Kori’nh sah ihn an und lächelte schief. »Sie sind der Erstdesignierte und kommen, um Ihren Sohn abzuholen. Wie könnte der Hyrillka-Designierte eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?«
Auf dem Boden schickte der Designierte Rusa’h eine Parade aus bunt gekleideten Eskorten, Erinnerern, Tänzern und Sängern los, um die Besucher zu empfangen. Seite an Seite stiegen Jora’h und der Adar aus, während die Menge weiterhin jubelte. Das lockige goldene Haar umgab den Kopf des Erstdesignierten wie eine Korona und in seinen Augen spiegelte sich das Licht der blauweißen Sonne.
Kori’nh wies seine Ehrenwache an, in präziser Formation über die Rampen zu marschieren. Es fiel den Soldaten nicht leicht, ihre Ordnung zu wahren, als sie auf dem Platz der tanzenden Parade begegneten.
Jora’h versuchte, nicht zu streng zu klingen, als er seinen Bruder begrüßte. »Dieser unerwartet prächtige Empfang war unnötig, Rusa’h.«
Der Hyrillka-Designierte entdeckte keine Kritik im Tonfall des Erstdesignierten. »Dies ist erst der Anfang!« Ein strahlendes Lächeln erschien in seinem pausbäckigen Gesicht und er klopfte seinem Bruder ungezwungen auf die Schulter.
»Wir haben zahlreiche Bankette vorbereitet und hinzu kommen viele Präsentationen und Darbietungen. Unser Historiker kann es sogar mit Vao’sh im Prismapalast aufnehmen. Ich habe eine ganz neue Galerie von Tanzbrunnen installieren lassen. Du wirst staunen.«
Er beugte sich näher. »Außerdem habe ich meine besten Vergnügungsgefährtinnen inspiziert, um festzustellen, wer von ihnen besonders fruchtbar ist. Es wäre eine Ehre für Hyrillka, Heim eines weiteren Nachkommen des Erstdesignierten zu sein.«
Das Wissen um den schlechten Gesundheitszustand seines Vaters schuf einen dumpfen Schmerz in Jora’h und nahm ihm den Wunsch nach Unterhaltung. »Du bist zu sehr um mich bemüht, Bruder. Wir werden uns auf angemessene Weise zeigen und vielleicht kann uns Adar Kori’nh ein kurzes Beispiel für das Können seiner Septa geben.« Jora’hs Blick glitt zu seinem Sohn – wie jung er war! –, der hinter dem Hyrillka-Designierten stand und fast eingeschüchtert wirkte.
»Aber zunächst einmal haben Thor’h und ich wichtige Dinge zu besprechen.«
Der junge Mann verbeugte sich, aber es sah eher nach einem Zusammenzucken aus. »Mein Onkel hat mir davon erzählt, Vater.«
Rusa’h lachte leise. »Ah, die Probleme, die es mit sich bringt, der Erstdesignierte zu sein. Ich bin froh, dass ich nicht als Erster geboren wurde.«
Thor’h zeichnete sich durch ein nervöses Gebaren aus. Sein Haar war sorgfältig frisiert und mit winzigen Edelsteinen geschmückt, die wie Taureste glänzten. Bunte Kleidung hing locker von den Schultern herab und Jora’h bemerkte, wie dünn sein Sohn war – ein seltsamer Kontrast zu Rusa’hs Rundlichkeit. Beide Männer aßen gut und entspannten sich oft, aber vermutlich nahm Thor’h Schling und andere Vergnügungsdrogen, während der Designierte einfach nur aß und schlief. Hyrillka war bekannt für die Produktion von Schiing, einem stimulierenden Genussmittel, das aus dem milchigen Blutsaft der Nialia-Pflanzenmotten destilliert wurde.
Bin ich in seinem Alter so wie er gewesen?, fragte sich Jora’h.
Eine sonderbare Nebenwirkung des Schiing führte dazu, dass das Bild seines Sohns im Thism verschwommen war. Zwar konnte der Erstdesignierte Thor’h spüren, wenn er sich konzentrierte, doch die Gedanken blieben unklar, und Jora’h war gezwungen, den Gesichtsausdruck seines Sohnes zu deuten.
Wie konnte dieser Junge jemals ein Weiser Imperator werden? Und wie kann ich das?
