7. Kapitel
Der Prosecco war schuld!
Heute ist Dienstag, und es ist der erste Dezember.
Ich habe super Laune, weil bald Weihnachten ist, und außerdem wird der Weihnachtsmarkt Ende der Woche seine Pforten öffnen. Auf dem Bahnsteig Richtung Uni summe ich das erste Weihnachtslied, aber ganz leise, damit es niemand hört und mich für leicht gestört hält.
Ich stehe zwischen all den drängelnden Leuten, als er sich zufällig vor mich stellt. Ich trage Stiefel mit Absatz, und er überragt mich trotzdem noch um einen halben Kopf. Da ist er also wieder, der gut aussehende Typ, der so schön groß ist! Interessiert betrachte ich seinen Nacken, in dem sich die Ansätze einer vermutlich lockigen Haarpracht kringeln, wofür die Haare allerdings zu kurz sind. So etwas findet man bei Dunkelblonden ja eher selten. Sein Styling ist schon mal ganz cool, zumindest von hinten gesehen: Lederjacke, abgetragene Jeans, ’nen halben Zentimeter zu tief sitzend, Retro-Sneakers. MP3-Player mit – Achtung! – Kopfhörern. Diese Dinger, die die DJ’s immer um den Kopf gewickelt haben. Der Zug fährt ein. Wir stellen uns seitlich an den Türen auf.
Ob er mich gesehen hat?
Keine Ahnung. Er würdigt mich keines Blickes.
*
Abends bin ich wieder bei Marius, und dieses Mal ist David auch da. Ich habe morgen frei, weil eine Veranstaltung ausfällt und Jule und ich beschlossen haben, uns die andere Vorlesung zu schenken. Marius hat in seiner ganzen Verrücktheit Plätzchenteig gemacht, und gemeinsam stechen wir Sterne, Herzen und Tannenbäume für die ersten Weihnachtskekse aus.
David versucht krampfhaft, das krümelige Spektakel in der Küche zu übersehen, während er sich eine grünrote Paste auf schrecklich gesund aussehendes Körnerbrot schmiert. Wenigstens hat er mich heute gegrüßt. Ich gucke auf den Ansatz seines kleinen knackigen Hinterns, als er sich vor dem Kühlschrank bückt, und steche einen Weihnachtsbaum halb auf dem Teig, halb auf der Tischplatte aus, weil ich das ausgerollte Teigstück verfehle. Marius scheint es zum Glück nicht bemerkt zu haben. Als wir nach zwanzig Minuten Backzeit die ersten Exemplare aus dem Ofen holen, bin ich richtig stolz auf uns. Marius kramt nach Dekozeugs und rührt Zuckerguss an, den ich mit Speisefarbe bunt färben darf. Es dauert nicht lange, und ich bestreiche seine Hand mit Zuckercreme und schmeiße ein paar Streusel darüber.
Der Rest ist quasi vorprogrammiert: Wir kichern und lachen ziemlich laut, sauen die ganze Theke ein, und David knallt mal wieder seine Tür zu. Den Rest des Teigs essen wir roh und trinken noch ein Glas Prosecco dazu. Ich habe grünen Zuckerguss in meinen Haaren und Liebesperlen im Pulli, Marius’ nackte Arme sind über und über mit zuckriger Creme bedeckt. Na ja, zumindest ein Blech Plätzchen ist dabei herausgekommen. Mir ist allerdings von dem rohen Teig zu schlecht, um sie zu probieren.
»Wir müssen duschen«, sage ich pragmatisch.
»Au ja, zusammen!«, sagt er und springt auf.
»Nein, Häschen, ganz bestimmt nicht.« – Was soll denn David dann bitte von mir denken?
»Wieso nicht? Ich weiß, wie nackte Frauen aussehen!« Ach, wirklich?
»Hm.«
»Stell dich nicht so an, los, komm mit!« Marius zieht mich ins Badezimmer. »Schau her, ich schließe auch ab!« Mit diesen Worten dreht er den Schlüssel im Schloss herum.
»Wie wäre es, wenn du erst duschst, und ich gucke zu, und dann dusche ich?«, frage ich beim Blick auf die winzige Duschwanne.
»Dann dusch halt allein«, sagt Marius ganz beleidigt, macht die Tür wieder auf und verschwindet mit dramatischer Geste. Seufzend schließe ich ab und sehe zu, schnell fertig zu werden.
Auf dem Bett im Schlafzimmer finde ich ein frisches T-Shirt für mich. Wenig später ist auch Marius wieder entklebt, aber er guckt immer noch ein wenig pampig.
»Das war nicht so gemeint, Häschen«, sage ich.
»Wenn du meinst.« Er lässt sich neben mir auf dem Bett nieder und druckst so komisch herum. »Du …«, beginnt er möglichst beiläufig. Den Tonfall kenn ich, jetzt will er was.
»Wie läuft’s denn so mit der Männerwelt?«
»Och, gut«, sage ich und überlege, was er eigentlich wissen will. Ob er das mit David gemerkt hat? Obwohl, dann müsste er Gedanken lesen können, und das wäre mir doch sehr unheimlich.
