13. Kapitel
Süße Versuchung
Nach fünf Tagen kann ich keine Hühnersuppe mehr sehen. Ich schütte den Rest in die Toilette, spüle den Topf und räume ihn wieder ins Regal. Schluss mit dem Sterbender-Schwan-Gehabe! Ich muss mal wieder unter Leute, sonst fange ich an, mit den Möbeln zu reden.
Ich räume die Wohnung auf, während ich überlege, was ich heute Abend anziehe. Janine, eine Kommilitonin, feiert in ihren Geburtstag rein, und am Montag geht dann die Uni wieder los. Leider muss ich alleine zur Party, denn Jule ist mit Tobias im Ballett. Die Tickets waren ein Weihnachtsgeschenk von ihm. Ich putze gerade den Küchentisch, da fällt mein Blick auf zwei Seiten bedrucktes Papier: »Hühnersuppe – Das Penicillin der Juden« steht da als Überschrift.
»Drei Liter kaltes Wasser, ein Suppenhuhn (ohne Innereien), eine Knoblauchzehe, eine Zwiebel, vier Möhren, eine Selleriestange, ein Bund frische Petersilie, 200 Gramm Sternchennudeln.«
Es ist das Rezept, nach dem David gekocht hat. Ich lese noch den Rest der Anleitung durch, vielleicht aus Sentimentalität, vielleicht aus Neugier. – Ich glaube, ich sollte lieber nicht kochen lernen, wenn mir bei jedem Anblick eines Rezepts so schwer ums Herz wird wie bei diesem hier.
Ich brauche mal wieder viel zu lange, um mich für ein Outfit zu entscheiden, außerdem hätte ich fast vergessen, meine Haare nachzutönen. Als ich nach dem Mantel greife, zögere ich doch noch einen Moment. Dann gebe ich mir innerlich einen Tritt: Ich bin ein großes Mädchen, ich bin wieder voll genesen, und heute wird sich amüsiert. Punkt!
Die Party ist schon in vollem Gange, als ich ankomme. Völlig unvernünftig habe ich meine neuen Peeptoe-Ballerinas angezogen. Na ja, ich bin ja mit dem Auto da und die Feier findet drinnen statt. Was soll mir schon passieren? Alles ist richtig nett, Janine hat von ihren Eltern das ganze Haus zur Verfügung gestellt bekommen, und ich glaube, die halbe Uni ist da. Und dann, wie aus dem Nichts, steht David vor mir.
»Hi Lilly, wieder gesund?«
»Ja, danke der Nachfrage.«
»Ich wollte mich melden, aber irgendwie …«
»Schon gut. Dank deiner Hühnersuppe habe ich ja überlebt.«
Er lächelt nur als Antwort.
»Und wie war’s bei Miriam?« Ich will es nicht wissen. Aber ich muss trotzdem fragen.
Er sieht mich lange an, scheint zu überlegen, ob ich Streit suche.
»War ganz nett«, sagt er schließlich.
»Und heute bist du allein hier?«
»Selbst wenn sie eingeladen wäre, müsste sie heute arbeiten. Nachtdienst. Sie ist Krankenschwester.«
Schön, so genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.
»Und du bist auch solo hier, nehme ich an?«
»Ja.«
»Wieder auf Männerfang?«
Was soll denn diese Frage? Er kennt doch meine Einstellung. Glaubt er etwa, er hätte mir mein Herz gebrochen? Dass ich nicht lache. Was mich nicht umbringt … und so weiter.
»Ich fange Männer nicht, sie laufen mir so zu«, antworte ich deshalb.
»Nun, dann hoffe ich, du hast deine Hundekekse nicht vergessen.« Dann dreht er sich um und geht.
Was erlaubt er sich, so mit mir zu reden? Er hat eindeutig angefangen! Ich wollte ja nett sein, und er vergeigt es.