Später führte der Hyrillka-Designierte sie zu einem Bankett, das sich endlos hinzog, begleitet von stundenlangen Darbietungen. Schöne Frauen aus unterschiedlichen Geschlechtern servierten eine Köstlichkeit nach der anderen und bedachten Jora’h mit einladenden Blicken. Ihre Namen wurden einer Liste hinzugefügt, die Rusa’h zusammengestellt hatte, und Jora’h begriff, dass er einigen von ihnen sexuelle Dienste leisten musste.
Drei gelassene, in Priestergewänder gekleidete Männer aus dem Linsen-Geschlecht saßen in der Nähe, bereit dazu, über die Lichtquelle zu sprechen und Hinweise aus dem Thism zu interpretieren. Ihre sanften Mienen deuteten darauf hin, dass auf Hyrillka schon seit einer ganzen Weile niemand Probleme gehabt hatte. Wenn sie nur wüssten, was anderenorts im Reich geschieht!
Die offene Architektur von Hyrillkas Zitadellenpalast bestand aus hohen Säulen und weiten Höfen mit Gärten und großen, scharlachroten Blumen. Das milde Klima erforderte kaum Dächer und Regen abweisende Kraftfelder verhinderten, dass jemand nass wurde, wenn es zu einem Schauer kam. Das Gebäude wirkte wie ein alter Tempel inmitten von wuchernder Vegetation.
Die Entwicklung von Hyrillkas Pflanzen hatte weder hölzerne Stämme noch hohe Bäume hervorgebracht, sondern vor allem Bodengewächse und lange, flexible Ranken. Die hängenden Gärten von Hyrillka zählten zu den Wundern des Reiches: miteinander verflochtene Pflanzen, die über den Rand von Klippen hingen, mit riesigen Blüten, die den feuchten Dunst von Wasserfallen aufnahmen. Bestäubende, mit vier Flügeln ausgestattete Vögel fraßen Beeren und huschten von einer trichterförmigen Blüte zur nächsten.
Auf dem Banketthof lehnte sich Jora’h zurück, genoss den Duft der Pflanzen und der vielen Speisen. Gelegentlich merkte er, wie sich Sorgenfalten auf seiner Stirn bildeten, und dann ließ er sie schnell wieder verschwinden – niemand sollte seine gedrückte Stimmung bemerken. Als die blauweiße Sonne unter- und die orangefarbene aufging, gab Adar Kori’nh eine Vorstellung mit seinen Angriffsjägern und zwei Kriegsschiffen. Auf dem Boden begannen Glänzer zu leuchten, die geometrische Muster bildeten, auf Plätzen und Straßen für festliche Helligkeit sorgten.
Jora’h nahm Thor’h beiseite, aber der junge Mann widersetzte sich. »Ich möchte die Darbietungen der Raumschiffe sehen, Vater.«
»Du siehst so etwas nicht zum ersten Mal. Ich muss allein mit dir reden, um zu erklären, warum ich gekommen bin.«
»Das weiß ich bereits. Du willst mich nach Ildira bringen, auf dass ich dort im Prismapalast wohne.«
»Ja, aber den Grund dafür kennst du nicht.«
In einem von Blumen umgebenen Alkoven setzte sich Jora’h auf eine kleine Bank. Thor’h blieb auf den Beinen, ging nervös hin und her. »Mir gefällt es hier auf Hyrillka, Vater. Ich möchte bleiben. Der Designierte und ich kommen gut miteinander aus.«
»Die Umstände haben sich geändert. Du kannst nicht länger hier bleiben. Mir bleibt keine andere Wahl, als dich nach Ildira zu bringen.«
»Natürlich hast du die Wahl.« Thor’h wirbelte herum und sein perfekt frisiertes Haar zuckte. Das schmale Gesicht des jungen Mannes hatte etwas Raubtierhaftes. »Du bist der Erstdesignierte. Du kannst alles so regeln, wie du es für richtig hältst. Eine Anweisung von dir genügt.«
»Ich habe vor kurzer Zeit erfahren, dass meine Möglichkeiten manchmal ebenso beschränkt sind wie die der geringsten Bediensteten«, sagte Jora’h traurig.
Thor’h schlang die langen Finger ineinander, löste sie wieder und bewegte die Hände so, als suchte er mit ihnen nach Halt.
