4. Kapitel
Dr. Lechmann und die Liebe zum Theater

Die neue Woche steht ganz unter den Themen: »Wie lege ich meinen Dozenten flach?« und: »Wie besiege ich meine Platzangst?«

Zu Thema Nummer zwei habe ich mich ausgiebig im Internet schlaugemacht, an den Erfolg glaube ich allerdings erst, wenn ich nächste Woche nicht hyperventiliere.

An Thema Nummer eins bin ich noch dran. Ich habe mich so übertrieben gut vorbereitet, dass alles das, was Herr Doktor doziert, für mich keine Neuigkeit mehr ist. Also schreibe ich Gedichte, die ich mal in der Grundschule gelernt habe, auf meine Notizzettel. Damit es nicht so auffällt, dass ich heute gar nicht mitschreibe. Sabine neben mir ist deutlich reservierter und straft Jacobs Rücken mit verächtlichen Blicken, wenn er sich zur Tafel dreht. Ich sehe das genau. Als wir endlich gehen können, mache ich einen kurzen Stopover bei Julchen, die fest an mich glaubt und mir letzte Tipps in Erster Hilfe gibt, falls es doch zu einem Zwischenfall kommen sollte.

Dann gucke ich auf die Uhr. Zwanzig nach acht, er sollte in seinem Büro angekommen sein. Ich schleiche mit klopfendem Herzen durch den universitären Irrgarten, verlaufe mich zweimal und stehe schließlich schnaufend vor seiner Tür. Ich halte die Luft an und horche. Nichts. Als ich wieder normal atmen kann, kontrolliere ich das Plastikschild, das rechts neben der Tür in die weiße Wand gedübelt ist: Der Name stimmt. Ich hole noch einmal tief Luft, dann klopfe ich.

»Ja bitte?«, tönt es von innen. Das ist seine Stimme. Ich drücke die Klinke herunter und hoffe, dass er nicht sofort tot umfällt.

»Oh, guten Abend«, sagt er und sieht nicht nach Kammerflimmern aus. Wirklich angeschaut hat er mich aber nicht, glaube ich.

»Hallo«, sage ich vorsichtig. Ich rechne immer noch mit dem Schlimmsten. Er deutet auf einen der wacklig aussehenden Stühle vor seinem Schreibtisch.

»Setzen Sie sich doch, Lilly.« Er stützt den Kopf auf die gefalteten Hände und sieht mir direkt in die Augen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich, äh«, stottere ich, lasse meine Tasche von der Schulter gleiten und nehme Platz, »ich habe noch eine Frage.«

Seine Augen sind von einem so dunklen Blau, wie man es selten sieht. Ich möchte gar nicht mehr weggucken. Er blinzelt und senkt den Blick.

»Nur zu«, sagt er und schaut nicht wieder hoch. Er ist ungefähr zehn Jahre älter als ich, aber er sieht deutlich jünger aus. Mein Blick fällt auf ein bedrucktes und gefaltetes Stück Papier.

»Sie gehen ins Theater?«, frage ich prompt und denke gar nicht daran, dass er das in diesem Kontext jetzt seltsam finden wird. Ich greife nach dem Spielplan und klappe ihn auf.

»Oh ja, sehr gern sogar!«, antwortet er und scheint es doch nicht komisch zu finden. Er guckt kurz zu mir hoch. Ich versuche ein Lächeln, und fast bleibt er an meinem Blick hängen. Aber nur fast. Er springt hektisch auf und fängt an, Bücher aus dem Regal hinter sich auf den Schreibtisch zu räumen.

»Sie müssen entschuldigen«, meint er zu mir, wobei er an mir vorbei sieht, »ich muss noch eine Vorlesung vorbereiten, das habe ich den ganzen Tag vor mir her geschoben.«

»Kein Problem.« War das eine Aufforderung zu gehen? »Haben Sie auch schon ein Buch geschrieben?«, will ich dann wissen. Ich kann förmlich zusehen, wie er aufblüht.

»Oh ja, doch. Bei einigen war ich auch Co-Autor!« Er zerrt einen Wälzer hervor, klatscht ihn mir recht unsanft vor die Nase und schlägt ihn auf. Dabei steht er seitlich hinter mir, und ich bekomme einen Hauch seines teuren Parfums zu riechen. Er beugt sich noch tiefer, und plötzlich glaube ich, dass er nicht ganz so weltfremd ist, wie er tut.

»Schauen Sie, hier«, sagt er unverschämt nah an meinem Ohr und zeigt auf seinen Namen. Seine Hände sind schlank und sehnig, wie die eines Klavierspielers.

»Nicht schlecht«, sage ich und schiele seitlich zu ihm hoch.

Er lächelt, und plötzlich schaut er nicht mehr weg.

»Noch mehr Bücher?«, frage ich.

»Wenn Sie das wirklich interessiert?«, pariert er und richtet sich langsam wieder auf.

Ich ziehe den Reißverschluss meines Mantels auf, lasse ihn nach hinten fallen und stehe auf. Wie er jetzt so neben mir steht, ist er nur ein kleines Stück größer als ich.

»Zeigen Sie sie mir«, sage ich und gehe zum Regal.

Er kommt langsam hinterher. Von verpeilter Hektik oder Unsicherheit keine Spur.

»Sie haben eine sehr ungewöhnliche Haarfarbe«, sagt er und steht nah neben mir. Dann zieht er ein weiteres Buch hervor. »Wenn das Licht darauf fällt, hat das Haar fast einen bläulichen Schimmer.«

»Danke«, sage ich, weil mir nichts Intelligenteres einfällt.

»Es passt gut zu Ihren dunklen Augen.«

Jetzt lächle ich doch. Flirtet er etwa mit mir?

»Schauen Sie, hier!« Er klappt das Buch auf, und auch da steht sein Name drin. Ich bin beeindruckt. Er hält den Wälzer mit beiden Händen, ich tue so, als ob ich den Titel nicht genau lesen kann, lege meine Hand auf seine und drehe so das Buch mehr zu mir. Seine Hände sind frei von jeglichen Schwielen oder Rissen, die bei Männern sonst häufig zu finden sind. Er lässt den Wälzer auf den Schreibtisch gleiten. Ich lese in seinem Gesicht, wie er überlegt. Dann hebt er die Hand und fährt mit dem Finger ganz leicht die Konturen meines Gesichts nach.

»Sie sind so schön«, flüstert er, und ich finde es gar nicht kitschig. Auch nicht, dass er mich immer noch siezt. Er legt mir vorsichtig den anderen Arm um die Taille und zieht mich näher zu sich.

»Ich weiß, dass es Sie wahrscheinlich beleidigt, aber ich muss Sie das trotzdem fragen: Machen Sie das wegen einer Note?« Sein Blick ist ehrlich fragend, und ich bin nicht beleidigt.

Also schüttle ich den Kopf. Er sieht mir forschend in die Augen, und dann scheint er zufrieden zu sein.

»Sind Sie blind ohne Brille?«, will ich unverschämterweise wissen, und er lacht.

»Nein, gar nicht.« Er will sie abnehmen, und ich kann ihn gerade noch daran hindern.

»Lassen Sie sie auf, bitte.«

Er grinst jungenhaft und rückt sie wieder zurecht. »In Ordnung so?«

Ich nicke. Seine Hand liegt immer noch um meine Taille.

