Eine Überraschung bahnt sich an
Die Hinterhofeinfahrt war von einem dunkelblauen Ford blockiert. Die Bürofenster waren dunkel. Oberinspektor Ruhwedel erinnerte sich, daß Joschi einen Neuwagen erwähnt hatte, den der Inhaber der Bauschreinerei jetzt fuhr. Dieser Ford war neu, es war ein brandneues Modell. Richard Arnold schien zu Flause zu sein.
Sie klingelten am Vorderhaus. Der Türsummer ertönte. Sie drückten die Eingangstür auf und gingen hinauf in den ersten Stock.
Eine etwa fünfzigjährige Frau in einem langen, mit bunten Blumen bedruckten Hauskleid erwartete sie an der Wohnungstür.
„Frau Arnold?“ vergewisserte sich Ruhwedel.
Die Frau nickte. „Ja, bitte?“
„Kriminaloberinspektor Ruhwedel. Mein Mitarbeiter, Inspektor Panke“, sagte Ruhwedel und zeigte seine Legitimation als Kriminalbeamter vor. „Wir möchten Ihren Mann sprechen.“
Die Frau schien zu erschrecken.
Doch einen Moment später hatte sie sich wieder gefaßt. Sie trat beiseite und bat die Beamten mit einer Handbewegung einzutreten. „Wir sind noch beim Abendessen. Ist etwas passiert?“ fragte sie.
Weder Ruhwedel noch Panke antworteten darauf.
Doch als sie im Wohnzimmer standen, wo Frau Arnold sie Platz zu nehmen bat, fragte Ruhwedel wie beiläufig: „Essen Sie immer so spät?“
„Gelegentlich. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte die Frau kühl. Doch das Zittern ihrer Hände verriet, daß sie nicht so gelassen war, wie sie sich gab.
„Nein, danke“, wehrte Ruhwedel ab.
„Wer ist da, Rita?“ ertönte Richard Arnolds Stimme aus einem Nebenzimmer.
„Komm bitte mal!“ rief seine Frau zurück.
Ein Stuhl wurde geräuschvoll zurückgeschoben. Dann öffnete sich die Verbindungstür, und Richard Arnold musterte die Beamten verwundert. „Vertreter?“ fragte er. „Ist aber schon reichlich spät für Geschäfte, meine Herren.“
„Es dauert nicht lange, Mama!“ rief Rita Arnold ins Nebenzimmer und drückte die Verbindungstür zu, während die Beamten sich Richard Arnold gegenüber auswiesen.
Richard Arnolds Gesicht drückte blanke Verwunderung aus. „Was führt Sie zu mir? Es ist doch nicht auf der Baustelle etwas passiert?“ fragte er und bat die Beamten mit einer Handbewegung, auf der riesigen braunen Rundcouch, die mitten im Zimmer stand, Platz zu nehmen.
Ruhwedel und Panke versanken in dem Polsterungetüm.
„Bitte, entschuldigen Sie die späte Störung. Wir sind wegen Ihrer Tante, Frau Marie-Loise Arnold, hier. Wir möchten Sie um einige Auskünfte ersuchen“, sagte Ruhwedel und bemühte sich um eine korrekte Haltung, was ihm jedoch durch die ihm aufgezwungene lässige Sitzhaltung mißlang.
„Hat sie wieder etwas angestellt?“ fragte der Hausherr.
„Nicht, daß ich wüßte. Man versucht im Gegenteil fortwährend, mit ihr etwas anzustellen“, erwiderte Ruhwedel.
„Ach, das bildet sie sich nur ein“, sagte Arnold nachsichtig lächelnd.
Er ging zur Hausbar an der Schrankwand und schenkte sich einen Weinbrand ein. „Was nehmen Sie?“ fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Danke, nichts. Wir sind im Dienst“, wehrte Ruhwedel ab.
„Ich muß noch fahren“, sagte Panke.
Der Hausherr ließ diese Einwände nicht gelten.
„Sie haben ja auch keinen leichten Job, wie? Kaum Feierabend, genau wie wir Geschäftsleute. Na, kommen Sie, stärken Sie sich“, sagte er gönnerhaft, brachte Ruhwedel einen Weinbrand und bemerkte zu Panke: „Meine Frau holt Ihnen einen Saft. Rita...!“
Frau Arnold sprang eilfertig auf und lief hinaus.
„Ja, die gute Tante!“ sagte Arnold, prostete dem Oberinspektor zu und wiegte sorgenvoll den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich noch unternehmen könnte, um ihr zu helfen. Meine Frau und ich machen uns große Sorgen um sie.“
Er beugte sich zu den Beamten vor und sagte vertraulich: „Waren Sie mal in ihrem Haus? Haben Sie sich da mal umgesehen? Ist das nicht erschütternd? Ich verstehe nicht, daß die Sozialbehörde da nicht einschreitet. Man kann einen alten Menschen doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Sagen Sie selbst: Das ist doch ein Skandal!“
Inspektor Panke nickte verwirrt. Die leidenschaftliche Anklage des Mannes hatte ihn beeindruckt.