Er schien erneut widersprechen zu wollen, aber sein Vater kam ihm zuvor. »Der Weise Imperator stirbt, Thor’h. Schon bald werde ich seinen Platz einnehmen und dann wirst du zum Erstdesignierten.«
Thor’h blieb stehen und riss die Augen auf. »Unmöglich. Ich bin noch nicht bereit.«
»Ich auch nicht, aber die Hydroger bringen das Reich in Gefahr und niemand von uns kann es sich leisten, allein für das Vergnügen zu leben. Jahrelang hast du die Vorteile deiner Geburt genossen. Jetzt musst du dich der Pflicht stellen.«
»Und wenn ich nicht will?«, erwiderte Thor’h scharf.
»Dann töte ich dich mit meinen eigenen Händen!« Die zornigen Worte kamen aus Jora’hs Mund, bevor er sie zurückhalten konnte. »Und dann mache ich deinen Bruder Zan’nh zum Erstdesignierten, obwohl er kein reinblütiger Adliger ist. Das Reich kann sich keinen so dummen Erstdesignierten leisten, wie du es zu sein scheinst.«
Thor’h starrte ihn entsetzt an, aber Jora’h konnte seine Worte nicht zurücknehmen. In einem beschwichtigenden Tonfall fügte er hinzu: »Wir müssen über uns hinauswachsen, wir beide.«
35
TASIA TAMBLYN
Admiral Willis’ Flotte kehrte zum TVF-Hauptstützpunkt auf dem Mars zurück, wurde dort mit vollen militärischen Ehren und einer Remora-Eskorte empfangen. Die Soldaten waren begeistert von dem Erfolg – ein ganz neues Gefühl nach den vielen Niederlagen gegen die Hydroger. In bester Stimmung zeichneten sie Mitteilungen für Freunde und Verwandte auf.
Während Tanker das auf Yreka konfiszierte Ekti übernahmen, brachten die irdischen Medien-Netzwerke Berichte und Interviews. Die »Yreka-Rebellion« war mit minimalen Verlusten und Kollateralschäden beendet worden.
Tasia Tamblyn sah sich die Berichte an, kaum überrascht davon, dass die Tatsachen ziemlich verdreht und entstellt waren. Die yrekanischen Kolonisten hatten nicht annähernd so viel Treibstoff gehortet, wie immer wieder behauptet wurde, aber General Lanyan musste die Belagerung irgendwie rechtfertigen.
Sie wusste um die Lügen und die Ungerechtigkeit erfüllte sie mit Zorn. Die angerichteten Schäden waren nicht nötig gewesen. Nun, dies war eben die Große Gans…
Als Tasia in ihre Kaserne zurückkehrte, half ihr Kompi EA beim Auspacken. Der kleine Roboter – er war nur halb so groß wie sie – ging programmierten Aufgaben nach und leistete Tasia gleichzeitig Gesellschaft.
Bei den Wasserminen auf Plumas hatten Tasia und EA in den Grotten tief unter dem Eisschild oft Orte gefunden, wo sie sich vergnügen konnten. Jetzt fragte sie sich, ob sie jemals heimkehren würde. Ihre Zeit bei der Terranischen Verteidigungsflotte hätte eigentlich um sein sollen, aber durch den Hydroger-Krieg kam es zu einer Zwangsverpflichtung.
Inzwischen war die naive Hoffnung geschwunden, einen raschen Sieg zu erringen, und angesichts der bitteren Realität konnten es sich die Tiwis nicht leisten, ausgebildetes Personal zu verlieren. Die Reihen der TVF hätten sich schnell gelichtet, denn die neuen Rekruten begriffen schnell, dass eine militärische Laufbahn nicht nur aus Heldentum und Spaß bestand.
»Hast du eine angenehme Zeit bei Yreka verbracht, Tasia?«, fragte EA, während er der Reisetasche zerknitterte Kleidung entnahm.
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Es tut mir Leid, das zu hören, Tasia.«
Die stolzen Yrekaner erinnerten sie an die Roamer, unabhängige Menschen, die sich ohne viel Hilfe von der Hanse ein Heim geschaffen hatten. »Bisher dachte ich, die Gans hätte nur etwas gegen Roamer, aber auf Yreka habe ich gesehen, mit welcher Arroganz sie den eigenen Kolonisten begegnet.«
»Vielleicht mag die Hanse keine Personen, die sich nicht anpassen.«
Tasia schürzte die Lippen. »Ich glaube, da hast du Recht, EA.«
»Danke, Tasia.«
In der Offiziersmesse saß sie wie üblich mit Robb zusammen.