»Aber immer nur einmal mit dem jeweiligen Auserwählten, ja?«, fragt er.
»Ja.«
»Also, wenn es nur einmal wär, würde ich … wenn du würdest …«, er hört auf und sieht mich mit großen Kinderaugen an.
»Lass den Quatsch«, sage ich und kneife in seinen harten Bauch.
»Das ist kein Quatsch!«
»Häschen, du stehst auf Kerle, ich bin mir da ziemlich sicher.«
Er guckt schon wieder beleidigt. »Gut, dass du das weißt!«
»Dann solltest du mal mit ’nem Mann schlafen!«, vollende ich meine Bemerkung. Er hat die Arme unwillig vor der Brust verschränkt.
»Wenn ich noch mal mit ’ner Frau schlafen würde, könnte ich doch leicht feststellen, ob es mich noch anmacht oder nicht.«
»Ja, aber du musst mit einer schlafen, die du scharf findest!«
»Ja klar!«, antwortet er und guckt, als gäbe es jetzt nichts mehr zu besprechen.
»Ach, Marius«, seufze ich.
»Warum kannst du nicht mit mir schlafen?«
»Marius, ich weiß nicht«, erwidere ich unschlüssig.
»Tu mir doch den Gefallen, du bist meine beste Freundin. Es ist quasi deine Pflicht. Ein Freundschaftsdienst!«
Ich lasse die Schultern hängen. Ob das eine gute Idee ist? »Aber es wird sich nichts zwischen uns ändern?«
Er reicht mir feierlich die Hand: »Versprochen.«
Ich nicke, obwohl ich die Vorstellung noch immer seltsam finde. Marius hingegen hat schon mein Shirt hochgeschoben und mich nach hinten aufs Bett gedrückt. Das ist nicht sexy, das ist einfach nur peinlich. Dann beginnt er, meine Brust zu küssen. Er macht eine Weile rum, und auch gar nicht schlecht, aber dann hebe ich den Kopf und gucke auf sein bestes Stück, das schon längst nicht mehr von dem Handtuch um die Hüfte verdeckt wird.
Nix, niente, nada. Da tut sich gar nichts. Ich schiebe ihn sanft von mir und deute auf seine Lendengegend.
»Das ist der Alkohol.«
Ich sehe ihn skeptisch an. Nach einem Glas Prosecco? »Okay«, sage ich ihm zuliebe, »aber ich bin müde.«
»Na gut«, willigt er schnell ein.
Ich vermeide weitere Peinlichkeiten, indem ich ihn möglichst unverfänglich nach Schlafsachen frage, und verkrümel mich unter die Decken. Marius macht das Licht aus und kriecht dann zu mir ins Bett. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit.
»Schlaf gut«, flüstere ich.
Er kaut nachdenklich auf seinem Unterlippen-Piercing. Seine schwarzen Haare verschmelzen mit der Dunkelheit um ihn herum, und ich sehe nur sein schön geschnittenes Gesicht.
»Es liegt am Alkohol«, sagt er noch mal.
Ich nicke, und dann mache ich die Augen zu.
*
Am nächsten Morgen weckt mich der Duft von Rührei. Ich schwinge gut gelaunt die Beine aus dem Bett. Immer noch verkleidet mit Marius’ Pyjama, schleiche ich Richtung Küche. Mein bester Freund sieht aus wie nach einer wilden Nacht, die keine war: Er hat schlechte Laune.
»Morgen«, nuschelt er und wirft mir einen undurchdringlichen Blick zu.
»Na, Häschen«, sage ich möglichst munter und nehme an der Theke Platz. Ich darf bei ihm in der Küche fast nichts anfassen, deshalb habe ich es aufgegeben, ihm meine Hilfe anzubieten. Wir frühstücken schweigend, Davids Zimmertür bleibt geschlossen.
Wenig später bin ich komplett angezogen und im Begriff, mich vom Acker zu machen. Von Marius habe ich mich schon verabschiedet, jetzt telefoniert er schon wieder. Die Küchentür ist die letzte vor der Haustür, und dort treffe ich auf David. Er lehnt lässig im Rahmen, die langen Beine locker gekreuzt.
»Hey«, sage ich und sehe ihn nicht an. Stattdessen krame ich in meiner Handtasche nach meinem Handy. Mein Herz klopft bis zum Hals, aber das werde ich mir nicht anmerken lassen. Verflixt, ich finde ihn gut!
»Und ich dachte, Marius wäre schwul«, sagt er.
Ich tue überrascht: »Ach ja?«
Er nickt mit ausdruckslosem Gesicht.
»Wie kommst du darauf?«, frage ich scheinheilig und bin mir sicher, dass er mein rasendes Herz hören muss.
»Ich habe lediglich geraten.«
Ich muss tatsächlich den Kopf heben, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dann öffne ich den Mund und will etwas sagen, doch mir fällt nichts Passendes ein. Peinlich, peinlich. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch, was mich ein klein bisschen ärgert. Arrogant ist er also auch noch, gut zu wissen.
