen, was mit ihm passiert war. Sie stand von ihrem Bett auf, ging neben dem Dichter in die Knie und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
„Hallo? Was ist denn mit dir passiert?“
Der Dichter hob den Kopf und schaute sie angestrengt an. In seinem Zustand erkannte er wahrscheinlich nicht viel.
„Es hat keinen Sinn“, sagte er mit Mühe. „Hörst du? Leben hat keinen Sinn. Sterben hat auch keinen Sinn.“
Elsa ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen. Er tat ihr leid.
„Das wird schon wieder. Wenn du erst mal deinen Rausch ausgeschlafen hast …“
„Nein, nicht ausschlafen. Nie mehr ausschlafen“, brabbelte er. „Hat keinen Sinn.“
Elsa schaute zu Anbar hin und zuckte mit den Achseln. Der Dichter, der mal ein Rabe gewesen war, steckte eindeutig in der Krise.
„Was ist denn nun dein Problem?“, versuchte sie es noch einmal.
Er hob den Kopf und sprach in die Luft. Dabei musste er sich sehr konzentrieren.
„Es gibt nun mal“, sagte er sehr langsam, damit ihm die Buchstaben nicht entwischten, „keine Antwort. Auf die Frage. Keine Antwort auf die Frage, die ich bin. Jawohl.“
Elsa rückte näher heran. Immerhin hatte sie einen Raben vor sich, der zu Lebzeiten viel nachgedacht hatte und sicher mehr wusste als sie. Darum stellte sie ihm eine Frage, die sie gerne mal geklärt haben wollte.
„Nehmen wir mal an“, sagte sie, „du könntest in die Alte Welt zurückkehren, würde dir das etwas nützen?“
Er nickte. Aber Elsa hatte Zweifel, ob er sie verstanden hatte.
„Du weißt, was ich meine? Diese Welt, die es gab, bevor sie untergegangen ist. Verstehst du mich?“
Er schaute sie skeptisch an.
„Da kannst du nicht hin“, sagte er.
„Warum nicht?“
„Weil … weil du tot und lebendig sein musst. Gleichzeitig. Sonst geht es nicht.“
Elsa schaute Anbar an. Der hörte gebannt zu. Dabei ergab es keinen Sinn, was der betrunkene Dichter da sagte.
„Warum muss ich denn tot und lebendig sein?“, fragte sie. „Wozu?“
„Tot, damit du nicht stirbst“, erklärte er, „und lebendig, um anzukommen. Ist doch klar.“
„Wenn ich das könnte – was würde dann passieren?“
Er antwortete nicht. Er seufzte nur und bekam Schluckauf. Elsa ließ ihn dreimal aufstoßen, in der Hoffnung, dass er sich mit der Antwort Zeit ließ, doch es kam nichts.
„Also noch mal von vorn“, sagte sie. „Ich bin tot und lebendig. Wohin gehe ich dann?“
„Hindurch“, sagte er und machte mit den Händen eine komische Bewegung in der Luft.
„Wodurch? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
„Durch Schmerz, Zerstörung, Zerrissenheit, Nacht …“
„Das ist mir zu pathetisch!“, sagte Elsa ungeduldig. „Geht es nicht etwas genauer? Wohin muss ich gehen? Wo ist der Eingang?“
Der Dichter schüttelte den Kopf. Er war den Tränen nah.
„Ich war so nah dran“, murmelte er. „Ich war ganz nah …“
Elsa wollte ihn ja nicht noch unglücklicher machen, als er ohnehin schon war. Aber sie wusste auch, dass sie das Buch hergeben musste und ihn heute wahrscheinlich zum letzten Mal sah. Wenigstens einmal wollte sie es noch probieren.
„Leider verstehe ich dich nicht“, sagte sie leise und behutsam zu ihm. „Nehmen wir mal an, ich bin tot und lebendig genug, um hindurchzukommen – was passiert dann?“
„Dann weißt du es“, sagte er. „Dann weißt du es endlich.“
Er rieb sich die Tränen aus den Augen und tat das, was er immer zu tun pflegte, wenn er Elsa lange genug durcheinander gebracht hatte: Er verschwand. Ganz langsam wurde er zu einem der abendlichen Schatten, die nun im Zimmer lagen, und dann war er weg.
„Das macht er jedes Mal!“, rief Elsa aufgebracht. „Er redet wirr und ich ärgere mich. Kann er mir nicht einfach sagen, worum es geht?“
Anbar starrte immer noch dahin, wo der ehemalige Rabe gesessen hatte.
„Das ist es also“, sagte Anbar. „Er hat sich in das Buch hineingeschrieben.“
„Ja, und zwar reichlich schlecht“, sagte sie. „Statt dass er den Mund aufmacht und die Dinge beim Namen nennt – nein, es muss möglichst unverständlich sein, weil er sich für einen großen Künstler hält!“
„Ich glaube …“, begann Anbar und brach ab. Er musste lachen.
„Was ist?“
„Er ist nun mal kein Istländer“, sagte er. „Deine Ansprüche an einen prophetischen Geist sind haarsträubend. Weißt du nicht, dass er nur ein Bruchteil seiner selbst ist? Ein bisschen Bewusstsein, das er in seinem Buch verewigt hat und das in der Lage ist, mit dir Kontakt aufzunehmen? Er war ein Genie! Solche Erscheinungen sind sehr selten und meistens sprechen sie unverständlich. Sie nuscheln oder benutzen fremde Sprachen und ganze Sätze bringen sie schon gar nicht zustande. Dieser Prophet ist ein Musterknabe, also sei nicht so schrecklich undankbar!“
„Was hat er uns denn prophezeit? Kannst du etwas damit anfangen?“
„Ich meine zu erkennen, dass es für einen Raben kein Vergnügen ist, in die Alte Welt zurückzukehren. Trotzdem fürchte ich, dass es auf irgendeine bizarre Weise möglich ist. Das Rätsel seines Daseins scheint einen Raben so sehr zu beunruhigen, dass er versucht ist, all die Qualen, die mit einer Heimkehr verbunden sind, auf sich zu nehmen. Unser alkoholisierter Freund hier hätte es getan, wenn er bloß herausgefunden hätte, wie man gleichzeitig tot und lebendig sein kann. Ich bin zuversichtlich, dass Gaiuper auch nicht weiß, wie man tot und lebendig sein kann. Insofern bin ich beruhigt. Ja, ich bin wirklich klüger als vorher. Antolia werden diese Offenbarungen auch sehr interessieren. Das hast du gut gemacht.“
„Ich habe gar nichts gemacht“, sagte Elsa. „Wann gehen wir? Die Sonne geht unter.“
„Bist du denn gar nicht neugierig?“, fragte er. „Auf das, was er unbedingt wissen wollte? Auf die Antwort, die es nur in der Alten Welt gibt?“
„Nein“, sagte Elsa. „Ein Stück Kirschkuchen in der Küche meiner Mutter wäre mir lieber.“
„Dann ist es das“, sagte er nachdenklich. „Wenn du genügend Kirschkuchen hättest und alles andere, was das Leben behaglich macht, dann würdest du dich quälen und fragen, wozu es dich gibt. Morawena muss es so gegangen sein. Ihr stand jede erdenkliche Sorte von Kirschkuchen zur Verfügung, aber sie war nicht glücklich.“
Er stand auf.
