104
TASIA TAMBLYN
Von Osquivel flogen die übrig gebliebenen Schiffe der terranischen Kampfflotte nach New Portugal, der nächsten Hanse-Kolonie mit einem TVF-Stützpunkt. Tasia ließ neun verletzte Besatzungsmitglieder von Bord bringen.
Achtundzwanzig weitere lagen tiefgefroren in Särgen – sie sollten auf der Erde mit allen militärischen Ehren beigesetzt werden. Zu diesen Verlusten kamen noch zehn Mitglieder der Crew, die im Vakuum des Alls gestorben waren –entweichende Luft hatte sie durch Löcher in der Außenhülle gerissen.
Nach den notwendigsten Reparaturen kehrten die Schiffe einzeln zur Erde zurück, wo sie eine gründliche Überholung in den Raumdocks der TVF erwartete.
Tasia ließ eine komplette medizinische Untersuchung über sich ergehen, nach der die Ärzte sie für gesund erklärten, abgesehen von einigen kleinen Verbrennungen, die bestimmt längst geheilt waren, wenn sie die Marsbasis erreichten.
TVF-Berater und
Psychologen sprachen mit den
Überlebenden, was Tasia für Zeitverschwendung hielt. Mit sanften, verständnisvollen Stimmen versuchten sie ihr klar zu machen, dass Sarkasmus die geistige Erholung nach dem erlittenen Trauma nicht förderte. Niemand hatte ihr psychologische Hilfe angeboten, nachdem Ross von den Hydrogern getötet oder ihr Vater auf Pumas gestorben war.
Und niemand schien sich darum zu kümmern, dass sich der heldenhafte Robb Brindle völlig umsonst geopfert hatte.
General Lanyan erwies sich als großzügig und gewährte den zurückgekehrten Soldaten eine ganze Woche Sonderurlaub.
Tasia erhielt die Empfehlung, sich zu entspannen.
Stattdessen beschloss sie, Robbs Eltern zu besuchen.
Es war nicht weiter schwer, sie zu finden – die TVF-Dateien enthielten ihre Adresse. Staffelführer Brindle stammte aus einer Familie mit militärischer Tradition; beide Eltern hatten eine Offizierslaufbahn hinter sich. Vor fünfzehn Jahren waren sie aus der Flotte ausgeschieden, doch angesichts des Hydroger-Kriegs hatte man sie in den aktiven Dienst zurückgerufen. Derzeit arbeiteten sie als Ausbilder, aber wenn die Terranische Verteidigungsflotte weiterhin so hohe Verluste erlitt, fanden sich Robbs Eltern vielleicht schon bald in einem Kampfeinsatz wieder.
Tasia machte sie in einer antarktischen Basis ausfindig, einem Ausbildungszentrum auf der südlichen Eiskappe der Erde. Die Übungen in der Schneewüste waren sehr anstrengend, aber den Offizieren standen gemütliche Quartiere zur Verfügung. Der antarktische Stützpunkt war natürlich beheizt und bot alle Annehmlichkeiten der Zivilisation.
Roamer hätten eine solche Umgebung für viel zu luxuriös gehalten.
Bevor sie Robbs Eltern gegenübertrat, zog Tasia ihre Galauniform an. Zweifellos würde Robb Brindle posthume Auszeichnungen und Medaillen für seinen Heroismus bekommen. Als ob das eine Rolle spielte…
Robbs Mutter, Natalie Brindle, wirkte erschöpft und apathisch. Sein Vater Conrad war verärgert und ungeduldig, richtete seinen Ärger aber nicht auf Tasia. Er versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen. »Sie hätten sich die Reise hierher sparen können, Commander Tamblyn. Man hat uns bereits mitgeteilt, dass unser Sohn zu den Soldaten gehört, die bei Osquivel gefallen sind.«
Natalie schob die Hände in die Hosentaschen. »Ja, wir haben einen Brief bekommen, von General Lanyan unterschrieben.«
»Ich bin nicht in irgendeiner offiziellen Funktion hier. Es ist nur… Robb war ein guter Freund von mir.« Tasia zögerte.
»Mein bester Freund.«
Sie erzählte, wie er sich freiwillig für eine sehr gefährliche Mission gemeldet und auf dem Versuch bestanden hatte, einen Kommunikationskontakt mit den Hydrogern herzustellen. »Als er in die Tiefen des Gasriesen sank… Seine letzten Worte lauteten: ›Es ist wundervoll… wundervoll.‹ Niemand weiß, was Robb dort unten gesehen und ob er versucht hat, uns noch mehr mitzuteilen.«
»Es ist nicht die erste Tragödie für eine Familie«, murmelte Conrad Brindle. »Und es wird bestimmt nicht die letzte sein.
Unser Sohn hat seine Pflicht erfüllt. Er meldete sich freiwillig und zeigte keine Furcht. Wir sind stolz auf ihn.«
»Robb wollte immer zur TVF«, fügte Natalie hinzu. »Es war ihm eine Ehre, dort zu dienen.«
»Ja, das stimmt«, sagte Tasia. »Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«
Wieder in ihrem privaten Quartier auf dem Mars erfuhr Tasia, dass EA noch nicht von der geheimen Mission bei Rendezvous zurückgekehrt war. Die Roamer-Werften in den Ringen von Osquivel waren der TVF verborgen geblieben, was bedeutete, dass EA Sprecherin Peroni gewarnt hatte. Aber seltsamerweise blieb der Kompi verschwunden.
Ein prominenter Roamer-Händler, Denn Peroni, war vor kurzer Zeit mit Versorgungsmaterial zum Mond der Erde geflogen. Nach dem von ihm übermittelten Flugplan wollte er bald wieder aufbrechen; es blieb Tasia also nicht viel Zeit. Mit einem Remora verließ sie den Stützpunkt auf dem Mars und nutzte ihre letzten Stunden Sonderurlaub für eine Begegnung mit Denn Peroni.
Sie fand ihn im Krater-Raumhafen auf der dunklen Seite des Mondes. Im Innern der Kuppel ging er vor seinem Schiff unruhig auf und ab, schien nach jemandem zu suchen, den er treten oder gar erwürgen konnte.
In einen Overall gekleidet trat Tasia auf ihn zu und Peroni runzelte die Stirn, als er die TVF-Kleidung sah. Sie hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin Tasia Tamblyn, Tochter von Bram Tamblyn.«
Peroni blinzelte und erkannte sie. »Ja, Ross’ Schwester! Ich habe gehört, dass Sie bei den Tiwis sind. Sie sollten sich besser von mir fern halten, denn im Augenblick ist mir danach, jemanden zu erschießen.«
»Was ist los?«
Peroni schüttelte den Kopf. »Irgendein Schlamassel. Ich habe alle notwendigen Dokumente übermittelt, aber irgendetwas muss durcheinander geraten sein, und jetzt sitze ich hier mit meinem Schiff fest, bis die Angelegenheit ›überprüft‹ wird.
Man kann mir nicht einmal sagen, wie lange das dauert.«
Tasia zeigte Anteilnahme. »Große Gans, große Bürokratie.
Ich würde gern helfen, aber das Militär hat mit der Handelspolitik nichts zu tun.«
Peroni winkte ab.
»Ich möchte Sie etwas fragen.« Tasia senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich habe meinen persönlichen Kompi EA nach Rendezvous geschickt, mit einer Warnung für Del Kellum bei Osquivel.«
Peroni lächelte. »Damit haben Sie allen Clans einen großen Dienst erwiesen. Nach der Schlappe, die die Tiwis dort einstecken mussten, möchte ich ihnen keinen Grund geben, auf uns sauer zu sein.«
Tasia runzelte die Stirn. »Aber mein Kompi ist nicht von jener Mission heimgekehrt.«
Der Händler wirkte unbesorgt. »Kompis sind nicht sehr flexibel, das wissen Sie ja. Mit komplexen Problemen werden sie nicht fertig, nicht einmal die besten. EA sollte hierher zurückkehren?«
»Ja.«
»Nun, vielleicht hat ihn etwas daran gehindert. In letzter Zeit sind zu viele Roamer-Schiffe verschwunden. Möglicherweise befand sich EA an Bord eines Raumers, der es mit
›unvorhergesehenen Gefahren‹ zu tun bekam.«
»Hoffentlich nicht«, sagte Tasia beunruhigt. »Nun, ich wünsche Ihnen viel Glück beim Umgang mit der hiesigen Bürokratie.«
Peroni schnitt eine finstere Miene. »Ich schätze, das kann ich gut gebrauchen.«
105
JESS TAMBLYN
Die stürmische Meereswelt war unbewohnt, steril und namenlos. Sie erschien nur als kleiner Hinweis auf den ursprünglichen ildiranischen Karten, die die Roamer vor langer Zeit gekauft hatten. Niemand hatte sie interessant genug gefunden, um einen zweiten Blick darauf zu werfen.
Der Wental fand sie perfekt.
Jess spürte die Freude der alten Wasser-Entität, als er das Schiff durch graue Wolken und böigen Wind steuerte.
Unablässig gleißten Blitze durch die düstere Atmosphäre.
Verglichen mit Isperos, einem heißen Planeten, zu dem er einmal mit Kotto Okiah geflogen war, wirkte diese Welt nicht allzu heimtückisch. Roamer waren an raue Schönheit gewöhnt.
Jess fühlte immer Aufregung, wenn er einen unbekannten Ort erforschte, aber diesmal war sie noch größer als sonst. Er schickte sich an, etwas zu tun, dem mehr Bedeutung zukam als allen anderen Taten in seinem Leben. Vielleicht ergaben sich daraus enorme Konsequenzen für die Zukunft des Spiralarms.
Er war mit einem Nebelsegler aufgebrochen, dem Gebot der Notwendigkeit gehorchend… oder vielleicht nur, um vor Cesca wegzulaufen, seine Gefühle zu beruhigen und den galaktischen Konflikt sich selbst zu überlassen.
Doch jetzt konnte Jess einen neuen Verbündeten auf die Bühne des Geschehens bringen, eine Macht, die vielleicht imstande war, die Pläne der Hydroger zu vereiteln. Wenn er den Wentals dabei helfen konnte, zu ihrer einstigen Größe zurückzufinden und zu mächtigen Kriegern zu werden, die die Menschheit schützten… Leistete er, Jess Tamblyn, dann nicht ebenso viel für die Zukunft der Roamer wie irgendein Prinz von einem Waldplaneten?
Jess erkannte das einzigartige Gefühl in seinem Innern als echte Hoffnung und Optimismus. Vielleicht bekam die Menschheit jetzt eine reelle Chance.
Er flog über den Ozean hinweg, der den ganzen Planeten bedeckte. Nur hier und dort ragten einige tote Felsen aus dem Wasser und die Wellen brachen sich wie zornig an ihnen. Das Hauptproblem bestand jetzt darin, einen Landeplatz finden.
Aber bestimmt gab es einen.
In seinem Behälter summte und leuchtete der Wental. Er schien voller Vorfreude zu stecken, obwohl Jess bezweifelte, die Gedanken und Empfindungen dieses fremden Wesens jemals ganz verstehen zu können. Er hielt mit den Fernbereichsensoren des Schiffes Ausschau und entdeckte schließlich einen flachen, von der Brandung umtosten Felsen, der genug Platz für die Landung bot. Na bitte.
Er setzte geschickt auf und schob sich dann eine Atemmaske vors Gesicht. Die Temperatur lag in einem tolerierbaren Bereich, doch die Luft bestand fast ausschließlich aus Stickstoff und Kohlendioxid.
Jess trat vor den Zylinder, der das schimmernde Nebelwasser enthielt. »Deine Gesellschaft war sehr seltsam und ich bin froh, dir helfen zu können.« Er nahm den kühlen, prickelnden Behälter, trat in die Luftschleuse und wartete, bis sich das Innenschott schloss und das Außenschott öffnete.
Als er im ewigen Wind des namenlosen Planeten stand, blickte er zu den dunklen Wolken auf und sah das Flackern der Blitze in ihnen. Der Ozean war grau und wirkte dickflüssig, wie geschmolzenes Metall. Schaumgekrönte Wellen rollten dahin. Ein Brecher klatschte dort an den Felsen, wo das Schiff stand, und Gischt sprühte empor.
»Sieht nicht nach einer sehr freundlichen Welt aus«, kommentierte Jess.
Sie ist einladend und mir sehr willkommen nach dem langen Warten in der kosmischen Wüste. Der Wental flackerte und wogte im Behälter. Schütte uns in den Ozean, damit wir wachsen und uns ausbreiten können.
Jess stand am Rand des Felsens und blickte in den dunklen Ozean. Er erinnerte sich ans Meer unter dem Eis von Plumas, an die subplanetare Wasserfläche, wo die Gedenkfeier für Ross stattgefunden hatte. Für ihn war dieser Ort kalt und leer, ohne Leben, doch für den Wental steckte er voller Möglichkeiten.
Der Behälter wurde warm in seinen Händen. Aus irgendeinem Grund spürte er Sorge und Unbehagen. Was mochte geschehen, wenn es nicht klappte, wenn die Erwartungen des Wentals nicht erfüllt wurden?
Zögere nicht. Die Gedanken der Entität pulsierten durch Jess.
Das trübe Wasser lebte, war erfüllt von einer für Jess völlig fremdartigen Präsenz. Er holte tief Luft durch die Atemmaske, nahm den Deckel ab und neigte den Behälter. Das aus dem interstellaren Nebel destillierte Wasser floss ins wartende, leblose Meer dieser leeren Welt.
Sofort kam es zu einer erstaunlichen Veränderung.
Eine blasse Phosphoreszenz ging von jener Stelle aus, an der der erste Tropfen ins Meer gefallen war. Rasch breitete sie sich aus, wie ein Feuer in einer großen Benzinlache, und sie wurde heller, als der Wental in seinem neuen Körper wuchs. Jess staunte und war sicher, dass er richtig gehandelt hatte.
Das Glühen im Wasser breitete sich immer schneller aus, huschte wie ein elektrischer Strom zum Horizont und gab dem toten Ozean Leben, erfüllte ihn mit einer starken Essenz. Ein Jubelruf hallte durch Jess’ Selbst, kündete von Befreiung, Freude und Macht.
Wir sind wiedergeboren. Der Wental durchdrang alle Bereiche des fremden Meeres, von dem er so aufgenommen wurde wie Feuchtigkeit von einem trockenen Schwamm.
Jess fühlte die Gischt an der bloßen Haut, jetzt voller Leben.
Er hob beide Hände, streckte sie dem wolkigen Himmel entgegen und stieß einen Schrei des Triumphes aus. Er war glücklich darüber, diese Geschöpfe vor dem Aussterben gerettet zu haben.
Füll den Behälter erneut mit Wasser, erklang die Stimme der Entität in seinem Geist. Jeder Tropfen enthält unsere Essenz.
Es vermindert uns nicht.
Jess füllte den Behälter mit dem Wasser des kalten, urzeitlichen Meeres, das nun die Präsenz der Entität enthielt.
Der Ozean dieses Planeten war jetzt voller Leben und von hier aus konnte Jess Wentals zu anderen Welten bringen. Er kam sich vor wie ein irdischer Volksheld, der selbst ein Roamer gewesen war: Johnny Appleseed.
Dies ist erst der Beginn. Geh zu deinen Roamern. Bitte sie, die Wentals zu den Meeren anderer Planeten zu bringen.
»Ja«, bestätigte Jess. Jetzt konnte er den Clans etwas anbieten. Mit der Hilfe der Wentals hatten die Menschen eine größere Chance, den ungewollten Krieg zu gewinnen. Selbst die Große Gans würde in seiner Schuld stehen.
Und auch… Cesca.
Nach dem Abschluss seiner ersten Mission kehrte Jess an Bord des Schiffes zurück, mit dem Behälter, der revitalisiertes Wasser enthielt. Bevor er den Zylinder verstaute, füllte er eine kleine Phiole mit dem Wasser und steckte sie in die Tasche, um jederzeit mit dem Wental kommunizieren zu können. Sie hatten so viel voneinander zu lernen.
Als er den namenlosen Ozean verließ und in die heller werdenden Wolken flog, schienen die wieder zum Leben erweckten Wentals bereits Einfluss auf das Wetter zu nehmen.
Sie zogen Energie aus den Gewittern ab und verwandelten das Meer in ein brodelndes Reservoir von Lebenskraft. Der ganze Planet schien nun lebendig zu sein und voller Kraft zu stecken.
Jess beschleunigte und ließ die verwandelte Welt hinter sich zurück. Alles hatte sich verändert, nicht nur in Bezug auf die Aussichten im Hydroger-Krieg, sondern auch in ihm selbst, in seinem Geist und Herzen. Es war dumm von ihm gewesen, Cesca so einfach aufzugeben. Ganz gleich, welche Vorteile Reynald und die Theronen boten – Jess liebte sie und wollte sie zurück. Hätten sie nicht nach einer besseren Lösung suchen können?
Jetzt kehrte Jess nicht als liebestoller Optimist zu Cesca zurück, sondern als jemand, der ebenbürtig neben der Sprecherin der Clans stehen konnte.
Er war monatelang mit dem Nebelsegler unterwegs gewesen, ohne Kontakt, aber vielleicht konnte er rechtzeitig nach Rendezvous zurückkehren, bevor die Hochzeit stattfand. Er musste dafür sorgen, dass Cesca es sich anders überlegte.
Diesmal würde er nicht zögern, sondern seine Liebe für sie erklären, zum Teufel mit Anstand und Traditionen der Roamer.
Jess hatte zu lange mit persönlichem Kummer gelebt.
Zusammen waren Cesca und er stark.
Als das Raumschiff durchs offene All raste, fühlte sich Jess ebenso wiedergeboren wie der befreite Wental.
106
CESCA PERONI
Die Oberhäupter der prominenten Roamer-Clans trafen sich mit Cesca Peroni, um die bevorstehende Partnerschaft mit den Theronen zu besprechen. Nach dem Flug der
Verlobungsschiffe zum Waldplaneten hatte Reynald gebeten, Rendezvous besuchen zu dürfen.
Doch den Clan-Oberhäuptern behagte es ganz und gar nicht, Fremde in ihren abgelegenen Asteroidenkomplex einzuladen.
Lange Traditionen und Argwohn ließen sich nicht von heute auf morgen überwinden. Und das wiederholte Verschwinden von Roamer-Schiffen führte dazu, dass die Clans noch misstrauischer waren als sonst.
»Unsere Geheimnisse sind viel zu wertvoll, als dass wir sie leichtfertig preisgeben dürfen.« Alfred Hosaki repräsentierte viele Handelsschiffe. »Wir müssen entscheiden, ob die Theronen unsere Verbündeten gegen die Hanse oder gegen die Hydroger sind. Oder sollen sie beides sein?«
»Eine Tochter der ehemaligen theronischen Regenten hat König Peter geheiratet«, warf Anna Pasternak ein. »Sollte uns das nicht zu denken geben?«
Cesca suchte noch nach den richtigen Worten für eine Antwort, als Crim Tylar sagte: »Und wenn wir ein Roamer-Schiff mit geschwärzten Fenstern schicken und den Theronen keinen Zugang zu den Navigationssystemen und dem Cockpit gewähren? Sie würden die Asteroiden von Rendezvous sehen, ja, aber sie könnten sie nicht lokalisieren. Wäre das nicht der beste Kompromiss?«
»Es hat keinen Sinn, halbes Vertrauen anzubieten«, erwiderte Cesca. »Auf diese Weise möchte ich unsere Kooperation mit den Theronen nicht beginnen. Ich soll die Ehefrau ihres Oberhaupts werden.«
Die frühere Sprecherin Jhy Okiah seufzte und schien sich erneut daran zu erinnern, warum sie in den Ruhestand getreten war. »Uns kann wohl kaum daran gelegen sein, jedes Mal ein Treffen zu veranstalten, wenn es darum geht, ob wir ein unwichtiges Detail unseres Lebens preisgeben sollen oder nicht. Damit würden wir uns selbst behindern. Die Roamer müssen jetzt eine fundamentale politische Entscheidung treffen, die in Zukunft alle anderen Dinge beeinflussen wird.«
»Genau«, sagte die alte Anna Pasternak. »Deshalb müssen wir richtig entscheiden.«
»Das klingt nach weiteren Diskussionen.« Torin Tamblyn seufzte müde. Die vier Tamblyn-Brüder hatten gewürfelt, um zu bestimmen, wer am Treffen in Rendezvous teilnehmen sollte. »Durch weitere Verzögerungen wird die Antwort nicht leichter. Was zeigt Ihnen der Leitstern?«
Cescas Finger strichen durch ihr dichtes braunes Haar. Der Wurf einer Münze hätte ihnen mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort gegeben.