Doch Ruhwedel ließ sich von dem biederen Gehabe des Schreinermeisters nicht täuschen.
„Sie haben sich nichts vorzuwerfen, Herr Arnold. Wie uns bekannt ist, haben Sie ja nichts unversucht gelassen, um die Situation Ihrer Tante zu ändern“, sagte er kühl.
„Ja — und? Hat es etwas genützt?“ Der Neffe streckse theatralisch die Arme aus. „Mir sind die Hände gebunden. Wenn selbst ein Arzt der Gesundheitsbehörde sich nicht entschließen kann, das traurige Los der alten, bedauernswerten Frau zu verbessern...!“
„Glauben Sie wirklich, daß Ihre Tante in einer geschlossenen Anstalt besser aufgehoben wäre?“ fragte Ruhwedel scharf.
„Wer spricht denn von so etwas!“ wehrte der Neffe entrüstet ab. „Es ging nur darum, der alten Frau einen Vormund zu geben. Nur so ist es möglich, ihre letzten Lebensjahre zu ihrem eigenen Besten ordnen zu können.“
„Dieser Vormund sind Sie?“ fragte Ruhwedel.
Der Schreinermeister blickte treuherzig. „Hätte ich mich dieser Aufgabe entziehen dürfen? Ich bin ihr einziger Verwandter.“
„Und ihr einziger Erbe!“ betonte Ruhwedel.
„Was wollen Sie damit sagen?“ fuhr Arnold auf. „Sie unterstellen mir doch nicht etwa...? Ich bin auf das alte Gemäuer nicht angewiesen. Mein Geschäft ist gesund.“
Seine Frau kam herein.
„Bitte sehr“, sagte sie und stellte ein Glas Orangensaft vor Inspektor Panke auf den großen runden Marmortisch.
„Vielen Dank!“ Inspektor Panke wand sich unter Verrenkungen aus der Couch hoch, nahm das Glas in die Hand und plumpste in die Polster zurück, wobei das Getränk überschwappte und auf seine Hose und den Polsterbezug tröpfelte. Frau Arnolds Gesicht verzog sich säuerlich.
Oberinspektor Ruhwedel grinste. Er hatte das kommen sehen und auch aus diesem Grund sein Glas noch nicht angerührt.
Ruhwedel wandte sich an den Hausherrn. „Seit wann ist Ihr Geschäft gesund? Befanden Sie sich nicht noch vor kurzem in Zahlungsschwierigkeiten?“ fragte er grob.
Der Schreinermeister wuchtete seine Körpermasse aus dem Sessel und ging mit seinem leeren Glas zur Bar. „Welches Unternehmen bleibt auf die Dauer davon verschont? Aber das ist Gott sei Dank überwunden“, sagte er und schenkte sich einen zweiten Weinbrand ein.
„Herr Arnold“, sagte Ruhwedel energisch. „Wo waren Sie heute abend zwischen zwanzig und zwanzig Uhr dreißig?“ Arnold kehrte mit seinem Glas zu seinen Besuchern zurück. Er blickte Ruhwedel erstaunt an. „Ich weiß zwar nicht, was Sie das angeht“, sagte er lächelnd, „aber ich war bis gegen halb neun auf der Baustelle. Deshalb auch unser spätes Abendessen.“ Ruhwedel lächelte nicht. „Haben Sie Zeugen dafür? Wo befindet sich die Baustelle?“
„Hören Sie! Was wollen Sie eigentlich? Nur, weil ich eine verrückte, angeheiratete Tante habe, die ich irgendwann einmal beerbe, haben Sie noch lange keinen Grund, hinter mir herzuschnüffeln und mich wie einen Kriminellen zu überprüfen. Was soll das?“ sagte der Hausherr wütend.
„Vielleicht habe ich es bisher versäumt, Sie darauf hinzuweisen, daß wir von der Mordkommission sind. Auf Ihre Tante wurde heute abend ein Mordanschlag verübt. Aus diesem Grund interessiert uns Ihr Alibi!“ sagte Ruhwedel scharf.
Richard Arnolds Gesicht färbte sich grau. Er sank in seinen Sessel zurück. Sein ratloser Blick wanderte von Ruhwedel zu seiner Frau, die neben der Stehlampe Platz genommen hatte.
„Das ist nicht möglich“, sagte er tonlos. „Das ist nicht wahr! Rita...! Das ist doch nicht möglich?“
Seine Überraschung schien echt, sein Entsetzen nicht gespielt zu sein. Auch die Frau saß starr, fassungslos, wie gelähmt.