»Darf ich Sie küssen?«, fragt er formvollendet, und wieder nicke ich. Ganz vorsichtig nähert er sich meinen Lippen. Sogar sein Mund ist weich, herrlich. Er küsst höchst unakademisch, sehr leidenschaftlich, und ich bin fast überrumpelt. Ich vergrabe die Hände in seinen braunen Haaren und genieße das leicht kratzende Gefühl kurzer Bartstoppeln an meinem Mund. Er schnappt mich fester um die Taille, hebt mich mit einem Arm hoch und trägt mich den kurzen Weg zur Tür. Er schließt ab und trägt mich zurück zum Schreibtisch. Mein Hintern landet auf der harten Platte. Er fegt ein paar Bücher herunter. Mit seinen zarten Händen schiebt er Cardigan und Top in einem hoch und senkt seinen Kopf zwischen meine BH-Cups. Ich öffne den Verschluss selbst und ziehe mir den überflüssigen Stoff vom Leib.

»Ziehen Sie Ihre Hose runter.«

Er lächelt amüsiert und scheint ebenso auf das Spiel mit dem »Sie« abzufahren wie ich. »Wenn Sie das so wünschen.«

Er nestelt an seinem Gürtel, und dann fällt die Hose auf seine Schuhe. Die heruntergezogenen Panties entblößen einen hübschen Schwanz.

»Haben Sie Kondome in Ihrem Schreibtisch?«, will ich wissen.

»Leider nein.«

»Moment«, ich schiebe ihn sanft zurück, hüpfe vom Tisch und hole aus meiner Tasche ein Kondom. Natürlich bin ich vorbereitet. Ich reiche es ihm hinüber und setze mich wieder. Mit voll gummiertem Schwanz nestelt er an meinem Rock und der Strumpfhose, was mal wieder an den Schuhen scheitert. Erst als er mir die aufgeschnürt hat, habe ich freie Beine. Er beugt sich wieder über mich und hat seinen Pulli noch an, was ich aber ganz reizvoll finde. Seine Lippen finden wieder die meinen, und was er da mit seiner Zunge in meinem Mund macht, ist echt sexy. Ich dirigiere seinen Schwanz, und beim Eindringen seufzt er so leidenschaftlich, wie ich es ihm niemals zugetraut hätte. Er hält konstant seinen Rhythmus. Er küsst mich dabei weiter, beißt meinen Hals, seine Hände umfassen fest meine Brüste. Der Mann ist echt ein Überraschungsei.

»Ist es okay so?«, keucht er.

»Ja«, flüstere ich, obwohl ich die Position für wenig optimal halte. Die Stimulation ist für mich zu gering. Er stöhnt sehr eindeutig, und ich vermute, dass er schon bald kommt. Also tue ich ihm den Gefallen und presse mich ihm entgegen. Zwei Minuten hält er noch durch, dann kommt er so leidenschaftlich, wie er küsst, und ich habe hinterher ganz sicher blaue Flecken an unschicklichen Stellen. Als er wieder klar denken kann, gleitet er aus mir heraus.

»Sie sind nicht zum Höhepunkt gekommen«, stellt er nüchtern fest. Ich zucke die Schultern.

»So lasse ich Sie nicht gehen.«

Ich schaue ihn fragend an. Er fasst mich um die Taille und dreht mich so, dass ich nun auf der Längsseite des Tisches sitze und mich nach hinten legen kann. Nur in Oberhemd und Kaschmirpulli kniet er sich vor seinen Schreibtisch, zieht mich etwas näher und beginnt, seine Zunge kreisen zu lassen. Irgendeine Frau muss ihm wirklich sehr viel beigebracht haben. Er schiebt nicht nur zwei Finger in mich, er nimmt gleich drei. Mir gefällt es. Und seine Zungenfertigkeit ist wirklich hervorragend. Der Takt steigert sich stetig, und ich komme so schnell wie bei keinem zuvor. Bevor er wieder hochkommt, küsst er die Innenseiten meiner Oberschenkel.

»Jetzt bin ich zufrieden«, sagt er, und seine Brille ist leicht beschlagen.

»Ich auch«, antworte ich ein wenig atemlos.

»Gehen Sie mal mit mir ins Theater?«, fragt er, während er mir meine Sachen reicht, und ich beginne, mich wieder anzuziehen.

Mit der Frage hätte ich ja nun weniger gerechnet. »Also, eigentlich lieber nicht«, antworte ich.

Er schaut eine Weile in meine Augen, dann nickt er.

»Es wäre wirklich nur ins Theater. Oder sind Sie liiert?« Langsam zieht er sich an, behält mich aber fest im Blick.

»Nein, bin ich nicht. Nur, ich habe da so gewisse Regeln«, druckse ich herum.

Erst guckt er ein wenig komisch, dann lächelt er: »Ach so, verstehe. Aber Sie führen keine Strichliste, oder?«

Ich muss lachen und schüttle den Kopf. Dann hat er seine guten Manieren wiedergefunden. »Soll ich Sie zu Ihrem Auto begleiten?«

»Nicht nötig, ich bin mit dem Zug da.« Dann hänge ich mir meine Tasche um und wende mich zur Tür.

»Schlafen Sie nachher gut, Lilly«, sagt er zum Abschied.

»Und Sie arbeiten nicht mehr so lange, ja?«

Er nickt und grinst: »Sex macht müde. Dann sehen wir uns nächste Woche. Zum Unterricht!«

»Ja, genau!« Mit einem Lachen schließe ich die Tür hinter mir.

*

Ich spaziere den Weg hinunter zur Straßenbahn, die zum Bahnhof fährt. Auf meinen Lippen spielt ein Lächeln. Ich fand Jakob richtig gut! Ganz anders als Timo, der zwar schön, aber doch zu Strange für mich ist. Was für eine Überraschung! Schade, dass meine Regeln besagen, mit jedem Mann immer nur einmal zu schlafen. Er wäre ein Kandidat für einen Regelbruch. Ich hoffe nur, dass ihn genauso wenig Schuldgefühle plagen wie mich.

Wieder zu Hause rufe ich Jule an, die gar nicht glauben kann, dass unser Dr. Lechmann tatsächlich so ein Hit gewesen sein soll. Doch unser kleines Intermezzo hat mich auf eine weitere Idee gebracht: Ich war schon seit Wochen nicht mehr im Theater und habe jetzt unheimlich Lust darauf bekommen. Früher habe ich mit meinen Eltern regelmäßig Vorstellungen besucht, aber seit die Preise erhöht wurden, haben sie irgendwann damit aufgehört.

Ich schaue am nächsten Morgen im Internet nach, was gerade läuft, und stelle fest, dass es heute Abend sogar eine Premiere gibt. Gespielt wird Der Sturm von Shakespeare. Die Premierenkarten sind nur leider schon ausverkauft. Egal, so schnell gebe ich nicht auf. Um 19 Uhr stehe ich an der Theaterkasse und hoffe auf eine nicht abgeholte Restkarte zum unglaublich günstigen Studententarif. Ich scheine ein Glückskind zu sein, denn bereits eine Viertelstunde später klappt es. Und dann auch noch neunte Reihe, halbe Mitte. Juhu!

*

Die Inszenierung selbst finde ich nicht so toll. Die Bühne ist schrecklich voll gestellt, von oben hängen Netze herab, und der ganze Boden ist mit Dreck bedeckt. Dreck, den die Schauspieler in einer Szene auch Richtung Publikum werfen. Darauf stehe ich ehrlich gesagt gar nicht. Aber scheinbar wollte der Regisseur unbedingt die sicheren Gefilde verlassen.

Die Premieren-Party jedoch verspricht legendär zu werden. Das Theatervolk trinkt abwechselnd Bier und Rotwein, dazu reden alle wild durcheinander, und keiner hört zu. Auf der provisorischen Tanzfläche im Malersaal wird ekstatisch getanzt, manch einer ist so nass geschwitzt, dass das Hemd tropft. Die Besucher sitzen auf speckigen Kissen, Rollwagen oder plüschigen Couchen, die ihre besten Tage schon hinter sich haben.