Bevor sich jemand anders zu Wort melden konnte, kam ein Kurier und brachte eine Nachricht. Cesca stockte der Atem, als sie Kotto Okiahs dringende Bitte um Hilfe las. Sie richtete einen alarmierten Blick auf die frühere Sprecherin. »Die Isperos-Kolonie ist in großer Gefahr. Jhy Okiah, dein Sohn, bittet um sofortige Hilfe, um eine unverzügliche Evakuierung.«
Die Clan-Oberhäupter standen abrupt auf; sie kannten ihre Prioritäten. Hochzeitspläne und politische Diskussionen mussten verschoben werden. »Ich habe zwei Schiffe hier«, sagte Anna Pasternak.
Crim Tylar rechnete rasch. »Ich habe einen Frachter. Er kann nur fünf Passagiere aufnehmen, dafür aber viel Ausrüstungsmaterial transportieren. Isperos… was für ein grässlicher Ort.«
Cesca sah die Clan-Repräsentanten an. »Also gut. Brechen Sie so schnell wie möglich auf. Ich brauche eine Liste aller Schiffe hier bei Rendezvous – mich interessieren vor allem die, die sofort losfliegen können.«
Sie sah auf die Nachricht hinab und erinnerte sich daran, den extrem heißen Planeten einmal besucht zu haben. »Mehrere subplanetare Räume sind voller Lava. Zwei Generatoren für die Lebenserhaltungssysteme sind ausgefallen und die Wände drohen nachzugeben. Alles deutet darauf hin, dass der Isperos-Kolonie nicht mehr viel Zeit bleibt.«
Die Clan-Oberhäupter eilten fort. Roamer lebten seit langem mit der Gefahr und einer derartigen Situation sahen sie sich nicht zum ersten Mal gegenüber. Zwar mochte es gelegentlich zu Streitereien kommen, aber wenn es nötig wurde, arbeiteten alle Clans zusammen, um ihren Brüdern und Schwestern zu helfen.
Jhy Okiah versuchte, die Sorge um ihren jüngsten Sohn nicht zu deutlich zu zeigen. »Kotto wird das Problem lösen, bevor die Rettungsgruppen eintreffen. Er ist ein Genie.«
»Natürlich ist er das«, pflichtete Cesca ihr bei, obwohl sie wusste: Selbst das größte Roamer-Genie konnte kein Leben erhalten, wenn sich Metallwände verflüssigten. »Wenn wir Risiken scheuen würden, wären wir heute nicht da, wo wir sind.«
Jhy Okiah lachte trocken. »Selbst bei einem privaten Gespräch mit mir klingst du wie eine Sprecherin, Cesca.« Die Nervosität war ihr jetzt anzusehen. »Dass Kotto um Hilfe bittet, lässt nur einen Schluss zu: Die Situation ist bereits so sehr außer Kontrolle geraten, dass er keinen anderen Ausweg sieht.«
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ADMIRAL STROMO
Während die TVF noch immer die Kosten der Osquivel-Niederlage berechnete, dachte man bei den Kampfflotten der zehn Gitter darüber nach, was man hätte anders machen können, um besser gegen die Hydroger zu bestehen.
Mit der konzentrierten Feuerkraft gewöhnlicher Waffen ließ sich gegen die Kugelschiffe kaum etwas ausrichten. Die neuen Kohlenstoffknaller und Bruchimpulsdrohnen hatten zwar Schaden angerichtet, wurden den Erwartungen der TVF-Waffentechniker aber nicht gerecht. Die Soldaten-Kompis hatten mit ihren Kamikaze-Einsätzen einige feindliche Schiffe zerstört, doch bei weitem nicht genug.
Was die Erkundungsschiffe anging, die mit Soldaten-Kompis bemannt waren und bei Golgen feststellen sollten, ob das von den Roamern eingeleitete Kometenbombardement die dortigen Hydroger ausgerottet hatte… Bisher hatten sie noch keinen Bericht übermittelt.
Nur einen empfindlichen Schlag hatten Menschen den Hydrogern versetzt, mit dem Test der Klikiss-Fackel – und das war reiner Zufall gewesen.
Bei der Terranischen Verteidigungsflotte und der Hanse begann man über die Möglichkeit nachzudenken, noch einmal von der Klikiss-Fackel Gebrauch zu machen und sie diesmal ganz bewusst als Waffe zu verwenden, ungeachtet der möglichen Konsequenzen. Nach der Zerstörung der technischen Beobachtungsplattform hatte niemand die neue Sonne namens Oncier untersucht.
Froh darüber, nicht in eine katastrophale Schlacht wie bei Osquivel oder beim Jupiter zu fliegen, brach Admiral Lev Stromo zu einer Erkundungsmission auf, die ihn nach Oncier bringen sollte. Er hoffte, dort irgendetwas zu finden, vielleicht eine Schwachstelle der Hydroger.
General Lanyan gab Stromo einen Moloch, einen grünen Priester für die Kommunikation und zwei Manta-Kreuzer mit.
In der Öffentlichkeit betonte Lanyan, eine so kleine Streitmacht zeige, wie sehr die TVF davon überzeugt war, die Hydroger bei Oncier vernichtend geschlagen zu haben. In Wirklichkeit spiegelte sie die bittere Realität des terranischen Militärs wider: Die TVF konnte kaum Schiffe erübrigen. Der Admiral musste mit dem zufrieden sein, was er bekam.
Als sie sich der neuen Sonne näherten, ließ Stromo die Sensorstationen doppelt besetzen und schickte eine Remora-Staffel zum Rand des Sonnensystems, mit der Anweisung, dort nach eventuellen Kugelschiffen Ausschau zu halten. Er wusste, dass er mit seinem lächerlich kleinen Verband keine Chance gegen die Hydroger hatte. Er war bereit, sofort den Rückzug anzuordnen, wenn der Feind erschien – die TVF konnte es sich nicht leisten, noch mehr Schiffe zu verlieren.
Er litt noch immer an der demütigenden Niederlage beim Jupiter und hatte die letzten Jahre damit verbracht, Paraden zu leiten und Schreibtischarbeit zu leisten, anstatt seine Kommandopflichten für Gitter 0 wahrzunehmen. Er wusste, dass ihn die Soldaten hinter seinem Rücken spöttisch Bleib-zu-Hause-Stromo nannten. Jetzt wollte er seine Ehre und hoffentlich auch sein Rückgrat zurückgewinnen.
Der weiß strahlende Gasriese Oncier hing vor ihnen im All.
Glitzernde Fels- und Eisbrocken von den vier zerstörten Monden bildeten ein breites Band, das sich noch nicht zu einem Ring geformt hatte. An diesem Ort waren Menschen bestrebt gewesen, vier neue Welten zu erschließen, durch das Licht und die Wärme einer neuen Sonne bewohnbar zu machen.
Stromo beobachtete den Glutball und stellte sich vor, wie es den Hydrogern in der Tiefe des Gasriesen ergangen sein mochte, als sich ihre Welt plötzlich in eine Sonne verwandelt hatte. Er brachte den Fremden kein Mitgefühl entgegen, nicht nach ihrer gnadenlosen Vergeltung sowohl an Menschen als auch an Ildiranern. Vielmehr stellte er sich Oncier als ein Grab für die schlimmsten Feinde der Menschheit vor. Sie hatten es nicht anders verdient!
»Alle Sonden starten. Nehmen wir eine gründliche Sondierung der neuen Sonne vor.«
Automatische Satelliten verließen wie metallene Bienen die beiden Mantas und schwenkten hoch über Oncier in den Orbit.
Einige von ihnen tauchten ins Plasma ein und sendeten Daten, bis sie verbrannten; andere glitten durch die schimmernde Korona.
Inzwischen hätte den Wissenschaftlern der Hanse ein im Lauf von sechs Jahren gewachsener Datenberg zur Verfügung stehen müssen, der Auskunft gab über Geburt und Entwicklung einer von Menschen geschaffenen Sonne.
Terraforminggruppen hätten damit fertig sein sollen, die vier Monde für die ersten Kolonisten vorzubereiten…
Stromo stand auf der Brücke des Moloch und fühlte die Unruhe der Crew. Die ausgeschickten Remoras meldeten, dass weit und breit keine Kugelschiffe der Hydroger in Sicht waren.
Der Admiral holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen. Eine Routinemission, um wichtige Informationen zu sammeln – weiter nichts.
Stromo hatte sich mit klugen politischen Entscheidungen hochgearbeitet, mit geschickt durchgeführten Manövern und bürokratischen Erfolgen. In Friedenszeiten waren solche Dinge wichtig, aber jetzt bedeuteten sie kaum mehr etwas. Niemand hatte einen Feind wie die Hydroger erwartet.
Dem Admiral wurden die Knie weich bei der Vorstellung, es erneut mit den Fremden zu tun zu bekommen, und eine solche Furcht geziemte sich nicht für den vielfach ausgezeichneten Helden, der den Ramah-Aufstand beendet hatte.
Damals war Stromo erst Major gewesen. Die Kolonisten auf Ramah hatten ihre Unabhängigkeit von der Hanse erklärt, die Charta zerrissen und alle Außenwelt-Vermögenswerte beschlagnahmt. Sie hatten Handelsschiffe und ihre Fracht konfisziert, sie als Ressourcen für die »unabhängige Welt Ramah« beansprucht. Die Anführer der Aufständischen waren selbstgefällig und naiv gewesen, wirklich von der Unabhängigkeit ihres Planeten überzeugt. Sie hatten nicht daran gedacht, wie sehr Ramahs Bevölkerung vom Import abhing – Arzneien, Lebensmittel, technische Hilfe und Versorgungsmaterial mussten von anderen Planeten eingeführt werden.
Stromo hatte damals genau gewusst, wie man mit so etwas fertig wurde. Er brachte eine beeindruckend große Kampfflotte in Ramahs Umlaufbahn, erklärte die Regierung für illegal und wies darauf hin, dass Ramahs Bürger von den Vorzügen der Hanse abgeschnitten waren. Mit einem entschlossenen Angriff ließ er die drei wichtigsten Raumhäfen von Ramah besetzen.
TVF-Soldaten brachten die konfiszierten Schiffe und auch einige andere, die Bewohnern von Ramah gehörten, in ihren Besitz – Schadenersatz für die Beschlagnahme der Vermögenswerte.
Anschließend sendeten Stromos Schiffe verlockende Werbung für die neuen Produkte der Hanse, die auch Ramah zur Verfügung standen, wenn sich der Planet wieder dem Handel öffnete. Nach nur vier Wochen war die radikale Regierung gestürzt und eine zerknirschte Gruppe von Politikern nahm erleichtert die Gelegenheit wahr, erneut die Charta der Hanse zu unterschreiben. Stromo war stolz auf diesen Erfolg gewesen.
Einen solchen Feind konnte Admiral Stromo verstehen. Die Hydroger aber ließen sich nicht einfach mit hübscher Propaganda überwältigen…
Am zweiten Tag der Sondierungen rief ein aufgeregter Brückentechniker den Admiral aus seinem Quartier, in dem er sich um sein Logbuch gekümmert hatte. »Etwas geschieht dort unten, Sir. Wir messen seltsame Fluktuationen und Anomalien tief im Innern der neuen Sonne. Etwas… bewegt sich.«
»In dem ehemaligen Gasriesen?« Stromo streifte seine Uniformjacke über und verließ die Kabine. »Aber dort ist es so heiß wie im Innern eines Sterns!«
»Vielleicht haben sich die Droger spezielle Asbestanzüge zugelegt. Lassen Sie sich die Einzelheiten von der technischen Crew erläutern, Sir.«
Auf der Brücke des Moloch betrachtete Stromo das gefilterte Bild der neuen Sonne. »Dort unten, Admiral«, sagte einer der wissenschaftlichen Fachleute. Er vergrößerte die wogenden Plasmawolken und richtete den Zoom auf etwas, das zunächst wie ein Sonnenfleck ausgesehen hatte. »Seit einer Stunde orten wir… Dinge in der Chromosphäre.«
»Und es handelt sich nicht um magnetische Aktivität oder Protuberanzen?«
»Ganz und gar nicht, Sir. Sehen Sie es sich selbst an.«
Stromos erstaunter Blick fiel auf eine rot glühende ovoide Kapsel, auf ein eiförmiges Gebilde, das hin und her glitt, die Ränder waren aufgrund von Licht und Hitze verschwommen.
Es änderte den Kurs, stieg durch Sonnenflecken auf und schwamm durch den Ozean aus superheißem Gas.
Weitere Kapseln erschienen und stiegen aus den feurigen Tiefen von Oncier auf.
»Gefechtsstationen besetzen!«, befahl Stromo, von Kummer erfasst. Der Alarm heulte durchs Schiff und die Manta-Kreuzer näherten sich dem Moloch. »Rufen Sie die Remoras zurück und treffen Sie Vorbereitungen für den Rückzug.« Er beorderte den grünen Priester auf die Brücke, damit er der Erde eine Dringlichkeitsnachricht übermitteln konnte.
Als der Moloch sich zurückzog, kamen fünf der eiförmigen Kapseln wie leuchtende Kometen näher. Trotz der Filter blendete ihr Gleißen so sehr, dass Stromo kaum den Blick auf sie gerichtet halten konnte. Hitze umwaberte die Gebilde, als enthielten sie die Energie einer ganzen Korona.
Die fünf Feuerbälle – Raumschiffe? – kamen so schnell näher, dass den TVF-Schiffen gar nicht genug Zeit blieb auszuweichen. Sie umkreisten den kleinen Verband, offenbar ohne feindliche Absicht – sie schienen nur neugierig zu sein.
Schließlich formierten sie sich wie Meteore mit einer Mission, sausten durchs All fort und ließen Oncier hinter sich zurück.
Admiral Stromo sank in den Kommandosessel. Er schwitzte und seine Hände zitterten. Er seufzte schwer und fühlte die Blicke der Brückencrew auf sich gerichtet – die Männer und Frauen wirkten erleichtert und verblüfft.
Stromo räusperte sich und sah die wissenschaftlichen Fachleute an. »Was zum Teufel geht hier vor?«
108
BENETO
Beneto stand in dem von Talbun gepflanzten kleinen Wald und versuchte, die jungen Weltbäume zu beruhigen. Den ganzen Tag über hatte er im Netzwerk des Weltwaldes wachsende Furcht gespürt; die Angst schüttelte ihn wie ein Fieber.
Er berührte die schuppige Rinde, schickte Fragen durch den Telkontakt und versuchte festzustellen, warum die Bäume so beunruhigt waren. Doch der Weltwald wahrte seine Geheimnisse… als wollte er die grünen Priester vor schrecklichem Wissen schützen. Aber Beneto lag nichts daran, vor der Wahrheit beschützt zu werden.
Um ihn herum senkte sich eine unnatürliche Stille auf Corvus Landing herab. Beneto fühlte intensives Schaudern. Die Weltbäume schienen sich zu ducken und die Finger des grünen Priesters zuckten fort von der Rinde. Er hob den Kopf.
Vier dornige Kugelschiffe der Hydroger erschienen am Himmel. Sie wurden immer größer, als sie tiefer sanken, sondierten… Und dann entdeckten sie die Weltbäume.
Voller Ehrfurcht beobachtete Beneto, wie eine kleinere Kugel aus der Mitte eines großen Schiffes kam, ein Winzling im Vergleich mit den riesigen Sphären. Sie kam schnell näher.
Beneto glaubte zu wissen, worum es sich handelte. In einer solchen Ambientalzelle hatte der Gesandte der Hydroger den Flüsterpalast auf der Erde besucht – und König Frederick getötet.
Als die kleine Kugel unbewohnten Bereichen entgegensank, hörte Beneto Schreie und das Heulen eines Alarms von den Gebäuden in Colony Town. Mit gerötetem Gesicht rief Bürgermeister Sam Hendy in ein Megafon und forderte die Bewohner des Ortes auf, Schutz zu suchen und die Waffen zu ergreifen. Doch all die defensiven Maßnahmen nützten nichts, wenn die Hydroger angriffen.
Der Gesandte flog über die Stadt hinweg und näherte sich dem Hain. Die Blattwedel der Weltbäume raschelten, schienen vor den Hydrogern zurückzuschrecken. Das kleine Kugelschiff landete inmitten der ältesten Weltbäume, direkt vor Beneto.
Der grüne Priester wartete reglos.
Die Kugel dampfte, wie von einem Halo aus Kälte umgeben.
Hinter der transparenten Außenhülle wogten Gasschlieren und ein Teil dieser Gase schien sich zu verdichten, formte eine metallene Lache, aus der wiederum eine Gestalt wurde – eine menschliche Gestalt in Roamer-Kleidung. Beneto wusste, dass sich der Gesandte im Flüsterpalast auf die gleiche Weise gezeigt hatte.
Er behielt eine Hand am nächsten Weltbaum und blieb durch den Telkontakt mit dem Weltwald verbunden. Er schickte seine Gedanken durch den Spiralarm zu allen anderen grünen Priestern. »Was wollen Sie? Warum sind Sie hierher gekommen?«, fragte Beneto den Besucher.
Der Gesandte der Hydroger wandte ihm ein silbrig glänzendes Gesicht zu. Ein Ausdruck ließ sich darin nicht erkennen, aber Beneto fühlte Verachtung und seine Besorgnis wuchs.
»Sie haben sich mit den Verdani verbündet, unseren Feinden«, sagte der Hydroger. »Wie die Verdani werden Sie leiden, verdorren und sterben.«
Beneto fühlte, wie eine Woge des Zorns und der Furcht durch das Netzwerk des Weltwaldes ging. Er atmete tief durch und sammelte Kraft. »Ich weiß nichts von irgendwelchen
›Verdani‹.«
Doch er verstand plötzlich, als ihn Informationen aus dem Weltwald erreichten. Die Bäume! Das intelligente Selbst des Weltwaldes – die Hydroger nannten es »Verdani«.
»Wir haben hier eine Spur der grässlichen Bäume gefunden.
Wir dachten, wir hätten den Weltwald vor langer Zeit ausgelöscht, aber offenbar gab es verborgene Reste…
Überlebende. Sie haben ihnen geholfen, erneut zu wachsen.«
»Ja«, erwiderte Beneto trotzig. »Ja, das haben wir.«
»Alle Bäume müssen zerstört werden.«
Beneto gewann den Eindruck, Worte zu sprechen, die ihm der Weltwald in den Mund legte. »Warum? Die Bäume möchten nicht gegen Sie kämpfen. Vielleicht haben Sie beide den Krieg aus gutem Grund überlebt.«
Der schimmernde Gesandte blieb ungerührt. »Nennen Sie uns den Hauptort der überlebenden Verdani. Wo befindet sich der primäre Weltwald?«
Über dem Hain schwebten die Kugelschiffe wie dornige Fäuste am Himmel. Energie flackerte zwischen den Pyramidenspitzen. »Wenn Sie uns Auskunft geben, lassen wir die Menschen leben.«
Ein Informationsstrom tief in der Datenbank der intelligenten Bäume brachte Beneto Mut und Einsicht. »Ich weigere mich.