Wütend und verletzt schiebe ich mich an den Leuten vorbei zum Garten. Ich brauche frische Luft, kalten, harten Sauerstoff, sonst falle ich in mich zusammen. Draußen ist es schön, aber kühl. Janine hat sogar Lampions aufgehängt. Weiter hinten in Richtung der dunklen Tannen versinkt das ausladende Grundstück in dumpfer Schwärze. Der Garten muss so groß wie unser gesamtes Haus plus das der Nachbarn sein. Wenn nicht noch größer.
Wenn David meint, er muss sich mit mir streiten, soll er auch mit den Konsequenzen leben. Vielleicht ist es nur verletzte Eitelkeit bei ihm. Oder geknickter Stolz bei mir. Was auf dasselbe hinausläuft. Trotzdem pikst und sticht es, und zwar an einer Stelle, die mit dem Kopf nicht zu erreichen ist.
Ich spaziere ganz in Gedanken weiter, das kalte Gras kitzelt mich an meinen großen Zehen. Am Ende des Gartens ist es wirklich völlig dunkel. Kein Wunder, dass ich mich zu Tode erschrecke, als sich eine Gestalt aus der Schwärze der tief hängenden Äste löst.
»Nicht erschrecken«, sagt eine männliche Stimme.
»Du meine Güte …«, japse ich, während mein Herz rast.
»Sorry, das war nicht meine Absicht.«
Noch kann ich sein Gesicht nicht erkennen, aber der süßliche Geruch von Marihuana erklärt, warum er sich hier in der Botanik herumdrückt. Ein weiterer Schritt in meine Richtung offenbart schwarz gefärbte Haare mit langem Pony quer über der Stirn und ein gewinnendes Lächeln. Süß, aber zu jung.
»Christoph.« Er schmeißt den Rest des Glimmstengels hinter sich und streckt mir seine Rechte hin.
»Lilly.«
»Nett, dich kennenzulernen, Lilly.« Er baut sein Lächeln noch weiter aus und schaut mir unverschämt lange in die Augen. Wer hat dem Kind eigentlich Manieren beigebracht? Ich gucke sicherheitshalber weg, denn wenn er alt ist, ist er 17.
»Magst du was trinken?«, prescht er weiter vor.
»Hier draußen?«
»Von mir aus. Ich hole uns was. Wir können aber auch reingehen.«
»Nein, danke«, sage ich bestimmt. Er soll mir nichts holen. Er soll weggehen. Oder noch besser, ich gehe. Es hat schon beim ersten Blick geknistert, und das ist nicht gut, denn er hat noch Welpenschutz. So was macht man nicht. Also möglichst unfreundlich sein, dann verliert er das Interesse. Wahrscheinlich.
»Wirklich?«, hakt er nach. Oh Mann, von diesem Augenaufschlag könnte ich echt noch was lernen.
»Na ja, höchstens wenn du ’nen Tee organisierst«, erwidere ich möglichst pampig. So, vielleicht reicht das ja schon, dass er mich für eine Zicke hält.
»Klar doch!«
»Danke«, sage ich frustriert. Das hat ja wohl nicht geklappt.
»Mitkommen und reingehen oder draußen bleiben und warten?«
»Draußen bleiben«, sage ich schnell. Ich will gar nicht wissen, wie er im Hellen aussieht. Ich weiß schon, dass er so ziemlich genau mein Typ ist. Also, ich meine, er wäre es, so in fünf bis zehn Jahren.
»Bin gleich wieder da.« Entschlossen geht er durch das hohe Gras zurück in die Zivilisation. Erwähnte ich bereits, dass ich Röhrenjeans an Kerlen sehr sexy finde? Verdammt.
Zwei Minuten später ist er schon wieder da. Vor sich her trägt er einen dampfenden Becher und eine Flasche Bier.