Die Anzugträger lockern ihre Krawatten. Ihre Gattinnen legen das kurze Nerzjäckchen ab. Man steht ungezwungen neben Hornbrillen tragenden Kunststudenten und Mädchen, die ihre Kleider oder Röcke über der Hose tragen und lange Seidentücher um den Hals geschlungen haben. Nirgends findet man so bunt gemischtes Publikum wie im Theater. Die Luft ist blau und zum Schneiden stickig. Hier gehört Rauchen zum guten Ton, und alle paffen, als wenn’s gesund wär. Ich habe schon zu Hause rein präventiv eine Kopfschmerztablette genommen.

Neben mir hat sich eine Gruppe Schauspielschüler platziert, von denen mir einer vorhin schon aufgefallen ist. Er ist schlank und anmutig wie ein Tänzer. Die tief sitzende Cordhose offenbart hin und wieder eine Shorts im bunten Retromuster. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche, in der linken eine Zigarette. Sein Shirt hat einen Riss, der vorhin noch nicht da war. Die Jungs schubsen sich überdreht herum, die Mädchen kichern und rauchen.

Aus den Boxen dröhnen die Rolling Stones. Er beginnt zu tanzen und schüttelt seine wilden Haare. Ein paar seiner Kommilitonen machen es ihm nach, und wenig später hüpft die ganze Gruppe wild durcheinander. Sie rempeln sich an, Alkohol spritzt durch die Gegend, Zigarettenasche fliegt umher. Ich beobachte das unwirkliche Schauspiel durch die milchig-blaue Luft. Er hat so herrlich blasse Haut, die wunderbar zu seinen braunen Haaren passt. Ich wüsste gerne, was für eine Augenfarbe er hat, aber dafür bin ich zu weit weg. Er tanzt wirklich gut, lässig und doch immer im Takt, abgesehen von den Schubsereien. Seine Hose rutscht langsam tiefer. Er zieht sie schwungvoll hoch, ohne dabei sein Bier zu verschütten.

Ich überlege, wie ich an ihn rankomme. Männer in Gruppen sind schon schwierig, aber gemischte Gruppen sind tödlich. Lästereien sind vorprogrammiert. Also muss ich warten, bis er mal alleine ist. Ich beobachte ihn weiter, doch nichts passiert. Sie kleben weiter alle zusammen wie Kaugummi. Er guckt auch weder rechts noch links.

Mir ist warm, und ich merke, wie ich Durst bekomme, also organisiere ich mir an der klitzekleinen Bar eine Apfelschorle, die nicht wirklich kalt ist. Auf dem Weg zu meinem Platz treffe ich Bekannte, ein Pärchen, beides Künstler. Er ist unscheinbar wie ein Versicherungsangestellter, sie ist ein Paradiesvogel und sieht so aus, wie man sich eine bildende Künstlerin eben vorstellt: ein wildes Tuch um den Kopf, Pumphosen, dunkelgrün gerahmte Augen und Kette rauchend. Dazu ein paar Kilo Silberschmuck aus allen Teilen der Welt. Er trägt eine dunkle Anzughose, ein schlichtes Oberhemd und hat einen lichter werdenden Haaransatz in Straßenköterblond. Nebeneinander sehen sie unmöglich aus, und das schon seit 15 Jahren. Dorle schlingt einen Arm um mich und reißt mich an sich. In der anderen Hand hält sie eine Zigarette. Ich ertrinke in ihrer lockigen Mähne und ihrem schweren Parfum.

»Lilly, mein Schatz, lange nicht gesehen! Wie geht es dir?« Dorle ist nicht ihr echter Name, es ist natürlich ein Künstlername. Keine Ahnung, wie sie in echt heißt.

»Oh, gut geht’s mir. Wie immer, weißt du doch.« Ich lächle verschwörerisch. Bernd, und das ist sein echter Name, schüttle ich nur die Hand. Er ist so introvertiert, wie er aussieht, aber dafür malt er umso genialer. Seine Werke sind wie schwarze Löcher, sie saugen einen in sich hinein, ohne dass man sich wehren kann. Dorle lächelt mich liebevoll an. Sie sieht nicht aus wie vierzig, Bernd dafür umso mehr.

»Wie geht es deinen Eltern?«, will sie dann wissen.

»Och, gut«, sage ich und schaue unruhig an ihr vorbei. Die beiden sind zwar nett, aber ich will auf meinen Platz zurück, um ihn weiter zu beobachten. Dorle bemerkt meinen Seitenblick.

»Liebes, wir sehen uns bestimmt nachher noch mal. Wir wollen noch mit einem Bekannten plaudern.« Sie hakt sich bei dem überraschten Bernd unter und zieht ihn mit sich. Sie ist ein winziges Stück größer als er, das ist mir vorher noch nie aufgefallen.

»Ja, okay, bis nachher!«, nicke ich erleichtert. Ich jongliere meinen Plastikbecher durch die Menge und bin froh, dass mein Platz noch frei ist. Die Gruppe hat sich nicht bewegt, und ich lasse mich wieder auf dem Hocker nieder.

Es passiert immer noch nichts, es kommen nur noch mehr Leute hinzu. Ich sehe etwas frustriert zu und überlege, wie ich weiter vorgehen soll. Die Apfelschorle ist jetzt lauwarm, und ich stelle sie angewidert zur Seite. Ein Königreich für einen kreativen Einfall! Vielleicht ist es auch simpler, als ich denke, und ich muss einfach nur an ihm vorbeilaufen.

Da Probieren über Studieren geht, verlasse ich meinen Hocker erneut und laufe einen großen Bogen entlang der Tanzfläche, bis ich schließlich an ihm vorbeikommen muss. Mein Haarband schiebe ich über mein Handgelenk, und als ich ungefähr auf seiner Höhe bin, schüttle ich meine Haare kräftig mit der Hand durch. Lange Haare sind so praktisch. Ein paar Jungs drehen die Köpfe, auch er ist darunter. Ich schmeiße ihm einen abweisenden Blick vor die Füße und hoffe, dass er anbeißt. Dann sehe ich nicht noch mal zu ihm hin, sondern marschiere zurück zu meinem kleinen einsamen Hocker.

Kaum sitze ich wieder, da merke ich, wie er immer wieder einen unauffälligen Blick in meine Richtung wirft. Er lacht etwas zu laut, er fährt sich durch die Haare, und mittlerweile hat er mir fast seinen ganzen Körper zugewandt. Körpersprache sagt mehr als tausend Worte, und ich finde ihn wirklich gut.

Dann macht er plötzlich etwas, das mich überrascht. Er löst sich aus der Gruppe, kommt direkt auf mich zu und bleibt vor mir stehen.

»Hi«, sagt er mit einer gut ausgebildeten Stimme.

Ich schaue mit großen Augen zu ihm auf. Für so mutig hätte ich ihn gar nicht gehalten.

»Jannick«, sagt er, geht vor mir in die Hocke und ist somit auf fast gleicher Höhe wie ich auf meinem Sitzmöbel. Er streckt mir eine kräftige Hand entgegen.

»Lilly«, bekomme ich nun doch ein wenig perplex zustande.

Er schüttelt vorsichtig meine Hand. »Möchtest du was trinken?«

Ich grinse. »Haben die an dieser Bar noch was Kaltes?«

Er lächelt unwiderstehlich zurück.

»So alt wie die Kühlschränke aussehen, bestimmt nicht.«

Ich versuche, seine Augenfarbe zu erkennen.