Sie gaben kaum zu, ein Paar zu sein, obwohl alle anderen sahen, was vor sich ging, und höflich den Anschein erweckten, nichts zu bemerken. Der dunkelhäutige junge Mann hatte auf der anderen Seite des Tisches Platz genommen und schilderte die Manöver, die er mit seinen Remoras durchführen wollte. Er vermied es, über die Belagerung zu reden, weil er wusste, dass sie Tasia noch immer belastete.
Sie holte für sie beide Kaffee, während er die Teller trug. Ihre Mahlzeit bestand aus einer zähen Masse, die alle notwendigen Nährstoffe enthielt und an diesem Abend nach Rindfleisch schmeckte. Bevor Tasia den ersten Bissen nehmen konnte, leuchtete der große Bildschirm an der Wand auf und König Peter erschien. Er lobte die Belagerungsflotte, weil sie
»dringend benötigtes Ekti für die Hanse sichergestellt hatte«.
Er fügte eine strenge, aber irgendwie glanzlose Warnung an andere Kolonien hinzu – es klang wie vorgelesen. »Alle Menschen müssen bei diesem Kampf zusammenarbeiten.
Kolonisten dürfen nicht allein an sich denken, sondern an die Bedürfnisse der ganzen Menschheit.«
»Shizz, Brindle«, murmelte Tasia aus dem Mundwinkel,
»nachdem wir so viel Ekti konfisziert haben… Glaubst du, wir bekommen deshalb mehr Geld?«
Robb hörte den Sarkasmus in ihrer Stimme und runzelte die Stirn. »Alle Kolonien haben den gleichen Rationierungsbefehl bekommen, Tasia. Niemand wurde bevorzugt oder benachteiligt. Sollten wir uns von den Yrekanern eine lange Nase machen lassen?«
Es blitzte in Tasias Augen. »Als der Rationierungsbefehl kam, waren die Ressourcen nicht gleichmäßig auf die besiedelten Welten verteilt. Wenn eine Kolonie bereits an einem dünnen Faden hängt, so kann man nicht von ihr erwarten, dass sie auch den noch durchtrennt. So was wäre dumm.«
Sie trank bitteren Kaffee, beobachtete König Peter bei seiner kurzen Ansprache und erinnerte sich an die Verzweiflung im Gesicht der yrekanischen Großgouverneurin. »Roamer hätten zusammengehalten und sich gegenseitig geholfen.«
»Man kann die Dinge aus mehr als nur einem Blickwinkel sehen.« Robb legte Tasia die Hand auf den Unterarm, um zu zeigen, was er dachte. »Du scheinst immer alles aus der Roamer-Perspektive zu sehen. Ich möchte nicht mit dir streiten. Meine Güte, die Yrekaner tun mir ebenfalls Leid.«
»Aber du kannst ihnen nicht helfen«, sagte Tasia.
»Nein, und du auch nicht.«
Tasia wusste, dass er Recht hatte. Sie kehrte in ihr Quartier zurück, stand dort lange unter der Dusche und schrubbte sich gründlich ab. Von der nächsten Mission hoffte sie, dass es dabei gegen den wahren Feind ging.
36
GENERAL KURT LANYAN
Wiederholte Sichtungen von Kugelschiffen der Hydroger ließen die Anspannung in der Terranischen Verteidigungsflotte wachsen. Von seinem Hauptquartier auf dem Mars aus schickte General Lanyan zusätzliche Patrouillen in alle zehn Gitter, obwohl niemand glaubte, dass selbst gut bewaffnete Scoutflotten einem Angriff durch die Hydroger standhalten konnten.
Die Unruhe des Generals wuchs, als er Berichte der Erkundungsgruppen entgegennahm und dabei immer wieder an die länger werdende Liste von zwangsverpflichteten Piloten erinnert wurde, die bei Einsätzen einfach »verschwanden«. Er glaubte, dass sie alle feige Deserteure waren, Abschaum.
»Es gibt viele Gefahren im All, General«, sagte Commander Patrick Fitzpatrick. »Hydroger, Asteroiden, Strahlungsstürme.
Raumschiffe können leicht spurlos verschwinden.« Nach der Rückkehr von Yreka war er vorübergehend von der Gitter-7-Flotte abkommandiert worden und zählte nun zu General Lanyans Mitarbeitern im TVF-Hauptquartier auf dem Mars.