»Hier.« Er reicht mir die Tasse, wobei er sich unnötig nah vor mir aufstellt. »Bist du eine Freundin von Janine?«
»Ja.«
»Von der Uni?«
»Ja.«
»Cool.« Er nippt nicht nur an seiner Flasche, er leert sie gleich halb.
»Und du?« Ich ernte einen fragenden Blick. »Woher kennst du Janine?«
Er zögert. Aha, wohl ein kleines Geheimnis?
»Ich bin ihr Bruder.«
Na, ganz toll! Wieso kann der Abend nicht einfach besser werden? Ich stehe also gerade im Dunkeln mit dem minderjährigen Bruder meiner Gastgeberin in der Botanik herum und versuche, die Funken, die zwischen uns sprühen, niederzutrampeln.
»Du musst deinen Tee trinken«, sagt er leise, »sonst ist er gleich kalt.«
Argh. Sogar seine Stimme ist … verdammt. Anstatt diesen Gedanken zu Ende zu denken, schütte ich den heißen Tee in meinen Mund.
»Hast du einen Freund?«
Also, ich finde ja, er geht ziemlich ran. Trotzdem schüttle ich verneinend den Kopf.
»Warum nicht?«
»Und warum hast du keine Freundin?«
Er sieht nach oben, fast als wolle er nachdenken, doch die Antwort kommt dann recht schnell. »Hat sich momentan nicht so ergeben.«
»Aha.«
»Und bei dir?«
»Hat sich auch gerade nicht so ergeben.«
»Cool.«
»Ach ja? Wieso?« Zickenmodus nicht vergessen, wir wollen ihn ja auf Distanz halten.
»Nur so.« Er lächelt verschmitzt und sieht nicht im Mindesten verschreckt aus. Den Blick, den er mir schenkt, muss ich erst mal verarbeiten.
»Lass uns reingehen«, sagt er mit Schlafzimmerstimme und streckt doch tatsächlich seine Hand in meine Richtung aus.
»Ich will nicht rein.«
»Dann bleiben wir draußen.«
Okay, Klartext reden: »Nein, ich meinte, ich komme nicht mit, wenn du reingehst.«
So, jetzt scheint er es verstanden zu haben. Der Blick, den er mir von oben herab zuwirft, wandert von meinem Gesicht zu meinen nackten Zehen und wieder zurück.
»Hast du ein Problem mit mir?«
»Wie alt bist du eigentlich?« So, jetzt ist es raus.
»19«, lügt er ziemlich dreist.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
»Okay, 18.« Er lügt immer noch. Ich mache Anstalten zu gehen.
»Nein, bleib hier! 17, aber in drei Monaten 18. Ist das ein Grund, sich nicht mit mir zu unterhalten?«
»Es ist ein Grund, sich nicht von dir an die Hand nehmen zu lassen.«
»Das war doch …« Er merkt selber, dass alles, was er darauf erwidern könnte, dummes Zeug wäre, also klappt er den Mund wieder zu. Stattdessen bohrt er die rechte Schuhspitze in den weichen Grasboden.
Jetzt würde wiederum ich lügen, wenn ich behauptete, sein verdrießliches Gehabe nicht extrem süß zu finden. Aber Männer wollen ja gar nicht süß gefunden werden. Deshalb versuche ich, aus der etwas unschönen Situation möglichst galant herauszukommen.
Doch wieder kommt er mir zuvor.
»Pass auf«, setzt er an und zieht den erdverkrusteten Schuh aus dem Boden, »mir ist kalt, dir wahrscheinlich auch. Ich würde mich gerne noch mit dir unterhalten. Du dich mit mir vielleicht auch. Also, warum tun wir nicht einfach so, als wäre es kein Drama, sich auf ’ner Party ein bisschen gegenseitig vollzutexten und dann einfach wieder getrennte Wege zu gehen.«
Für 17 dreiviertel war das eine extrem erwachsene Ansage. Vielleicht bin ja doch ich diejenige, die kindisch ist. Also nicke ich zustimmend. Er geht voraus. Ohne die Hand auszustrecken. Ich eiere hinterher. Wo kommen die Maulwurfshügel auf einmal her, die waren doch vorhin noch nicht da?