Ruhwedel war verzweifelt.
Er hatte fest damit gerechnet, hier die Lösung des Rätsels zu finden, einen entscheidenden Hinweis, der die Vorgänge um die Katzen-Marie erhellte und auf die Spur des Täters führte. Ja, wenn er ehrlich war, dann mußte Ruhwedel sich eingestehen, daß er eigentlich gekommen war, um Richard Arnold als den Täter zu entlarven.
Seine Hoffnung zerrann in einem einzigen Augenblick.
Wie stand er nun da? Wie sollte er gegenüber Hauptkommissar Kresser sein Versagen rechtfertigen?
In seiner Ratlosigkeit versuchte Ruhwedel es mit einem Bluff.
„Herr Arnold“, begann er mit vor Aufregung trockener Kehle. „Wir haben Beweise dafür, daß Sie Ihre Hand bei den anonymen Lieferungen im Spiel hatten, die Ihrer Tante wochenlang zugingen.“
Er beobachtete den Schreinermeister. Doch dieser reagierte nicht. Auch seine Frau saß noch immer wie versteinert.
Ruhwedel räusperte sich und fuhr fort: „Herr Seibold hat Ihren Wagen als den Wagen erkannt, der an jenem Abend unterhalb seiner Gartenmauer hielt, als man seinen Hund zu vergiften versuchte. Und wir haben Sägespäne in den Reifenspuren gefunden, die...“
Ruhwedel unterbrach sich, als die Frau laut zu weinen anfing.
„Richard! Sag ihnen die Wahrheit, Richard!“ flehte sie ihren Mann an. „Wir haben mit dem Mordanschlag auf Tante Marie-Loise nichts zu tun. Zuzugeben, daß man einen Hund vergiften wollte, ist nicht so schlimm, wie einen Mord angehängt zu bekommen
„Sei still!“ schrie ihr Mann sie an.
Doch die Frau war außer sich vor Angst. Sie sprang auf und lief zu Ruhwedel. „Sie müssen uns glauben, Herr Kommissar! Bitte, Sie müssen das verstehen. Wir waren am Ende. Mein Mann wußte nicht mehr ein noch aus. Da machte Herr Lange ihm dieses Angebot..."
„Rita! Sei vernünftig. Du vernichtest unsere Existenz!“ schrie ihr Mann. Er wuchtete sich aus dem Sessel und riß seine Frau von Ruhwedel fort. „Geh hinaus! Beruhige dich. Ich spreche mit dem Oberinspektor.“
Doch die Frau wandte sich gegen ihn und riß sich los.
„Bist du dir nicht darüber im klaren, daß jeder Staatsanwalt mit den Beweisen, die sie gegen dich haben, dich auch des versuchten Mordes anklagen wird, Mann? Besser die Existenz vernichtet, als im Zuchthaus zu landen. Ich war von Anfang an dagegen. Ich habe dich angefleht, die Finger von der Sache zu lassen, als der Rechtsanwalt hier herumzuschnüffeln begann. Aber du hast nicht auf mich gehört. Du hast das große Geld gewittert. Das hat dir dein Gehirn vernebelt. Sogar meine Mutter hast du mit hineinziehen wollen!“ Erneut brach die Frau in Schluchzen aus.
Der Schreinermeister kehrte mit finsterem Gesicht zu seinem Sessel zurück. „Was ist mit Tante Marie-Loise? Ist sie schwer verletzt?“ fragte er rauh.
„Es traf einen anderen, den jungen Tierpfleger, der ihr manchmal hilft“, gab Ruhwedel bereitwillig Auskunft.
Er beugte sich zu dem wie zerbrochen wirkenden Mann vor und drängte: „Herr Arnold, ich denke, Sie sollten uns jetzt endlich erzählen, in welchem Umfang Sie in diese Sache verwickelt sind.“
Richard Arnold schüttelte den Kopf. „Sie wissen ja schon alles. Meine Frau hat Ihnen ja bestätigt...“ Er brach hilflos ab.
„Wir wissen bisher nur, daß Sie sich vorzeitig in den Besitz des Grundstücks Ihrer Tante zu bringen versuchten. Aber ein Mörder läuft frei herum. Ein Beinahe-Mörder. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, daß sein Plan mißglückte. Aber der Täter kann es jederzeit wieder versuchen. Sie wissen anscheinend, wer er ist. Also sprechen Sie, bevor es zu spät ist. Sonst muß ich Sie wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht bringen — falls Ihrer Tante wirklich etwas passiert“, drohte Ruhwedel.
„Richard! Sag ihnen die Wahrheit!“ schluchzte die Frau.