Der Weltwald bedeutet mehr als ich oder irgendein Mensch.«
Die Entschlossenheit der Bäume nahm zu und sie gaben dem grünen Priester Willenskraft. Nicht mehr Furcht prägte sein Empfinden, sondern unerschütterlicher Trotz. Einst waren die Bäume des Weltwaldes auf tausenden von Planeten gewachsen
– und dann hatte ein gewaltiger Krieg ihn fast völlig ausgelöscht. Die Hydroger waren in ihre Gasriesen zurückgetrieben worden, von anderen Kämpfern, die hohe Verluste erlitten hatten…
»Dann wird Ihr Volk die Konsequenzen tragen müssen.«
»Wir werden gegen Sie kämpfen.« Die Worte stammten nicht von Beneto, sondern kamen von woanders, aus dem Bewusstsein anderer grüner Priester oder vom Weltwald. »Wir haben Waffen, von denen die Hydroger nichts ahnen.«
Der Boden unter der Kugel des Gesandten geriet in Bewegung – hunderte von Maulwürfen schienen sich dort durchs Erdreich zu graben. Ein Teil von Beneto wusste, was geschah. Er blinzelte erwartungsvoll.
Peitschenartige Wurzeln schossen nach oben, mit glänzenden Spitzen aus einem Holz, das härter war als jede andere Substanz, die Beneto kannte. Wie Stacheln bohrten sie sich in die kristallene Hülle der Kugel. Der grüne Priester hörte dumpfes Zischen und Fauchen, als sie die diamantene Barriere durchstießen und das Innere der Kugel erreichten.
Die Wurzeln der Weltbäume versiegelten die Löcher, nahmen enormen Druck auf und saugten die giftige Atmosphäre aus der Ambientalzelle. Sie dehnten sich weiter in ihr aus, zuckten hin und her, wuchsen…
Der Gesandte der Hydroger verlor seine menschliche Gestalt, als er gegen die schlangenartigen Wurzeln ankämpfte. Weitere Spitzen bohrten sich von unten in die Kugel und Risse bildeten sich in der Hülle.
Der Gesandte aktivierte ein verborgenes Triebwerk und versuchte, aufzusteigen und den Wurzeln zu entkommen. Die Kugel zerrte an den rankenartigen Strängen, die jedoch nicht nachgaben. Die feinen Risse in der Hülle dehnten sich wie ein Raureif-Flechtwerk aus.
Beneto beobachtete den Kampf, seine Zuversicht und Entschlossenheit waren stärker als jemals zuvor.
Der Hydroger in der Kugel setzte sich weiterhin zur Wehr, schien jedoch schwächer zu werden. Das Quecksilber-Geschöpf verlor seine stabile Struktur; glänzende Flüssigkeit tropfte wie Säure über wütende Wurzeln.
Ein Dickicht umgab den Hydroger, der schließlich ganz auseinander floss. Noch tiefer stießen die Wurzeln in die Ambientalzelle vor und zerfetzten sie. In der Mitte des Hains aus Weltbäumen blieb nur ein Durcheinander aus geschwärzten, sterbenden Ranken zurück.
Doch es war nur ein kleiner Sieg und er blieb von kurzer Dauer. Die vier Kugelschiffe am Himmel gerieten wieder in Bewegung.
Beneto sah auf und der Triumph in seinem Gesicht wich Resignation. Bevor die Bewohner der Stadt auch nur versuchen konnten, sich in Sicherheit zu bringen, griffen die Hydroger den Planeten an.
In geringer Höhe glitten die Kugeln über Corvus Landing hinweg und wie Giftgas wirkender kalter Dampf ging von ihnen aus. Die Kältewellen strichen über Kornfelder hinweg und verwandelten Getreide in grauschwarzen Staub.
Im Ort gab Bürgermeister Hendy sinnlose
Evakuierungsanweisungen. Viele Siedler brachen mit Fahrzeugen zu ihren Häusern außerhalb von Colony Town auf oder suchten in Kellern Zuflucht. Die Gebäude waren stabil genug, um Stürmen standzuhalten, aber dem Angriff der Hydroger konnten sie nicht widerstehen.
Die Kältewellen ließen das Holz von Ställen und Pferchen splittern. Blaue Blitze ließen breite Brandspuren in der Landschaft zurück. Ziegen gerieten in Panik, meckerten, liefen in alle Richtungen… und starben im Gleißen tödlicher Energie.
In wenigen Minuten verheerten die vier Kugelschiffe tausende von Morgen und verwandelten sorgfältig gedüngtes Ackerland in eine leblose Wüste. Als die Hydroger Colony Town erreichten, vernichteten ihre Energiestrahlen das Rathaus und Dutzende von anderen Gebäuden. Eiskalter weißer Dunst bewirkte, dass Lagerhäuser und Silos einstürzten.
Beneto griff nach dem Stamm des nächsten Weltbaums und schickte alle seine Gedanken und Eindrücke wie ein inbrünstiges Gebet in den Weltwald. Nur er konnte berichten, was auf Corvus Landing geschah. Der Weltwald, die grünen Priester, seine Familie und sogar die Terranische Hanse sollten Bescheid wissen. Auf diese Weise erfüllte Beneto seine letzte Pflicht.
Die Kugelschiffe formierten sich, flogen fort von der zerstörten Stadt und den verheerten Feldern, näherten sich den Weltbäumen.
Beneto schlang die Arme um den Stamm, um nicht den Telkontakt zu verlieren. Er presste die Wange an die Rinde und schickte auch weiterhin seine Gedanken ins Netzwerk, suchte Trost im Selbst des Weltwaldes.
Alles Leben auf Corvus Landing sollte in Erinnerung bleiben, alle Bäume, die Talbun und er gepflanzt hatten, alle Mühen und Anstrengungen der unschuldigen Siedler bei der Zähmung dieser widerspenstigen Welt. Beneto öffnete sein Ich und gab sich ganz dem Telkontakt hin. Er umarmte den fernen Wald mit seinem Geist, vereinte sich mit ihm – dies war seine einzige Zuflucht.
Dunstige Eiswellen gingen von den Kugelschiffen aus, als sie sich dem todgeweihten Hain näherten. Die ersten Bäume starben und Beneto fühlte Agonie wie flüssiges Feuer in den Adern. Zwischen den Schläfen hörte er die seltsam unmenschlichen Schreie des Weltwaldes, die von Jahrtausenden der Furcht und des Schreckens kündeten.
Er zwang sich, die Augen offen zu halten, schickte letzte Mitteilungen durch den Telkontakt, während die Hydroger ihr Vernichtungswerk vervollständigten.
109
VATER REYNALD
Ein entsetzter junger grüner Priester lief durch die Korridore in der Pilzriff-Stadt und schrie immer wieder. Draußen schienen sich die Bäume zu ducken und zu schaudern. Reynald spürte, wie Grauen und Verzweiflung durch die Reihen der grünen Priester wogte – er fühlte es bis ins Mark.
»Vater Reynald!«, rief der junge grüne Priester. »Die Hydroger greifen Corvus Landing an.«
Die alte Lia – zusammen mit Uthair befand sie sich im Empfangsraum, um Reynald in Hinsicht auf die bevorstehende Hochzeit zu beraten – stand auf und brachte mit brüchiger Stimme hervor: »Beneto ist auf Corvus Landing!«
Reynald war mit einem Satz auf den Beinen und trat dem grünen Priester entgegen.
»Beneto schickt uns Mitteilungen durch den Telkontakt«, sagte der junge Mann und kämpfte gegen die Panik an. »Wo ist ein Schössling? Ich muss…« Er hastete zum kleinen Weltbaum im verzierten Topf, der neben einem leeren, für Cesca Peroni reservierten Stuhl stand. Der Priester berührte den Schössling, schloss die Augen, riss sie wieder auf und sah Reynald an.
»Ihr Bruder berichtet, dass die Hydroger die landwirtschaftlichen Bereiche des Planeten zerstören. Sie benutzen Kältewellen und blaue Energiestrahlen.« Der junge grüne Priester legte nur kurze Pausen ein, um nach Luft zu schnappen, als er von der Drohung des Gesandten erzählte, die nicht nur den Weltbäumen galt, den Verdani, sondern auch der Menschheit.
»Wie können wir Beneto helfen?«, fragte Reynald. »Und den übrigen Bewohnern von Corvus Landing? Sie sind alle in schrecklicher Gefahr.«
»Der ganze Weltwald ist in Gefahr!« Der Priester schloss erneut die Augen. »Benetos Bäume haben sich zur Wehr gesetzt und den Gesandten der Hydroger getötet. Doch das reicht nicht… es ist bei weitem nicht genug.«
Draußen, im dichten theronischen Wald, riefen zahlreiche grüne Priester anderen Theronen die Nachrichten zu, während sie die Stämme der Weltbäume berührten und per Telkontakt weitere Mitteilungen von Beneto empfingen. Arbeiter kletterten an den Ernteranken herunter. Teenager surrten mit ihren zusammengebastelten Flugapparaten hin und her, erzählten anderen, was sie von den Geschehnissen wussten.
Die Aufmerksamkeit aller Theronen war geweckt, aber sie konnten nichts für den fernen Ableger des Weltwaldes und Beneto tun.
Reynald fühlte die Bestürzung im Wald. In allen Siedlungen auf Theroc, von den Spiegelseen bis hin zur Küste, reagierten grüne Priester auf die gleiche Weise.
»Die Hydroger haben gerade Colony Town zerstört! Alles liegt in Trümmern. Jetzt greifen sie den Hain der Weltbäume an. Der Feind sucht Theroc, die Reste des Weltwaldes.«
Auch die neunzehn grünen Priester, die sich freiwillig zum Dienst in der TVF gemeldet hatten, empfingen Benetos Berichte und gaben sie ans Militär der Hanse weiter. Seine Schwestern Estarra und Sarein würden die Neuigkeiten vom grünen Priester im Flüsterpalast erfahren.
Idriss und Alexa kamen zusammen in den Thronraum, von all dem Durcheinander verwirrt. »Was ist los? Was passiert?«
Celli, Reynalds jüngste Schwester, traf ebenfalls ein. Sie lächelte, aber ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, als sie den Ernst der anderen bemerkte.
»Beneto«, sagte Reynald. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Die Hydroger…« Er brachte nicht mehr hervor.
Der junge grüne Priester berührte den Schössling und blieb im Telkontakt. »Oh, jetzt zerstören die Hydroger den Hain!
Die Bäume!« Er stöhnte schmerzerfüllt.
»Beneto lebt noch. Die Weltbäume sterben. Solche Kälte…
Nichts kann ihr widerstehen. Die Bäume können nicht entkommen. Der Feind setzt den Angriff fort. Zehn weitere Weltbäume sind tot… dreißig. Es ist ein Gemetzel! Beneto schickt noch immer seine Gedanken, aber die Hydroger haben ihn fast erreicht. Er sagt…«
Die Hand des jungen Priesters zuckte fort vom Schössling und er schrie auf. »Weißes Lodern… füllt mein Selbst!« Er presste sich die Hände an die Schläfen und stöhnte erneut.
Idriss und Alexa wechselten einen schockierten Blick.
»Beneto?«
Die alte Lia begann zu schluchzen und Uthair nahm ihren Arm, um Trost zu spenden und zu empfangen. Reynald schloss die Hand um Cellis Schulter; er fühlte sich wie betäubt. Corvus Landing war so weit entfernt.
Der junge grüne Priester ließ die Hände sinken und starrte so auf sie hinab, als wären sie verbrannt. Dann sah er zum Schössling, als wollte er feststellen, ob der kleine Weltenbaum Schaden genommen hatte.
»Beneto ist tot. Ebenso alle Bäume des Hains. Ganz Corvus Landing ist zerstört.« Der grüne Priester schauderte. »Alles…
tot.«
110
KÖNIGIN ESTARRA
Wenn Estarra liebende Anteilnahme, Applaus und das staunende Funkeln in den Augen der Menschen, die sie bewunderten, nicht mehr ertragen konnte, kehrte sie in den königlichen Flügel des Flüsterpalastes zurück, um dort mit ihrer Trauer allein zu sein. Sie würde den armen Beneto nie wieder sehen.
Seit dem Hochzeitstag verehrte man sie in der Terranischen Hanse, für ihre Art zu gehen oder sich zu kleiden. Eine andere Frau an ihrer Stelle hätte so viel Aufmerksamkeit vielleicht genossen, aber Estarra glaubte zu ersticken. Sie ertrug es nicht mehr, insbesondere jetzt nicht, nach dem Angriff auf Corvus Landing.
Sie hatte nicht einmal Gelegenheit gefunden, um ihren Bruder zu trauern. Nie ließ man sie in Ruhe.
Beim Angriff der Hydroger hatte der grüne Priester Nahton der entsetzten Estarra und ihrem Mann von allen Einzelheiten der Zerstörung berichtet. Während Peter neben ihr stand und sie stützte, schilderte Nahton, was er durch den Telkontakt sah: erst die Zerstörung von Colony Town und dann die des Hains.
Er war zutiefst erschüttert gewesen. Estarra hatte geweint, als das Netzwerk des Weltwaldes seine letzten Worte übermittelte.
Und dann sein Tod…
Die Höflinge, die Estarra ihr Beileid aussprachen, waren ihrem Bruder nie begegnet. Die meisten von ihnen hatten noch nicht einmal etwas von Corvus Landing gehört. Benetos direkter, eindringlicher Bericht ließ den Zorn der Öffentlichkeit auf die Hydroger wachsen. Der Feind war unbarmherzig, schlug gnadenlos zu.
Estarra stellte sich Beneto während seiner letzten Momente vor, dachte daran, wie er den Stamm eines Weltbaums umklammerte, dem Weltwald seine Gedanken schickte, mehr noch, seine Seele, während die Hydroger alles vernichteten und dem wehrlosen Hain Tod brachten. Und anschließend zogen sie weiter, auf der Suche nach einem neuen Ziel…
Die ganz offensichtlich von Herzen kommende Anteilnahme des gemeinen Volks wusste Estarra durchaus zu schätzen. Die Bürger schickten Blumen, Gedichte und Beileidsschreiben. Sie errichteten Denkmäler, nicht nur für den Bruder der Königin, sondern für alle unschuldigen Hanse-Kolonisten auf Corvus Landing. Sie waren unbeteiligt gewesen an dem Krieg, den die Menschen nie gewollt hatten. Jetzt waren sie ihm zum Opfer gefallen.
Die neue Tragödie und andere Erinnerungen an die verzweifelte Situation der Menschen halfen dabei, jene noch immer schmerzenden Wunden zu heilen, die der königlich verordnete Geburtenstopp geschaffen hatte. Der Menschheit blieb keine andere Wahl und die Bürger begriffen, wie sehr ihr König gelitten haben musste, als er diese notwendige Entscheidung traf. Mehr als jemals zuvor sahen sie bewundernd zu König Peter und seiner Königin auf.
Die nach Golgen entsandten, von Kompis bemannten Erkundungsschiffe waren spurlos verschwunden. Keine Berichte wurden von dem mit Kometen bombardierten Gasriesen übermittelt und Sondierungsdrohnen suchten vergeblich nach Trümmern. Man schrieb die Schiffe ab.
Peter war nicht überrascht.
»Nach einer Analyse der von den Sondierungsdrohnen gewonnenen Daten nimmt die TVF an, dass die Hydroger hinter dem Verschwinden der Erkundungsflotte stecken«, sagte OX.
Peter traf sich mit dem Lehrer-Kompi in einem Zimmer, in dem ein mittelalterlicher König vielleicht seine Berater empfangen hätte. Es war ihm inzwischen zur Angewohnheit geworden, mit OX zu sprechen, wenn ihm irgendetwas Sorgen bereitete.
»Alle anderen mögen das für offensichtlich halten«, sagte Peter. »Ich bin gleich zu Anfang der Meinung gewesen, dass es eine schlechte Idee war, die Schiffe nach Golgen zu schicken.
Ein unnötiges Risiko. Jetzt muss ich die Namen weiterer Märtyrer nennen, die ihr Leben ließen. Sechs Menschen tot und viele TVF-Ressourcen verloren, für nichts.«
Peter senkte den Kopf und überlegte einige Sekunden lang.
»Und ich werde da einen gewissen Verdacht nicht los. Fünf Mantas und ein Moloch verschwinden auf mysteriöse Weise.
Was ist, wenn nicht die Hydroger dafür verantwortlich sind, sondern die neuen Soldaten-Kompis, OX?«
»In diesem Zusammenhang habe ich beunruhigende neue Daten gesammelt, König Peter«, sagte der Lehrer-Kompi. »In der Vergangenheit befanden sich jeweils nur etwa zehn bis zwölf Klikiss-Roboter auf der Erde und erregten kaum Aufmerksamkeit. Gelegentlich arbeiteten sie in Industriebetrieben und Orbitalstationen, leisteten dort wertvolle Dienste.«
»Ja, ich weiß.«
»Seit der Demontage von Jorax hat die Anzahl der Klikiss-Roboter auf der Erde stark zugenommen. Ich habe die von den Überwachungskameras aufgezeichneten Bilder nach einzelnen Klikiss-Robotern untersucht. Zwar sind ihre Konfigurationen identisch, aber es gibt doch subtile Unterschiede, die eine Identifizierung ermöglichen. Auf der Grundlage dieser Informationen schätze ich, dass derzeit mehrere hundert Klikiss-Roboter auf der Erde sind.«
König Peter hob überrascht die Brauen. »Wie ist das möglich?«
»Über die ganze Welt verstreut fallen so viele Roboter nicht auf – beiläufige Beobachter bemerken keine plötzliche Invasion. Wie dem auch sei: Eine so enorm gewachsene Anzahl ist erstaunlich. Die einzelnen Klikiss-Roboter bleiben allein, bilden keine Gruppen und erscheinen an weit voneinander entfernten Orten.«
»Mir sind drei Klikiss-Roboter bei den Produktionsanlagen aufgefallen, die Kompis herstellen«, sagte Peter.
»Es gibt noch viel mehr, König Peter. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Die Klikiss-Roboter überwachen unsere Produktionssysteme, haben aber keinen weiteren Rat angeboten. Sie überlassen es uns, Schlussfolgerungen aus den Dingen zu ziehen, die wir in Erfahrung gebracht haben. Sie beobachten einfach nur.«
»Oder sie warten auf etwas. Die ursprünglichen Kompis waren darauf programmiert, Menschen als Berater und Mentoren zu helfen. Lässt sich das auch von den neuen Soldaten-Kompis mit den Klikiss-Modifikationen behaupten?«
Peter spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen.
»Vielleicht gibt es verborgene Subroutinen und Fallen? Die Techniker sind so aufgeregt, dass sie nur das sehen, was sie sehen wollen, und das gilt auch für Basil. Er kennt die Fragen, aber er macht sich nicht die Mühe, sie zu beantworten.«
»Der Vorsitzende hat bewusst entschieden, die Fragen zu ignorieren«, sagte OX. »Ich habe nicht genug Daten, um darüber zu spekulieren, wie die modifizierte Programmierung die fundamentalen Kompi-Beschränkungen beeinflusst.
Derzeit gibt es noch zu viele unbekannte Faktoren.«
Peter ließ den Kopf hängen und fühlte sich sehr müde.
»Manchmal wünsche ich mir klare Antworten, OX – denn dann wüsste ich, was es zu unternehmen gilt.«
Selbst wenn er sich mit seinen Bedenken an Basil wandte: Der Vorsitzende würde sie einfach beiseite schieben. Aber nach der Zerstörung der Kolonie auf Corvus Landing war Basil Wenzeslas zur Mondbasis der TVF geflogen, um dort mit seinen militärischen Beratern zu sprechen. Das gab König Peter eine Chance und er beschloss, sie zu nutzen.
Eigentlich sollte er sich um Routineangelegenheiten der Hanse kümmern, doch solange er allein war, konnte er Entscheidungen treffen, ohne dass Basil die Möglichkeit hatte, sie sofort zu widerrufen. Gewöhnliche Beamte würden einen direkten Befehl des Königs nicht infrage stellen – das konnte er zu seinem Vorteil nutzen, wenn er geschickt vorging.