»Was ist?«, fragt er.

»Ich wollte deine Augenfarbe rausbekommen.«

»Grün. Mit goldenen Sprenkeln, wenn Sonne drauffällt.« Er lehnt sich ein Stück vor, lächelt wieder und sieht dabei aus halb geschlossenen Augen in mein Gesicht.

»Aha«, flüstere ich. Meine Güte, ist er ein Verführer! Die Sorte Mann, vor der gute Mütter ihre Töchter warnen. Die Sorte, deren Kerben im Holzbettgestell nicht vom Umzug stammen. Die Sorte, die so ziemlich alles kriegen, was sie wollen, und das leider auch wissen.

Ich schmachte ihn an, als plötzlich jemand eine Hand auf meine Schulter legt. Jannick schaut hoch und lächelt, als würde er die Person, die hinter mir steht, bereits kennen. Neugierig drehe ich den Kopf.

»Hey, Dorle!«, sage ich überrascht.

»Lilly«, sagt sie und quetscht sich ungeniert auf den schmalen Hocker neben mich.

»Hi«, Jannick nickt Dorle zu.

»Mein Lieber«, sagt sie und wedelt mit einem Geldschein. »Sei ein Schatz und hole Lilly und mir etwas zu trinken. Ich nehme ein Wasser. Und du, Lilly?«

»Äh, ich auch«, stammele ich. Was passiert denn hier gerade?

Jannick nickt, aber nicht wirklich freundlich. Dann bahnt er sich einen Weg durch die Menge.

»Kennst du ihn?«, frage ich Dorle.

Sie nickt undurchsichtig.

»Lass dich von ihm nicht einwickeln«, warnt sie mich. Ich verstehe immer noch nicht. Was will sie jetzt hier? Warum vergrault sie meine nächste Eroberung?

»Ähm, Dorle«, sage ich energisch, »ich wickle. Und nicht er.« Ich versuche, ihm nachzuschauen, aber ich kann ihn nicht mehr sehen.

»Aha«, sagt Dorle. »Trotzdem. Egal, was er dir erzählt, du kannst davon ausgehen, dass es ganz anders ist.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine – und das sage ich dir, obwohl ich nicht deine Mutter bin –, dass er kein Umgang für dich ist.«

»Aha.« Dorle steht vom Hocker auf.

»Glaub mir, ich kenne genug Geschichten über ihn.«

»Woher? Und woher weißt du, dass sie stimmen?«

»Ich weiß es«, sagt sie. Dann dreht sie sich um und geht. Ich bleibe irritiert sitzen. Jannick kommt zurück, und mein Verstand verabschiedet sich schon wieder. Wow, er sieht so gut aus. Er stellt fest, dass Dorle nicht mehr da ist, und verstaut die beiden Alibi-Getränke achtlos neben uns auf dem Boden. Dann lässt er sich frech neben mir auf meinem Hocker nieder.

»Krasse Haarfarbe«, sagt er und zupft an einer Strähne.

Ich frage mich wirklich, worüber Männer mit mir reden würden, wenn ich einfach nur braune Haare hätte.

»Ja, krass.«

»Ist aber viel Arbeit, oder? Das ganze Vorblondieren und so.«

Aha, wieso hat er davon Ahnung? Ich bin schon wieder völlig fasziniert von ihm. Dories ominöse Warnungen lösen sich in Luft auf.

»Wolltest du mal Friseur werden?«, lache ich.

»Nein!« Er schüttelt seine schöne Mähne, und auf den Wangen bilden sich liebreizende Grübchen.

»Ich hatte eine Zeit lang grasgrüne Haare. Fand ich ganz toll!«

»Ach so.«

»Ja …« Er wackelt ein bisschen auf dem Hocker herum, dann schaut er mir lange in die Augen, als suche er eine Antwort.

»Ist dir auch so warm?«, will er wissen. Das Manöver ist so alt, dass es schon staubt, aber es klappt immer noch hervorragend.

»Kalt ist mir nicht«, meine ich und bin gespannt, wie er auf die mögliche Abfuhr reagiert. Doch sein Selbstbewusstsein ist unerschütterlich, er lächelt entspannt, als wüsste er genau, dass es sowieso egal ist, was er sagt oder tut.

Ich kann nachempfinden, wie Fische sich in Netzen fühlen.

»Aber die Luft ist hier sehr schlecht.« Er nickt nur. Ich wette, er hat vorher gewusst, dass ich mitkomme.

»Ich hole eben meine Jacke«, sagt er, und weg ist er. Ich ziehe meinen Mantel an und beobachte ihn, wie er zu der Gruppe zurückschlendert. Die haben mittlerweile mitgekriegt, dass er weg war, und er wird mit allerlei Geläster zurück begrüßt. Er kramt in einem Jackenberg abwehrend nach seinem Army-Parka. Ein Mädchen hält ihn plötzlich am Arm fest und redet eindringlich auf ihn ein. Er schüttelt sie mühelos ab, und sie wirft mir einen bösen Blick zu.

»Was war das denn?«, frage ich, als er wieder vor mir steht.

»Ach nix«, sagt er und zieht mich mit sich.

»Deine Freundin?«, bohre ich weiter.

»Quatsch«, sagt er ein kleines bisschen unwillig, »würde ich vor ihren Augen mit ’ner anderen nach draußen verschwinden?«

Nein, das würde er nicht. Bestimmt nicht. Oder?

Mir ist das Ganze nicht geheuer. Ich erinnere mich an Dories Warnung. Hatte sie auf diese Sache angespielt? Wir stehen mittlerweile im Treppenhaus, und er bemerkt meinen Unmut im grellen Neonlicht. Er legt mir beide Hände auf die Schultern und zieht mich ein wenig zu sich.

»Sie ist nicht meine Freundin«, lächelt er.

»Sie ist eine Kommilitonin von mir. Wenn du das nicht glaubst, geh rein und frag sie. Oder frag die anderen.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, schon okay.« Ich will ihm glauben. Weil ich mehr Zeit mit ihm verbringen will. Weil er mir zu gut gefällt. Und weil Dorle wahrscheinlich nur irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt hat. Es muss doch nicht jeder Kerl automatisch ein Gigolo sein, bloß weil er besonders gut aussieht und nicht auf den Mund gefallen ist. Ich denke einfach nicht mehr daran.

Draußen ist es bitterkalt. Mein Atem bildet kleine Wölkchen, und Jannick zieht den Reißverschluss seines Parkas bis zur Nase hoch. Ich vergrabe die Hände in den warmen Taschen meines Steppmantels.

»Lass uns ein bisschen spazieren gehen«, schlägt er vor. »Hier in der Nähe gibt es doch so einen hübschen kleinen Park!«

»Okay!«

Er hält mir galant den Arm hin, und ich hake mich ein.

»Sind deine Eltern auch Schauspieler?«, will ich von ihm wissen.

»Nee!« Er zieht ein verächtliches Gesicht. »Und die fanden es auch nicht gut, dass ihr einziger Sohn so einen Quatsch studieren wollte.«

»Wieso?«

Er seufzt und zieht die Schultern höher. »Mein Vater ist Handwerker. Seine Firma baut Aufzüge. Er hat alles an Energie und Kraft in dieses Unternehmen gesteckt. Ist irgendwie klar, dass er das nicht verkaufen möchte, wenn er mal in Rente geht. Und meine Mutter arbeitet bei ihm im Büro.«

»Verstehe …«

»Nein, glaube ich nicht.« Er macht eine kurze Pause, um nach den richtigen Worten zu suchen. »Weißt du, er ist jeden Tag von echten Kerlen umgeben. Männer, die mit Metall arbeiten, die Kabel verschalten und nackte Weiber am Spind hängen haben. In der Firma weiß niemand, was ich wirklich mache, meine Eltern haben nur erzählt, dass ich zum Studieren wegziehe. Wahrscheinlich rechnen sie auch noch damit, dass ich später mal ’nen Mann heiraten könnte.«

Ich schaue seitlich zu ihm hoch. Sein schöner Mund ist eine schmale Linie.