„Was soll ich ihnen denn sagen? Ich weiß ja nicht, wer’s war. Denkst du, ich hätte einem Plan zugestimmt, der Tante Marie-Loise ins Jenseits befördert? Ich weiß nicht mehr als du“, fuhr er sie an.
„Erzählen Sie uns, was Sie wissen“, forderte Ruhwedel ihn auf.
Der Schreinermeister fuhr sich durch die Haare. „Vor ungefähr drei Monaten besuchte mich der Bauunternehmer Lange“, begann er zu berichten. „Lange hatte in Erfahrung gebracht, daß ich mit meiner Firma am Ende war und daß ich meine Tante, die seine Nachbarin ist, einmal beerben werde. Lange sagte mir, daß er an dem Nachbargrundstück interessiert sei, ja, daß er es dringend benötige, um sein Geschäft aus der Innenstadt in die Föhren-Allee verlegen zu können. Er bot mir eine hohe Vermittlungsprovision und außerdem Schreineraufträge an, die meine Firma sanieren würden, falls es mir gelänge, meine Tante zum Verkauf des Grundstücks an ihn zu überreden. Ich sagte Lange, daß ich zwar das Geld und langfristige Arbeit für meine Leute dringend brauchte, aber es sei ausgeschlossen, daß meine Tante auf den Handel einginge. Genauso wenig sei vorerst mit ihrem Ableben zu rechnen. Und leider falle das Grundstück erst nach ihrem Tod an mich.“
Arnold fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Hol mir einen Saft“, bat er seine Frau.
„Lange ging weg“, fuhr Arnold fort. „Ein paar Tage später kam er jedoch wieder und breitete einen phantastischen Plan vor mir aus: Ich sollte die Zurechnungsfähigkeit meiner Tante anzweifeln, sie entmündigen und mich zu ihrem Vormund und Vermögensverwalter einsetzen lassen. Wenn ich dann über das Grundstück verfügte, wäre er bereit, es mir für eine Viertelmillion abzukaufen.“
Der Schreinermeister lachte bitter. „Er schien meine Tante nicht näher zu kennen. Natürlich war sie mit den Jahren etwas wunderlich geworden, aber eigentlich war sie das immer schon gewesen. Bereits zu Lebzeiten meines Onkels hatte sie ihren eigenen Lebensstil. Doch ich sagte Lange, ich würde darüber nachdenken. Schließlich kam mir die Idee mit den anonymen Bestellungen. Wenn es mir gelang, sie damit zu verwirren und den Eindruck zu erwecken, daß sie sich Waren liefern ließ, die sie nicht bezahlen konnte, somit also der Tiere wegen über ihre Verhältnisse lebte, wäre die Voraussetzung für ihre Entmündigung geschaffen.“
Panke schnappte bei dieser ungeheuerlichen Eröffnung nach Luft.
Ruhwedel trat ihn mahnend auf den Fuß, um ihn daran zu hindern, Arnold zu unterbrechen.
„Die Sache lief auch ganz gut an...“
„Wer gab die telefonischen Bestellungen auf?“ unterbrach nun Ruhwedel ungestüm den Mann.
„Er selbst“, erklärte Rita Arnold, die mit dem Saft für ihren Mann zurückkam. „Zunächst wollte er meine Mutter dazu überreden. Aber als ich ihm drohte, ihn zu verlassen, wenn er meine alte kranke Mutter für seine Machenschaften mißbrauchte, griff er selbst zum Telefon.“
„Ich hielt ein Taschentuch vor den Hörer, um meine Stimme zu verändern“, erklärte Arnold fast selbstgefällig.
„Leider wußte ich nichts von den engen nachbarlichen Beziehungen zwischen meiner Tante und Herrn Seibold“, sagte er bedauernd. „Meine Tante galt als menschenscheu und eigenbrötlerisch. Mich traf fast der Schlag, als dieser Anwalt plötzlich hier auftauchte.“
„In diesem Moment hättest du aussteigen und die ganze Sache abblasen müssen!“ hielt seine Frau ihm scharf vor.
„Du weißt, daß ich das nicht konnte! Lange hatte mir den Auftrag von der Siedlungs-GmbH verschafft und mir das Geld für die Holzbeschaffung und die Arbeitslöhne vorgestreckt“, widersprach ihr Mann wütend. „Ich mußte Seibold ausschalten“, sagte er fast entschuldigend zu den Beamten.
„Aber weshalb vergriffen Sie sich an Seibolds Hund?“ fragte Panke.
„Weil ich ihn als kleinen bissigen Köter kennengelernt hatte. Er hätte mir vielleicht Schwierigkeiten bereitet, wenn ich Seibold auflauerte.“
„Was ihn fast das Leben gekostet hätte. Der Mann bekam einen Herzanfall“, hielt Ruhwedel ihm vor.