Drinnen ist es noch voller geworden. Ich hoffe, dass Janine uns nicht sieht. Christoph erkämpft sich einen Platz auf einer der Couchen und bedeutet mir, sich neben ihn zu setzen. Als ich ein unwilliges Gesicht mache, zieht er an meiner Jeans, bis ich, halb auf ihn fallend, in eine klitzekleine Lücke zwischen ihm und die Lehne plumpse. Also, sehr beweglich bin ich jetzt nicht mehr.
»Wie habe ich das gemacht?«, will er wissen.
»Was?«, frage ich, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, ihn anzustarren. Dieser lange Emo-Pony, die helle Haut, die unglaublich türkisfarbenen Augen. Und dann hat er auch noch seitlich ein Unterlippenpiercing, was ich im Dunkeln gar nicht gesehen habe. Oh nein. Ich will ihn haben. Nackt. Und zwar pronto.
Er muss schon wieder etwas gesagt haben, denn seine Lippen bewegen sich. Also nicke ich.
»Das war aber keine Antwort.«
Wieder nicke ich mechanisch.
»Ach, egal«, sagt er. Und dann streckt er seinen Arm auf der Lehne hinter mir aus.
Nimmt wohl mal jemand diesen Kerl von mir weg, bitte! Oder nimmt jemand mich von ihm weg? Und wo ist eigentlich Janine?
Ich muss jetzt sofort etwas Alkoholisches haben. Völlig egal, wie ich nach Hause komme. Blöder Tee.
»Holst du mir noch was zu trinken?«, frage ich und gucke sicherheitshalber nicht direkt in seine Richtung.
»Klar doch. Was magst du haben?«
»Sekt.«
»Okay.« Weg ist er. Und ich kann endlich wieder atmen.
Es dauert ziemlich lange, bis Christoph wiederkommt. Ich kämpfe derweil mit den mir zugewandten Kniekehlen anderer Partygäste und deren Füßen, die mich immer wieder treten. Es ist einfach viel zu voll hier, das ist ja schlimmer als in der U-Bahn zur Rushhour. Außerdem sehe ich gar nichts mehr! Nur noch bejeanste Kniebeugen, manno.
Dann endlich entdecke ich drahtige, lange Beine in schwarzen Röhrenjeans. Endlich, der Alkohol.
Christoph, der Jungmann von Welt, serviert mir den Schaumwein in einem Wasserglas monströsen Ausmaßes. Es könnte aber auch eine kleine Blumenvase sein. Gefüllt ist es bis Untergrenze Oberkante und schwappt gefährlich. Doch vermutlich meint er es bloß gut mit mir.
»Oh, danke«, sage ich artig und muss den Glasbehälter mit beiden Händen umfassen. Sekt tropft auf meine Hose, und meine Finger kleben am Glas fest. Als er sich wieder neben mich quetscht, schwappt alles gleich noch mal über. Julchen würde dazu sagen: »Ist doch egal, solange man es waschen kann.«
Jetzt kleben also nicht nur meine Hände und die Oberschenkel, sondern auch die Unterarme. Ich sollte mit einer Strichliste beginnen. Christoph hat sich noch ein Bier mitgebracht.
»Prost!« Er lässt die Flasche gegen mein Glas klingen und bedenkt mich mit einem schmachtenden Augenaufschlag.