„Wir treffen uns in ungefähr einer Stunde. Du fliegst zu einem von drei Häusern, die auf einer fast kreisrunden Waldlichtung in der Nähe der Zerfurchten Wiesen stehen. Nur eins der Häuser hat noch ein Dach – dort wartest du. Es sind die einzigen Häuser im Wald. Glaubst du, du findest sie?“
Elsa nickte. Aus der Luft waren die Häuser sicher gut zu sehen.
„Hör mir gut zu: Du darfst keine Umwege fliegen. Du musst unbedingt zwischen dem Schloss und den Häusern bleiben. Alles, was darüber hinausgeht, ist gefährlich! Vor allem, wenn du dich verwandelst. Hast du das verstanden?“
„Ja. Keine Umwege.“
„Dann gib mir jetzt das Buch.“
Die Sonne verschwand gerade hinter den Bergen. Sie gab ihm ‚Bolhins Reisen’. Es fiel ihr erstaunlich leicht. Er verabschiedete sich und dann ging er, das begehrte Buch in der Hand. Im Zimmer wurde es nun dunkel und langsam kalt. Elsa trank noch den letzten Saft aus dem Krug und aß ein halbes Brota. Sie wusste ja nicht, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde. Ein bisschen Zeit blieb ihr noch, sie wollte nicht zu früh am Treffpunkt erscheinen. Während sie wartete, saß sie am Fenster und überlegte, ob sie tatsächlich keine Antwort suchte. Keine Antwort auf „die Frage, die sie war“, wie der Dichter es ausgedrückt hatte. Sehnsucht verspürte sie schon. Aber nicht nach Wissen oder Erkenntnis, sondern nach einem Zustand, der alle Fragen überflüssig machte. Was spielte es für eine Rolle, wer man war oder warum es einen gab, wenn man glücklich war? Manchmal erahnte sie das Glück. Dann lag es einfach auf der Fensterbank, für einen kleinen, kurzen Moment. Aber sie konnte es nicht nehmen und festhalten. Sie musste es über die Fensterbank tanzen lassen und merken, dass es da war. Genauso musste sie es ziehen lassen, wenn es verschwinden wollte. Elsa spürte, dass es gerade verschwand. Sie selbst würde dafür sorgen, dass es sie verließ, indem sie Sommerhalt Lebewohl sagte. Sie hatte keine andere Wahl.
Sie stand auf und holte die Schildkrötendose aus dem Regal. Als sie den Deckel öffnete, sah sie die weiße Feder darin im Halbdunkel schimmern. Sie hatte keine Ahnung, warum Angais die Feder aufgehoben und aufbewahrt hatte. Aber das kleine, weiße Ding hatte lange genug im kalten Metall gelegen. Elsa nahm die Feder und ließ sie aus dem Fenster fliegen. Wie das Glück flog sie fort und verschwand in der Dunkelheit. Elsa wusste, dass ihre Zeit gekommen war. Sie nahm sich ein Herz, breitete ihre eigenen Flügel aus und flog hinterher.
Schwarz waren die Häuser im Schatten des Waldes, als sich Elsa auf der Wiese niederließ. Während sie sich zurückverwandelte, warf sie aufmerksame Blicke in den Zwischenraum. Sie konnte keine Spuren von Möwen entdecken oder von den gruseligen Fäden, mit denen sie einen Raben einwickeln und binden konnten. Das beruhigte sie. Das Haus, das noch ein Dach hatte, war das kleinste der drei. Die Tür stand offen, doch im Innern brannte kein Licht. Elsa horchte hinein, es schien leer zu sein. Sie wartete im dunkelsten Schatten seitlich der Hauswand, bis sie Anbars Umriss zwischen den anderen beiden Häusern entdeckte. Es schien kein Mond an diesem Abend, doch im schwachen Licht der Sterne erkannte sie sein helles Haar. Er gab ihr das Buch, als er bei ihr ankam, und sie nahm es erleichtert entgegen. Soweit hatte also alles geklappt.
„Ein Möwenposten steht am Weg zum Schloss“, sagte er. „Zwei andere umkreisen das Tor in großem Abstand. Wenn wir an denen vorbei sind, können wir uns am Tor ungestört umschauen. Es sei denn, du trittst aus Versehen in die Öffnung.“
„Das passiert mir nicht.“
„Gut, dann lass uns gehen.“
Sie konnte gut mit ihm Schritt halten. Sie war nicht langsam und sie war leise. Genauso leise wie er. Einmal blieb er stehen und horchte. Elsa hatte es auch gehört. Da war ein Rascheln im Gras, vielleicht war es nur ein Tier gewesen. Danach ging es leicht bergauf. Sie umrundeten eine Gruppe von Büschen und schon lagen die Zerfurchten Wiesen vor ihnen, mit den dunklen, versprengten Überresten der Ruine. Eine Kapelle war es mal gewesen, dem Namen nach. Elsa hielt nach dem Tor Ausschau. Die Mauer, die sie suchte, musste sich ganz in der Nähe der Öffnung befinden, denn sie war mit Kamark angekommen und hatte sich auf dem ersten Mauerrest, den sie fand, niedergelassen.
„Es könnte eine von den dreien sein“, flüsterte Elsa und zeigte Richtung Tor. „Ich habe dort gesessen, während ich mit dem Weltenführer gesprochen habe. Als er weg war, habe ich die Mauer abgetastet und das Kästchen in eine Lücke geschoben. Es war in ein Stück Stoff gewickelt.“
Sie blieb, wo sie war, in sicherem Abstand von der Öffnung, als Anbar die Mauern abtastete, eine nach der anderen. Alleine das Wissen um die Möwen, die im Zwischenraum saßen, machte Elsa nervös. Sie durfte das Tor nicht benutzen, wenn sie Sommerhalt verlassen wollte. Aber das Buch musste sie hier übergeben, daran führte kein Weg vorbei.