Die Idee nahm schnell Gestalt an und versetzte ihn in die Lage, aktiv zu werden.
111
KÖNIG PETER
Was Peter vorhatte, war nicht ungefährlich, deshalb bestand er darauf, sich allein auf den Weg zu machen. Als König.
Er hätte Estarra gern alles erklärt und sie in all die Pläne eingeweiht, die wie Spinnweben an ihm hafteten. Aber er wollte sie auch schützen. Solche Dinge hatte sie gewiss nicht erwartet… und jetzt war ihr Bruder auf Corvus Landing ums Leben gekommen. Peter musste weitere Probleme von ihr fern halten und hoffte, dass sie eines Tages verstehen würde.
Nach der prächtigen Hochzeitsfeier konnte er praktisch alles verlangen. Er wählte besonders eindrucksvolle Kleidung und dazu passenden Schmuck, lächelte, hielt den Kopf hoch erhoben und sammelte eine ganze Prozession um sich, bestehend aus Höflingen, Beamten und königlichen Wächtern.
Peter wollte einem Produktionsbetrieb, in dem Kompis hergestellt wurden, einen Überraschungsbesuch abstatten. Es ging ihm nicht darum, Unruhe zu stiften; er beabsichtigte vielmehr, einen Eindruck davon zu gewinnen, was vor sich ging. Jemand musste die Augen offen halten.
Die Protokollminister drängten ihn, ganz offiziell einen Termin zu vereinbaren, aber davon wollte Peter nichts wissen.
Er bestand auf seiner ursprünglichen Absicht. »Ich bin der König und mache mich allein auf den Weg, wenn Sie nicht imstande sind, schnell genug Vorbereitungen zu treffen, um mich zu begleiten.« Er wählte ein geeignetes Zeremonienfahrzeug, einen offenen Schweber, der es ihm erlaubte, gesehen zu werden, während er über den Straßen flog. Königliche Wächter liefen zu ihren Gleitern, um ihm zu folgen. Peter lächelte zuversichtlich, amüsiert von ihrer Reaktion. Wenn Basil Wenzeslas nicht da war, wagte es niemand, ihn aufzuhalten.
Die nervösen, aber entschlossenen Funktionäre wandten sich hastig an die Medien und informierten die Verwalter der Kompi-Fabrik, damit sie einen angemessenen Empfang organisieren konnten. Angehörige von Spezialeinheiten, die so genannten Silbermützen, eilten durch die Straßen, um auf der Route für Sicherheit zu sorgen. Das Hauptquartier der Hanse schickte beunruhigt wirkende Repräsentanten, um Peter zu begleiten. Zweifellos sandte es auch dringende Mitteilungen an die Mondbasis, aber Basil konnte nicht mehr rechtzeitig eingreifen – Peter war bereits unterwegs.
Begeisterte Mengen säumten die Straßen und jubelten der königlichen Prozession zu. Über sechs Jahre hinweg hatte die Hanse dafür gesorgt, dass die Bürger ihren König liebten. Das Volk sah einen mitfühlenden Regenten in ihm, der Trauer und Kummer ertragen musste, wenn seine Berater und das Militär versagten. Darauf baute Peter jetzt.
Sie erreichten den aus mehreren Fabriken bestehenden Industriebetrieb am Stadtrand, fern vom Meer und den Bergen.
Es handelte sich um einen effizienten Komplex, umgerüstet für den Bau der mit Klikiss-Technik ausgestatteten Soldaten-Kompis.
Als die Prozession im Empfangsbereich landete, verließen Arbeiter ihre Arbeitsplätze, kamen erstaunt näher und jubelten.
Königliche Wächter standen ihnen ernst gegenüber.
König Peter winkte den Arbeitern wohlwollend zu. Diese Leute glaubten natürlich, dass sie gute Arbeit für die Terranische Hanse leisteten – sie waren gewiss nicht Teil einer geheimen Sabotageaktion, was auch immer die Klikiss-Roboter planten.
Der Direktor des Betriebs trat vor, begleitet von königlichen Wächtern. Der Mann schien überwältigt zu sein. »Eine solche Ehre haben wir nicht erwartet, Euer Majestät. Wir arbeiten hier sehr hart und ich entschuldige mich für den Zustand der Anlage. Sie ist nicht dafür bestimmt, ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Wenn ich rechtzeitig informiert worden wäre, hätten wir alles gesäubert und…«
Peter unterbrach ihn. »Dann hätten Sie Ihre wichtigen Kriegsanstrengungen unterbrechen müssen. Es ist gewiss keine Schande, dass ich einen Industriebetrieb in seinem normalen Zustand sehe. Außerdem: Meine loyalen Untertanen verdienen einen Besuch ihres Königs; ihre Moral wird dadurch sicher gehoben.«
Die nicht eingeladenen Berater der Hanse schoben sich etwas näher an den König heran, wirkten unsicher, aber auch neugierig. Peter achtete nicht auf sie, trat vor und folgte dem Direktor.
Im Innern der Fabrik kamen sie an den Fenstern von hermetisch abgeriegelten und staubfreien Produktionsräumen vorbei, in denen elektronische Schaltkreise hergestellt wurden.
In Schutzanzüge gekleidete Techniker hantierten mit Kommandomodulen, die auf Jorax’ Klikiss-Technik basierten.
Der König sah sich alles aufmerksam an und stellte nur wenige Fragen. Der Direktor begann sich zu entspannen, als sie den Weg fortsetzten.
Während der Tour bemerkte Peter zwei schwarze Klikiss-Roboter, die den Produktionsvorgang beobachteten. Aus irgendeinem Grund bereiteten sie ihm Unbehagen. Er konnte nicht glauben, dass tatsächlich alle ihre Erinnerungen gelöscht waren und nicht eine dieser Klikiss-Maschinen wusste, was zum Verschwinden ihrer Schöpfer geführt hatte.
Wenn er ihnen befahl, die Fabrik zu verlassen – würden ihm die insektenartigen Roboter gehorchen?
Die Komponenten der Soldaten-Kompis waren sehr komplex und bildeten ein technisches Labyrinth, das selbst für die besten Wissenschaftler der Hanse unergründlich blieb. Aber da die Kompis dringend gebraucht wurden, verzichteten die Techniker darauf, zu viele Fragen zu stellen.
Als sie das Ende der Besichtigungstour erreichten, verschränkte Peter die Arme und schien zufrieden zu sein.
»Nun, Direktor«, sagte er dann, »mithilfe der Klikiss-Technik haben Sie erhebliche kybernetische Fortschritte erzielt, nicht wahr?«
»Ja, Euer Majestät. Mit den kopierten KI-Subroutinen sind wir einen großen Schritt vorangekommen – sie machen diese Modelle weitaus komplexer als die anderen Kompis. Unsere besten Computer- und Elektronik-Spezialisten hätten hundert Jahre gebraucht, um einen solchen Durchbruch zu erzielen.«
Der König nickte. »Haben Sie die Klikiss-Komponenten auseinander genommen und ihre Grundprinzipien untersucht?
Verstehen Sie alle Einzelheiten der kopierten Technik, mit der die neuen Kompis ausgestattet werden?«
»Nicht… ganz, Euer Majestät.« Der Direktor wirkte verwirrt.
»Worauf… äh… wollen Sie hinaus?«
»Auf dies: Verstehen Sie, was hier produziert wird? Oder duplizieren Sie einfach nur ganze Klikiss-Systemmodule, ohne zu wissen, wie sie funktionieren?«
»Wir… äh… verwenden die Technik des demontierten Klikiss-Roboters als Beispiel. Die Kompi-Systeme basieren auf den Dingen, die bei unseren Roboter-Freunden ganz offensichtlich funktionieren.« Der Direktor deutete auf den nächsten Klikiss-Roboter, der dem König und seinen Worten großes Interesse entgegenzubringen schien. »Da wir im Krieg sind, hat es niemand von uns für nötig gehalten, das Rad neu zu erfinden, Euer Majestät.«
Peter kniff die Augen zusammen. »Direktor, ich glaube, ich spreche für uns alle, selbst für die Beamten, wenn ich sage: Uns ist durchaus klar, wie ein Rad funktioniert.« Einige Zuhörer lachten leise. »Aber hier entstehen überaus komplexe Komponenten und sie stammen letztendlich von intelligenten Robotern, die von einer geheimnisvollen fremden Spezies entwickelt wurden, die unter mysteriösen Umständen verschwand.
Inzwischen sind die neuen Soldaten-Kompis an Bord fast aller TVF-Schiffe und bedienen unsere wirkungsvollsten Waffen. Viele Remoras und Mantas sind so modifiziert worden, dass sie allein von Kompis geflogen werden können.
Und Sie sagen mir, dass wir nicht wissen, wie sie funktionieren, dass niemand darüber Bescheid weiß?«
»Sie stellen das Problem zu einfach dar, Euer Majestät.« Der Direktor sah sich verzweifelt nach Hilfe um. »Unsere Kybernetiker kennen alle grundlegenden Algorithmen, aber um der Zweckdienlichkeit willen haben wir einige existierende Komponenten und Programme der Klikiss-Roboter angepasst und verwenden sie bei unbedeutenden Systemen. Der Vorsitzende Wenzeslas war damit einverstanden.«
Peter runzelte die Stirn. »Der Vorsitzende Wenzeslas hat im Verlauf dieses Krieges einige… übereilte und verhängnisvolle Entscheidungen getroffen. Wissen Sie, dass von Soldaten-Kompis bemannte Erkundungsschiffe bei Golgen spurlos verschwanden?«
»Ja, ja, Euer Majestät. Eine Tragödie. Aber bei der Schlacht von Osquivel haben die Kompis hervorragende Arbeit geleistet. Dadurch wurden bestimmt viele Leben gerettet.«
»Dem widerspreche ich nicht. Aber es bereitet mir Unbehagen, so viel Vertrauen in etwas zu setzen, das uns rätselhaft bleibt. Die Klikiss-Roboter können uns nicht einmal den Grund für das Aussterben ihrer Schöpfer nennen.«
»Euer Majestät, Sie wollen doch nicht etwa andeuten…«
»Ich rate nur zu Vorsicht. Die Techniker und Kybernetiker der Hanse sollten eigentlich imstande sein, alle Klikiss-Module zu analysieren, bevor wir sie in den neuen Soldaten-Kompis verwenden. Ich meine, wir sollten alles überdenken.«
»Wir müssen die von der TVF bestimmten Quoten erfüllen, Euer Majestät. Was Sie vorschlagen, kostet viel Zeit und…«
»Aber es wäre die Mühe sicher wert«, sagte der König und hob die Stimme. »Zum Wohle des Königreichs ordne ich hiermit die Einstellung der Produktion an, bis wir die fremde Technik völlig verstehen. Stellen Sie weiterhin Komponenten her und bereiten Sie Kompis vor, aber liefern Sie keine aktivierten Roboter aus, bis diese wichtigen Fragen beantwortet sind.«
Die Arbeiter wechselten erstaunte und besorgte Blicke. Aber sie hatten gehört, wie der König seine Zweifel zum Ausdruck brachte, und dadurch kamen ihnen selbst Bedenken.
Einer der gut gekleideten Hanse-Repräsentanten trat vor. »Ich fürchte, das ist nicht möglich, Euer Majestät.«
Peter sah den blonden Funktionär so an wie ein Insekt – den entsprechenden Gesichtsausdruck hatte er Basil abgeschaut.
»Bitte? Wie lautet Ihr Name?«
»Pellidor, Euer Majestät. Franz Pellidor, Sonderbeauftragter des Vorsitzenden Wenzeslas. Es tut mir Leid, aber Sie können die Produktion nicht unterbrechen. Dies ist eine autonome Fabrik.«
Peter wahrte sein wohlwollendes Gebaren, doch alle spürten, dass er kühler wurde. »Mr. Pellidor, ich habe berechtigte Zweifel geäußert. Die Sicherheit der Hanse hat für mich oberste Priorität.« Die Blicke der königlichen Wächter wechselten zwischen Peter und dem Hanse-Repräsentanten hin und her. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
»Derartige Entscheidungen müssen von den Experten getroffen werden, Euer Majestät«, beharrte Pellidor. »Wir werden dieses Problem mit gründlichen Analysen und sorgfältigen Untersuchungen lösen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Peter. »Aber bis dahin werden keine weiteren Soldaten-Kompis aktiviert. Das ist mein königlicher Befehl.«
»Eine solche Anweisung dürfen Sie nicht geben, Euer Majestät.«
Peter ließ sich seine Empörung anmerken und winkte den Arbeitern zu. »Glaubt jemand unter Ihnen, dass ein – wie war noch Ihr Titel? – Sonderbeauftragter des Vorsitzendem im Rang höher steht als der König?« Er lachte, um auf die Absurdität dieser Vorstellung hinzuweisen. Die meisten Arbeiter lachten ebenfalls. Die Beamten wurden unruhig und wichen zurück.
Peter wandte sich an die Arbeiter. »In dieser Fabrik haben alle hart gearbeitet und können stolz auf das Erreichte sein. Es dürfte Ihnen kaum etwas ausmachen, sich während der nächsten Wochen weniger anstrengen zu müssen. Natürlich bekommen Sie vollen Lohnausgleich.«
Die Arbeiter jubelten und Pellidors Gesicht wirkte starr wie eine Maske. Plötzlich erkannte Peter ihn wieder. Pellidor war einer jener Männer gewesen, die den jungen Raymond Aguerra entführt hatten. Zorn entflammte hinter Peters blauen Augen, doch er hielt ihn unter Kontrolle.
»Sie gehen zu weit, Peter«, sagte Pellidor gerade laut genug, damit er ihn hörte.
»Wie könnte das möglich sein?« Peter hob spöttisch die Brauen. »Fragen Sie diese Leute: Bin ich nicht der König?«
112
BASIL WENZESLAS
Der Vorsitzende war mit Peter nicht zufrieden. Ganz und gar nicht.
Die dreiste und dumme Aktion des Königs hatte Basil gezwungen, seine Gespräche in der TVF-Mondbasis vorzeitig zu beenden und zur Erde zurückzukehren, in der Hoffnung, den angerichteten Schaden in Grenzen zu halten.
Peter hatte ein heilloses Durcheinander angerichtet, und nicht zum ersten Mal.
»Wir müssen etwas unternehmen, Pellidor.« Der Vorsitzende kochte, als er in seinem Hanse-Büro hin und her ging, dabei die jüngsten Berichte las. »Vielleicht sind drastische Maßnahmen erforderlich.«
Basil hatte immer gewusst, dass der intelligente junge König Peter kein so leicht zu manipulierender Narr war wie Frederick, und unglücklicherweise führte das jetzt zu Problemen. Peters Handeln lag bewusste Absicht zugrunde und die Konsequenzen mussten ihm klar gewesen sein.
Die Frage lautete: Würde Peter die notwendige Lektion aus seinen Fehlern lernen oder mussten Schritte gegen ihn eingeleitet werden?
»Ich habe ihn ausdrücklich angewiesen, sich von den Kompi-Fabriken fern zu halten. Meine Warnung war
unmissverständlich! Der vom König angeordnete Produktionsstopp hat uns weiter zurückgeworfen, als er ahnt.«
Basil nippte an seinem Kardamomkaffee, der diesmal bitterer als sonst zu schmecken schien.
»Inzwischen laufen die Fließbänder wieder, Vorsitzender.«
Pellidor stand in der Tür, wirkte nervös und betroffen. »Die Arbeiter machen Überstunden, um den Produktionsausfall wettzumachen.«
»Es ist gar nicht möglich, ihn auszugleichen«, sagte Basil.
»Wir haben nicht nur Bewegungsmoment verloren, sondern auch Vertrauen. Peter hat die Saat des Zweifels ausgebracht.
Nach der Niederlage bei Osquivel und dem Verlust der Erkundungsschiffe bei Golgen brauchen wir dringend neue Hoffnung. Und was stellt Peter an? Er verbreitet die Furcht, dass sich die neuen Soldaten-Kompis gegen uns wenden könnten.«
»Eine völlig absurde Vorstellung«, erwiderte Pellidor voller Mitgefühl.
Basil sah ihn an und runzelte die Stirn. »Nein, sie ist nicht absurd und das sollten Sie eigentlich wissen. Wenn Peter keine berechtigten Zweifel zum Ausdruck gebracht hätte, wäre die Wirkung seiner Worte wohl kaum so groß gewesen.« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch mit den integrierten Displays, die ihm alles andere als erfreuliche Daten zeigten.
»Wir wissen tatsächlich nicht, wie die Klikiss-Subsysteme bis ins letzte Detail funktionieren. Und wir wissen auch nicht, was damals mit den Klikiss geschah. Peter ist nicht der Einzige, der sich in dieser Hinsicht Gedanken macht.«
»Aber wenn Sie ähnliche Zweifel hegen, Vorsitzender…«, sagte Pellidor verwirrt. »Warum haben Sie dann darauf bestanden, die Produktion wieder aufzunehmen?«
Basil ging zum Spülbecken, leerte seine Tasse darin und füllte sie dann wieder mit dunkelbrauner Flüssigkeit. Schon den Duft empfand er als erfrischend. »Weil die Benutzung der Klikiss-Technik das kleinere Übel ist. Wir müssen dem Volk Zuversicht geben – das ist wichtiger als die Sorge um eventuellen Verrat.«
Pellidor nahm die Worte des Vorsitzenden hin; das gehörte zu seinen Aufgaben. »Und was sollen wir in Hinsicht auf König Peter unternehmen, Sir?«
»Ich schätze, wir könnten ihn für eine Weile mit Drogen gefügig machen. Bestimmt gibt es in der Hanse pharmazeutische Experten, die fähig wären, ihm jeden Widerstandswillen zu nehmen. Aber ich brauche einen Peter, der reagiert und kooperiert, der überzeugend ist. Ein König ohne Charisma wäre nicht mehr annähernd so beliebt.« Basil seufzte und sah erneut auf die Displays. »Ich habe viel in den Jungen investiert, aber manchmal muss man
Schadensbegrenzung betreiben.«
Nach der Rückkehr vom Mond war er zu verärgert gewesen, um mit Peter zu sprechen. Er hatte die königlichen Wächter darauf hingewiesen, dass der König seine Gemächer nicht verlassen durfte. Alle öffentlichen Auftritte waren abgesagt.
»Wenn er sich wie ein Kind verhält, bestrafe ich ihn wie ein Kind, mit Stubenarrest.«
Die Hochzeit bot eine gute Erklärung: Peter und seine schöne Frau Estarra verbrachten einige Tage allein im königlichen Flügel des Flüsterpalastes. Aufgrund verschiedener Notfälle hatten sie ihre »Flitterwochen« immer wieder verschieben müssen, aber jetzt fanden sie endlich Gelegenheit, allein und ungestört zu sein. Die Bürger fanden sicher großen Gefallen daran, sich vorzustellen, auf welche Weise das junge Paar seine Zeit im Schlafzimmer verbrachte, und für eine Weile würde niemand Fragen stellen.
Noch immer zutiefst beunruhigt schüttelte Basil den Kopf.
»Die Hanse hat dem jungen Mann alles auf einem silbernen Tablett serviert. Ohne uns wäre er noch immer ein Gassenjunge, die ganze Zeit über hungrig, würde mit einer großen Familie in einer kleinen Wohnung wohnen. Warum besteht er darauf, die Hand zu beißen, die ihn füttert?«
Basil trank einen Schluck Kaffee und dachte an Peters zunehmenden Trotz, insbesondere nach der Verkündung des Geburtenstopps. Er war sogar so weit gegangen, den Vorsitzenden bei der Hochzeitsfeier in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Und jemand, der stille Macht ausübte, konnte solche Demütigungen nicht einfach hinnehmen. Ja, der König hatte genug Chancen bekommen.
Peters eigenmächtiges Handeln bei der Kompi-Fabrik ging weit über das hinaus, was Basil leicht reparieren konnte. Die Hanse hatte in offiziellen Verlautbarungen unterstrichen, dass die Soldaten-Kompis sicher waren, und darauf hingewiesen, dass die vom König angesprochenen Probleme gelöst waren, weshalb die Produktion fortgesetzt werden konnte. Trotzdem: Ein Rest von Zweifel blieb.