„Das tut mir leid“, sagte Arnold.
Ruhwedel war versucht zu erwidern: Ihnen scheint alles, was Sie anstellen, erst hinterher leid zu tun, anstatt vorher die möglichen Folgen zu bedenken.
Doch ihm fiel noch rechtzeitig ein, daß es ihm nicht zustand, einen Täter moralisch oder rechtlich zu verurteilen. Also beherrschte er sich.
„Wollten Sie sich an Seibold für seine Einmischung rächen?“ forschte Panke, der keinen Sinn in Arnolds Tat gegen den Anwalt sah.
„Nein, ich wollte ihn nur für ein paar Tage ins Bett schicken. Ich mußte ihn von meiner Tante fernhalten, bis der Psychiater sein Urteil über sie abgegeben hatte. Aber dann tauchten plötzlich diese Jugendlichen auf! Sie machten sich vor dem Psychiater wichtig und behaupteten, Freunde meiner Tante zu sein!“ Der Schreinermeister schnaubte wütend. „Jedenfalls lief alles schief.“
Er stand auf und goß sich an der Bar einen doppelten Weinbrand ein. „Möchten Sie auch noch etwas trinken?“ fragte er die Beamten.
„Nein, danke, wir sind noch versorgt. Was geschah dann?“ drängte Ruhwedel.
„Als ich den Bescheid vom Gesundheitsamt erhielt, fuhr ich natürlich gleich zu Lange ins Büro
„Dann ist der Bauunternehmer also nicht mehr verreist?“
„Doch. Ich sprach mit seinem Bruder, dem Architekten. Die beiden Brüder arbeiten zusammen“, klärte Arnold die Beamten auf. „Er sagte, die Sache ginge in Ordnung. Ich sollte jetzt nichts weiter unternehmen, bevor er mit seinem Bruder telefoniert habe. Und daran habe ich mich gehalten!“ versicherte Arnold heftig und kehrte zu seinem Sessel zurück.
„Halten Sie es für möglich, daß der Bauunternehmer daraufhin seinen Urlaub abbrach?“ forschte Ruhwedel. Er dachte an Sandras Versicherung, daß sie den Bauunternehmer in der Stadt gesehen habe.
Arnold zuckte die Schultern. „Gemeldet hat er sich nicht bei mir. Ich war den ganzen Tag auf der Baustelle. Der Polier und ein Dutzend Arbeiter können bezeugen, daß ich noch um acht Uhr in der Baubude über meinem Schriftkram saß.“
Ruhwedel stemmte sich aus dem Polster hoch.
Panke setzte sein Glas ab und stand ebenfalls auf.
„Ich muß Sie ersuchen, sich zu unserer Verfügung zu halten, Herr Arnold. Kommen Sie bitte morgen vormittag zum Morddezernat, Abteilung II, im Präsidium“, sagte Ruhwedel ernst.
Arnold vergrub seinen Kopf in den Händen.
Die Frau begleitete die Beamten zur Tür. „Was erwartet meinen Mann?“ fragte sie ängstlich.
„Darüber kann ich Ihnen im Augenblick nichts sagen“, erwiderte Ruhwedel zurückhaltend.
Die Frau nickte. Sie sah plötzlich gefaßt aus. „Wir werden es gemeinsam durchstehen“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Wie ist die Adresse des Architekten?“ fragte Ruhwedel.
„Albert-Schweitzer-Straße 9, gleich hinter dem Museum.“ Ruhwedel nickte ihr dankend zu und trat auf die Treppe hinaus.
„Wie bist du bloß auf die Sägespäne gekommen?“ fragte Panke, als sie auf dem Bürgersteig standen.
Ruhwedel deutete auf den Ford in der Hofeinfahrt. „Sieh dir mal die Hinterreifen an. Die Sägespäne in den Profilrillen brachten mich auf die Idee.“
„Und wenn Arnold nichts mit dem Giftanschlag auf Susi zu tun gehabt, folglich auch nicht unterhalb der Gartenmauer gehalten hätte?“
„Dann wäre ich blamiert gewesen“, gab Ruhwedel zu. „Aber Arnold hatte sich bereits mehrfach verdächtig gemacht. Er konnte nicht das Unschuldslamm sein, für das er sich ausgab. Also mußte ich ihm mit angeblichen Tatsachen kommen, um ihm ein Geständnis zu entlocken.“
Panke betrachtete den Oberinspektor anerkennend.
„Wende da vorn, Dieter. Wir fahren zur Albert-Schweitzer-Straße“, sagte Ruhwedel.
„Jetzt noch?“ murrte Panke, der gehofft hatte, endlich nach Hause zu kommen.