Seine Familie hatte großen Einfluss und deshalb wollte ihn der General für einen hohen Posten vorbereiten, vermutlich in der Nähe der Erde.
»Ja, ich bin sicher, die vermissten Piloten wussten genau über die ›Gefahren im All‹ Bescheid. Wir können keine Zeit mit der Suche nach ihnen vergeuden, obwohl ich liebend gern einen von ihnen beim Kragen packen würde, um ein Exempel an ihm zu statuieren.« Lanyan schob seine Dokumente beiseite, schaltete die Bildschirme aus und stand auf. »Ich komme mir wie ein Eunuch in Uniform vor. Wir haben keine wirkungsvollen Waffen gegen die verdammten Droger, und die Hanse ist ein altes Weib, das auf dem letzten Loch pfeift. In fünf Jahren sind wir nicht einen Schritt weitergekommen.« Er hieb mit der großen Faust auf den Tisch.
Fitzpatrick nickte mitfühlend, schwieg aber. Angesichts seiner blaublütigen Abstammung hatte er vermutlich damit gerechnet, in seiner militärischen Laufbahn schnell voranzukommen, mit der einen oder anderen hilfreichen Protektion. Zweifellos war er rascher befördert worden, als es seinen Leistungen entsprach, aber bisher hatte er alle Herausforderungen recht gut überstanden.
In Kriegszeiten erhielt nicht einmal der reichste und verwöhnteste Offiziersanwärter einen nutzlosen Posten.
Fitzpatrick wollte auf Fotos erscheinen, stolz in seiner besten Uniform, damit seine Familie politisches Kapital aus der Tapferkeit des Sohns schlagen konnte, dem »hervorragenden Beispiel für Pflichtbewusstsein in Krisenzeiten«. Der General konnte das zu seinem Vorteil nutzen, solange Fitzpatrick nichts wirklich Dummes anstellte.
»Ich habe einen Vorschlag, Sir.«
»Wenn Sie wissen, wie wir den Krieg gegen die Hydroger gewinnen können, befördere ich Sie auf der Stelle zum Brigadegeneral.«
Fitzpatrick lächelte dünn. »Mein Vorschlag dient vielleicht nicht dazu, den Krieg zu gewinnen, aber er könnte Ihnen dabei helfen, mit Ihrer Unruhe fertig zu werden. Warum übernehmen Sie nicht selbst das Kommando über eine der Scoutflotten?
Gehen Sie für einen Monat auf Erkundung und halten Sie die Augen offen. Rechtfertigen Sie es mit dem Hinweis, dass Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, was dort draußen passiert.« Das Lächeln wuchs in die Breite. »Die Hanse kann darauf hinweisen, dass dem General der TVF die Sicherheit der Bürger wichtig genug ist, um sich selbst auf den Weg zu machen, mit der Absicht, die bisherigen
Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen und die vom Feind ausgehende Gefahr einzuschätzen.«
»Das brächte mir gute Publicity«, kommentierte Lanyan.
Fitzpatrick deutete auf den überfüllten Schreibtisch. »Das ist nichts für Sie. Überlassen Sie den Verwaltungskram Admiral Stromo. Seit der Niederlage beim Jupiter taugt er nichts mehr als Gefechtsoffizier.«
»Seien Sie Ihren vorgesetzten Offizieren gegenüber nicht respektlos, Commander.«
Der junge Mann senkte die Stimme. »Wir sind allein in Ihrem Büro, General, und Sie wissen genau, dass ich Recht habe.«
»Ja, verdammt.« Voller Abscheu blickte Lanyan auf die Memos, die darauf warteten, von ihm unterschrieben zu werden. Seit sechs Monaten hatte er keine wichtige Entscheidung getroffen. Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, dies alles »Bleib-zu-Hause-Stromo« zu überlassen. »Na schön.
Ich folge Ihrem Rat, Fitzpatrick. Treffen Sie alle notwendigen Vorbereitungen. Ich breche mit den nächsten Scouts auf.«
»Das wäre ein Flug nach Gitter 3, Sir.«
»Meinetwegen. Soll sich Admiral Stromo um diesen Mist kümmern.« Lanyan lächelte humorlos. »Vielleicht genügt das als Strafe, damit er endlich seinen Bammel loswird.«
Nach zwei Wochen Patrouillendienst in Gitter 3 begriff General Lanyan: Es fühlte sich nicht besser an, im leeren All umherzustreifen, als auf dem Mars an einem Schreibtisch zu sitzen und nichts zu tun.