Wenig später kam Anbar zurück. Er hatte das Kästchen bei sich und sie machten sich auf den Rückweg. Als sie gerade die Büsche umrundeten, hörten sie Stimmen. Das war ein glücklicher Zufall, denn die beiden Möwen, die ihre Kreise um das Tor zogen, hatten sich getroffen, und waren nun leicht auszumachen. Sie sprachen nur kurz und dann trennten sie sich wieder, beide gingen in entgegengesetzte Richtungen.
Elsa und Anbar sprachen kein Wort auf dem Rückweg. Erst als sie den Wald erreichten und kurz darauf die Lichtung, brach Anbar das Schweigen.
„Es wäre gut, wenn du deinen Freund wiederfindest“, sagte er. „Den anderen Raben. Wenn dir jemand helfen kann, dich zu verstecken, dann er.“
„Aber ich weiß nicht, wo er ist.“
„Wie seid ihr euch das letzte Mal begegnet?“
Elsa antwortete nicht. Sie wusste jedoch, dass sie im Matrosenviertel nach Nikodemia suchen könnte. Womöglich lebte er immer noch dort. Es hatte ihn ja niemand erkannt, warum sollte er also nicht mehr dort sein? Sie war nicht entzückt von dem Gedanken, auf seine Hilfe angewiesen zu sein. Er würde es vermutlich auch nicht sein. Aber immerhin waren sie mal miteinander verlobt gewesen. Vielleicht musste sie tatsächlich ein neues Leben mit ihm beginnen. Wenn es bloß nicht dazu führte, dass sie am Ende heirateten!
„Überleg es dir“, sagte Anbar. „Ich könnte mir vorstellen, dass ein Rabe dem anderen gute Gesellschaft leistet.“
Elsa blieb stehen, da Anbar auf das kleine Haus mit dem Dach zuging.
„Da gehe ich nicht rein“, sagte sie. „Da drin ist es mir zu dunkel.“
Er zog etwas aus der Hosentasche. Es leuchtete wie ein blassgelber Mond zwischen seinen Fingern.
„Hier, nimm es! Das Licht ist so schwach und natürlich, dass man es von weiter weg nicht verdächtig findet.“
Sie hielt neugierig die Hand auf und er legte einen Stein hinein. Zumindest sah es aus wie ein runder Stein. Es fühlte sich auch so an. Der Stein verbreitete einen Lichtschein um sich, ein mattes Leuchten, tröstlich und weich.
„Wie hübsch! Was ist das?“
„Ein Licht“, sagte er. „Kommst du jetzt? Es ist besser, wir benutzen es im Haus und nicht außerhalb.“
So angetan war sie von dem Licht in ihrer Hand, dass sie ihre Vorbehalte fürs Erste vergaß und mit ihm das Haus betrat. Im Inneren konnte sie die Umrisse von einfachen Möbeln erkennen. Anbar schloss die Tür hinter ihr.
„Es ist ein Mineral, das sich erwärmt und auflädt, wenn man es am Körper trägt“, erklärte er. „Das ist praktisch, denn so hat man immer ein Licht für Notfälle bei sich. Wenn es so dunkel ist wie hier, leuchtet es am hellsten.“
„Habt ihr lauter so hübsche Lichter in Antolia?“
„Ja“, sagte er und untersuchte das Kästchen, das er immer noch in den Händen hielt.
„Willst du da etwa hineinschauen?“, protestierte sie. „Das ist Nadas und nicht deins!“
Er sah sie an, sichtlich ungeduldig.
„Es ist ja schön, dass dich deine Eltern so anständig erzogen haben, aber manchmal ist es lästig. Denkst du, Gaiuper hat nicht hineingeschaut?“
„Doch, aber du bist nicht Gaiuper.“
„Was, wenn es gefährlich ist? Soll ich es Nada geben, ohne zu überprüfen, ob es eine Falle ist?“
„Das ist eine Ausrede.“
„Ja, und es ist eine so gute Ausrede, dass ich mich gar nicht trauen würde, etwas anderes zu tun, als hineinzuschauen, auch wenn ich nicht neugierig wäre. Darf ich jetzt?“
Sie war auch neugierig. Sie hielt das Licht über das Kästchen und sah zu, wie er etwas herausholte, das in einen samtigen Stoff eingewickelt war. Als er es auswickelte, kam eine Brosche zum Vorschein. Eine schlichte Brosche, geformt wie ein Blatt und besetzt mit einem einzigen roten Stein. Elsa war nicht weiter beeindruckt, im Gegensatz zu Anbar.
„Das ist ein Wunder!“, sagte er, nachdem er die Brosche eine ganze Weile schweigend angestarrt hatte.
„Warum?“
„Nada hat sie ihr mal geschenkt. Da waren sie beide noch sehr jung. Gerard und Morawena waren noch kein Paar.“
„Ich wusste gar nicht, dass Morawena und Gerard ein richtiges Paar waren.“
„Ein paar Jahre lang. Nada musste sich damit begnügen, ihr bester Freund zu sein.“
„Warum ist es ein Wunder?“, fragte sie.
„Du weißt, wie das mit Raben ist“, antwortete er. „Wenn sie sich in Tiere verwandeln, haben sie keine Schmuckstücke mehr bei sich. Wenn sie sich dann zurückverwandeln, tragen und besitzen sie nur das, was eine unbewusste Macht in ihrem Inneren für überlebenswichtig hält. Vor allem nach einer so langen Zeit der Gefangenschaft.“
Elsa warf noch einmal einen sorgfältigen Blick auf die Brosche.
„Das heißt, dass ihr diese Brosche wirklich viel bedeutet? Wenn sie sie immer noch hat? Nach so langer Zeit im Käfig?“
„Ja. Die Brosche und die Erinnerungen, die damit verbunden sind.“
„Aber er war nur ihr bester Freund.“
Anbar wickelte die Brosche wieder ein und legte sie zurück ins Kästchen.
„Es genügt, wenn er sie morgen früh bekommt“, sagte er. „Wenn er Amandis dann immer noch heiraten möchte und Amandis bis dahin nicht Romer verfallen ist, dann sollen sie es meinetwegen tun.“
„Sehr großzügig von dir. Aber du willst nicht hierbleiben? Bis morgen?“
„Doch, genau das hatte ich vor. Ich mache mir einige Sorgen um dich und deswegen ist es mir lieber so.“
„Aber ich sorge mich weit weniger, wenn du weg bist!“
„Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen“, sagte er und stellte das Kästchen auf die nächste Fensterbank.