Pellidor schwieg, als Basil auf die Datenschirme sah und an tausend Dinge dachte. Im Spiralarm herrschte Krieg und der Feind schien unbesiegbar zu sein. Unter solchen Umständen konnte er sich keinen aufsässigen König leisten. »Geben Sie den wichtigsten planetaren Repräsentanten und Funktionären der Hanse Bescheid. Es wird Zeit für eine weitere Besprechung, eine geheime. Achten Sie darauf, dass Peter nichts von ihr erfährt.«
Pellidor nickte. »Soll ich die Dateien von anderen Kandidaten vorbereiten? Es stehen viele junge Männer zur Auswahl.
Einige von ihnen scheinen gut geeignet zu sein.«
»König Peter ist zweifellos sehr populär, was wir mehrmals ausnutzen konnten. Wenn das Volk seinen König jetzt verlöre, wäre das ein harter Schlag für die Moral im Krieg.« Basil kniff die Augen zusammen. »Trotzdem: Es kann nicht schaden, einen Trumpf in petto zu haben.«
Drei Tage später lasen die Bürger der Hanse eine überraschende Bekanntgabe des Flüsterpalastes. König Peter war noch überraschter als seine Untertanen – und nicht annähernd so erfreut.
Im »Geiste einer neuen Offenheit« war die Hanse stolz, der Öffentlichkeit König Peters geliebten und kompetenten jüngeren Bruder vorzustellen, Prinz Daniel, den zweiten Sohn des Alten Königs Frederick, wie Peter in der ruhigen Anonymität des Palastes aufgewachsen. Da die Bürger Peters Heirat mit Estarra gesehen hatten, war es nur recht und billig, dass sie auch Prinz Daniel kennen lernten. Immerhin herrschte Krieg und man konnte nie wissen.
Basil beobachtete die Reaktion der Öffentlichkeit. Der Daniel-Rekrut stand erst am Beginn seiner Ausbildung, war aber viel versprechend. Er sah gut aus und bestimmt konnte das Volk dazu gebracht werden, ihn zu mögen.
Peter musste seinen wahren Platz in der Regierung begreifen.
Der König und die Königin würden zu ihren öffentlichen Pflichten zurückkehren, aber unter strenger Aufsicht. Peter war sicher klug genug, um einzusehen, dass er es zu weit getrieben hatte. Zweifellos verstand er die Warnung: Wenn du nicht spurst, wirst du ersetzt. Basil war sicher, dass Peter seinen Fehler erkannte und sich in Zukunft so verhielt, wie man es von ihm erwartete.
Wenn nicht… In dem Fall würde die Hanse auf Daniel zurückgreifen.
113
ZHETT KELLUM
Vom Kometenhalo weit über Osquivel aus gesehen war der Gasriese nur ein kleiner Lichtfleck, hell und friedlich. Seine Ringe, ein natürliches Wunder, reflektierten goldenen Sonnenschein und projizierten einen dunklen Gürtel auf den Äquator. Glühende Lichter wiesen auf Industrieanlagen, Schmelzer und die Trockendocks der Werften hin.
Zhett Kellum bezweifelte, dass hier jemals wieder normaler Betrieb herrschen würde, aber wie üblich schickten sich die Roamer an, Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden, statt in Trauer zu versinken. Beim Leitstern, Zhett wusste, dass ihr Volk genug Grund hatte zu trauern.
Die Wasserstoff-Sammler bei den Kometen nahmen als Erste ihre Arbeit wieder auf. Die Roamer hatten ihre Schlupfwinkel kaum verlassen, als Del Kellum eine ehrgeizige Crew zum Kuiper-Gürtel schickte. Zwar war enorm viel Arbeit nötig, um die Werften wieder in einen funktionstüchtigen Zustand zu versetzen, aber bei den Kometen wurde dringend benötigter Treibstoff für den Sternenantrieb produziert.
Mit der ersten kleinen Ekti-Ladung kehrte Zhett aus dem Kometenhalo nach Osquivel zurück. Es war eine symbolische Fracht, die den erschöpften Roamer-Arbeitern Mut machen sollte. Eine Eskorte kam ihr entgegen, um den Treibstoff zu übernehmen – im vom Krieg heimgesuchten Spiralarm zählte jeder Tropfen.
Während sie ihr Schiff flog, hörte sie sich die Gespräche auf den allgemeinen Kom-Frequenzen an. Mitteilungen, Anweisungen und Nachrichten wurden ausgetauscht, wiesen darauf hin, dass in Osquivels Ringen wieder rege Aktivität herrschte. Träger und Luftschleusen wurden aus ihren Verstecken zwischen den Felsbrocken hervorgeholt und man begann damit, die Raumdocks zu remontieren. Konstrukteure machten sich daran, in Sicherheit gebrachte Komponenten von Raumschiffen zusammenzubauen; sie arbeiteten rund um die Uhr, um verlorenen Boden zurückzugewinnen.
Einige Roamer hatten mit Zhetts Vater gesprochen und vorgeschlagen, die Werften in die Ringe eines anderen Gasriesen oder in einen Asteroidengürtel zu verlegen, in einem anderen Sonnensystem ganz von vorn zu beginnen.
Zhett hatte ihren Vater nie zuvor so zornig gesehen. »Ihr wollt einfach aufgeben?«, donnerte er. »Nachdem wir wochenlang wie die Irren geschuftet haben, um alles zu tarnen, unsere Arbeit und Investitionen zu schützen? Wir haben beobachtet, wie die Tiwis eine verheerende Niederlage hinnehmen mussten, wir haben die Wracks geborgen… Und jetzt, da die ersten Anlagen wieder in Betrieb sind, wollt ihr weglaufen?«
Zhett war besorgt gewesen in Hinsicht auf eine mögliche Rückkehr des irdischen Militärs. Sie hielt das nur für eine Frage der Zeit. Aber der Verlust der Werften in den Ringen von Osquivel hätte den Kellum-Clan ruiniert. »Behalt die Augen offen«, hatte ihr Vater gebrummt und sie dann wieder an die Arbeit geschickt.
Del Kellum saß nun in seinem Kontrollzentrum, im Inneren eines kleinen ausgehöhlten Mondes, und überwachte alle Aktivitäten. »Ich möchte, dass wenigstens ein neues Schiff am Ende der Woche fertig gestellt ist. Wenn ihr’s eher schafft, ist für alle ein Bonus drin.«
»Kein Problem, Del«, ertönte eine Stimme mit gespielter Verdrießlichkeit aus dem Kom-Lautsprecher. »Ich verzichte einfach auf meine Kaffeepausen.«
»Shizz, wir sind hier alle der Erschöpfung nahe«, sagte ein anderer Arbeiter. »Genauso gut könnten wir lernen, im Schlaf zu arbeiten.«
»Wenn’s sein muss…«, erwiderte Del Kellum. »Ich möchte die nächste Lieferung Kometen-Ekti von einem unserer Schiffe nach Rendezvous bringen lassen.«
Zhett schaltete ihren Kommunikator auf Sendung und überraschte alle. »Beeilt euch – ich habe das Ekti hier.« Als sie sich dem Kontrollkomplex näherte und andockte, hörte sie Klagen, Befehle und Berichte. Alles wie gewohnt.
Kurze Zeit später betrat sie den Kontrollraum, wo ihr Vater Systemanalyse-Karten der Anlagen, Schmelzer und Ressourcen-Vorräte prüfte. Punktierte Linien und Kurven zeigten den Fluss des verarbeiteten Materials.
Bildschirmfenster präsentierten Statusberichte und Zeitpläne für zukünftige Projekte.
»Du bescherst allen deinen Arbeitern Magengeschwüre, Vater«, sagte Zhett und gab dem Alten einen Kuss auf die bärtige Wange. »Wie kommt die Arbeit an den geborgenen Kompis voran?«
Kellum drehte sich um und sah zum offenen Verladebereich; Geräusche und helles Licht kamen von dort. »Wir sind fast damit fertig, sie neu zu programmieren. Bald können sie uns bei der Arbeit helfen.« Er lächelte schief. »Sie werden nicht über eine zu lange Arbeitszeit klagen.«
Zhetts Blick glitt über die kleinen Roboter, die kompetenten computerisierten Helfer – sie hatten das Chaos der Schlacht überstanden, dem so viele TVF-Soldaten zum Opfer gefallen waren. »Es scheinen fünf verschiedene Modelle zu sein.«
Einige waren verbeult und zerkratzt, andere repariert und poliert. »Die militärischen Kompis sehe ich jetzt zum ersten Mal.«
»Soldaten-Kompis, für schwere Arbeit gut geeignet, wenn du mich fragst. Die mechanische Anpassung sollte recht leicht sein. Vielleicht müssen wir einige Teile ersetzen und den einen oder anderen Kompi zerlegen, damit wir voll funktionsfähige Roboter bekommen. Bei der Herstellung dieser Dinge scheint die Große Gans besser zu sein als wir.«
»Wir können lernen, Vater.« Zhett hatte mit Kompis in den Werften gearbeitet, aber nie einen besessen.
»Ihre alten Programme müssen natürlich gelöscht werden«, sagte Kellum. »Das gilt im besonderen Maße für die Soldaten-Kompis. Wer weiß, mit welchen Anweisungen die Tiwis diese Maschinen ausgestattet haben. Selbst die Freundlich- und Zuhörer-Modelle könnten spezielle Notprogramme enthalten.
Wir müssen auf der Hut sein.«
»Das sind wir immer, Vater. Ein bisschen Herumbasteln, ein bisschen Liebe – damit verwandeln wir die Kompis in loyale Verbündete.«
Del Kellum schnitt eine Grimasse. »Bei unseren anderen Gefangenen dürfte das weitaus schwerer sein. Wie programmieren wir die zweiunddreißig Tiwi-Soldaten in der medizinischen Abteilung um?«
Zhett lächelte. »Vielleicht können wir bei ihnen die gleiche Taktik verwenden.« Sie ging beschwingt fort.
In seinem kleinen Zimmer hatte sich Patrick Fitzpatrick III.
bereits so weit erholt, dass er das Bett verlassen konnte. Mit gedankenverlorener Neugier sah er zum Aquarium an der Innenwand, in dem Meerengel hin und her schwammen, endlos ihre begrenzte Welt erforschten. Als er Schritte hörte, drehte er sich wachsam um, doch dann erkannte er Zhett und entspannte sich.
»Sie sind auf den Beinen, wie ich sehe.« Sie lächelte, aber Fitzpatrick versuchte nicht, freundlich zu sein.
»In meiner kleinen Zelle«, sagte er.
»Sie bietet mehr Platz als die Rettungskapsel. Ich hätte Sie im All lassen können, obwohl die Lebenserhaltungssysteme versagten.«
»Ja, das hätten Sie. Immerhin sind Sie Kakerlaken.«
Zhett runzelte verärgert die Stirn. »Ich habe immer wieder gehört, wie unfreundlich die Tiwis sein können, und Sie sind ein hervorragendes Beispiel. Jemand mit Manieren würde mir für die Rettung danken.«
»Kommt darauf an, was Sie mit mir vorhaben.«
»Eines nach dem anderen. Sprechen Sie mir nach: ›Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben, Zhett.‹«
»So lautet Ihr Name? Zhett?«
Sie stützte die Hände in die Hüften und versuchte, nicht amüsiert zu wirken. »Für einen militärischen Offizier scheinen Sie mit Befehlen nicht sonderlich gut zurechtzukommen. Ich wiederhole: ›Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben, Zhett.‹«
»Danke«, sagte Fitzpatrick.
»Und erzählen Sie mir jetzt, wie sehr Sie unsere Gastfreundschaft zu schätzen wissen.«
»Treiben Sie es nicht zu weit.«
»Geben Sie Ihre negative Einstellung uns gegenüber auf. Sie haben einiges hinter sich und das halte ich Ihnen zugute. Ich weiß, dass Sie verwirrt und desorientiert sind.«
»Das bin ich nicht.«
»Na schön. Dann sind Sie ein Trottel und können nicht anders.«
Fitzpatrick sah die junge Frau verdutzt an. »Hören Sie, die Droger haben meinen Manta zerstört. Ich weiß nicht, wie viele Schiffe und Soldaten wir verloren haben, aber eines steht fest: Die verdammten Droger haben uns eine ordentliche Abreibung verpasst. Ich muss so schnell wie möglich zur Erde zurück und berichten, was hier geschehen ist.«
»Glauben Sie mir, auf der Erde weiß man bereits Bescheid«, sagte Zhett. »Ein wesentlicher Teil der Kampfflotte entkam.
Die Überlebenden machten sich auf und davon, ohne auch nur zu versuchen,
die Rettungskapseln zu bergen. Wir Roamer mussten Sie einsammeln und gesund pflegen.«
Fitzpatrick kniff die Augen zusammen. »Und warum waren Sie in der Nähe von Osquivel? In unseren Sternkarten ist dieses Sonnensystem als unbewohnt verzeichnet. Die Droger, die Boone’s Crossing angriffen, kamen von hier.«
»Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen keine Auskunft geben«, sagte Zhett. »Die Große Gans bereitet uns schon genug Probleme. Wenn sie Gelegenheit dazu bekäme, würde sie unsere Produkte stehlen, unsere Wirtschaft mit unsinnigen Tarifen belasten oder die Tiwis schicken, um uns von Militärgouverneuren regieren zu lassen. Nein, danke.« Sie ging zur Tür. »Sie sollten sich hinlegen und noch mehr ausruhen.«
»Warten Sie!« Fitzpatrick wollte mehr erfahren. »Wie viele andere Soldaten wurden gerettet?«
»Eine Hand voll«, erwiderte Zhett. »Und glauben Sie mir: Wir kümmern uns so gut wie möglich um sie. Die Überlebenden könnten sich keine bessere Pflege wünschen.«
Fitzpatrick runzelte resigniert die Stirn. »Nun, ich muss zugeben, dass die TVF-Ärzte nicht unbedingt für den guten Umgang mit ihren Patienten bekannt sind.«
»Sie werden viele überraschende und angenehme Dinge bei uns finden«, meine Zhett. »Nehmen Sie sich nur ein wenig Zeit.«
»Ich habe keine Zeit. Ich muss zur Erde zurück.«
»Commander Patrick Fitzpatrick III. Ihr Schiff wurde zerstört, Ihre Crew starb und man hat Sie Ihrem Schicksal überlassen. Die TVF floh mit eingezogenem Schwanz von Osquivel. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie zurückkehren.
Für die anderen sind Sie tot.«
Zhett verließ das Zimmer und verbarg ihr Lächeln über seine Verblüffung. Sollte der junge Offizier eine Zeit lang darüber nachdenken. Später war sie vielleicht imstande, ihm das eine oder andere beizubringen.
114
KOTTO OKIAH
Die keramikverkleideten Korridore auf Isperos konnten den enormen Belastungen schließlich nicht mehr standhalten und gaben nach. Die Lebenserhaltungssysteme der Station schmolzen in der Lava.
Kotto Okiah konnte nicht, länger auf Rettung warten. Der Basis drohte innerhalb weniger Stunden völlige Vernichtung.
Unglücklicherweise waren die Überlebensmöglichkeiten draußen auf der Oberfläche kaum besser.
Die Roamer hatten ihre Versorgungsmaterialien und Ausrüstung bereits in die noch intakten Räume gebracht, aber jetzt wurde die Hitze unerträglich. Immer mehr Lava drängte von unten nach oben. Den Menschen blieb nichts anderes übrig, als in Schutzanzügen nach draußen zu fliehen und zu versuchen, rechtzeitig die dunkle Seite von Isperos zu erreichen.
In den oberen Korridoren herrschte enorme Hitze. Die Metallwände waren so heiß, dass man sich die Finger an ihnen verbrennen konnte, und mit jeder verstreichenden Sekunde stieg die Temperatur. Die Arbeiter streiften reflektierende Anzüge über, legten Lebenserhaltungsmodule an und schlossen Dichtungsmanschetten, um die Glut von sich fern zu halten.
»Beeilung, oder wir werden hier geröstet«, sagte Kotto.
Etwas sanfter fügte er hinzu: »Keine Sorge. Die Rettungsschiffe sind unterwegs. Verlasst euch drauf.«
»Haben wir irgendwelche Mitteilungen bekommen? Wie viele Schiffe sind unterwegs? Und wann treffen sie ein?«, fragte ein Techniker mit schriller Stimme. Eine ältere Frau bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, als sie Anstalten machte, einen Helm aufzusetzen.
»Shizz, woher sollen wir das wissen?«, erwiderte ein Reparaturtechniker. »Unsere Schiffe sind schneller als Kom-Signale.«
»Die Schutzanzüge sind mit Kommunikatoren ausgestattet«, sagte Kotto. »Die Kapazität der Lebenserhaltungsmodule reicht für etwa einen Tag und die Regeneratoren pumpen die ganze Zeit über Kühlflüssigkeit durch die Anzüge.«
»Ja… unter optimalen Bedingungen«, sagte einer der Ingenieure.
»Soll das heißen, diese sind nicht optimal?«, entgegnete Kotto scherzhaft. »Es stehen genug Oberflächenfahrzeuge für uns alle zur Verfügung. Wenn wir von Schatten zu Schatten springen, können wir die Nachtseite erreichen und uns dort eine Woche lang verstecken.«
»So lange reicht unsere Luft nicht, Kotto.«
»Ein Problem nach dem anderen.«
Jeweils zu fünft traten die Roamer durch die Luftschleuse auf die Oberfläche von Isperos. Die ganze Zeit über war der Planet in eine solare Strahlungsflut getaucht. Die Sonne loderte am Himmel, umgeben von Protuberanzen, wirkte wie zornig auf Kotto.
Drei überladene Wagen mit Ausrüstung, Versorgungsgütern und Flüchtlingen waren bereits losgefahren. Die schweren, keramikverstärkten Gleisketten hinterließen tiefe Spuren im weichen Felsgestein.
»Also los. Sieben von uns passen in den nächsten Wagen.
Bewegung!«
Sie stiegen ein und Kotto nahm am Steuer Platz.
Normalerweise ließen ihn die anderen nicht gern fahren, weil Kotto mehr auf geologische Merkmale und
Mineralienvorkommen achtete als auf einen sicheren Weg.
Doch diesmal unternahmen sie nicht einfach nur einen Ausflug. Es ging Kotto darum, sie alle zu retten.
Der Horizont war nah und bildete eine deutlich gewölbte Linie. Sie passierten einen großen Felshaufen, von dem rasiermesserscharfe Schatten ausgingen, und sofort sank die Temperatur. Das Gestein strahlte Wärme ab, aber trotzdem herrschten an diesem Ort etwas bessere Bedingungen.
»Hier warten wir zehn Minuten, damit der Wagen einen Teil der aufgenommenen Hitze loswird. Wenn er schmilzt, müssen wir zu Fuß weiter, und das wäre alles andere als angenehm.«
»In Ordnung, Kotto.«
Als sie wieder losfuhren, schien das Gleißen um sie herum noch intensiver zu sein als vorher. Die Sonne hing wie ein unheilvoll starrendes Auge am Himmel, loderte und flackerte so, als könnte sie jeden Moment explodieren.
Die ersten Rettungsschiffe erreichten das Sonnensystem, als Kotto und seine Begleiter noch zehn Kilometer von der Nachtseite entfernt waren. Andere Wagen hatten es bereits in die kühle Dunkelheit geschafft und einen Landebereich für die Shuttles vorbereitet.
Unterwegs hatte Kotto den Kontakt zu einem Fahrzeug verloren. Die Fahrerin hatte einen Notruf gesendet, ohne ihre Position angeben zu können. »Die Systeme versagen.
Navigation völlig ausgefallen. Es besteht die Gefahr, dass wir die Integrität der Außenhülle verlieren… Risse bildeten sich in der Hülle!« Es folgten ein Schrei und dann gnädige Statik.