Ich nicke ihm zu und nehme vier große Schlucke. Das Glas ist nur unmerklich leerer geworden. Wie viel ist da drin? Eine ganze Flasche? Ich nehme probehalber noch mal zwei Schlucke. Wenigstens ist es guter Sekt. Lecker! Also weitertrinken. Nach wenigen Augenblicken hat Christoph seinen Arm wieder an besagte Stelle hinter mich gelegt, und ich habe es nicht mal bemerkt. Er unterhält sich lautstark von unten nach oben mit einem Partygast, der vor ihm steht. Doch ich höre nicht zu, ich kümmere mich um meinen Alkoholvorrat. Einmal glaube ich, im diffusen Gedränge fremder Beine Davids Schlaghose erkannt zu haben, doch sicher bin ich mir nicht. Irgendwann spüre ich Christophs Finger an meinem Rücken. Er hält kurz inne, dann umschließt seine Hand meine Schulter.
Ich werfe ihm einen eindeutigen Blick zu, doch er tut so, als bemerke er es nicht, und unterhält sich weiter. Der Plan war ja eigentlich, sich einfach nur zu unterhalten und auf höflicher Distanz zu bleiben. Stattdessen quatscht er mit einem anderen und fasst mich dabei an. Na warte, mein Sekt und ich wir stehen jetzt einfach auf und gehen.
Mit einem Schwung bin ich auf den Füßen, die Menschen weichen empört vor mir zurück. Das Sektglas kann zum Glück nicht mehr schwappen, und das ist allein mein Verdienst.
»Hey!«, sagt Christoph empört, und schon steht er in voller Größe neben mir. Wieder weicht die Menge grummelnd aus.
»Was, hey?«, frage ich.
»Zicke«, sagt er.
»Touché«, sage ich. Er grinst, und eine lange Strähne fällt ihm über die Nase, auf der winzige blasse Sommersprossen zu sehen sind. Ich will mich nackt mit ihm in einem Bett wälzen.
»Komm mit!« Er reißt mich an meiner Hand hinter sich her. Keine Ahnung, wie er es schafft, die Leute vor sich so schnell auseinanderzuschieben.
»Wo gehen wir denn hin?«, rufe ich in seine Richtung.
»An einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können.« Na, viel Glück, in diesem Haus gibt es keinen Quadratmeter, der nicht von Menschen besetzt ist.
»Und wo wäre das?«
»In meinem Zimmer.«
Oh Mist, hatte ich vergessen: Er wohnt ja hier. Gar nicht gut. Überhaupt nicht gut. Jetzt heißt es, Verstand einschalten und stark bleiben. Trotz überzeugender Ponyfrisur und hübschem Gesicht. Ich stolpere die Stufen in die erste Etage hoch, der Sekt scheint zu wirken. Meine Zehen sind ganz voller Erde, das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Oben angekommen, reißt Christoph eine Tür auf und erstarrt im selben Moment. Ich pralle gegen seinen harten Rücken, als er meine Hand loslässt.
»Sag mal, seid ihr bescheuert!«, brüllt er in die Dunkelheit. Ich dränge mich neben ihn, und werfe einen Blick in das Zimmer. Auf seinem zerwühlten Bett liegen zwei Gestalten. Der Typ hat lediglich die Hose heruntergezogen, das Mädel unter ihm hat ihr Shirt hochgerissen, und ihr Busen quillt unter seinem Oberkörper hervor. Ihre Hose liegt direkt davor auf dem Boden, sie hat nur noch ihre gestreiften Söckchen an. Sie fiept wie eine kleine Maus, jedes Mal, wenn er ihr Becken in die Matratze drückt. Die beiden scheinen uns nicht bemerken zu wollen.
»Lass sie doch«, sage ich und versuche, Christoph aus dem Türrahmen zu ziehen.
»Das ist mein Zimmer!«, schnauzt er ersatzweise mich an.
»Scheißegal.« Ich lege ihm versöhnlich die Hand um die Taille und drehe ihn um. »Man muss auch gönnen können.«
»Na, und was hab ich jetzt davon?«
»Nix.«
»Eben!«
»Ja, willst du jetzt den Typen von dem Mädel runterziehen, ihm eine knallen und beide halbnackt in den Flur verbannen?«
Christoph sieht immer noch böse aus. »Zum Beispiel!«
»Das ist doch albern.«
»Aber ich wollte doch mit dir …«
Ja, ich auch.