„Wenn du hierbleibst, dann gehe ich!“
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun!“
Elsa war das nicht geheuer. Das Haus bestand nur aus einem einzigen Zimmer mit vielen dunklen Ecken. Es war zu eng und zu düster, um es mit einem Menschen zu teilen, dem man nicht vertraute. Am wenigsten gefiel Elsa, dass Anbars Stimme so einen gefährlichen Unterton bekommen hatte.
„Ich werde den Eindruck nicht los, dass du mir drohst“, sagte sie. „Als würde mir etwas Schreckliches passieren, wenn ich nicht tue, was du sagst.“
„Genauso ist es“, sagte er. „Aber nicht ich bin es, der dir dann etwas Schreckliches antut, sondern die anderen. Damit du mich nicht falsch verstehst: Sollte es jemandem gelingen, dir den Kopf abzuschlagen oder den Hals umzudrehen, dann werde ich das verkraften. Es würde mein Leben sogar vereinfachen. Aber ich will nicht, dass du in Antolia endest, als erstes Opfer des Verfahrens. Das ist es, was ich verhindern will!“
„Nett von dir. Aber das kann ich auch selbst verhindern.“
„Nein, das kannst du womöglich nicht“, sagte er, „und halte mich nicht für nett, es geht mir dabei hauptsächlich um Antolia. Eine Kultur, die sich für weise und gerecht hält, darf das Verfahren niemals anwenden. Dass diese Methode der Vernichtung eine Erfindung der Hochwelten ist, ist schon schlimm genug.“
„Du meinst, wenn ich aus dieser Türe gehe, dann ist alles zu spät?“
„Hör mir gut zu!“, sagte er und sie hörte gut zu, weil er gerade so ärgerlich war. „Heute Nacht werden die Hochwelten beschließen, dass du nicht mehr existieren solltest. Denn die Mehrheit der Ausgleicher ist dieser Meinung, daran bestand heute Morgen kein Zweifel mehr. Sie werden sich außerdem darauf verständigen, dass sie die Hilfe der Möwen annehmen werden, wenn sie ihnen angeboten wird. Damit rechnen Egas Möwen. Sie hocken schon da draußen und können es gar nicht abwarten, dich einzufangen und abzuliefern. Verlass dich darauf, dass Ega nicht von deiner Seite weichen wird, wenn es zum Schlimmsten kommt. Sie wird freudig deine Hand halten, während du stirbst, um sich an deinem allerletzten Atemzug zu ergötzen!“
Diese Auskunft versetzte Elsa in Panik. Sie hielt ihr Licht fest, das genauso zitterte wie ihre Hände, und wagte nicht daran zu denken, wie es wäre, wenn es tatsächlich so käme.
„Aber …“, begann sie und verstummte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Ich wollte dich nicht vollkommen verschrecken“, sagte Anbar versöhnlich. „Aber so ist es nun mal. Bevor du aus diesem Haus türmst, nur weil du mich nicht leiden kannst oder mir nicht traust, solltest du wissen, was dich dort draußen erwartet.“
Elsa atmete weit schneller als noch vor wenigen Minuten. Sie wollte sich beruhigen, aber immer noch galoppierte ihr Herz. Sie wollte nicht für immer sterben und schon gar nicht in Egas Nähe.
„Es ist dir gelungen“, sagte sie. „Ich bin kleinlaut und eingeschüchtert und werde keinen Fuß vor die Tür setzen. Aber was ich nicht verstehe … warst du nicht ursprünglich für das Verfahren?“
„Ich konnte mich noch nie damit anfreunden. Obwohl es eine Erfindung der Vernunft ist. Überleg dir, wie viele Menschen verletzt oder getötet wurden, weil Gaiuper und die Ganduup meinten, sie müssten mit dir in den Krieg ziehen: Tausende und noch mal Tausende. Die haben wir jetzt beide auf dem Gewissen, du und ich. Ich noch mehr als du, denn ich hätte es ganz einfach verhindern können. Ein Leben gegen Tausende Leben, wie kann man da zögern?“
„Du hast gezögert.“
„Ja, glücklicherweise. Ich habe es nie bereut. Wenn Antolia anfängt, unschuldige Wesen zu töten, verrät es seine Ideale. Ganz gleich, wie erhaben die Beweggründe für einen solchen Mord sein mögen, er ist falsch und führt zum Niedergang unserer Kultur. Das Morden müssen wir den Bösen überlassen, auch wenn die Folgen schrecklich sind. Also denk nicht, dass ich so scharf darauf wäre, die Nacht mit dir in dieser Hütte zu verbringen. Ich will nur das rein halten, wofür ich lebe und woran ich glaube. Wenn Antolia schlecht wird, wird alles schlecht.“
Elsa starrte verzweifelt auf ihr Licht. Es wurde immer schwächer, dabei war es doch das einzige, woran sie sich festhalten konnte. Mit den Augen und mit allem anderen.
„Was ist mit ihm?“, fragte sie. „Es leuchtet nicht mehr!“
„Der Stein ist nicht warm genug“, sagte Anbar. „Nimm ihn in beide Handflächen und drück ihn, dann lädt er sich wieder auf und leuchtet so hell wie vorher.“
Elsa tat es und ihr Herz wurde wesentlich leichter, als hellgelbe Strahlen von Licht durch ihre Finger sprangen.
„Du kannst ihn behalten, wenn du möchtest“, sagte er. „Aber zeig ihn niemandem. Er stammt aus den Hochwelten und ich dürfte ihn überhaupt nicht mitbringen.“
„Du meinst, die Möwen und deine Antolianer kriegen mich nicht? Obwohl ich bei Tagesanbruch am Tor sein muss, um das Buch zu übergeben?“
„Am Tor? Ausgerechnet am Tor? Das ist der dämlichste Treffpunkt, den man sich ausdenken kann!“
„Kann ich was dafür? Immer heißt es: Du tust jetzt dieses, du tust jetzt jenes, sonst knallt es, und wenn es ein blödsinniger Befehl ist, dann muss ich mich auch noch dafür rechtfertigen! Gaiuper hat mir nicht gerade seine Telefonnummer aufgedrängt, damit wir uns verabreden können!“
Anbars Gesichtszüge entspannten sich. Fast lachte er.