„Es wird nicht lange dauern. Aber ich muß wissen, wo der Mann heute abend war und ob sein Bruder sich in der Stadt aufhält. Anschließend spendiere ich ein Bier“, tröstete ihn Ruhwedel.
Panke ließ seufzend den Motor an.
Er war nicht scharf auf ein Bier mit Ruhwedel. Er wollte zu seiner Freundin, die seit neun Uhr auf ihn wartete. Wäre Herrn Seibolds Anruf fünfzehn Minuten später im Präsidium eingetroffen, hätte er den Dienstwagen in der Polizeigarage abgestellt gehabt, und die Kollegen vom Nachtdienst wären jetzt mit dem Fall geplagt.
Die Albert-Schweitzer-Straße lag am Rand der Augusta-Anlagen.
Der Bungalow Haus Nr. 9 stand auf einer kleinen Anhöhe.
Sie klingelten an der schmiedeeisernen Seitenpforte und wurden von einer männlichen Stimme aufgefordert, ihren Namen und den Grund ihres Besuches zu nennen.
Ruhwedel stellte sich und seinen Mitarbeiter mit den üblichen Worten vor.
Die Lampen entlang der Auffahrt leuchteten auf. Der Türsummer ertönte, und die beiden Beamten schritten über einen weißen Marmorplattenbelag zum Haus.
Ruhwedel bemerkte, daß das linke Tor der Doppelgarage offenstand und daß die Garage leer war.
Der Architekt, in Jeans und einem schwarzen Pullover, begrüßte die Beamten an der Haustür und führte sie in eine weiträumige Wohnhalle. Dort lud er sie ein, auf der Sitzgruppe vor dem Kamin Platz zu nehmen. Er selbst blieb, mit dem Rücken an das Kaminsims gelehnt, stehen.
„Wie kann ich Ihnen so spät noch helfen?“ fragte er knapp.
Ruhwedel, der im Zweifel war, wie er diesem vermutlich wenig auskunftsfreudigen Zeugen beikommen sollte, wählte auch diesmal kurz entschlossen den Frontalangriff.
„Wir kommen gerade von Herrn Richard Arnold“, begann er und beobachtete den Architekten.
Doch in dessen Gesicht zuckte kein Muskel. Offenbar hatte ihn der Schreinermeister telefonisch informiert.
Ruhwedel beugte sich vor. „Herr Arnold ist in einen Mordversuch verwickelt, an dem, wie er uns versicherte, Sie und Ihr Bruder nicht unbeteiligt sein sollen.“
Der Architekt blickte befremdet. „Sagte er das?“
Ruhwedel und Panke bestätigten es ihm mit schweigendem Kopfnicken.
„Er sagt die Unwahrheit. Wie kommt er dazu? Ich kenne diesen Mann nur flüchtig. Er liefert für das Bauprojekt, das wir gerade erstellen, die Türen und Fenster. Auch mein Bruder verkehrt nur rein geschäftlich mit der Firma. Der Mann muß verrückt sein“, erklärte er amüsiert. „Wen hat er denn zu ermorden versucht? Seine Frau? Oder hatte er eine Geliebte, die er anders nicht loswerden kann?“
Ruhwedel und Panke stimmten in seine Heiterkeit nicht ein.
„Wo waren Sie heute abend zwischen acht und acht Uhr dreißig, Herr Lange?“ fragte Ruhwedel.
„Zu Hause. Meine Frau wird Ihnen das bezeugen. Im Augenblick ist sie leider nicht hier. Sie mußte noch etwas erledigen. Aber das kann sie ja nachholen, nicht wahr?“ erwiderte der Mann lässig.
„Seit wann ist Ihr Bruder wieder in der Stadt?“ fragte Ruhwedel und bemerkte mit Genugtuung, daß er diesmal einen Volltreffer gelandet hatte.
Der Architekt wirkte verwirrt und rang nach Fassung.
Dann wanderte sein Blick zu seiner Armbanduhr.
Als er sich wieder den Beamten zuwandte, hatte er sich wieder in der Gewalt. „Was soll diese Frage? Mein Bruder reist mit seiner Familie durch Italien. Im Augenblick sind sie in Rom. Noch vorgestern rief er mich vom Hilton-Hotel aus an.“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns mit Ihrem Bruder zu verbinden?“
Wieder blickte der Mann auf seine Armbanduhr, bevor er zögernd antwortete: „Sie möchten von hier aus dort anrufen? Das ist ein Auslandsgespräch, meine Herren!“
„Wir werden Ihnen die Auslagen erstatten. Würden Sie also so freundlich sein?“ drängte Ruhwedel.
Der Mann schien einzusehen, daß er sich verdächtig machte, wenn er sich länger weigerte.