»Wir wollten uns doch in Ruhe unterhalten«, sagt er noch mal.
»Das können wir auch woanders.« Ich will mich von ihm lösen, um uns einen Ersatzplatz zu suchen.
»Warte.«
»Ja?«
»Beweg dich nicht.«
Oh Gott, habe ich etwa irgendwo ein Insekt auf mir sitzen? Ein überflüssiges Mitbringsel aus dem Garten, das bis dato unerkannt auf mir geparkt hat?!
»Warum?«, hauche ich wie erstarrt. Er guckt wortlos auf meinen Arm, der immer noch um seine Taille liegt.
Was soll ich jetzt sagen? Stattdessen schaue ich zu ihm hoch. Er spielt mit seinem Piercing.
»Ist das jetzt dein Ernst?«
Er nickt. Herrje, er macht mich fertig. Ehrlich. Manche Kerle haben es echt drauf. Und bei ihm ist wahrscheinlich alles angeboren. Obwohl ich es nicht will, lasse ich die Hand sinken. Christoph legt sie kommentarlos wieder zurück.
»Und was soll das werden?«, will ich von ihm wissen.
»Weiß nicht.«
Das ist definitiv keine Antwort. Und meine Hand liegt immer noch da, wo sie nicht hin soll. Ich bin noch dabei, in meinem Kopf eine gouvernantenhafte Rüge zu formulieren, als mir jemand energisch auf die Schulter tippt. Oh nein, das ist jetzt bestimmt Janine. Doch sie ist es nicht.
»Könnte ich dich kurz sprechen?« Ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen, zieht David mich von Christoph weg, den er gar nicht beachtet.
»Hey, Moment mal!« Christoph und David duellieren sich mit Blicken, meine Anwesenheit beschränkt sich lediglich auf körperliche Präsenz.
»Entschuldige, es dauert nur einen Moment«, sagt David würdevoll zu ihm und versucht mich gleichzeitig mit seinem Blick zu töten. Ich habe nicht mal Zeit, irgendwas Verbindliches zu Christoph zu sagen, da schleift David mich am Arm hinter sich her.
»Sag mal …«, keife ich.
David ignoriert mein Gehabe, stößt eine Tür auf, zieht mich hinein, kracht die Tür wieder zu und schließt sie ab. Oh, ein Badezimmer. Wie nett.
»Weißt du, wie alt der ist?«, faucht er mich nachträglich an.
»Und woher willst du das wissen?«, fauche ich zurück.
»Weil der in ’ner Hardcore-Band spielt, in der ein Freund von mir an den Drums sitzt!«
»Ach so.« Mist. Die Welt ist doch ein Dorf.
»Und du weißt auch, wie alt er ist?«
»Ja!«
»Wie, ja? Und es ist dir egal?«
»Meine Güte, er wird in drei Monaten 18.«
David guckt mich erst perplex an, dann bekommt er einen so heftigen Lachanfall, dass er sich auf den Toilettendeckel setzen muss, um nicht umzufallen. Meine erdigen Zehen versinken in einer hellrosafarbenen Flauschbadematte, und ich gebe ihm noch genau 15 Sekunden, sich wieder einzukriegen, bevor ich ihm wortlos den Seifenspender an den Kopf werfe. Ich fange an zu zählen und komme bis dreizehn, als er endlich aufhört und den Kopf wieder in meine Richtung dreht.
»Er ist 16.« David beobachtet mein Mienenspiel mit einer Mischung aus Spott und ehrlichem Mitleid.
»Da hat er dich wohl ganz schön verarscht, hm?«
»Hat er.«
»Jaja, du und deine viel gerühmte Menschenkenntnis.«
»Halt einfach die Klappe, okay?« Mir ist auf einmal gar nicht mehr nach Sekt, deshalb stelle ich das Glas auf dem Waschtisch ab.