„Macht man das so in Istland? Wie nett. Eine typische Sackgassentechnik, dieses Herumhängen an zwei Hörern.“
„Sackgassentechnik? Mein Vater wäre beleidigt. Er hatte das erste Telefon im Dorf.“
„Er wird sich hoffentlich daran erfreuen, bis er alt und taub ist. Wann musst du am Tor sein? Bei Sonnenaufgang?“
„Ja. Gaiuper schickt einen Boten.“
„Dann ist es gut, dass Egas Möwen nicht wissen, dass du hier bist. Sie vermuten dich im Schloss und werden nicht damit rechnen, dass du in den Zerfurchten Wiesen auftauchst, denn das wäre ja alles andere als klug …“
„Ich werde es Gaiuper ausrichten.“
„ … aber das ist wiederum unser Vorteil.“
Er verschwand in einer dunklen Ecke, um gleich darauf mit zwei Decken zurückzukehren.
„Nimm die und versuch da drüben auf der Bank zu schlafen. Ich achte darauf, dass wir keinen Besuch bekommen, und wecke dich rechtzeitig, wenn du schläfst.“
„Ich kann nicht schlafen!“, sagte sie. „Ganz bestimmt nicht.“
Aber sie nahm die Decken, bastelte sich daraus ein Kissen und machte sich auf die Suche nach der Bank. Es war eine Bank mit Polstern und womöglich konnte sie tatsächlich darauf liegen, ohne dass ihr alles weh tat. Sie legte das Buch und ihren Stein auf den Tisch neben der Bank, und da der Stein keine Wärme mehr bekam, verblasste er schnell. Als sie ihren Kopf auf das selbst gebastelte Kissen legte, war es stockdunkel. Sie fand es nun gar nicht mehr so gruselig, mit Anbar alleine im Dunkeln zu sein. Eigentlich war er ja immer ganz ehrenhaft gewesen und sie fühlte sich sicher. So sicher, dass ihre Gedanken allmählich den Zusammenhang verloren, und sie, ohne es zu merken, einschlief. Einmal wachte sie auf und wunderte sich über die Schwärze ringsum. Dann aber erkannte sie zwei Lichtstreifen, dort, wo die Fenster waren. Es war so still, dass sie gleich wieder einschlief. Erst spät in der Nacht begann sie zu träumen.
Wieder war sie Agnes. Agnes, die sich in den Kissen herumwarf, fiebrig und krank. Ulissa beugte sich zu ihr herab und flüsterte:
„Nicht aufgeben! Bleib bei uns, Agnes!“
Agnes hatte die Augen geschlossen. Sie wollte nichts sehen und sie wollte nicht gesehen werden.
„Bitte, Anbar!“, hörte sie Ulissa sagen. „Hol Segerte! Bitte, bitte!“
„Du weißt, dass das nicht geht“, antwortete er.
„Was heißt hier, es geht nicht?“, rief Ulissa schrill. „Du bringst sie um, wenn du ihn nicht holst! Ohne Segerte wird es nichts mehr! Jetzt geh schon!“
Nichts geschah. Agnes fühlte nur Hitze. Ich war schrecklich heiß und ihr ganzer Körper tat ihr weh. Jemand legte ihr einen kühlen, feuchten Lappen auf die Stirn. Sie wusste, wer das tat. Es war der böse Mann, vor dem Ulissa sie gewarnt hatte. Der Ausgleicher, der sie immer so forschend ansah, weil er ahnte, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
„Du willst ja, dass sie stirbt!“, zischte Ulissa. „Du magst sie auch nicht. So wie alle anderen!“
„Rede keinen Unsinn. Wie soll ich Segerte in dieses Zimmer bekommen, ohne dass ihn jemand sieht? Es ist verboten und Gesetze werden überwacht. Mal abgesehen davon, dass er aus denselben Gründen nicht bereit sein wird, mitzukommen.“
„Ach ja? Aber wenn es eine von uns wäre, dann würdest du Segerte in dieses Zimmer bekommen, habe ich recht? Mich würdest du nicht krepieren lassen!“
Anbar senkte die Stimme.
„Glaubst du, du tust ihr einen Gefallen, wenn du hier so herumkeifst? Sie muss denken, dass sie dem Tod geweiht ist. Dabei sind es nur ein paar Knochenbrüche.“
„Dafür sieht sie aber ziemlich sterbenskrank aus“, widersprach Ulissa in der gleichen Lautstärke wie zuvor. „Merkst du nicht, wie hoch ihr Fieber ist?“
Wieder blieb es still und nichts geschah. Agnes fühlte ein Flimmern hinter ihren Augen. In ihrem Schädel pochte es. Ohne es zu wollen oder es geplant zu haben, öffnete sie die Augen. Sie sah Anbar, der sich über sie gebeugt hatte und sie beobachtete. Nun prüfte er ihre Temperatur, indem er seinen Handrücken an ihre Wange legte. Dann stand er wortlos auf und ging.
Sie wusste nicht, wie viel später es war, als er zurückkam. Er hatte einen Mann bei sich mit einer großen, krummen Nase. Der Mann hatte auch lange Haare, so wie Anbar, nur waren sie grau und nicht blond. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, den er auf den Stuhl neben dem Bett stellte und öffnete. Dann holte er Geräte heraus, die sich sehr kalt anfühlten, als er sie damit abtastete. Ulissa saß die ganze Zeit am Fußende des Bettes und beobachtete den alten Mann ängstlich.
„Was ist mit ihr, Segerte? Warum geht es ihr so furchtbar schlecht?“
Segerte schüttelte den Kopf, nahm den Lappen von Agnes’ Stirn und legte stattdessen seine Hand darauf. Das fühlte sich sehr gut an. Viel zu gut.
„Es tut mir leid, Ulissa“, sagte Segerte ganz leise. Doch Agnes verstand ihn deutlich. „Sie will sterben. Einen Menschen, der nicht leben möchte, kann ich nicht gesund machen. Das ist das Problem. Die Verletzungen sind mittelschwer, die würden wir hinbekommen, wenn sie etwas mehr Lebenswillen hätte. Es ist mir ein Rätsel, warum es so schnell bergab mit ihr geht.“
Diese Auskunft veranlasste Ullissa, vom Bett zu springen, Segerte zu umrunden, und ihren Mund an Agnes’ Ohr zu drücken.