»Aber das ist doch eine völlig antiquierte Denkweise!«, versuche ich ihn zu trösten.

»Ich komme vom Land, da ticken die Uhren noch anders.«

»Aber du hast dich doch sicher nicht von einem auf den anderen Tag entschieden, dass du Schauspiel studieren willst. Deine Eltern müssen doch schon früher was mitgekriegt haben. Theater-AG oder so?«

»Das ist etwas anderes. Schule ist weit weg vom richtigen Leben. Da ist es okay, wenn man ’ne Hauptrolle hat. Man geht ja auch noch Fußball spielen und mit den Kumpels trinken. Aber als Berufsausbildung? Das ist schon was anderes, wesentlich Zielgerichteteres.«

»Hm, okay. Das stimmt.«

Er streicht mit der Hand über meinen eingehakten Arm. »Es ist gut, dass ich jetzt so weit weg von zu Hause bin.«

»Wolltest du schon immer auf diese Schule?«

»Das war mir egal. Berlin wäre auch cool gewesen, aber da wollten sie mich nicht. Ich habe oft vorgesprochen, und irgendjemand hat sich dann erbarmt.« Er lacht und scheint nicht mehr so verbittert zu sein wie zuvor. Im spärlichen Licht der Straßenlaternen ist seine Haut so hell, dass sie fast durchscheinend wirkt. Was gäbe ich für so eine Hautfarbe! Mein schöner Winterteint verwandelt sich nach dreieinhalb verirrten Sonnenstrahlen in einen goldenen Pfirsichton, und ich sehe aus, wie frisch aus Südfrankreich eingeflogen. Schrecklich. Zuerst hilft noch ein heller Puder. Nach einer Woche Sonne bleibt mir nur noch sehnsüchtiges Warten auf den Winter übrig. Aber selbst dann werde ich nicht so elfenbeinfarben wie er.

»Hast du schon mal einen Vampir gespielt?«, platzt es aus mir heraus.

»Wie bitte?« Kichernd zieht er mich am Arm über eine leere vierspurige Straße, und schon sind wir im Park angelangt. Die dunkle Erde knistert unter unseren Füßen.

»Sie müssten dich nicht mal schminken!«, sage ich ernst.

Er baut sich spielerisch vor mir auf und schaut mich tadelnd an. »Soll das heißen, ich sehe aus wie untot?«

Ich nicke.

»Es gefällt dir«, stellt er nüchtern fest.

Ich nicke wieder.

»Ich werde selbst im Sommer nicht braun, das nervt manchmal schon.«

»Finde ich nicht.«

»Trägst du deshalb nur Schwarz?«

»Wie meinst du das?«

»Weil du auf Vampire stehst?«

Ich schaue in seine grünen Augen und weiß nicht, ob ich das für eine Frechheit halten soll oder ob ich auf diesem Ohr nur etwas empfindlich bin.

»Es gibt keine Vampire«, sage ich deshalb nüchtern.

»Es gibt aber sehr wohl Leute, die so aussehen.«

»Ach ja? Und woher willst du wissen, wie ein Vampir aussieht?«

»Ich muss mich da gezwungenermaßen auf Quellen aus Literatur und Fernsehen beziehen.« Er ist nicht auf den Mund gefallen, das finde ich gut, deshalb spiele ich mit.

»Nun, nehmen wir an, ich stehe tatsächlich darauf, was würdest du dann tun?«

»Alles, was du willst«, flüstert er, und um seine Mundwinkel zuckt es verräterisch.

»Du machst dich über mich lustig!«, sage ich mit gespielter Empörung.

»Nicht doch. Ich würde gern mal an deinem Hals knabbern.«

»Blödmann.« Ich schubse ihn ein Stück von mir weg. Er grinst und tänzelt leichtfüßig zu mir zurück.

»Schöne Maid, braucht Ihr Geleit?« Er gibt seiner Stimme einen schnarrenden Unterton und legt mir lässig einen Arm um die Schultern.

»Du verarschst mich immer noch!«, beschwere ich mich, was ihn dazu verleitet, mich lachend auf den Haaransatz zu küssen.

»Ach lass mich doch, Vampirmädchen!«

Ich gebe auf. Hätte ich doch bloß den Mund gehalten. Jetzt hält er mich für ’ne mondsüchtige Träumerin, die auf Fantasywesen steht.

»Gut, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben!«, lacht er dann.

»Wieso?«

»Na, was meinst du, wie bescheuert wir nebeneinander ausgesehen hätten. Einer grüne Haare, der andere rote. Wie ’ne Elfe und ein Kobold!«

»Oder zwei Weihnachtswichtel!«

Lachend spazieren wir durch den kleinen Park. Eine Weile sagt niemand etwas, um uns herum ist es nur still und kalt. Ich finde es total schön. Als hätte er meine Gedanken erraten, sagt Jannick: »Ich finde es klasse, auch nur mal schweigend nebeneinander herzugehen.«

»Stimmt«, sage ich. Er zieht mich näher an sich, und wir laufen weiter über die vor Frost knisternden Wege. Ich mag es, dass unsere Körper trotz der dicken Mäntel so nah aneinander sind. Ich stelle mir vor, wie es wäre, ihm nackt so nah zu sein, und in meinem Bauch beginnt es zu kribbeln. Eine halbe Stunde später kommen wir zu einer breiten Straße, hier ist das grüne Fleckchen inmitten der Großstadt zu Ende. Jannick deutet auf die gegenüberliegende Häuserfront.

»Da wohne ich«, sagt er und sieht mich fragend an.

Das ist jetzt der berühmte Punkt der Entscheidung, obwohl ich glaube, er ist sich immer noch sehr sicher, dass ich mitkommen werde. Ich zögere nicht länger und nicke stattdessen wortlos. Jannick nimmt meine Hand und zieht mich über die Straße.

Einen Moment später betreten wir eine geräumige Altbauwohnung, die für einen Schauspielschüler zu groß und zu teuer ist. Ich bewundere den schönen Parkettboden. Der zweite Blick fällt auf die Heizung im Flur, auf der Damenunterwäsche trocknet. Ach du liebe Zeit! Schnell gucke ich weg. Er geht vor und zeigt mir die Zimmer. Die Küche ist hell und ziemlich unordentlich. Asche im Spülbecken, eingetrocknete Joghurtbecher und altes Gemüse auf der Arbeitsfläche. Das Wohnzimmer ist groß, gemütlich, aber genauso unordentlich. Bierflaschen auf dem Boden, übervolle Aschenbecher und überall Zeitschriften. Und auf allen Heizungen der Wohnung hängt Unterwäsche! Sollte er sie selbst tragen, hat er zumindest einen guten Geschmack, stelle ich bei einem zweiten Blick fest. Ich zupfe an einem spitzenumrandeten Unterhemd, das ihm garantiert nicht passt. Wenn er mir jetzt beichtet, dass er seine Freundin mit mir betrügen will, bin ich schneller weg, als er bis drei zählen kann. Auf so was stehe ich gar nicht.

»Schöne Wäsche hast du«, sage ich lauernd.