»Bist du etwa ohne Auto hier?«
»Nein.« Er soll bitte aufhören, mich zu nerven.
»Und was soll dann der Sekt?«
»Sag mal, was interessiert dich das eigentlich?«
»Nur so. Ist doch ’ne berechtigte Frage.«
»Gut, von mir aus. Ich lasse das Auto hier stehen. Irgendwie werde ich wohl nach Hause kommen, zur Not fahre ich Taxi.«
»Von hier bis zu dir? Hast du im Lotto gewonnen?«
»Nein!«
»Aha.« Davids Blick wandert an mir herunter, um sich ein Urteil über meine allgemeine Verfassung zu bilden, und bleibt an den erdigen Zehen hängen.
»Keine Zeit zum Duschen gehabt heute?«
»Können wir wohl mal aufhören, von mir zu reden?«
»Soll ich dich vielleicht nachher nach Hause fahren? Ich hab nichts getrunken.«
»Nein, danke!«
»Ach, komm schon, als wenn du Lust hättest, nachher mit Bus und Bahn zu trampen.«
Natürlich hat er recht, er hat ja sowieso immer recht. Beim Gedanken an schlecht beleuchtete Bahnhöfe und unzuverlässige Fahrpläne wird mir nicht unbedingt warm ums Herz, insbesondere wenn ich an meine nackten Zehen denke. Mein Widerstand schwindet, und David merkt das genau.
»Ich könnte so tun, als wären wir zusammen hier gewesen, und dich formvollendet anständig bis zur Haustür eskortieren.«
»Hör auf, mich zu verarschen.«
»Das meine ich ganz ernst.«
»Ich habe heute genug von anständigen Männern.«
»Oh bitte, vergleiche mich nicht mit diesem Grünschnabel da draußen.«
Grünschnabel? Was ist das bitte für ein Wort? Und benutzt man das heute überhaupt noch?
»Was guckst du so amüsiert?«, will David wissen.
»Grünschnabel?«, wiederhole ich.
»Ja, der Emo-Boy. Steht der überhaupt auf Mädchen?«
»Hör auf zu lästern. Natürlich steht er auf Mädels, sonst hätte er dich doch gar nicht so eifersüchtig machen können.«
»Na ja, vielleicht sieht er in dir eher eine mütterliche …« Er spricht den Satz vorsichtshalber nicht zu Ende, doch das muss er auch gar nicht. Im Kopf vervollständigt er sich von alleine. Ich schiele erneut nach dem Seifenspender. Aber nein, ich lass mich von ihm nicht provozieren, die Zeiten sind vorbei.
»Oh, so friedliebend heute?« Irre ich mich, oder guckt David enttäuscht.
»De-es-ka-la-tion«, sage ich.
»Hübsches Wort.«
»Ich will nach Hause.«
»Dann komm!« David steht auf, legt einen Arm um mich, und ich lasse ihn machen. Mit gesenktem Haupt schiebe ich mich durch den Flur bis zur Haustür. Draußen gebe ich David die Autoschlüssel. Er fährt mich schweigend bis vor die Haustür und geht noch bis zum Eingang mit.
»Bis dann«, sagt er und will sich sofort umdrehen.
»Danke, dass du mich gefahren hast, David.«
»Schon gut.«
»Nein wirklich, das war sehr lieb von dir.« Er lächelt nachsichtig. »Du bist zwar ein bisschen verrückt im Kopf und ich komme bei einigen deiner seltsamen Ideen nicht ganz mit, aber letztendlich kann man sich leider nicht aussuchen, wen man gut leiden mag.« Dann dreht er sich um, winkt noch einmal über die Schulter und überquert die Straße Richtung Bahnhof. Ich schaue ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen ist.