Kotto biss die Zähne zusammen und fuhr weiter. Die Techniker und Ingenieure hatten die Risiken gekannt, als sie hierher gekommen waren. Die Roamer würden sich an die Toten erinnern und ihrer gedenken – aber erst nachdem möglichst viele von ihnen Isperos verlassen hatten. Kotto musste dafür sorgen, dass keine weiteren Wagen verloren gingen.
Die alte, erfahrene Händlerin Anna Pasternak führte die Rettungsschiffe an, die sich der dunklen Seite von Isperos näherten. Sie musste den Anflug jedoch abbrechen, als der von der Sonne ausgehende solare Sturm noch heftiger wurde – die Strahlung wirkte sich störend auf die Navigationssysteme aus.
Die Rettungsschiffe blieben im Schatten des Planeten und ihre Crews versuchten, einen Rettungsplan zu entwickeln.
Kottos Wagen erreichte die dunkle Seite und gesellte sich dort fünf Fahrzeugen hinzu, die in einem flachen Krater standen, dessen Boden zahllose Male geschmolzen und dann wieder hart geworden war. Bei einem Wagen im Landebereich war ein Sauerstofftank undicht geworden, und deshalb ging den Roamern an Bord allmählich die Atemluft aus. Zwei andere Fahrzeuge konnten mit ihrer Ausrüstung helfen, aber das würde die Katastrophe nur um eine Stunde hinauszögern.
»Sie müssen jetzt landen«, teilte Kotto den Schiffen mit.
»Wenn wir nicht innerhalb der nächsten Minuten abgeholt werden, haben Sie mit dem Flug hierher Zeit und Treibstoff vergeudet.«
Vor sechs Jahren hatte ihn Jess Tamblyn hierher geflogen und der junge Roamer war den Protuberanzen der instabilen Sonne geschickt ausgewichen. Jene Erkundungsmission hatte Kotto davon überzeugt, dass eine dauerhafte Basis auf Isperos eingerichtet werden konnte. Seit damals waren die solaren Stürme schlimmer geworden, vielleicht ein Anzeichen dafür, dass im Innern der Sonne irgendetwas geschah.
»Na schön, wir können eine große Party oder ein großes Begräbnis haben«, wandte sich Anna Pasternak an die Kommandanten der anderen Schiffe. »Mir sind Partys lieber.
Sie warten Ihre Schiffe doch regelmäßig, nicht wahr? Mal sehen, wie viel sie aushalten.«
Die Überlebenden von Isperos verließen ihre Fahrzeuge und standen im Dunkeln. Hitze und Furcht ließen sie in ihren Schutzanzügen schwitzen.
»Wir lassen die Ausrüstung und das Versorgungsmaterial zurück«, entschied Kotto. »Die aufgezeichneten Daten sollten wir mitnehmen, falls Sie Platz für die Datenwafer haben.«
Die Rettungsschiffe kamen wie Engel vom Himmel und sanken dem Krater entgegen. Die Kom-Kanäle übertrugen freudige Stimmen. Noch bevor das erste Schiff auf dem unebenen Boden landete, teilte Kotto seine Leute in Gruppen ein und organisierte die Evakuierung, damit die Roamer, deren Lebenserhaltungsmodule kaum mehr funktionierten, als Erste an Bord gehen konnten. »Nichts vergeudet Zeit mehr als Panik. Bereiten wir uns nicht selbst Probleme.«
Probleme, so fand Kotto, gab es bereits genug. Mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde ihm klar, dass er seinen Traum von einer produktiven Kolonie auf Isperos aufgeben musste. Es war ihm nicht gelungen, alles zusammenzuhalten.
Als sich alle an Bord der Rettungsschiffe befanden, zählte Kotto die Überlebenden und stellte mit großem Kummer fest, dass einundzwanzig Personen ums Leben gekommen waren.
Ein zweiter Wagen war auf der Tagseite liegen geblieben, als seine Gleisketten in einer Lache aus geschmolzenem Gestein feststeckten. Die enorme Hitze hatte die Treibstoffzellen zur Explosion gebracht, und dabei waren alle Insassen gestorben.
Das letzte Opfer war eine Frau, die nur wenige Minuten vor dem Eintreffen der Rettungsschiffe ihr Leben durch einen Ausfall der Schutzanzugsysteme verlor – sie erfror in weniger als sechzig Sekunden.
Kotto betrat Anna Pasternaks Cockpit, das Gesicht rot und voller Blasen, der Körper erschöpft und wie ausgedörrt. Die Pilotin sah über die Schulter und kam seinen Dankesworten zuvor. »Danken Sie mir noch nicht, Kotto. Wir müssen noch dem stellaren Orkan entkommen. Alle unsere Schiffe sind voll besetzt und eigentlich viel zu schwer. Uns blieb nicht genug Zeit, um eine richtige Evakuierungsgruppe
zusammenzustellen.«
»Ich bin froh, dass Sie nicht gewartet haben«, sagte Kotto.
»Obwohl ich dachte, ich hätte mehr Zeit, um die Kolonie zusammenzuhalten.«
»Das Universum spielt uns gern Streiche. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, dass mich meine Tochter Shareen überlebt. Ich dachte, ich bekäme mindestens ein Dutzend Enkel von ihr. Aber diesen Traum haben die Droger zerstört, als sie Shareens Himmelsmine über Welyr angriffen.«
»Gibt es bei den Roamern keine erfreulichen Geschichten?«, fragte Kotto und seufzte.
Pasternak flog nach Instinkt, als sie das Schiff aus dem Schatten des Planeten steuerte – woraufhin die Sonne ihnen den Krieg erklärte. Sie streckte Plasmaarme ins All, schien damit bis nach Isperos greifen zu wollen. In der Korona flackerte und gleißte es noch heller als zuvor.
»Eine derartige solare Aktivität habe ich noch nie erlebt!«, rief die Pilotin. »Gauben Sie, die Sonne wird zur Nova oder gar zur Supernova?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Kotto. »Sie gehört zu einer anderen stellaren Kategorie.«
Viele Statusanzeigen vor Anna Pasternak glühten rot. Sie rang mit den Systemen, während das überladene Rettungsschiff immer wieder erbebte. Einige der anderen Roamer-Schiffe befanden sich in einer noch kritischeren Situation – sie erinnerten Kotto an erschöpfte Schwimmer, die zu ertrinken drohten. Der Sonnenwind schleuderte ihnen dichte Partikelströme entgegen und das Feuer von Protuberanzen tastete nach ihnen.
»Sie von Isperos gerettet zu haben und dann auf dem Rückweg zu verbrennen… Das wäre verdammt schade.«
»Ja, ein echter Schlag ins Gesicht.«
Statik knisterte aus den Kom-Lautsprechern. Die anderen Roamer-Schiffe berichteten von Defekten, von Ausfällen bei den Triebwerksund Lebenserhaltungssystemen. Die Rettungsschiffe versuchten, dem Zorn der Sonne zu entkommen. Sie bildeten eine Gruppe, doch jedes von ihnen war auf sich allein gestellt.
Anna Pasternak biss sich auf die Lippe. »Sie müssen allein zurechtkommen. Ich habe kein Heftpflaster für Sie übrig.«
Erschrocken hob sie den Kopf. »Shizz!« Eine Protuberanz jagte ihnen entgegen, schneller als das Schiff. »Hier schwebt zu viel Zeug herum. Wenn ich jetzt den Sternenantrieb aktiviere, riskieren wir, von einem Kieselstein pfannkuchenflach gedrückt zu werden.«
»Wohl eher von einem der Metallcontainer, die wir mit dem Katapult ins All geschickt haben«, sagte Kotto.
Aufgeregte Stimmen kamen aus dem Kom-Lautsprecher.
»Seht nur die Sonne! Seht nur die Sonne!«
Pasternak versuchte, das Schiff unter Kontrolle zu halten, als sie sich langsam von der Gefahrenzone entfernten. Kotto beobachtete die feurige Chromosphäre und riss verblüfft die Augen auf, als gigantische eiförmige Objekte wie verformte Kanonenkugeln aus dem Innern der Sonne kamen. Die gleißenden Gebilde rasten ins All, den Roamer-Schiffen entgegen.
»Was sind das für Objekte?«, fragte Kotto. »Sie müssen künstlichen Ursprungs sein.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, brummte Pasternak.
»Glühende Hydroger.«
»Nein, das sind keine Hydroger«, sagte Kotto. »Die Konfiguration der Schiffe ist anders. Diese hier sind elliptisch.
Die Spektralanalyse zeigt ganz andere Werte.«
Die Rettungsschiffe der Roamer flogen bereits mit Höchstgeschwindigkeit, doch die elf Feuerbälle kamen schnell näher. Einer von ihnen war so groß wie ein kleiner Mond und hätte ein halbes Dutzend Kampfschiffe vom Typ Moloch aufnehmen können. Sie boten einen so unglaublichen Anblick, dass einige Sekunden verstrichen, bis sich Kottos Ehrfurcht in Sorge verwandelte. Die Situation war auch so schon schlimm genug, doch er befürchtete, dass die eiförmigen Gebilde aus der Sonne alles noch schlimmer machten.
»Wenn ich ordentliche Waffen hätte, würde ich es mit dem einen oder anderen Schuss versuchen«, sagte Pasternak.
»Vielleicht sollte ich mit Eiswürfeln nach den Dingern werfen.«
Hinter den Roamer-Schiffen näherten sich die flammenden Objekte einander, bis sich ihre verschwommenen Ränder überlappten. Sie formten eine undurchdringliche Barriere, grell und beeindruckend.
Kotto sah auf die Indikatoren vor Pasternak und stellte erstaunt fest, dass Temperatur und Strahlungsintensität schnell sanken. »Die… die Fremden schützen uns vor der Hitze und dem Partikelstrom der Sonne! Sehen Sie nur. Die angezeigten Werte befinden sich wieder im normalen Bereich.«
Die Roamer-Schiffe setzten ihre Flucht fort und die Feuerbälle blieben hinter ihnen zurück, formten noch immer einen feurigen Schild.
»Sie… schützen uns vor den Protuberanzen. Woher wussten sie von uns? Und… warum sollte ihnen an unserem Wohlergehen gelegen sein?«
Pasternak öffnete wieder die Kom-Kanäle. »Haltet euch nicht mit Fragen auf. Bleibt in Bewegung.«
»Ich beklage mich nicht«, sagte jemand.
»Mein Triebwerk ist nicht länger überlastet«, meldete ein anderer Kommandant. »Zum Teufel auch, wer sind die Fremden?«
Kottos Herz klopfte und er starrte noch immer auf die Bildschirme. Die seltsamen… Schiffe? Geschöpfe?
Entitäten?… die aus den Plasmatiefen der Sonne gekommen waren, hatten sie gerettet.
Irgendwie hatten die Feuerbälle gewusst, dass von den Protuberanzen große Gefahr für die Menschen ausging. Die feurigen Ovoide schützten die Roamer-Schiffe auch weiterhin vor dem stellaren Strahlungssturm, bis sie eine sichere Entfernung erreicht hatten.
Dann trennten sich die Objekte voneinander und glitten wie viel zu groß geratene Glühwürmchen hin und her. Sie flogen durch die enorm starken Magnetfelder von Sonnenflecken und tanzten in der Korona, bis sie wie glühende Asche in die superheiße Sonne zurückfielen.
»Nun, das ist eine angenehme Überraschung: zur Abwechselung einmal fremde Wesen, die uns nicht an den Kragen wollen«, sagte Anna Pasternak. Sie wischte sich Schweiß von der Stirn und nahm Kurs auf Rendezvous.
115
KÖNIGIN ESTARRA
Als Estarra ihre Palastgemächer aufsuchte, um endlich einmal in Ruhe nachdenken zu können, überraschte sie ihren Mann und den Vorsitzenden Wenzeslas bei einer heftigen Kontroverse. Sie blieb in der Tür stehen und hörte schockiert zu.
»Sie hatten kein Recht, mir und dem Volk so etwas zu präsentieren«, sagte Peter. »Die Bürger wussten nichts von einem Daniel. Ich werde in aller Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass er nicht mein Bruder ist.«
»Die Bürger wussten auch nichts von Ihnen, Peter«, erwiderte Basil und lächelte süffisant. »Alles ist unter Kontrolle. Die Ergebnisse der jüngsten Meinungsumfragen zeigen, dass das Volk den neuen Prinzen ohne irgendwelche Zweifel akzeptiert hat. Es beruhigt die Bürger zu wissen, dass es einen weiteren Kandidaten für das Amt des Königs gibt –falls es zum Schlimmsten kommen sollte.« Er senkte die Stimme. »Wenn Sie jetzt nicht mehr Kooperationsbereitschaft zeigen… Die Hanse hat andere Möglichkeiten.«
Peter schnitt eine finstere Miene. »Drohen Sie mir nicht, Basil.«
»Finden Sie die Wahrheit bedrohlich?«
Der König lachte und es klang bitter. »Wann hatten Ihre Entscheidungen jemals etwas mit Wahrheit zu tun? Sie können nicht verhindern, dass ich vor das Volk trete, denn wenn Sie mich verbergen, erfülle ich nicht mehr meinen Zweck. Und was diesen Daniel betrifft… Haben Sie auch seine Familie umgebracht?«
Estarra stand noch immer in der Tür und versuchte zu verstehen, was sie hörte. Es schien überhaupt keinen Sinn zu ergeben.
»Sie sind ein Amateur, wenn es um Drohungen geht, Peter«, sagte Basil ungerührt. »Es wäre eine Herausforderung festzustellen, wie lange wir die Öffentlichkeit mit Hologrammen und alten Reden täuschen können. Es hört ohnehin niemand richtig zu.«
Peter schüttelte so den Kopf, als wüsste er um einige Dinge, die dem Vorsitzenden unbekannt waren. »Sie haben den Mythos selbst geschaffen, Basil, aber trotzdem verstehen Sie nicht, was ein König dem Volk bedeutet.« Er bemerkte Estarra und ein Lächeln erhellte seine Miene. »Oder vielleicht sollte ich sagen: König und Königin. Unterschätzen Sie nicht, wie sehr die Bürger ihre rechtmäßigen Regenten lieben.«
Der überraschte Vorsitzende bedachte Estarra mit einem finsteren Blick. »Wir führen ein privates Gespräch, Königin Estarra. Würden Sie uns bitte Gelegenheit geben, es zu beenden?«
Bevor Estarra zurückweichen konnte, hob Peter die Hand.
»Das ist nicht nötig, Basil. Sie können in Anwesenheit meiner Königin sprechen.«
Estarra war verwirrt und besorgt. Offenbar verbarg Peter Dinge vor ihr, wichtige Dinge, aber sie trat an die Seite ihres Mannes und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Vorsitzende, Sarein und ihr Bruder Reynald hatten diese Ehe für sie arrangiert. Estarra glaubte, ihre Pflicht erfüllt zu haben, was bedeutete, dass sie jetzt eigene Bündnisse schließen konnte. Zwar erwartete man nur von ihr, in der Öffentlichkeit den König zu unterstützen, aber sie vertraute eher Peter, dessen Herz sie gesehen hatte und den sie zu verstehen begann, als dem Vorsitzenden.
»Ich bin bereit, auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Mein Ehemann und König braucht mich nur zu beraten.« Zusammen mit Peter stand sie dem Vorsitzenden gegenüber und begriff, was sie tat. Wenn ihre Vermutungen stimmten, brachte dies sie sogar in Gefahr.
Mit verdrießlichem Gesicht sammelte Basil seine Unterlagen ein, strich seinen Anzug glatt, sah sich in der königlichen Suite um und stellte fest, dass eine Topfpflanze in der Ecke verwelkte. »Meine hiesigen Angelegenheiten sind erledigt.«
Die Wächter öffneten die Tür für den Vorsitzenden und schlossen sie hinter ihm. Sie bezogen außerhalb des Apartments Aufstellung, angeblich zum Schutz von König und Königin. Aber wahrscheinlich sollten sie das Königspaar daran hindern, Orte aufzusuchen, an denen es nichts verloren hatte.
Estarra sah Peter an und musterte ihn stumm. Nach einigen Sekunden verschränkte sie die Arme und holte tief Luft. »Ich glaube, du bist mir einige Erklärungen schuldig.«
Peter wandte den Blick ab und wirkte beunruhigt. »Ich glaube, es ist sicherer für dich, wenn du… nicht mehr weißt.«
»Ich möchte nicht beschützt werden, Peter. Ich kann selbst auf mich Acht geben.« Als der König keine Antwort gab und überlegte, wie viel er preisgeben sollte, sammelte Estarra ihre Gedanken und versuchte es auf eine andere Weise.
»Als mein Bruder Beneto nach Corvus Landing aufbrach, versprach er mir, eines Tages zurückzukehren. Er erwartete eine ruhige Mission. Er wollte den Kolonisten helfen und sich um die Weltbäume kümmern. Ich habe ihn sehr geliebt.« Ihre Züge verhärteten sich. »Deshalb verstehe ich nicht, was du gegen die Präsenz deines Bruders hast. Warum habe ich Daniel nie kennen gelernt? Warum war er nicht bei unserer Hochzeit zugegen? Es macht mich betroffen, dass ich nicht einmal den Bruder meines Mannes kenne.«
»Daniel ist nicht mein Bruder«, sagte Peter und lenkte Estarras Fragen damit in eine ganz neue Richtung.
»Was soll das heißen? Ich habe damit begonnen, mich dir gegenüber zu öffnen, Peter, und jetzt muss ich erfahren…«
»Ich heiße auch nicht Peter«, unterbrach er Estarra. »Dies wird eine Weile dauern…«
Später lagen sie nackt nebeneinander auf weichen Laken. Das matte, pastellfarbene Glühen einiger ferner Lampen erhellte den Raum. Estarra schmiegte sich an Peter und fühlte noch immer den tiefen Schmerz von Benetos Tod.
Sie sprachen lange miteinander, während Peter sie nicht als König streichelte, sondern als Ehemann und Liebhaber. Es erleichterte ihn, sein Wissen endlich mit jemandem teilen zu können. Peter strich mit den Fingerkuppen über die linke Seite von Estarras Gesicht, ließ sie über die Brauen und Wangenknochen bis zum Kinn wandern. Er sehnte sich verzweifelte danach, im schwer durchschaubaren Gespinst von Politik und Loyalität im Innern der Hanse jemanden zu finden, dem er vertrauen konnte.
Estarra konnte kaum glauben, was er ihr mit heiserer Stimme erzählte, und gleichzeitig sah sie sich außerstande, seine Worte in Zweifel zu ziehen. Sie bemerkte die Tränen in seinen Augen
– in seinen künstlichen blauen Augen. Peter schilderte, wie er vor Jahren entführt und gegen seinen Willen im Palast festgehalten worden war, während Basil ihn darauf vorbereiten ließ, zum nächsten König zu werden. »Erst später fand ich heraus, dass die Hanse meine Familie umgebracht hat.«
Estarra riss die Augen auf. »Glaubst du, wir sind in Gefahr?«
Peter gab ihr einen Kuss auf die warme Schulter. »Ja. Basil hat versteckte Drohungen gegen dich geäußert; auf diese Weise wollte er mich zur Räson bringen. Hinzu kommen offene und direkte Drohungen mir gegenüber. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass er es ernst meinen könnte, aber jetzt, nach der Präsentation von Daniel, bin ich nicht mehr so sicher. Vielleicht habe ich bereits zu großen Schaden angerichtet. Basils Macht ist groß genug, um uns vergiften zu lassen oder irgendeinen ›Unfall‹ vorzubereiten.«
Estarra zog Peter näher zu sich heran, gab ihm ihre Kraft und fühlte die Wärme seines Körpers. Vielleicht sollte sie mit Sarein darüber reden… oder besser nicht. »Dann müssen wir beide die Augen offen halten.«
Sie kam sich plötzlich vor wie eine kleine Fliege in einem großen Netz.