„Hast du gehört? Du musst dir nur vornehmen zu leben! Dann wird alles gut!“
Doch Agnes hatte etwas Verlockenderes gespürt. Ob es an Segertes Hand lag, die so eine Ruhe in ihrem Körper verströmte, oder ob sie eine kritische Grenze überschritten hatte, hinter der es kein Zurück mehr gab – sie wollte nur noch Frieden. Sie hatte ihn schon geschmeckt, er lag auf ihrer Zunge. Frieden, Schlaf und Vergessen. Wie süß musste das Vergessen sein, wenn man so ein Heimweh hatte wie sie und wusste, dass die Heimat unerreichbar war! Wie gut war ihr zumute, wenn sie alles losließ. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick schweifen – über Segerte, der sie mitleidig ansah, und über Ulissa, die immer noch erwartete, dass Agnes plötzlich wieder munter werden würde. Zuletzt fiel ihr Blick auf Anbar, den feindlichen Ausgleicher. Er saß am Fenster und sie sah in seinen Augen, dass er sie aufgegeben hatte. Seine Augen sagten ihr Lebewohl. Es überraschte sie, dass sie in diesen Augen gar nichts Böses entdeckte, obwohl sie nun, am Ende ihres Lebens, so mutig danach Ausschau hielt. Sie fand nur Traurigkeit. Traurige Gewissheit darüber, dass es für sie keine Hoffnung mehr gab. Seine Augen waren das letzte, was sie sah. Ihr Blick hörte auf, ihre Schmerzen auch, und alles, was eben noch ihr Leben gewesen war, verschwand.
„Elsa?“
Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie doch noch lebte. Jemand berührte sie am Arm, vorsichtig, um keine Krisensituation heraufzubeschwören.
„Wach auf, Elsa, wir müssen gehen!“
Im ersten Moment fiel es Elsa schwer, den Ernst der Lage zu begreifen. Denn sie lebte ja wieder und der Ausgleicher ging auch davon aus, dass sie nicht in den letzten Zügen lag. Nur allmählich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie hier war, um bei Tagesanbruch die Rabendiener zu treffen. Sie richtete sich langsam auf.
„Wer ist Segerte?“, fragte sie, als sie sich die Augen rieb.
„Woher kennst du Segerte?“, fragte er zurück.
„Ich habe von ihm geträumt.“
Es war noch dunkel in der Hütte und das musste es ja auch sein, sonst hätte sie ihre Verabredung schon verschlafen. Doch die Dunkelheit machte es schwieriger, Träumen und Wachen auseinanderzuhalten.
„Wo ist mein Buch?“
„Hier, in meiner Hand.“
Der Stimme nach stand Anbar schon an der Tür.
„Wer ist er denn nun?“, fragte sie und stand auf.
„Segerte ist der Leibarzt meiner Familie“, erklärte Anbar, „und mein Urgroßvater.“
„Dein Urgroßvater! Dafür hat er sich aber gut gehalten!“
„Ja, das ist so in Antolia. Wir sind alle sehr gesund und leben lange. Weit länger als die Sommerhalter. Aber nur wegen der idealen Lebensbedingungen und der ausgereiften Medizin. Bist du soweit?“
Sie strich sich das Kleid glatt und die Haare zurück und machte sich auf den Weg in Richtung Tür, vorsichtig, um nicht plötzlich zu stolpern.
„Ich müsste dann vielleicht auch mal … hinter einen Baum?“
„Ja, das lässt sich machen. Wieso träumst du von Segerte? Kannst du dich an ihn erinnern?“
„Oh, ja“, sagte sie und wäre im Dunkeln fast gegen Anbar gestoßen, doch der ging im letzten Moment einen Schritt zur Seite. „An dich kann ich mich auch erinnern.“
„Tatsächlich“, sagte er. „Das gefällt mir nicht unbedingt.“
„Ich hoffe, es wiederholt sich nicht.“
„Was?“
„Ich hoffe, du wirst mich nie wieder so ansehen und wissen, dass ich sterbe.“
„Das ist gruselig, Elsa.“
„Es stimmt doch, oder? Es ist kein Traum?“
„Nein, es ist kein Traum.“
„Das wollte ich nur wissen. Gehen wir.“
Doch er ging nicht.
„Ich weiß nicht, welchen Eindruck du von mir bekommst“, sagte er, „wenn du die Vergangenheit mit Agnes’ Augen siehst. Sie hat immer große Angst vor mir gehabt. Aber ich habe ihr nichts getan und das hatte ich auch nicht vor.“
„Ich weiß.“
„Dann ist es ja gut“, sagte er. „Es könnte mir zwar egal sein, was du denkst, aber so fühle ich mich doch besser. Wenn wir gleich draußen sind, sollten wir nicht mehr reden. Die Möwen haben gute Ohren.“
Er öffnete die Tür und sie sah, dass der Himmel über den dunklen Bäumen schon hell geworden war. Die Vögel sangen und waren so laut dabei, dass Elsa befürchtete, sie würden die Möwen viel zu spät hören, wenn sie ihnen über den Weg liefen. Doch niemand lief ihnen über den Weg, zumindest nicht im Wald. Später, als sie sich auf halbem Weg zwischen Wald und Tor befanden, hörte Elsa ein Sausen und Rascheln im rechten Ohr. Sie kannte das, es waren die Geräusche, die Möwen im Zwischenraum machten, und sie wunderte sich, dass diese Geräusche so weit weg vom Tor zu hören waren. Sie sah Anbar an, der nichts zu hören schien. Wenig später war es wieder weg. Dafür bewegten sich Schatten in der Ferne zwischen zwei einzelnen Bäumen. Es waren drei Personen. Elsa wollte sofort ausweichen und einen anderen Weg einschlagen, doch Anbar hielt sie am Ärmel fest. Er wartete kurz, beobachtete die Schatten, und setzte dann seinen Weg fort. Als sie zögerte, ihm zu folgen, winkte er ihr. Da sah sie es auch, dass die Schatten sich von ihnen fortbewegten. Sie gingen in die gleiche Richtung wie sie, zum Tor hin. Die ganze Zeit waren sie zu sehen, nur dann nicht, als sie an die Stelle kamen, wo die Büsche standen. Hier wartete Anbar einige Zeit und lauschte. Ganz in der Ferne, sehr leise, glaubte Elsa jemanden sprechen zu hören. Dann war auch das weg.
Hinter dem Wald im Osten wurde es immer heller. Elsa hoffte, dass sie sich nicht verspäteten. Obwohl das albern war. Die Übergabe würde nicht daran scheitern, dass es die Rabendiener mit der Tages- oder Nachtzeit allzu eng sahen. Es war nur so, dass Elsa gerade sehr nervös war. Es bestand ja auch noch die Möglichkeit, dass Gaiuper das Buch nahm, sich ins Fäustchen lachte und sie abkassierte. Obwohl sie es nicht glaubte.
Anbar ging weiter und sie ging mit. Kurz darauf tauchten die Zerfurchten Wiesen vor ihnen auf. Die dunklen Mauerreste schliefen noch vor sich hin, still und friedlich im grauen Licht des Morgens. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Sie setzten sich hinter eine der höheren Mauern und warteten ab.