Er ging zum Telefon, las von einem Notizblock die Telefonnummer ab und stellte die Verbindung her. „Bitte, Zimmer 348“, sagte er zu der offenbar deutsch sprechenden Vermittlung.
Während er wartete, klemmte er den Hörer zwischen Ohr und Schulter und zündete sich eine Zigarette an.
Ruhwedel bemerkte, daß seine Hände zitterten.
„Claudia...? Hier ist Kurt. Nein, es ist alles in Ordnung...“
Ruhwedel eilte zu ihm, sagte: „Gestatten Sie?“ und nahm ihm den Hörer aus der Hand.
„Gnädige Frau, hier ist Oberinspektor Ruhwedel. Bitte, entschuldigen Sie die Störung. Wir ermitteln in einer Strafsache, bei der eine Auskunft Ihres Gatten wichtig für uns wäre. Darf ich ihn einen Augenblick sprechen?“
Die Frau am anderen Ende der Leitung reagierte verwirrt. „Oh... Ich... Es tut mir leid, mein Mann ist nicht da. Er ist... zu einem zweitägigen Fotoausflug unterwegs“, stammelte sie. Sie lachte unsicher. „Sie wundern sich sicher, daß ich zurückgeblieben bin. Ich mache mir nichts aus Ruinen und alten Grabsteinen, wissen Sie.“
„Wann kommt Ihr Mann zurück?“
„Vermutlich spät in der Nacht. Vielleicht auch erst morgen.“
„Würden Sie ihn bitten, mich anzurufen, sobald er zurückgekommen ist?“ bat Ruhwedel, wiederholte seinen Namen und gab seine dienstliche Telefonnummer durch.
Auf der Straße hupte ein Auto.
Der Architekt eilte zur Haustür.
Das Außenlicht flammte auf. Das breite Tor öffnete sich automatisch. Ein weißer Opel fuhr auf die offene Garage zu, und eine Frau stieg aus.
Ruhwedel winkte Panke, und sie eilten hinaus, um die Frau abzufangen, bevor der Hausherr Gelegenheit erhielt, mit ihr allein zu sprechen.
„Die Herren sind von der Kriminalpolizei, Silvia. Meine Frau“, stellte der Architekt vor.
„Oh...! Ist etwas passiert?“ fragte Silvia Lange und blickte ihren Mann besorgt an,
Lange schüttelte mit einem beruhigenden Lächeln den Kopf. „Die Herren ermitteln in einer Strafsache, die uns nur insofern betrifft, als der mutmaßliche Täter Geschäftsbeziehungen zu uns unterhält. Bitte, erkläre den Beamten, wo ich heute abend war.“
„Heute abend? Na, zu Hause. Du kamst etwa um sechs. Wir nahmen einen Drink. Du bist ein paar Runden im Swimmingpool geschwommen, und gegen acht haben wir gegessen“, erwiderte die Frau nervös und zog mit zitternden Händen ihre Handschuhe aus.
„Na, sehen Sie!“ sagte Lange.
Er blickte auf seine Armbanduhr und fragte seine Frau: „Ist alles klargegangen?“
„Wir hatten noch reichlich Zeit“, erwiderte Silvia Lange.
Im selben Moment schrillte in Ruhwedels Kopf eine Sirene, und blitzartig durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß er hier seine Zeit vergeudete und außerdem zum Narren gehalten wurde.
„Ja, dann...! Bitte, entschuldigen Sie die Störung. Wir möchten Sie nicht weiter belästigen“, sagte Ruhwedel schnell und verabschiedete sich mit einer Hast, die Panke unverständlich vorkam.
Er rannte hinter Ruhwedel her und hatte Mühe, dessen langen, weitausholenden Schritten zu folgen. Erst am Auto, das sie vor dem Nebenhaus abgestellt hatten, holte er seinen Kollegen ein.
Ruhwedel riß die Beifahrertür auf und beugte sich zur Funksprechanlage hinüber. „Hier Ruhwedel, Abteilung Zwo...“
Panke hörte fassungslos, wie der Oberinspektor einen Streifenwagen zum Flughafengebäude schicken ließ. Die Kollegen sollten den Bauunternehmer Lange, der den Flug nach Rom gebucht habe, ausrufen und unter einem Vorwand festhalten, bis er selbst dort eintreffe.
Doch Panke schaltete rasch. Noch bevor Ruhwedel sein Gespräch beendet hatte, war er um den Wagen gespurtet, hatte sich auf den Fahrersitz geschwungen und ließ den Motor an.