»Ist ja zum Glück jedem selbst überlassen«, sage ich schließlich. Er schaut mich eine Weile wortlos an, dann schiebt er sich die blonden Haare aus der Stirn.
»Na ja, so ganz einig scheint ihr euch noch nicht geworden zu sein.« Er deutet mit dem Kopf Richtung Küche. »Wenn man dort drüben vor dem Kühlschrank steht, hört man jedes Geräusch aus dem Bad.« Ich zucke mit den Schultern. Kommt jetzt eine Moralpredigt, oder ist er eifersüchtig? Wohl eher nichts dergleichen, er guckt einfach nur neugierig.
»Na und?«
»Und du bist seine Freundin?«
»Und das interessiert dich?« Ich finde, er fragt ein bisschen zu viel privates Zeug. Sollte ich ihn auch mal über seine Ex ausquetschen?
»Sieht fast so aus«, antworte ich deshalb ein bisschen weniger freundlich. Dann muss ich mich von ihm losreißen, sonst verpasse ich meine Bahn.
»Ich bin schon zu spät dran, man sieht sich.« Mit diesen Worten drehe ich mich um und greife nach meiner Handtasche.
»Mach’s gut«, sagt er, und ich schmeiße die Wohnungstür hinter mir zu.
Was war das denn bitte? Warum kann er denn nicht seinen Mitbewohner zu seiner Sexualität befragen, statt sich an mich zu wenden? Habe ich »Auskunft« auf der Stirn zu stehen?
Ich ärgere mich ein bisschen, dass sich David so undurchsichtig gibt. Wahrscheinlich kann er mich nicht leiden, weil Marius und ich immer solchen Unsinn machen und es in der WG dann ziemlich laut ist. Vielleicht braucht er seine Ruhe. Und von mir denkt er jetzt, dass ich ’ne durchgeknallte Tussi mit zu viel Freizeit bin, die nebenbei versucht, ihren schwulen besten Freund flachzulegen. Super.
*
Am nächsten Morgen sehe ich den Typen vom Bahnhof wieder und dieses Mal kann ich ihn genauer betrachten. Er hat ein ausgeprägt männliches Gesicht, ist zu sehr Typ, um richtig hübsch zu sein. Er gefällt mir. Er geht auf diese schlaksige Art, die großen Männern scheinbar angeboren ist. Er wirft mir einen Seitenblick zu, der weder warm noch kalt ist, dann platziert er sich unweit von mir auf dem Bahnsteig. Als der Zug einfährt, ändert er die Taktik, falls er überhaupt eine hat: Er stellt sich mir gegenüber in die Schlange an der anderen Tür an. Ich sehe durch das Meer von Köpfen zu ihm hinüber. Kein Lächeln, nicht mal ein Zucken um die Mundwinkel. Okay, entweder ist er ein Psychopath, oder er macht auf obercool oder er … ach, keine Ahnung!
Ich sitze etwas ratlos im Zug und weiß nicht, wohin er verschwunden ist.
*
Als ich nachmittags zurückfahre, sehe ich ihn hinter einem Fenster des einfahrenden Zuges. Ich steige ein Abteil weiter hinten ein. Dann gehe ich den Gang entlang an ihm vorbei. Ich spüre seine Blicke im Rücken und sonstwo. Etwas weiter vorn setze ich mich. Als wir unseren Zielbahnhof erreicht haben, warte ich noch einen Moment. Er geht an mir vorbei, dann erst stehe ich auf. Er steht weiter hinten an den Türen. Ich stelle mich vor ihn. Den Platz vor sich hat er sicher nicht unabsichtlich gelassen. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Er macht einen Schritt nach vorn und ist jetzt ganz nah hinter mir, ich kann ein bisschen seine Wärme spüren.
Der Zug hält, die Türen gehen auf. Die Leute strömen heraus, wir werden nach vorne gedrängt. Einmal drückt er sich kurz von hinten im Gewühl an mich, dann bin ich an der Tür und aus dem Zug raus. Ich gehe ein paar Schritte und drehe mich dann um. Nichts, er ist weg. Dann sehe ich ihn ein paar Meter weiter neben mir. Mit gehetztem Schritt und gesenktem Kopf. Ich verlangsame mein Tempo. So hat das ja keinen Sinn. Dann geht er plötzlich wieder etwas entspannter. Unsere Wege führen uns über die Treppe in der Haupthalle wieder zusammen. Ein etwas längerer Blick zu mir herunter, ich glaube irgendwie, das wird nichts mit uns.
Bei solch einem Hin und Her verliere ich leicht das Interesse. So ist das bei mir. Unten bleibe ich demonstrativ an einem Schaufenster stehen. Er geht weiter. Hmpf! Ich verstehe ihn nicht. Entweder er ist null interessiert, oder er kriegt es einfach nicht hin, sich natürlich zu geben.