Es verging einige Zeit. Die Wolkenschleier am Himmel nahmen eine hellgelbe Farbe an. Die Vögel sangen immer noch, doch weiter weg. Die Luft war kalt. Hätte Elsa in den Rosenrinker Klinken gestanden, so wie früher in Istland, an einem Herbstmorgen, kurz bevor sie ihren Weg in die Schule antreten musste – dann hätte sie es genossen. So wartete sie sehnsüchtig auf ein fremdes Geräusch, das richtige Geräusch, und dann kam es. Wie aus dem Nichts traten fünf Gestalten auf die Wiese, vier gedrungene, bewaffnete und eine hagere mit nervösem Gesichtsausdruck. Das war Kamark.
Elsa nahm das Buch, das Anbar ihr reichte, und lief den Männern entgegen. Unter den bewaffneten Rabendienern erkannte sie Tegga, den Anführer der Schläger. Ihm überreichte sie das Buch.
„Hier. Das ist es, was Gaiuper haben wollte.“
„Hoffen wir, dass es das richtige ist“, antwortete Tegga. „Du weißt, was sonst passiert.“
„Es ist das richtige. Keine Sorge.“
„Du bist es, die sich Sorgen machen sollte. Aber fürs Erste kannst du gehen. Gaiuper hält sein Wort.“
Auf ein Zeichen von Tegga machte Kamark kehrt und verschwand wieder, mit den Rabendienern an seiner Seite. Im gleichen Moment fühlte Elsa, wie Anbar sie am Arm von der Wiese fortzog.
„Du musst jetzt sofort verschwinden“, sagte er. „Flieg weg, komm nie mehr wieder und pass gut auf dich auf!“
Sie drehte sich nach ihm um. Ein leichter Wind zupfte an Anbars Haaren und wehte ihr die eigenen ins Gesicht. Sie wollte sich eigentlich verabschieden oder bedanken, aber die Zeit drängte und sie wusste sowieso nicht, was sie sagen sollte. Darum verwandelte sie sich ohne ein Wort und war plötzlich ein Rabe, der noch mehr Wind machte. Ihre menschlichen Gedanken purzelten durcheinander und der Rabe gewann schnell an Höhe. Bald wurde er von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen. Als er noch einmal nach unten schaute, war Anbar in den Schatten der Niederungen verschwunden. Den Raben kümmerte das nicht, ihn lockte der weite, helle Himmel. Doch Elsa kam es komisch vor. Jetzt war er weg und sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Sie würde auch nie erfahren, ob Nada und Amandis heirateten oder nicht. Wie ‚Bolhins Reisen’ ausging, sollte ihr auch ein ewiges Rätsel bleiben. Aber all diese Gedanken brachten sie nicht vom Fleck, sie musste sich jetzt losreißen und nach Brisa fliegen. Um Nikodemia zu suchen und dann – mit oder ohne ihn – in eine ferne, fremde Welt aufzubrechen. Sie war schon bereit, richtete ihre Gedanken nach Norden aus, da fiel ihr etwas ein, etwas Wichtiges, das sie vergessen hatte. Der Stein, der im Dunkeln leuchtete, wenn man ihn wärmte, lag immer noch in der Hütte auf dem Tisch.
Sie hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen und glitt, ohne weiter zu überlegen, in Richtung Wald dahin. Es war ein kurzer Weg, wenn man Flügel hatte. Sie sah den Wald unter sich auftauchen und gleich darauf die Lichtung mit den Häusern. Da weit und breit niemand zu sehen war, landete sie im Gras, richtete sich auf und spähte in Menschengestalt ins Haus hinein. Es war leer. Der Stein, fast rund und hellgrau, lag auf dem Tisch, dort, wo sie ihn vor dem Einschlafen hingelegt hatte. Sie ging mit schnellen Schritten in die Hütte hinein, steckte den Stein in ihre Rocktasche und horchte. Es war nicht still. Sie vernahm ein Rascheln, ein unheimliches Rascheln, das ihr verriet, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte.
Sie sah sich aufgeregt um. Es war nichts zu sehen, doch das Wispern und Knistern, das nichts Gutes verhieß, kam von allen Seiten. Als sie ihren Blick in den Zwischenraum gleiten ließ, entdeckte sie etwas Erschreckendes außerhalb der Fenster: Fäden flogen im Wind, Gespinste von Fäden. Elsa verschenkte wertvolle Zeit, indem sie starr vor Schreck auf der Stelle verharrte. Sie wusste überhaupt nicht, was sie tun sollte. Selbst wenn sie, ohne ein Tor zu benutzen, diese Welt einfach hätte verlassen können – und das war ihr eigentlich gegeben, nur dass sie es nicht willentlich vermochte – aber selbst wenn es ihr gelungen wäre, hätte sie doch den Zwischenraum betreten müssen und der saß allem Anschein nach voller Möwen. So wählte sie den naheliegendsten Weg, auch wenn er hoffnungslos war. Sie verließ die Hütte durch die Tür, um sich gleich darauf ihrer vollkommenen Hilflosigkeit bewusst zu werden.
Wie ein feiner Nieselregen senkte sich das feinste Netz aus Zwischenraumfäden auf sie herab, berührte ihr Gesicht und ihren ganzen Körper, bannte ihre Gestalt und beraubte sie jeglicher wunderbarer Kräfte, die sie womöglich aus ihrer Not hätten befreien können. So furchtbar fühlte es sich an, in ihrer Weite beschränkt zu sein und auf sich selbst zurückzufallen, auf eine schwache Elsa aus Istland, dass sie auf die Knie stürzte und heftig atmete. All das ereignete sich in einem Augenblick. Im nächsten waren da Arme und Hände, die sie festhielten und fesselten. Sie starrte ungläubig auf ihre eigenen Hände, die auf einmal mit einem Seil zusammengebunden waren, so fest, dass es schmerzte. Warum bloß hatte sie das getan? Warum hatte sie den Stein geholt? Warum nur hatte sie keinen einzigen Blick in den Zwischenraum geworfen, bevor sie ein Mensch geworden war? Sie verstand es nicht. Sie starrte ihre Fesseln an und rührte sich nicht, gelähmt von Reue und Angst, angesichts dessen, was da nun kommen würde. Schließlich hob sie den Kopf, um dem Grauen ins Auge zu sehen. Doch die Person, die sie sah, war eine andere als sie erwartete hatte.
„Warum tust du nicht, was man dir sagt?“, fragte Sistra.