Sie waren noch etwa zwei Kilometer vom Flughafen entfernt, als die Polizeistreife sich meldete und durchgab: „Als der Gesuchte sich der Sperre näherte und sah, daß er von uniformierten Beamten erwartet wurde, versuchte er aufs Rollfeld zu fliehen. Wir konnten ihn schließlich stellen. Schußwaffen brauchten nicht eingesetzt zu werden.“
„Sehr schön“, erwiderte Ruhwedel. „Nach diesem Fluchtversuch wird er nicht mehr zu leugnen wagen. Ich danke euch. Wir holen den Mann in wenigen Minuten bei euch ab.“
„Was hat dich nur darauf gebracht?“ fragte Panke den Oberinspektor.
„Sandra hatte darauf bestanden, daß sie Lange in einem weißen Opel in der Stadt gesehen hatte. Der Architekt kontrollierte bei unserem Besuch dauernd ungeduldig und besorgt die Zeit, so als ob es um einen wichtigen Termin ginge. Dann kam seine Frau in einem weißen Opel und bestätigte ihrem Mann, daß alles klar gegangen sei. Wörtlich: ,Wir hatten noch reichlich Zeit.“ Also mußte außer ihr mindestens noch eine Person weggefahren sein. Sie kam aber allein nach Hause. Und die Frau des Bauunternehmers erwartete ihren Mann heute nacht zurück. Irgendwann klickte es da plötzlich bei mir.“
„Ein Glück, daß du so schnell reagiert hast!“
„Nun, ich sagte mir, daß wir vielleicht eine Chance hätten, den Mann auf dem Flughafen zu stellen. Die Passagiere werden eine halbe Stunde vor dem Abflug aufgerufen. Silvia Lange sagte, daß sie noch reichlich Zeit hatten, was ebenso bedeuten konnte, daß sie viel zu früh dran waren. Sie wird nicht mit ihrem Schwager auf den Aufruf zum Platzeinnehmen in der Maschine gewartet, sondern ihn abgesetzt haben und zurückgefahren sein.“
Ruhwedel schmunzelte. „Wie du siehst, ging meine Rechnung auf.“
„Ist ja stark!“ sagte Panke und gab Gas.
„Und dann stürmte Herr Ruhwedel mit Herrn Panke ins Flughafengebäude und sagte zu dem Bauunternehmer Lange: ,Sie sind verhaftet!““ erzählte Sandra, als sie mit Joschi am übernächsten Tag Michael im Krankenhaus besuchte.
„Ist ja gar nicht wahr! Das konnte er nicht. Ruhwedel hatte überhaupt noch keinen Haftbefehl“, widersprach Joschi.
„Ist ja egal, was er genau sagte“, meinte Sandra hitzig. „Jedenfalls nahmen sie ihn mit. Der Bauunternehmer war so überrascht von seiner unverhofften Festnahme, wo er doch alles so schön eingefädelt hatte und glaubte, ein absolut sicheres Alibi zu haben, daß er den Mordversuch an Frau Arnold zugab.“
„Sein Leugnen wäre auch zwecklos gewesen“, sagte Joschi. „Die Spurensicherung hat nämlich Stoffäden an der Sandsteinmauer gefunden, die von Langes Hosenbeinumschlag stammten, wie sich bei der Untersuchung herausstellte. Lange hatte sich beim Übersteigen der Mauer die Hose aufgerissen.“
„Und die Handschuhe, die er bei seiner Tat trug, lagen in seiner verschlossenen Garage . Es klebte noch Rost von Frau Arnolds altem Gartentisch daran, an dem er den Stacheldraht festgemacht hatte“, erzählte Sandra. „Der Draht hatte sich in das Leder eingedrückt. Die Spitzen waren deutlich zu sehen.“
„Eins verstehe ich nicht“, sagte Michael. „Weshalb hat Lange selbst versucht, die Katzen-Marie umzubringen? Er hätte doch seinen Bruder damit beauftragen können.“
„Das haben wir Herrn Ruhwedel auch gefragt“, erwiderte Sandra. „Es heißt, daß der Bruder sich geweigert hat. Daraufhin wollte der Bauunternehmer die nächste Maschine nehmen. Er dachte wohl, auf ihn käme die Polizei nie, weil er doch angeblich im Ausland war.“
„Was sagt denn Frau Arnold dazu?“ wollte Michael wissen. „Ach, die hat bloß gebrummt: ,Dann kann ich ja jetzt meine Hunde wieder draußen lassen.“1
Sie lachten alle drei.
„Übrigens“, sagte Sandra und klopfte auf ihre Tragetasche. „Rate, was sie uns für dich mitgegeben hat.“
„Selbstgekochte Marmelade und Quark!“ stöhnte Michael. „Genau!“
Sie lachten los und machten einen solchen Lärm, daß eine Krankenschwester entsetzt ins Zimmer stürzte und Michaels Besucher hinausschicken wollte.
Die drei besänftigten die aufgebrachte Pflegerin, indem sie ihr einen Topf Brombeermarmelade schenkten.