116
OSIRA’H
Selbst während der Nacht auf Dobro sorgten Glänzer und Beleuchtungsstreifen für helles Licht in der Residenz des Designierten, gaben ihr damit die Sicherheit des Tages. Osira’h fürchtete sich nie.
Die Trockenzeit-Brände waren inzwischen gelöscht, aber es lag noch immer ein unangenehmer Geruch von Rauch und Asche in der Luft. Manchmal konnte man im Dunkeln ein Glühen sehen, dort, wo Feuer alles verbrannt hatte.
Das kleine Halbblut-Mädchen stand im oberen Stock von Udru’hs Residenz am Fenster. Dies war das einzige Zuhause, das Osira’h jemals gekannt hatte. Von hier aus sah sie die Lichter der Zuchtbaracken.
»Ah, hier bist du«, erklang Udru’hs volltönende Stimme.
»Ich hätte wissen sollen, dass du hier bist und aus dem Fenster siehst.«
Osira’h lächelte und es funkelte in ihren Augen. »Ich denke nach.« Und ich versuche die sonderbare Präsenz zu verstehen, die vagen sehnsuchtsvollen Gedanken, die aus dem Lager zu kommen scheinen.
Vor einer Stunde hatten sie eine letzte gemeinsame Mahlzeit eingenommen, nur sie beide, in einem privaten Esszimmer.
Der Designierte mochte keine prunkvollen Zeremonien und hübsche Dekorationen. Er speiste gern in Osira’hs Gesellschaft, insbesondere dann, wenn sie bei ihren täglichen Übungen besonders gute Arbeit geleistet hatte.
Er war nie streng zu ihr, nie zornig, aber auch nie nachlässig.
Seit Osira’h sprechen konnte, trieb er sie an und ermunterte sie immer wieder. Er wurde nicht müde, sie daran zu erinnern, dass das Schicksal des Ildiranischen Reiches vielleicht von ihren Fähigkeiten abhing, davon, ob es ihr gelang, Ildiraner und Hydroger zusammenzuführen. Osira’h war entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen.
Sie holte tief Luft und fühlte Stolz in der Brust. Alles in ihr drängte danach, den Designierten zufrieden zu stellen. »Es gefällt mir, nach draußen zu sehen, so weit mein Blick reicht.
Dann denke ich an die Dinge, die weit entfernt sind. Fliegen wir eines Tages nach Ildira, damit ich meinen Großvater besuchen kann, den Weisen Imperator? Ich würde mir gern den Prismapalast ansehen.«
Der Dobro-Designierte schenkte ihr ein kleines, aber bedeutungsvolles Lächeln. »Wenn sich Gelegenheit bietet, zeige ich dir die ganze Pracht des Reiches, Osira’h.« Er wurde wieder ernst. »Aber wenn wir jetzt versagen, bleibt vom Reich nichts übrig, das ich dir zeigen könnte.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Zusammen betrachteten sie ihre Spiegelbilder im Glas und die Sterne am dunklen Himmel.
»Dort draußen setzen die Hydroger den Krieg fort, Osira’h, und sie wissen nicht, wer ihre Feinde und wer ihre Verbündeten sind. Sie verstehen nicht, wer wir sind und wie wir denken. Die Hydroger begnügen sich nicht mehr damit, im Innern ihrer Gasriesen zu bleiben. Sie kommen aus ihnen hervor und greifen an, aber sie selbst verstehen ihre eigenen Ziele nicht.«
Udru’h schloss die Hand fester um Osira’hs Schulter und zog dann die Hand zurück. »Man hat mir gerade berichtet, dass die Hydroger den Waldplaneten Dularix im Innern des Ildiranischen Reichs verheert haben. Dort wohnten weder Menschen noch Ildiraner, aber die Hydroger griffen trotzdem an.«
»Warum?«, fragte Osira’h. »Warum lassen sie uns nicht in Ruhe?«
»Das musst du sie fragen, Osira’h, wenn du so weit bist. Du kannst die Kluft zwischen unseren Spezies überwinden und Verständnis schaffen, ein Bündnis schmieden, das alle Ildiraner rettet. Den Klikiss-Robotern gelang das vor langer Zeit, aber diesmal haben sie versagt. Deshalb wendet sich das Reich an dich, Osira’h. Dein Bewusstsein kann die Botschaft senden, zusammen mit überzeugenden Emotionen. Vielleicht können uns die Hydroger nur auf diese Weise verstehen.«
Osira’h presste die Lippen zusammen und wusste nicht recht, ob sie dem Designierten davon erzählen sollte… Aber sie hatte nie irgendetwas vor ihm verborgen. »Vor zwei Tagen habe ich eine mentale Stimme gehört, einen Ruf, der wie ein Schrei nach Hilfe klang. Ich wusste nicht, was es war, aber ich glaube, ich habe jene geistige Stimme schon einmal gehört.«
Der Designierte wirkte überrascht, dann ernst. »Von wem kam der Ruf? Und wie hast du die telepathische Nachricht empfangen?«
Osira’h zuckte mit den Schultern. »Es geschah während der Zeit des Feuers. Dabei spürte ich eine… Verbindung. Mit einer… Frau? Ein mentaler Ruf kam von ihr, sehr verzweifelt und traurig. Sie schien mir recht nahe zu sein.«
»Nahe? In der Nähe, meinst du?« Der Designierte wandte sich vom Fenster ab und sah Osira’h in die Augen.
Ihr flaumiges hellbraunes Haar zuckte, bewegte sich von ganz allein. »Die Stimme hatte ihren Ursprung hier auf Dobro.
Und sie kam von einer Person, die meinem Selbst nahe ist, die ich gut kennen sollte.«
Zutiefst beunruhigt zog Udru’h das Mädchen vom Fenster fort. »Belaste dich nicht damit. Es ist unerheblich für das, worauf wir uns konzentrieren müssen.«
»Natürlich.« Osira’h war wesentlich klüger und reifer als andere Kinder ihres Alters, was sie der besonderen Abstammung, ihren geistigen Fähigkeiten und einer anspruchsvollen Erziehung verdankte. Aber manchmal behandelte der Designierte sie trotzdem wie ein kleines Kind.
»Es wartet viel Arbeit auf uns und wir haben nur wenig Zeit.«
Osira’h folgte Udru’h dorthin, wo die Ausbilder stundenlang mit ihr üben würden, bis spät in die Nacht, bis die Sonne wieder aufging und Dobro ihr nährendes Licht schenkte. Aber das Mädchen hätte gern noch einmal zum Zuchtlager gesehen und fragte sich erneut, von wem der Ruf stammte. Die mentale Stimme der rätselhaften Frau hatte so hoffnungslos geklungen.
Osira’h glaubte, dass sie darüber Bescheid wissen sollte.
Vielleicht würde sie es eines Tages herausfinden.
117
WEISER IMPERATOR
Bron’n kam mit schlechten Nachrichten zum Weisen Imperator. Durch das Thism fühlte der kranke Cyroc’h die Aufregung seines Leibwächters. Er wusste bereits, dass sich das Schlimmste anbahnte, obwohl er viele Tage lang versucht hatte, Jora’h unter Kontrolle zu halten.
Das Oberhaupt der Ildiraner ruhte in seinem Chrysalissessel unter der Himmelssphäre, wo er stundenlang Hof hielt, sich von seinen Untertanen verehren ließ, die Seelenfäden des Lichts zusammenhielt und sich einen Rest von Kraft bewahrte.
Die Wucherungen in Gehirn und Rückgrat bereiteten ihm starke Schmerzen, aber der Weise Imperator zog sich nicht von den Pilgern und Bittstellern zurück. Jetzt nicht mehr.
Mit seinem Kristallschwert schob Bron’n zwei Schwimmer beiseite, die den Weisen Imperator seit einigen Minuten priesen. »Der Erstdesignierte hat ein Raumschiff gefunden, Herr«, sagte er leise. »Er will sofort aufbrechen.«
Die wässrigen Augen des Weisen Imperators brannten. »Ja, Bron’n, ich habe es gespürt. Jora’h kann sich nicht vor mir verstecken. Er weiß, dass ich ihn die ganze Zeit über sehe.
Trotzdem will er sich auf den Weg machen.« Cyroc’h hob eine fleischige Hand und winkte die Schwimmer fort. Voller Ehrfurcht wichen sie zur Wand der Empfangshalle zurück.
»Sein Schiff startet innerhalb einer Stunde, Herr«, sagte Bron’n mit rauer Stimme. »Soll ich den anderen Wächtern Bescheid geben? Wir können ihn aufhalten, mit Gewalt, wenn es sein muss.«
»Nein, wenn der Erstdesignierte Widerstand leistet, würden eventuelle Beobachter kaum verstehen, warum Sie seinen Anweisungen zuwiderhandeln.« Der Weise Imperator seufzte schwer. »Eine Stunde ist genug Zeit für mich.«
Cyroc’h hob beide Hände zu einer segnenden Geste und nutzte einen großen Teil der ihm noch verbliebenen Kraft, um sich aufzusetzen. Der gnadenlose Schmerz hinter seiner Stirn ließ nie nach. Er blickte durch den Empfangssaal und nahm die Details der Ildiraner auf, die gekommen waren, um ihn zu sehen. Über ihm in der Himmelssphäre flogen Vögel und bunte Insekten umher. Sorglos, in Frieden… Doch derzeit schien die Lichtsphäre weit entfernt zu sein.
Als Weiser Imperator hatte Cyroc’h das Ildiranische Reich hundert Jahre lang regiert und sich seinen Platz in der Saga der Sieben Sonnen verdient. Sein Totenkopf würde bei den anderen ruhen und tausend Jahre lang im Ossarium glühen.
Das genügte.
Wenn er noch länger zögerte, würde all das auseinander fallen, was er erreicht hatte. Das durfte nicht geschehen.
»Ich ziehe mich jetzt in meine private
Kontemplationskammer zurück«, wandte er sich an alle Zuhörer im Saal. »Ich habe mich mit aller Kraft für mein Volk eingesetzt und die Ildiraner haben sich meiner Führung als würdig erwiesen. Sie haben meine Anstrengungen durch ausgezeichnete Arbeit gewürdigt. Vergessen Sie nie, dass ich immer all das zu schätzen wusste, was die Ildiraner in meinem Namen leisteten.«
Er winkte die Bediensteten herbei, die sofort den Chrysalissessel umringten. Bron’n folgte gehorsam, beunruhigt von den Worten des Weisen Imperators. In der Kontemplationskammer schickte Cyroc’h die Bediensteten fort, die mit Kummer reagierten und darum bettelten, ihm die Haut massieren zu dürfen. Sie wollten sich um seinen langen Zopf kümmern, ihm Hände und Füße mit Öl einreihen. Aber er lehnte ab. »Geht jetzt. Ich möchte allein sein, ganz allein.«
Bron’n hob sein Schwert, um dem Befehl des Weisen Imperators Nachdruck zu verleihen. Nachdem die Bediensteten gegangen waren, blieb er in der Tür stehen und der Weise Imperator bedachte ihn mit einem müden, seltenen Lächeln.
»Sie sind mein treuester Diener, Bron’n. Warten Sie draußen.
Verschließen Sie die Tür und lassen Sie niemanden eintreten –außer Jora’h.«
Bron’n trat einen Schritt in den Flur. »Soll ich den Erstdesignierten rufen, Herr?«
Der Weise Imperator lächelte erneut, auf eine seltsame Weise, und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Er wird von allein kommen.«
Bron’n stellte keine weiteren Fragen und ließ den Weisen Imperator allein. Cyroc’h wusste, dass sich Jora’h genau in diesem Augenblick darauf vorbereitete, mit einem Raumschiff nach Dobro zu fliegen, um dort seine geliebte grüne Priesterin zu befreien. Es galt, keine Zeit zu vergeuden, und deshalb zögerte der Weise Imperator nicht.
Er öffnete ein kleines Fach im Chrysalissessel und entnahm ihm eine Phiole mit blauer Flüssigkeit. Er hatte dieses besondere Mittel vor einigen Tagen herstellen lassen. Es war der letzte Dienst der ildiranischen Ärzte gewesen und sie hatten gefragt, was der Weise Imperator mit einer so gefährlichen Flüssigkeit anstellen wollte. Vermutlich hatten sie befürchtet, dass er dem komatösen Hyrillka-Designierten einen gnädigen Tod gewähren wollte. Aber Cyroc’h hatte die Phiole einfach entgegengenommen, ohne Antwort zu geben. Später hatte er Bron’n angewiesen, die Ärzte und damit alle weiteren Fragen zu eliminieren.
Er hielt die Phiole nun in der Hand und bewunderte ihre prächtige Farbe. Das rötliche Licht gab der Flüssigkeit einen violetten Ton.
Er trank das Gift mit einem einzigen Schluck.
Es brannte wie bitteres Feuer auf der Zunge und im Hals. Der Weise Imperator schloss die Augen und lehnte sich in die weichen Polster des Sessels zurück. Die toxische Substanz würde schnell wirken.
Cyroc’h spürte, wie das Gift seine Wirkung in ihm entfaltete, Nerven und Muskeln zersetzte. Der von den Tumoren verursachte Schmerz wich kalter Leere und dann schien ihn etwas anzuheben und in Richtung einer noch helleren Lichtquelle zu tragen.
Jora’h würde seine Verantwortung bald verstehen, ob er wollte oder nicht. Das Thism war gnadenlos.
Dem Weisen Imperator blieb keine andere Möglichkeit, um seinen Nachfolger zu überzeugen. Sein Tod brachte Unordnung ins Netz des Thism und löste die Seelenfäden voneinander – das Gespinst würde zerreißen und dann blieb Jora’h nichts anderes übrig, als den Platz seines Vaters einzunehmen. Cyroc’h vertraute darauf, dass er dann die richtigen Entscheidungen traf.
Er musste die richtigen Entscheidungen treffen.
Der lange Zopf des Weisen Imperators zuckte, als versuchte er, nach Luft zu schnappen. Cyroc’h versuchte, die Augen zu öffnen und ein letztes Mal die sieben Sonnen zu sehen, aber die Lichtquelle in seinem Innern leuchtete viel heller.
Die Arme und Beine zitterten, was auf die Wirkung des Gifts zurückging, aber der grässliche Tumorschmerz löste sich zu bleierner Benommenheit auf. Die wuchernden Invasoren in Hirn und Rückgrat schienen zuerst getötet worden zu sein. Das war eine große Erleichterung. Hinter Cyroc’hs Augen wurde das Licht heller, strahlte in seinen Knochen wie der Kern einer Sonne.
Der Weise Imperator atmete zum letzten Mal und starb mit einem Lächeln in seinem engelhaften Gesicht.
118
ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Die Agonie des Verlustes traf Jora’h, als er an der Andockplattform einer der Palastkuppeln stand und die letzten Vorbereitungen dafür traf, Ildira zu verlassen.
Der Erstdesignierte hatte ein ausreichend großes Schiff sowie einen bereitwilligen Kommandanten und die notwendige Splitter-Crew für einen schnellen Flug nach Dobro gefunden.
Die Vorstellung, dass Nira über all die Jahre hinweg gelitten hatte, bereitete ihm tiefen Kummer. Der Weise Imperator hatte nichts unversucht gelassen, ihn auf Ildira festzuhalten und zu verhindern, dass er den Planeten verließ, aber Jora’h wollte sich einfach nicht zur Vernunft bringen lassen.
Er musste Nira unbedingt retten. Er wollte sie in die Arme schließen und sie um Verzeihung bitten für das, was sie hinter sich hatte. Jora’h begriff, dass er rasch handeln musste, bevor sein Vater spürte, was er plante.
Als er Wächter aus den Lifts am anderen Ende der Plattform kommen sah, wusste er, was sie wollten. Die Thism-Verbindung hatte ihn verraten und Cyroc’h beabsichtigte, ihn erneut aufzuhalten. Aber Jora’h schwor sich, Nira diesmal nicht im Stich zu lassen.
»Beeilung!«, rief er den Besatzungsmitgliedern des Schiffes zu, als sie über die Rampe liefen.
Und plötzlich glaubte er, ihm würde das Herz aus der Brust gerissen.
Jora’h taumelte und stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.
Pein und Desorientierung durchzuckten ihn wie ein Blitz. Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine solche Leere empfunden, einen Riss im Zentrum seines Selbst.
Von einem profunden Schock erschüttert wankte der Erstdesignierte und versuchte, das Gleichgewicht zu wahren.
Der Kommandant des Schiffes taumelte ebenfalls und sank auf die Knie. Alle Crewmitglieder schnappten nach Luft. Einige von ihnen fielen zu Boden und krümmten sich von Qualen heimgesucht zusammen.
Das ganze ildiranische Universum war plötzlich auf den Kopf gestellt.
Verwirrtes Jammern kam von vielen Balkons des Prismapalastes. Pilger, Beamte und Adlige gaben ungläubige Schreie von sich. Die gerade auf der Plattform eingetroffenen Wächter blieben abrupt stehen und schwankten.
Das Thism war zerrissen. Die Seelenfäden, verwoben zu einem dichten Gespinst, das alle Ildiraner miteinander verband, strafften sich, zerfransten und gaben nach. Die Lichtquelle verschwand.
»Nein!«, entfuhr es Jora’h, der sofort verstand, was geschehen war. »Der Weise Imperator ist tot!«
Unsicher setzte er einen Fuß vor den anderen und kehrte in den Prismapalast zurück. Sein langes Haar umwogte den Kopf.
Er sah nichts und dachte an nichts, bis er die Kontemplationskammer seines Vaters erreichte.
Der hässliche Leibwächter Bron’n stand vor der verschlossenen Tür, in der einen Hand sein Kristallschwert.
Aber er wirkte wie in sich zusammengesunken und hielt das Schwert mit der Kraftlosigkeit eines müden Alten. In Bron’ns Augen zeigte sich ein vorwurfsvoller Glanz, als er Jora’h ansah, und er zeigte seine spitzen Zähne.
»Was ist geschehen? Wo ist mein Vater?«
»Er befahl mir, hier stehen zu bleiben und auf Sie zu warten.«
Bron’n holte zischend Luft. »Er forderte mich auf, niemanden eintreten zu lassen, abgesehen von Ihnen. Er wusste, dass Sie kommen würden.«
Jora’h starrte den Leibwächter ungläubig an, als er die Tür öffnete. »Er ist freiwillig aus dem Leben geschieden? Und Sie haben ihn nicht daran gehindert, obwohl Sie wussten, was er vorhatte…?«
»Ich diene dem Weisen Imperator«, sagte Bron’n und klammerte sich an diese Worte, als wären sie ein Anker. »Ich stelle seine Anweisungen nicht infrage.«
Jora’h betrat die Kontemplationskammer und sah die bleiche, weiche Masse seines Vaters im Chrysalissessel. Im Tod wirkte Cyroc’h wie eine riesige graue Schnecke, schien nur aus Fettwülsten zu bestehen. Ganz offensichtlich hatte es den Weisen Imperator viel Kraft gekostet, sich bis zum Ende zusammenzuhalten. Jetzt gab sein Fleisch dem Zerren der Schwerkraft nach.
Jora’h griff nach einem schlaffen Arm, als gäbe es noch Hoffnung, aber die Echos des zerrissenen Thism wiesen deutlich auf den Tod seines Vaters hin. Der Weise Imperator war gestorben und zur Lichtquelle zurückgekehrt.
Jora’h nahm die leere Phiole und sah einen kleinen Tropfen blauer Flüssigkeit in ihr. »Aber warum?«, fragte er die Leiche.
»Warum hast du das getan, Vater? Ich brauche deine Hilfe, deinen Rat. Wie soll ich jetzt das ildiranische Volk führen? Ich bin nicht bereit.«
Dann verstand er und hielt sich am Rand des Chrysalissessels fest, um nicht zu fallen. Es war eine Verzweiflungstat seines Vaters gewesen. Wenn er, Jora’h, nach den Strängen des Thism griff, wenn er das Netz selbst in den Händen hielt und sich mit dem heiligen Licht der höheren Ebene verband – dann würde er viel mehr verstehen, als ihn der Weise Imperator hätte lehren können.