Durch die Ekti-Knappheit war der Verkehrsstrom im Weltraum zu einem Rinnsal geworden. Die Scoutflotte begegnete keinen Schiffen der Hanse oder des Ildiranischen Reiches. Lanyan saß auf der Brücke seines ausgeliehenen Moloch und seufzte schwer. »Der Spiralarm scheint den Laden dichtgemacht zu haben.«
Der neben ihm sitzende Fitzpatrick nickte. »Der normale Handel ist praktisch zum Erliegen gekommen. Die Kolonien sind auf sich allein gestellt.«
Lanyan hatte vor kurzer Zeit den Vorschlag gehört, wieder Generationenschiffe zu bauen, langsame Raumer, die konventionellen Treibstoff verwendeten – solche Schiffe wären jahrhundertelang zwischen den Kolonien unterwegs gewesen. In dem Vorschlag kam eine Verzweiflung zum Ausdruck, gegen die sich Lanyan sträubte. Derartige Projekte zu verwirklichen… Es wäre auf das Eingeständnis hinausgelaufen, dass der Krieg gegen die Hydroger nicht gewonnen werden konnte, dass es für Menschen und Ildiraner nie wieder die Möglichkeit gab, schnell durch den Spiralarm zu reisen. Die Vorstellung allein war unerträglich, eine Beleidigung für den Geist des Fortschritts und der Erforschung.
Nein, sie mussten den Kampf fortsetzen und die verdammten Hydroger dorthin zurücktreiben, woher sie gekommen sind.
»Wir orten Sternenantrieb-Emissionen, General. Ein Raumschiff vor uns, am Rand unserer Sondierungsreichweite.
Sollen wir auf Abfangkurs gehen?«
»Ist es eines unserer Schiffe oder ein Ildiraner?«, fragte Lanyan.
»Das lässt sich aus so großer Entfernung nicht feststellen, Sir.
Es handelt sich um keine gewöhnliche Konfiguration.«
Lanyan stützte das kantige Kinn auf die Hand. Fitzpatrick beugte sich näher. »Wir haben nichts anderes zu tun, General.
Vielleicht hat jener Captain Informationen für uns. Wir könnten Hinweise gebrauchen.«
Das bot Lanyan einen Vorwand. »Also gut. Vielleicht ist es einer der Deserteure. Sehen wir uns ihn aus der Nähe an.«
Der Moloch änderte den Kurs, um das fremde Schiff mitten im Nichts abzufangen. Der seltsame Raumer bestand aus einer Habitatkapsel und einem großen Triebwerk auf einem Gerüst, das mehrere Frachtkugeln umgab.
»So ein Schiff habe ich nie zuvor gesehen«, sagte Lanyan.
»Es ist ein Roamer«, erwiderte Fitzpatrick. »Sie stehlen Teile und setzen sie zusammen. Mich wundert, dass solche Schrotthaufen raumtüchtig sein können.«
Der unbekannte Captain versuchte erst, dem Moloch zu entkommen, gab diese Bemühungen aber auf, als Lanyan Remoras startete, die ihm den Weg abschnitten.
Der bärtige Roamer erschien auf dem Bildschirm. Seine wie zusammengeflickt wirkende Uniform wies protzige Verzierungen auf, die Lanyans militärisches Auge beleidigten.
»Ich bin Raven Kamarow, Pilot dieses Roamer-Schiffes.
Warum halten Sie mich im offenen interstellaren Raum an? Ich muss eine Ladung zu ihrem Bestimmungsort bringen.«
Lanyan schnaufte leise. »Wissen Sie unseren Schutz nicht zu schätzen, Captain Kamarow? Es treiben sich Hydroger herum.«
Der andere Captain schnitt eine finstere Miene. »Wir sind uns der Hydroger sehr wohl bewusst. Die Verluste der Roamer sind zehnmal so groß wie die aller anderen.«
»Mir blutet das Herz«, hauchte Fitzpatrick.
»Woraus besteht Ihre Fracht, Captain?«, fragte Lanyan.