»Ach herrje«, lacht er, »neenee, das ist nicht meine. Die gehört ’ner Freundin von mir. Die dreht gerade in Köln, und sie kann so lange bei mir wohnen.«

Ich beobachte ihn und will ihn beim Lügen ertappen. Doch die Worte kommen so locker und flüssig über seine Lippen, dass ich zufrieden bin. Außerdem guckt er unbeteiligt mal hier-, mal dorthin, was Lügner nicht tun. Sie halten starren Blickkontakt zu ihrem Gegenüber, um ihren falschen Worten Nachdruck zu verleihen.

Er geht an mir vorbei, und ich höre ihn in der Küche rumoren. Habe ich ihn jetzt beleidigt? Dann ist er wieder da und hält mir eine Flasche Wein hin. Ich nehme zwei Schlucke, obwohl ich kein Weinfan bin. Aber der hier scheint ganz okay zu sein. Derweil hat Jannick seinen Arm um meine Taille gelegt. Ich gebe ihm die Flasche wieder und fasse mit der freien Hand durch den Riss seines T-Shirts. Seine Haut ist warm und weich. Er rührt sich nicht.

Ich streichle die Wirbelsäule hinunter bis zum Ansatz seines kleinen harten Hinterns. Jannick schließt die Augen. Ich fahre mit der Hand seine Taille entlang, bis zu seinem Bauchnabel, dann rutsche ich etwas tiefer an dem Bund seiner Shorts entlang und schiebe zwei Finger unter den elastischen Rand. Er drückt mir automatisch sein Becken entgegen. Ich ziehe an seinem Shirt. Er versteht, drückt mir die Flasche in die Hand und zerrt es sich über den Kopf. Mehr! Ich will, dass er mehr auszieht! Ich nestle an der Knopfleiste seiner Hose, bis sie an seinen langen Beinen herunterrutscht. Unter den eng sitzenden Shorts erblicke ich seinen harten Schwanz, der ein wenig eingeklemmt aussieht. Im Gegenzug reißt er nun an meinen Sachen herum. Ich erledige das lieber selber, weil das schneller geht und auch, damit nichts demoliert wird.

Nur noch in Unterwäsche stehen wir uns gegenüber. Mitten im Wohnzimmer, zwischen den leeren Flaschen und den übervollen Aschenbechern.

»Vampirmädchen«, flüstert er und streicht an meinem Dekolleté entlang. Dann nimmt er einen tiefen Schluck aus der Flasche und beugt sich zu mir herüber. Schon liegen seine Lippen auf meinen, und als er sie öffnet, ist Rotwein in meinem Mund. Weil ich nicht damit gerechnet habe, läuft die Hälfte davon sofort wieder heraus, meinen Hals entlang bis in meinen BH, der zum Glück schwarz ist, sonst wäre er nun hin.

»Jetzt siehst du auch wie ein Vampir aus«, grinst er, dann setzt er erneut die Flasche an die Lippen. Diesmal bin ich vorbereitet: Als er sich mir nähert, greife ich am Hinterkopf in seine Haare und presse seinen Mund hart auf meinen. Wir wirbeln Zungen und Rotwein durcheinander, und jetzt sieht auch er nicht mehr so taufrisch aus.

Ich kichere und reibe mir übers Kinn. Er ist so sexy mit seiner blassen Haut und den roten Rinnsalen am Hals. Fast hätte ich ihn vor Begeisterung angeknurrt. Ich bin echt ein Ferkel!

Die Beule in seinen Shorts pocht, als er sich näher an mich drückt. Er hält mir die Flasche hin, und jetzt teile ich mal aus. Wir baden in Rotwein, so lange, bis die Flasche leer ist und wir in einer kleinen Pfütze stehen.

»Sex«, sage ich bestimmt, und Jannick nickt.

Während er vor mir her ins Schlafzimmer tigert, gucke ich auf seinen Knackarsch und die Rotweinspuren auf seinen Beinen. Ihm scheint die blaue Bettwäsche fleckentechnisch egal zu sein, also soll es mich auch nicht kümmern. Am Bett bleibt er stehen.

»Wenn du mir verrätst, wie Vampire ficken, gebe ich mir alle Mühe, meinem Aussehen gerecht zu werden.«

Ich schaue in seine grünen Augen und muss feststellen, dass er es ernst meint.

»Das ist nicht so genau bekannt«, sage ich schließlich. Wahrscheinlich will er einfach nur rausfinden, was mir so gefällt.

»Zärtlich oder grob?«

Ich zucke die Schultern. »Eine Mischung aus beidem, denke ich.«

»Kurz oder lange?«

»Mittel.«

»Du machst es mir ja nicht gerade einfach!«, lacht er und küsst mich, diesmal ohne Rotwein.

»Einfach ist doch langweilig«, murmle ich nah an seinen Lippen. Er öffnet derweil gekonnt die Häkchen meines BHs, und ich sehe meine Theorie bestätigt, dass er kein Unschuldslamm sein kann. Die meisten Männer scheitern an BHs, das ist einfach so. Jannick muss viel geübt haben. Ich verbanne diese hässlichen Gedanken in die Abstellkammer meines Hirns und konzentriere mich stattdessen ganz auf Jannicks Zunge, die die Weinreste von meinem Körper leckt. Er dreht mich um, und ich lande dank seiner Hand an meinem Rücken sanft auf dem Oberbett.

Dann wird nicht lange gefackelt. Er hat kaum die Hose runter und den Gummi drüber, da ist er schon auf mir drauf und in mir drin. So reizvoll der Anfang war, umso langweiliger scheint das hier nun zu werden. Er ist einfach zu routiniert: Mal härter, mal weniger, und so toll ist sein Schwanz nun auch nicht. Er keucht und stöhnt an meinem Ohr, seine Haare kitzeln an meiner Nase. Von Stellungswechseln scheint er auch nicht viel zu halten. Er vögelt so bestimmt schon eine halbe Stunde lang, und ich bin mir sicher, er kann mühelos noch länger. Ich fange an, eine Einkaufsliste für Montag im Kopf zusammenzustellen. Dann überlege ich, in welchen Kartons im Keller ich meine Wollpullover verstaut habe.

»Bist du so weit?«, flüstert Jannick endlich an meinem Ohr. Ich nicke matt. Hauptsache, er ist bald fertig, Scheiße.

Er kommt sofort, und dann schiebt er sich noch minutenlang schweißgebadet an mir rauf und runter. Als er endlich aus mir raus ist, bin ich ehrlich erleichtert. Jannick hüpft auf die Füße und entsorgt wohl den Gummi.

Als er wieder da ist, hat er ’ne Flasche Sekt dabei. Oh, Alkohol. Fabelhafte Idee! Hebt die Laune, hoffentlich. Er grinst, reicht mir die Flasche, und ich trinke sie halb auf Ex aus. Jannick wertet das als Manöverkritik und guckt ein bisschen undurchsichtig. Dann geht er zum Fernseher und schaltet ihn ein. Im Bett dreht er sich ’ne Zigarette, während wir beide unbeteiligt dem Nachtprogramm eines Nachrichtensenders zuschauen. Irgendwann wirkt der Alkohol, und ich schlafe ein.

*

Ich träume, dass jemand in der Wohnung ist, leises Klirren eines Schlüsselbundes, das dumpfe Knallen von Absätzen auf dem Holzboden. In dem Moment, wo sie die Schlafzimmertür aufreißt, sitze ich aufrecht im Bett.

»Hey, Baby, ich bin schon eher …« Sie guckt ebenso entsetzt wie ich. Hübsche Blondine, zierlich und klein, wie die meisten Schauspielerinnen. Ein letzter Funken Naivität in mir will glauben, dass sie seine Schwester ist oder die nette Nachbarin mit der Tüte Brötchen unterm Arm. Doch das ist sie nicht. Dann ist Jannick wach.