»Sie hätten ihn daran hindern sollen, Bron’n.« Über die Schulter hinweg sah Jora’h zum Wächter, der betroffen in der Tür stand.
»Ich diene dem Weisen Imperator«, wiederholte er.
»Ich bin jetzt der Weise Imperator!«
»Noch nicht. Sie sind erst dann der Weise Imperator, wenn Sie die Zeremonie hinter sich gebracht haben und das Thism kontrollieren. Bis dahin fehlt uns ein Weiser Imperator.«
Überwältigt und verwirrt begann Jora’h zu verstehen, was sich jetzt ändern würde, was er tun musste. Solange es keinen Weisen Imperator gab, solange das Thism zerrissen blieb, war das ildiranische Volk miteinander nicht verbunden und irrte ziellos dahin… Und mit der Zeit würde es immer schlimmer werden. Wenn der gegenwärtige Zustand andauerte, konnten sich erhebliche psychische Schäden und vielleicht noch schlimmere Folgen ergeben. Es bestand die Gefahr, dass alle Ildiraner verrückt wurden.
Es blieb Jora’h nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich die Nachfolge seines Vaters anzutreten. In einigen wenigen Tagen, wenn alle Designierten nach Mijistra gekommen waren, musste die Zeremonie stattfinden.
Jora’h drehte sich wieder zum Chrysalissessel um und legte die Hand auf den Arm seines toten Vaters. Cyroc’h hatte gewusst, dass er nicht mehr lange leben würde, doch diese plötzliche Entscheidung, mit der er den Erstdesignierten zwang, die Führung des Ildiranischen Reichs zu übernehmen –es war zu viel.
Beklommenheit erfasste Jora’h, als ihm klar wurde: Mit seinem Trotz in Hinsicht auf Nira, mit seinem Bestehen darauf, trotz des Verbots seines Vaters nach Dobro zu fliegen, hatte er den Weisen Imperator zum Selbstmord getrieben.
Jetzt konnte er nicht mehr aufbrechen, um Nira zu helfen. Er musste auf Ildira bleiben und sein Bestes geben, um das Reich zusammenzuhalten.
Während der Erstdesignierte um seinen Vater trauerte, stand Bron’n starr und steif im Flur vor der Kontemplationskammer.
Er hatte den Anweisungen gehorcht, seine Pflicht erfüllt…
Aber Bron’n wusste, dass ihn trotzdem ein Teil der Schuld traf.
Er streckte den Arm, mit dem er das Kristallschwert hielt, und richtete es auf sich selbst. Vorsichtig setzte er die Spitze auf den unteren Teil seines Brustharnischs und übte leichten Druck aus, bis der spitze Kristall die Panzerung durchdrang, bis er sich in die Haut bohrte und ersten stechenden Schmerz verursachte.
Daraufhin wusste Bron’n, dass er die richtige Stelle gefunden hatte.
Er stützte den Griff des Schwerts an die Wand und schob sich mit einem Ruck nach vorn, mit seiner ganzen animalischen Kraft. Blut quoll an den Fangzähnen vorbei aus dem Mund.
Bron’n knurrte und drängte mit noch größerer Entschlossenheit nach vorn, bis die kristallene Klinge in sein Herz stach. Selbst nach dieser tödlichen Verletzung arbeiteten seine Muskeln weiter, bis die Spitze des Schwerts aus dem Rücken ragte…
Als Jora’h hörte, wie der Leibwächter seines Vaters zusammenbrach, lief er aus der Kontemplationskammer in den Flur und blieb dort neben der zweiten Leiche stehen. Er verstand, was Bron’n getan hatte, hob den Blick flehentlich zu den strahlenden Sonnen am Himmel. Aber er sah kaum Licht und fühlte nur wenig Wärme.
119
ADAR KORI’NH
Eine volle Kohorte aus Kriegsschiffen der Solaren Marine verließ den verheerten Planeten Dularix. Sieben Manipel, dreihundertdreiundvierzig Schiffe unter Adars Kommando –und doch hatten die Hydroger eine weitere Welt zerstört.
Kältewellen hatten die gesamte Vegetation von Dularix erstarren lassen. Die Kontinente waren nun leblos. Berge waren geborsten, die Landschaft verwüstet und steril.
Die Aufzeichnungen der vor vielen Jahren ausgeschickten Erkundungsgruppen zeigten dichte Wälder. Die Ildiraner hatten sich nicht die Mühe gemacht, hier eine Kolonie zu gründen, und die Menschen wussten nichts von Dularix’
Existenz. Trotzdem hatten die Hydroger den Planeten angegriffen und alles Leben auf ihm ausgelöscht.
Es gab überhaupt keinen Grund für den Angriff. Ein Patrouillenflug hatte die ildiranische Flotte in dieses Sonnensystem gebracht, als die Hydroger Dularix nach der sinnlosen Zerstörung verließen. Kori’nh stand im Kommando-Nukleus des Flaggschiffs und betrachtete stoisch die Bilder einer verheerten Welt.
»Wer kann die Hydroger verstehen, Adar?«, fragte Tal Zan’nh und trat neben Kori’nh. »Wir müssen einen Bericht nach Ildira schicken.
Vielleicht ist mein Großvater imstande, uns mithilfe des Thism die Motive unserer Feinde zu erklären.«
Die Solare Marine hatte dem Treiben der Hydroger zugesehen, ohne aktiv zu werden. Kori’nh und seine Flotte waren an die Befehle des Weisen Imperators gebunden, die verboten, die Hydroger zu verfolgen. Der Kommandeur schloss die Hände zornig ums Geländer der Kommando-Plattform. »Unser Auftrag besteht darin, alles zu beobachten…
und uns dann zurückzuziehen, ohne zu kämpfen.« Die Worte hinterließen einen schlechten Nachgeschmack im Mund.
Zan’nh sah ihn beunruhigt an. »Wir wissen, dass die Solare Marine keine wirkungsvollen Waffen gegen die Hydroger hat.
Was hätte es für einen Sinn, anzugreifen und vernichtet zu werden?«
»Bei Qronha 3 haben wir einen gewissen Erfolg erzielt«, sagte der Adar und musterte seinen talentierten Protegé.
»Aber… auch dort erlitten wir eine Niederlage.«
»Kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man es sieht, Tal. Vergessen Sie nicht, dass die Hydroger Verluste erlitten.
Zwar waren wir nicht auf den Kampf vorbereitet, aber Qul Aro’nh zerstörte ein Kugelschiff und beschädigte zwei weitere.«
Kori’nh wusste, dass die Besatzungsmitglieder sein Unbehagen spürten und glaubten, dass es sich auf die Hydroger bezog. Er seufzte und befahl der Kohorte, das Sonnensystem zu verlassen. Der ildiranische Sternenantrieb wurde aktiv und mit Überlichtgeschwindigkeit rasten die Kriegsschiffe in die Leere zwischen den Sternen, um ihre sinnlose Patrouille fortsetzen…
Und dann starb der Weise Imperator auf dem fernen Planeten Ildira.
Alle an Bord der dreihundertdreiundvierzig Schiffe fühlten es
– von Adar Kori’nh und Tal Zan’nh bis zu den einfachsten Wartungsarbeitern. Jähe Leere zuckte wie ein Blitz durchs Thism, zerfetzte die hellen Seelenfäden und trennte alle Ildiraner von der Lichtquelle. Von einem Augenblick zum anderen waren sie alle allein und ohne Hoffnung.
Kori’nh schwankte und hielt sich am Geländer der Kommando-Plattform fest. Einige Sekunden lang konnte er kaum mehr etwas sehen. Zan’nh stieß einen verzweifelten Schrei aus. Die Crewmitglieder des Kriegsschiffs pressten die Hände an die Schläfen, schlossen die Augen und stöhnten.
Die Schockwelle des Verlustes vibrierte durch alle Abteilungen an Bord eines jeden Schiffes. Niemand achtete mehr auf die Anzeigen und Displays, während die Schiffe auf dem programmierten Kurs weiterflogen.
Mit einer enormen Anstrengung brachte sich Adar Kori’nh wieder unter Kontrolle. Nie zuvor hatte er eine solche… Leere empfunden. Es heulte zwischen seinen Schläfen und eine Woge der Verzweiflung wollte alle Gedanken fortreißen, aber er schaffte es trotzdem, sich zu konzentrieren. »Achtung!«, rief er der Brückencrew zu. »Geben Sie Alarm.« Die ersten Worte klangen heiser, doch er wiederholte sie mit mehr Kraft und Nachdruck.
Als die Besatzungsmitglieder weiterhin schmerzerfüllt stöhnten, verließ er die Kommando-Plattform und löste den Alarm selbst aus. Die Ausbildung der Soldaten sorgte dafür, dass alle sofort auf das Schrillen der Sirenen reagierten.
»Tal Zan’nh! Verständigen Sie die Quls und Septars.«
Kori’nh atmete tief durch. »Die Subcommander sollen sofort zu mir kommen. Unsere Situation hat sich auf dramatische Weise verändert. Wir müssen den Notfall sofort besprechen.«
Die Schiffe flogen noch immer unbeirrbar durch den interstellaren Raum… obwohl sich alles andere im ildiranischen Universum geändert hatte.
»Aber, Adar – der Weise Imperator ist tot!«, rief der Kommunikationsoffizier. »Wir alle fühlen es.«
»Wir sind noch immer die Solare Marine!«, erwiderte Kori’nh scharf. »Die ildiranische Solare Marine. Was würde der Weise Imperator von uns halten, wenn wir in einer Krise wimmern und wehklagen?«
Der Alarm ertönte noch immer und langsam, ganz langsam, befreiten sich die Soldaten aus ihrem Elend. Sie erfüllten ihre Pflicht, klammerten sich an vertraute Routine.
Kori’nh zog den kristallenen Zeremoniendolch aus seinem Gürtel und beobachtete, wie das Licht an der gewölbten Schneide schimmerte. Der Schmerz in seiner Brust zwang ihn zu dieser Maßnahme – das Gewicht der ildiranischen Tradition und sein Speziesinstinkt ließen ihm keine andere Wahl. Er hob das scharfe Messer zum Kopf und schnitt so schnell, dass es fast sanft wirkte. Er durchtrennte den Zopf und dabei kratzte die Klinge über die Kopfhaut, ohne eine Wunde zu verursachen. In einer Hand hielt er das abgetrennte Haar, jetzt ein totes Etwas, und voller Abscheu warf er es zu Boden.
Überall an Bord der Schiffe schnitten sich die Männer ihre Zöpfe ab, als Zeichen des erlittenen Verlustes. Niemand von ihnen hatte jemals zuvor den Tod eines Weisen Imperators erlebt. Die Soldaten der Solaren Miene stöhnten erneut, als sie ihr Haar abschnitten, damit das Ende von Cyroc’hs Herrschaft markierten und sich auf ein neues Oberhaupt vorbereiteten.
Kori’nh empfand die grässliche Leere und Isolation als schrecklich und in höchstem Maße beunruhigend. Doch als er auf die Subcommander wartete, begriff er plötzlich, dass zum ersten Mal in seinem Leben niemand über seine Entscheidungen wachte. Cyroc’h war nicht mehr in der Lage, seine Taktiken zu spüren und gewisse Maßnahmen zu missbilligen.
Ja, der Adar fühlte sich hilflos; niemand wies ihm die Richtung. Andererseits hatte er jetzt die Freiheit, selbst die Initiative zu ergreifen. Er konnte eigene Entscheidungen treffen, so wie die menschlichen Kommandeure MacArthur, Agamemnon, Kutusow. Es war ein erhebendes Gefühl.
Es gab viele Möglichkeiten…
Im Konferenzzimmer des Kriegsschiffs musterte Kori’nh die kummervollen Tals und Quls. Sie alle hatten sich das Haar abgeschnitten. Jeder von ihnen war bestürzt und der Adar musste beweisen, dass er noch immer Befehle erteilen konnte.
Seine Offiziere würden ihm noch entschlossener folgen, denn jetzt gab es keinen anderen Anker für sie.
Viele Male war er nicht mit der allgemeinen Strategie des Weisen Imperators einverstanden gewesen, hatte aber immer gehorcht. Viele Male war er sich wie ein Feigling vorgekommen, wenn er den Befehl bekommen hatte, sich mit seiner Flotte zurückzuziehen und zu verbergen, um die Hydroger nicht zu provozieren. Doch ganz gleich, wie sich die Solare Marine verhielt: Die Fremden aus den Tiefen der Gasriesen griffen trotzdem Planeten an, verwüsteten und zerstörten sie.
Kori’nh war der Kommandeur der Solaren Marine. Er kommandierte die größte und eindrucksvollste Streitmacht, die dem Ildiranischen Reich jemals zur Verfügung gestanden hatte. Doch der Weise Imperator war nicht bereit gewesen, Gebrauch von ihr zu machen.
Die Terranische Verteidigungsflotte hatte den Feind immer wieder angegriffen und neue Waffen entwickelt. Selbst die Roamer, ohne eigenes Militär, entwickelten tollkühne Taktiken und innovative Verarbeitungstechniken, um Ekti zu produzieren. Ihr Kometen-Bombardement hatte den Hydrogern zweifellos einen harten Schlag versetzt.
Die Solare Marine hingegen unternahm nichts.
Adar Kori’nh hatte die Niederlagen satt. Es wurde Zeit, dass seine prächtige Flotte auf der Suche nach Ruhm in den Kampf zog. Der Weise Imperator konnte ihn nicht länger daran hindern.
Im Konferenzzimmer musterte Kori’nh Tal Zan’nh sowie die Quls und Septars. Er hatte ihre Personaldateien eingesehen, kannte daher ihre jeweiligen Stärken und Fähigkeiten.
Zan’nh wirkte noch betroffener als die anderen Offiziere –der Weise Imperator war sein Großvater gewesen. Sein Vater, der Erstdesignierte Jora’h, würde bald Cyroc’hs Nachfolge antreten. Eigentlich war Zan’nh der erstgeborene Sohn des Erstdesignierten, aber er gehörte nicht zum Adel-Geschlecht, und deshalb wurde sein jüngerer Bruder Thor’h zum nächsten Erstdesignierten. Die Thism-Stränge waren stark und fest in Zan’nh. Sicher fühlte sich der talentierte Tal noch isolierter als die anderen Ildiraner in der Flotte.
Zan’nh war vermutlich der beste Soldat dieser Kampfgruppe, doch der Adar beabsichtigte trotzdem, ihn nach Hause zu schicken.
»Tal Zan’nh, ich möchte, dass Sie mit dem größten Teil der Kohorte nach Ildira zurückkehren; nur ein Manipel bleibt hier.
Bringen Sie die Schiffe nach Hause, um unserem Volk in diesen schweren Zeiten Trost zu gewähren.« Ein kurzes Stöhnen wurde am Tisch laut, aber Kori’nh achtete nicht darauf. »Sobald alle Designierten auf Ildira eingetroffen sind, unterzieht sich Ihr Vater der Zeremonie und wird dadurch zum neuen Weisen Imperator. Dann verknüpft er die Fäden des Thism, wodurch sich unser Volk wieder eins fühlen kann.«
Zan’nh verbeugte sich. »Ja, Adar. Ich erkenne meine Pflicht.«
»Was macht der Rest der Kohorte, Adar?«, fragte ein Septar.
Kori’nh sah die Subcommander an und wusste, dass es kein Zurück gab, wenn er seine Entscheidung verkündet hatte. »Ich werde mit einem Manipel eine neue Mission beginnen.
Einzelheiten kann ich nicht nennen.«
Er richtete den Blick auf einen älteren stoischen Qul namens Bore’nh. Der Manipel-Kommandant war ein vorbildlicher Offizier, der nie gezögert hatte, seine Pflicht zu erfüllen. Damit eignete er sich bestens für die bevorstehende Mission. »Qul Bore’nh, ich habe Ihren Manipel für diesen besonderen Einsatz ausgewählt. Sind Sie bereit, meine Befehle auszuführen, ohne sie infrage zu stellen?«
Bore’nh wirkte überrascht, dann erhellte Stolz seine Miene.
»Es wäre mir eine Ehre, Adar.«
Vage Schuldgefühle regten sich in Kori’nh, als er sagte: »Für die von mir geplante Mission brauche ich nur eine minimale Crew. Lassen Sie alle nicht unbedingt erforderlichen Soldaten mit den anderen Schiffen nach Ildira heimkehren.«
Bore’nh fragte nicht nach Gründen. »Wie Sie wünschen, Adar.«
Tal Zan’nh sah Kori’nh beunruhigt an, beherrschte sich aber.
»Möchten Sie mich unter vier Augen sprechen, Adar?«
»Nein. Derzeit besteht Ihre primäre Pflicht darin, mit Ihren Schiffen nach Ildira zu fliegen.«
Um zu vollbringen, was er für richtig hielt, musste Kori’nh schnell handeln, solange er noch unabhängig war, bevor der Erstdesignierte zum neuen Weisen Imperator wurde. Ihm blieben einige Tage, mehr nicht. Wenn Jora’h die Fäden des Thism wieder miteinander verknüpfte, waren dem Adar erneut die Hände gebunden. Er musste jetzt handeln.
Kori’nh ließ die Offiziere gehen und kehrte zum Kommando-Nukleus zurück. Dort lauschte er den vom Interkom-System übertragenen Befehlen, als viele Crewmitglieder von Qul Bore’nhs neunundvierzig Kriegsschiffen mit Shuttles zu den anderen Raumern gebracht wurden.
Als er festgestellt hatte, dass seine Anweisungen präzise ausgeführt worden waren, verabschiedete er sich von Tal Zan’nh. »Ich weiß, dass Sie Ihrem Vater ebenso gut dienen werden wie ich dem Weisen Imperator gedient habe.«
»Ich werde mein Bestes geben, um allen meinen Pflichten gerecht zu werden, Adar. So wie Sie.«
Qul Bore’nh trat zu Kori’nh im Kommando-Nukleus, als sich der Manipel vom Rest der Kohorte löste. Die sechs anderen Manipel jagten den sieben Sonnen von Ildira entgegen, während sich Kori’nhs neunundvierzig Schiffe mit vollem Waffenpotenzial und minimaler Crew formierten.
Schließlich gab der Adar den Befehl, Fahrt aufzunehmen.
»Endlich werden wir dem Feind gegenübertreten.«
120
KÖNIGIN ESTARRA
Von ihrem hohen Balkon aus blickte Estarra über das Palastgelände mit den Statuengärten, glitzernden Teichen und Ansammlungen von
Formsträuchern. Eine glänzende
Hängebrücke überspannte den Königlichen Kanal, der den Palastdistrikt umgab.
In einigen Tagen sollte eine »Flitterwochenfeier« stattfinden, gewissermaßen eine Fortsetzung des Hochzeitsfestes – Peter meinte, die Hanse wollte die königliche Heirat noch weiter ausschlachten. Der Plan sah weitere Veranstaltungen, Partys und Darbietungen vor, um das Volk von der Krise abzulenken.
Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Estarra und Peter sollten an Bord eines Prachtschiffes über den Königlichen Kanal fahren, damit alle den König und die Königin sehen und ihnen zuwinken konnten. Das bunte Spektakel diente dazu, das Herrscherpaar der Öffentlichkeit zu präsentieren und jeden Zweifel daran zu zerstreuen, dass Estarra ihrer Rolle als Königin nicht gerecht werden könnte.
Eine derartige Feier erschien frivol nach Benetos Tod und der Verheerung von Corvus Landing, nach der Niederlage der TVF bei Osquivel.
Sarein tauchte plötzlich hinter Estarra auf. Sie war hohlwangig und dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, so als hätte sie kaum geschlafen. Ihre Hanse-Kleidung wirkte zerknittert. »Basil weiß nicht, dass ich hier bin, kleine Schwester.« In Sareins Stimme vibrierte eine Anspannung, die Estarra nie zuvor gehört hatte.