Aufrecht stand sie da und sah zum Fürchten aus. Ihr hellrotes Haar trug sie wie meist zu einem Knoten gebunden und das blasse Gesicht war über und über von Sommersprossen bedeckt. Trotzdem wirkte sie kein bisschen verspielt oder fröhlich, sondern nur streng. Sie hatte ein schönes Gesicht, ein unbewegtes mit graugrünen Augen. Jetzt, da Sistra so vor ihr stand, erkannte Elsa, wie ähnlich sie Anbar sah. Beide hatten den gleichen Blick, diese Art, in einen hineinzuschauen, ohne sich selbst dabei zu verraten.
„Komm nie mehr zurück – hat er das nicht gesagt? Ich hatte ihm versprochen, nicht einzugreifen, bis das Buch dort ist, wo wir es haben wollten. Ich wusste genau, dass er dich gleich danach wegschickt, weil er meint, du könntest deinen Feinden entkommen. Dass das ein Irrtum ist, war mir von vornherein klar, aber dass es so schnell gehen würde, überrascht sogar mich!“
Elsa fehlten alle Worte. Sie erwartete nur ihr Urteil. So kam sie sich nämlich vor: wie vor Gericht.
„Ich kann nicht zulassen“, fuhr Sistra fort in ihrer Rede, „dass du dich noch mal einfangen lässt, von den Ausgleichern, von den falschen Möwen oder von Gaiuper. Ich muss dich in sichere Verwahrung nehmen!“
Was damit gemeint war, wusste Elsa. Hundert Jahre Käfig – konnte es sein, dass ihr das wirklich bevorstand? Dieses furchtbare Schicksal?
„Anbar würde das nicht wollen“, sagte Elsa. „Es ist falsch, so etwas zu tun!“
„Es ist der sicherste Weg, dich vor dem Verfahren zu schützen“, erwiderte Sistra. „Also dürfte es Anbar recht sein. Eine Sorge hat er dann weniger. Wenn es auch nicht angenehm ist, so wirst du doch eines Tages in deinem nächsten Leben, das du mir zu verdanken hast, vergessen haben, dass du gelitten hast. Und zähle jetzt nicht auf mein Mitgefühl, ich habe meine eigene Schwester eingesperrt, ich kann jedes Geschöpf in einen Käfig sperren!“
Sie schnippte mit der Hand und das Schnippen schwirrte sehr laut in Elsas Ohren. Fast gleichzeitig machte sich ein plötzlicher Schmerz in ihrem Genick breit. Sie drehte sich ruckartig um. Keiner der Männer oder Frauen, die um sie herumstanden, hatte sie berührt. Trotzdem spürte sie diesen stechenden Schmerz und fühlte, wie etwas Giftiges, Zerstörerisches in sie eindrang.
„In dir steckt eine Nadel“, sagte Sistra, „und diese Nadel sondert sehr langsam ein tödliches Gift ab. Wenn du nicht sterben möchtest, wirst du dich verwandeln müssen, nur so wird die Nadel rechtzeitig aus dir herausfallen.“
Elsa wurde übel und sie konnte nicht mehr klar denken. Das Gift wirkte schnell und machte sie schon ganz krank. Es war ihr ein Rätsel, worauf Sistra hinaus wollte. Sie konnte sich doch gar nicht verwandeln mit dem Netz aus Fäden um sie herum. Sie merkte, wie Sistra näher kam und unmittelbar neben ihr in die Knie ging. Dann auf einmal rissen die Möwen das Netz aus Zwischenraumfäden von Elsa fort und sie gelangte in eine zweifelhafte Freiheit: Sie war viel zu schwach, um sich zu wehren, um überhaupt noch irgendetwas zu tun. Ganz dunkel wurde ihr klar, dass sie ausharren müsste, wenn sie frei sein wollte: das Gift seine Arbeit verrichten lassen, sterben und wieder von neuem geboren werden. Aber es lag nicht in ihrer Macht. Ihr Kopf schmerzte und wollte gleich zerplatzen, ihr ganzer Körper quälte sie und war im Absterben begriffen. Ihr Herz schlug nicht mehr, wie es sollte, es stotterte, tat sich schwer. Ihr wurde schwarz vor Augen. Doch sie wurde nicht ohnmächtig, sondern bemerkte eine Veränderung. So langsam wie noch nie ging eine Verwandlung mit ihr vonstatten. Ganz deutlich merkte sie, wie sie ihre Form aufgab, wie sie ihre Menschengestalt dem Zwischenraum anheim gab und auf einen Schatten in ihrem Innersten zurückfiel, einem Wesen, das in seiner Dunkelheit und der Art, sich zu bewegen, sehr einem Raben glich. Dieses schwarze Etwas wand und krümmte sich. Denn anders als sonst konnte es nicht aus der Unendlichkeit des Zwischenraums schöpfen und sich eine neue Gestalt erschaffen, sondern wurde festgehalten, gewaltsam von mächtigen Händen, die es bannten, einschnürten, daran hinderten, so zu sein, wie es sein wollte, nämlich frei. Es war machtlos. Längst gab es keine Umgebung mehr rundherum, keine Wiese, keine Sonne, sondern nur einen Zwischenraum, der mal hell, mal dunkel flackerte.
Das rabengleiche Geschöpf wurde getragen, von einer Welt zur anderen, und wenn es auch manchmal versuchte, sich dem festen, unbarmherzigen Griff der beiden Hände zu entwinden, so musste es doch einsehen, dass es ihm nicht gelingen konnte. Irgendwann wurde es entlassen, doch nur, um sich im Inneren eines Käfigs wiederzufinden, dessen Stangen genauso stark waren wie die Hände, die es bezwungen hatten. Es war gefangen, zurückgedrängt in sein ureigenstes Wesen. Als es aus dem Zwischenraum in eine andere Welt gezerrt wurde, verfestigte es sich zu einem traurigen, bedürftigen Abbild seiner wahren Natur. Es wurde zu einem Raben, keinem, der fliegen konnte oder im Hinterkopf einen menschlichen Gedanken hätte denken können. Er war nur die stumpfe Kopie eines Raben, verkrüppelt durch die Stäbe, die ihn umgaben. Der Rabe sah, dass er durch einen unterirdischen Gang getragen wurde, in den fast kein Licht fiel. Eine schwere Tür wurde geöffnet, man trug ihn eine Treppe hinab, hängte ihn mit dem Käfig an die Decke und überließ ihn dort seinem Schicksal. Nachdem die Person, die ihn dort hingehängt hatte, das Licht ausgeschaltet und die schwere Tür hinter sich geschlossen hatte, war der Rabe von Schwärze umgeben.