»Scheißkerl!«, brüllt sie zur Begrüßung.

»Oh«, murmelt Jannick perplex, fährt sich durch die verstrubbelten Haare. So ganz bei sich ist er wohl doch noch nicht.

»Nicht schon wieder!«, schreit sie, lässt die Sporttasche von der Schulter gleiten und schmeißt ihm die Tüte Brötchen an den Kopf. Sie versucht es zumindest. Die Tüte knallt an das Kopfende, zerreißt, und das Frühstück kugelt durchs Bett.

»Sophie«, stöhnt Jannick, und ich komme mir plötzlich sehr überflüssig vor.

»Du elender, dreckiger …«, setzt sie an.

»Sophie!«, sagt Jannick erneut. Wieso ist er so ruhig?

»Mir reicht’s …«, zischt sie. »Mir reicht’s endgültig! Immer wieder vertraue ich dir. Immer wieder! Und du? Du Mistkerl! Verarschst mich, kaum dass ich ’ne Woche weg bin!«

Ich rette mich ins Badezimmer. Hektisch ziehe ich an dem Bund meiner Jeans, als sie verheult im Türrahmen erscheint.

»Sophie!«, brüllt Jannick aus dem Schlafzimmer.

Ihr Kopf fliegt herum, und sie sieht aus, als würde sie jeden Moment Feuer spucken.

»Bleib in dem verdammten Scheißzimmer, bis ich wiederkomme, und mach die Scheißtür zu, verdammt!«, schreit sie zurück. Ich kämpfe mit den Haken meines BHs.

»Die ganze Wohnung hängt voller Unterwäsche«, sagt sie dann ruhiger zu mir und sieht mich eindringlich an, »wie kann man da nur annehmen, dass dieser Scheißkerl Single ist?«

»Er sagte mir, er lässt eine Freundin bei sich wohnen, während sie in Köln dreht.«

»Es ist meine Wohnung, verdammte Scheiße!«, schreit sie mich an. »Meine Wohnung! Er wohnt bei mir und nicht umgekehrt!« Dann fängt sie wieder an zu weinen.

»Woher sollte ich das wissen?« So blöd es klingt, sie tut mir leid.

»Wo hat er dich aufgerissen?«, bellt sie.

»Im Theater. Auf der Premierenparty.«

»Ach, und seine vielen Freunde haben ihn mit dir weggehen lassen, ja? Da hat keiner zu dir gesagt, der ist vergeben, ja?«

»Nein«, antworte ich ruhig. Ich merke, dass sie mir nicht glauben will, ihr aber nichts anderes übrig bleibt.

»Scheißkerl!«, schreit sie dann in den Flur.

»Sophie! Lass uns reden!«, ertönt es durch die Schlafzimmertür.

»Klappe, du Arsch!«, brüllt Sophie. Mittlerweile bin ich fertig angezogen. Jetzt bräuchte ich nur noch meinen Mantel, und dann wäre ich hier raus.

»Habt ihr Nummern getauscht? Willst du ihn wiedersehen?«

»Bestimmt nicht.«

Sie fixiert mich mit strengem Blick. »Wehe, wenn doch.«

»Wer fremdgehen will, geht fremd, da nützt auch Kontrolle nicht viel.«

»Was soll das heißen?«, schreit sie schon wieder.

»Das soll heißen, du solltest nicht bei ihm bleiben. Hast du das nötig?«

Aus ihren Augen kullern immer noch dicke Tränen. »Ich liebe ihn«, sagt sie dann leise.

Ich nicke langsam. Ihr Blick verrät mehr als alles, was sie mir erzählen könnte.

»Ich gehe jetzt mal«, sage ich, und sie gibt widerstandslos den Weg frei. In der Diele greife ich mir meinen Mantel und ziehe die Tür schnell hinter mir zu.

Noch im Flur höre ich sie brüllen. Schnell verschwinde ich aus dem Haus, auf die Straße Richtung Bahnstation. Ich bin gerade noch dabei, die traumatische Episode zu überdenken, als mein Handy klingelt. Es ist wieder mal Mama.

»Hast du eigentlich die Absicht, vor Weihnachten noch mal vorbeizukommen?«

»Hm, ja.«

»Wo steckst du überhaupt?«

Gute Frage. Soll ich ihr etwas antworten wie »Oh, ich habe mit einem angehenden Schauspieler eine wilde Nacht verbracht, aber morgens stand dann auf einmal seine Freundin in der Tür und wollte uns am liebsten lynchen. Jetzt sitze ich ungewaschen in der S-Bahn und fahre nach Hause, und die Leute um mich herum wundern sich, warum es hier so nach Rotwein riecht«?

Ich beschränke mich auf ein wertungsfreies: »Unterwegs.«

»Komm doch heute Nachmittag vorbei, ich backe Kuchen!«

»Ach, ich weiß noch nicht.« Ich bin mir sicher, sie meint es nur lieb, aber jetzt möchte ich einfach nur nach Hause. Und wahrscheinlich früh ins Bett.

»Hast du schlechte Laune?«

»Nein.«

»Ja gut, ich hab nur so gefragt. Du kannst ja später noch mal anrufen. Wusstest du, dass Oma und Opa Weihnachten eine Kreuzfahrt machen?«

»Waaaas?« Plötzlich bin ich hellwach. Meine Mitreisenden gucken zu mir her. Huch, vielleicht war das doch etwas laut.

»Ja, sie fahren weg, ich war genauso fassungslos. Und das in Opas Alter! Ich hab Oma gefragt, ob sie wissen, dass das Schiff nicht direkt vor ihrer Haustür hält, um sie an Bord zu nehmen. Und stell dir vor, was sie gesagt hat: Sie würden ab Griechenland fahren, die Flüge dahin wären schon gebucht!«

»Krass«, sage ich und bin eigentlich immer noch sprachlos.

»Ja, total krass«, stimmt mir Mama etwas ungelenk zu.

»Ja und jetzt? Feiern wir zu dritt?«

»Ähm, nein.« Ihre Stimme verheißt nichts Gutes. »Es gibt nämlich noch eine zweite Neuigkeit. Und die hat für uns auch unmittelbar mit Weihnachten zu tun.« Der Restalkohol in meinem Blut verhindert, dass ich ihr folgen kann.

»Hä?«

»Dein Onkel wandert samt Familie nach Spanien aus. Und deshalb kommen sie Weihnachten zu uns. Sie haben das Haus schon verkauft und sitzen quasi auf gepackten Koffern. Zwischen den Feiertagen und Neujahr fliegen sie rüber und beziehen die neue Wohnung, dann ist wohl der Umzugswagen auch da. Und das alles haben wir erst gestern am Telefon erfahren.«

»Oh«, sage ich matt.

»Ja, das habe ich auch gedacht.«

»Hast du sie eingeladen?«

»Nein, dein Vater.« Ihre Stimme verrät eindeutiges Missfallen. »Und wenn ich wüsste, was meine Mutter sich bei der Schnapsidee mit der Kreuzfahrt gedacht hat, wäre ich auch um einiges schlauer. In diesem Alter noch!«

»Aber sind Kreuzfahrtschiffe nicht voll von Rentnern?«

»Ja, aber dein Großvater ist über achtzig!«

»Na ja, wenn er meint, er kann es, dann lass sie doch. Und was wollen Onkel Jochen und Tante Angelika eigentlich in Spanien? Nehmen sie Simone mit? Die geht doch noch zur Schule.«

»Sie eröffnen dort eine Art Strandcafé. Was für ein irrwitziger Plan! Aber die Familie deines Vaters ist ja bekannt für so was. Als wenn es nicht schon Hunderte solcher Buden dort gäbe. Und was wollen ein Sozialpädagoge und eine Verwaltungsangestellte mit einem Café? Das ist doch bescheuert. Und das Kind nehmen sie so einfach aus der Schule und erwarten, dass es von einem zum anderen Tag perfekt spanisch spricht. Ich sage dir, drei Monate, länger nicht. Der Reinfall ist vorprogrammiert.«

Mama kann reden, ohne Luft zu holen, das fällt mir gerade wieder auf.

»Die arme Simone«, sage ich.

»Ja, schrecklich egoistisch. Und wie ist es, kommst du vorbei?« Ich denke an meine etwas übernächtigte Verfassung und mein siffiges Aussehen.

»Mama, sei nicht böse, ich bin so müde heute.«

»Wirst du krank? Und warum bist du dann unterwegs?«

»Ich habe zu wenig geschlafen.« Am anderen Ende der Leitung höre ich die Zahnräder in ihrem Kopf rattern.

»Ich will es gar nicht wissen«, sagt sie dann, obwohl sie durchaus neugierig klingt.

»Na gut! Ich rufe dich an und sage dir, wann ich vorbeikomme, okay?«

»Ja, okay.«

»Und grüß Papa von mir!«

»Mach ich! Ciao, Kind!«

»Tschüss!« Ich verstaue das Handy in meiner Tasche und betrachte die Landschaft hinter dem verkratzten Bahnfenster. Wenn man Leuten erzählt, man wohne im Rhein-Ruhr-Gebiet, sehen einen die meisten mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen an. So als hätte man erklärt, man wohne in den Slums von Bombay. Ich kontere dann gern damit, dass man bei uns dafür nicht in die Lage gerät, schon ab Freitagmittag nicht mehr wegzukommen, weil kein Bus mehr fährt und der nächste Club charmante vierzig Kilometer Anreise voraussetzt. Aber wirklich, der Ruhrpott ist schöner, als man denkt. Ich meine, hier gibt es auch Grün! Sogar ziemlich viel davon! Aber eben nicht so viel, dass es eine unkomplizierte Wochenendplanung verhindern würde.

Nachdem ich an meiner Haltestelle aus der S-Bahn gefallen bin, laufe ich etwas verpeilt den Bahnsteig entlang und renne prompt in jemanden rein. Bis mir klar wird, dass der Mann sich mir absichtlich in den Weg gestellt haben muss. Empört riskiere ich einen Blick.

»Wie siehst du denn aus?«, kommt es leicht angewidert von gegenüber. Oh toll, es ist Mark. Ich versuche, meine Sinne zusammenzunehmen und die Situation zu rekapitulieren.

»Du hast immer noch Sachen bei mir«, sage ich möglichst sachlich.

»Hast du auf der Straße geschlafen? Oder wo kommst du jetzt her?« Natürlich ignoriert er mein Anliegen. Wie immer.

»Soll ich sie dir zuschicken?«, frage ich deshalb.

Mark rümpft die Nase. »Ist das Rotwein? Bist du das?«

»Hallo, Mark!«, sage ich und wedele mit der Hand vor seiner Nase herum. »Mein Aussehen steht hier nicht zur Debatte. Möchtest du deine Sachen noch haben?«

Mark sieht mich immer noch angewidert an, obwohl er ungefähr genauso abgerissen aussieht wie ich. Nur dass es bei ihm wohl Absicht ist. Kann mir aber jetzt egal sein.

»Man erzählt sich ja tolle Sachen von dir«, platzt es aus ihm heraus.

»Ach ja? Und dich interessiert anderer Leute Gerede?«

Ha, jetzt habe ich ihn. Er behauptet doch sonst immer, nichts auf die Meinung anderer Leute zu geben.

»Stimmt es denn?«

Ich werde nicht darauf eingehen. »Soll ich dir die Sachen nun zuschicken?«

Er merkt wohl, dass er nicht weiterkommt. Plötzlich drängt er sich so nah an mir vorbei, dass er meine Schulter streift, absichtlich und nicht gerade sanft. »Von mir aus«, zischt er mir im Vorbeigehen zu. Dann steigt er in die wartende S-Bahn ein. Vollidiot! Das Erste, was ich zu Hause tun werde, ist, seine Sachen in den Müll zu schmeißen.

Wieder in meinen eigenen vier Wänden stecke ich meine rotweingetränkten Klamotten in die Waschmaschine und bringe Marks Sachen in den Hausmüll. Endlich, das Thema wäre erledigt! Dann mache ich ein paar Hausaufgaben für die Uni, weil ich seit der Auseinandersetzung mit Mark plötzlich nicht mehr müde bin.

Mit einer frisch aufgebrühten Tasse Tee in der Hand wähle ich die Nummer von Oma und Opa. Jetzt will ich doch mal selber hören, was es für revolutionäre Neuigkeiten gibt. Nach fünfmal Klingeln ist Oma dran und freut sich wie eine Wilde, dass ich sie anrufe.

»Was macht ihr für Sachen?«, frage ich lachend und sie lacht herzlich mit.

»Ach, Lilly-Schatz, das ist eine längere Geschichte.«

»Aber wenn ihr Weihnachten nicht kommt, wann sehen wir uns denn dann?«

»Komm doch vorbei, wenn du magst!«

Na gut, wenn »vorbeikommen« nicht bis Frankfurt fahren bedeuten würde, hätte ich Lust, mich direkt ins Auto zu setzen.

»Wie wäre es mit dem letzten Wochenende vor Weihnachten? Opa und ich fliegen erst am Dienstag, dann sind wir einen Tag vor dem Heiligen Abend nachmittags an Bord.«

»Gute Idee!«

»Kommst du Freitag? Dann könntest du bei uns schlafen.«

»Das klingt gut, aber ich hab bis nachmittags noch Uni. Danach mache ich mich sofort auf den Weg.«

»Ja schön, dann machen wir am Samstag noch etwas Hübsches zusammen!«

»Au ja!«

»Schön, mein Kind. Und sonst geht es dir gut?«

»Ja, alles gut. Und bei euch?«

»Auch alles gut!«

»Toll! Dann sehen wir uns bald!«

»Ja, Kind, und ich freu mich.«

»Ich mich auch. Grüße an Opa!«

»Werde ich ausrichten. Mach’s gut, Lilly-Schatz!«

»Du auch, Oma, au revoir!«

»Au revoir, Lilly!« Lachend legen wir beide auf. Hach, ich freue mich! Leider sehe ich die zwei viel zu selten.

Um meinen fabelhaften Tee noch zu krönen, suche ich in den Untiefen meiner wild zusammengewürfelten Küche nach ein paar Keksen. Leider muss ich feststellen, dass man keine findet, wenn man keine gekauft hat. Aber das Paket Spekulatius tut es auch. Während ich die Plastikverpackung aufreiße, denke ich noch mal an Jannick. Was für ein dreister Kerl! Natürlich hatte Dorle recht mit ihren Warnungen. Aber ich wollte ja nichts davon hören. Egal, der Typ ist abgehakt. Klassisches Strohfeuer, würde ich sagen.

Um mich abzulenken, gucke ich mir Davids Seite noch mal an. Er ist ein interessanter Typ, und er beschäftigt mich. Vielleicht, weil er einfach nur gut aussieht, ich weiß es nicht. Es bleibt also spannend. Noch vier Tage, dann ist Donnerstag, und da ist das Konzert. Ich gehe mir Lukas live anschauen, endlich! Vielleicht sollte ich schon mal überlegen, was ich anziehe.