»Ich bringe Roamer-Außenposten und Hanse-Kolonien dringend benötigtes Ausrüstungsmaterial. Sehen Sie in Ihrer eigenen Datenbank nach, General. Meine
Handelsaufzeichnungen sind in Ordnung.«
Der wissenschaftliche Offizier des Moloch beendete die Sondierungen und wandte sich an den General. »Er befördert Ekti, Sir. Die Frachttanks sind bis zum Rand damit gefüllt.«
»Ekti!«, sagte Fitzpatrick. »Wie viel?«
Der wissenschaftliche Offizier nannte eine Zahl, und Lanyan übertrug sie in ihm vertraute Begriffe. »Das ist mehr als die Menge, die wir auf Yreka sichergestellt haben. Genug für unsere Patrouille und fünf andere.« Lanyan begegnete dem Blick seines Protegés. Fitzpatrick nickte.
»Captain Kamarow, wissen Sie, dass die Terranische Verteidigungsflotte einen ständig geltenden Prioritätsbefehl hat, der Ihre Leute und Ekti-Lieferungen in jeder beliebigen Quantität betrifft?«
»Wie ich schon sagte, General…«, erwiderte Kamarow mit steinerner Miene. »Wir sind hier im freien interstellaren Raum und die Hanse kann den Roamer-Clans nicht ihre Gesetze aufzwingen. Wir haben Ihre Charta nicht unterzeichnet. Sie sind nicht befugt, mich aufzuhalten. Die Roamer liefern der TVF bereits den größten Teil des von uns produzierten Ektis, aber wir haben auch einen Eigenbedarf.«
»Was für eine Überraschung«, brummte Fitzpatrick. »Die Roamer horten Ekti für sich selbst.« Er hob die Stimme, damit sie übertragen wurde. »Woher haben Sie all dies Ekti?«
»Wasserstoff ist das häufigste Element im Universum.«
»Captain Kamarow, Ihre höchste Priorität sollte darin bestehen, das Militär mit Treibstoff zu beliefern, das alle Menschen schützt, auch die Roamer-Clans«, sagte Lanyan.
»Wir nehmen Ihnen gern die Fracht ab und geben Ihnen dadurch die Möglichkeit, das Ekti zu sparen, das für die Auslieferung Ihrer Fracht nötig wäre.« Er hatte sich immer über die eklatante Unabhängigkeit der Weltraumzigeuner geärgert. Es wurde Zeit, den Roamern eine Lektion zu erteilen.
Trotz Kamarows Protest beauftragte der General eine Remora-Staffel damit, zum Roamer-Schiff zu fliegen und die Ekti-Tanks aus dem Frachtgerüst zu lösen. Von der Brücke des Moloch aus beobachtete er den Vorgang und hörte die Flüche des bärtigen Roamers, bis er den Kom-Kanal schloss. Die schnellen Remoras brachten das wertvolle Ekti zum großen Schlachtschiff und dort wurden die Tanks verstaut.
Lanyan traf Vorbereitungen für die Fortsetzung des Flugs und öffnete noch einmal den Kom-Kanal. Kamarows Stimme ertönte aus dem Lautsprecher. »… Piraterie, reine Piraterie. Ich erwarte Entschädigung für meine Ladung! Viele Roamer haben dieses Ekti mit ihrem Leben bezahlt.«
»Wir sind im Krieg, Captain«, sagte Lanyan schlicht.
»Menschen sterben aus verschiedenen Gründen.«
Fitzpatrick flüsterte dem General eine Warnung ins Ohr. »Die Kakerlaken könnten auf den Gedanken kommen, für diese Aktion Vergeltung zu üben, Sir. Was ist, wenn sie uns ganz vom Ekti-Nachschub abschneiden? Wir bekommen nicht viel Treibstoff von ihnen, aber sie sind unsere einzigen Lieferanten.«
»Sie haben Recht, Commander Fitzpatrick. Wenn sich dieser Zwischenfall herumspricht, könnten sich Probleme ergeben.«
»Andererseits: Wenn Kamarow keine Gelegenheit erhält, den anderen Roamern Bericht zu erstatten, regt sich niemand auf.
Ihre Befehle, General?«
Lanyan lehnte sich zurück und sah die Entscheidung ganz klar vor sich. Aber er wusste auch, dass er damit eine Grenze überschritt. Er sah Fitzpatrick an, den eifrigen jungen Offizier, der bereit war, die Initiative zu ergreifen – und die Verantwortung zu übernehmen. Lanyan beschloss, sich die Hände nicht schmutzig zu machen.
Er stand auf. »Ich ziehe mich in mein Quartier zurück.
Commander Fitzpatrick, Sie haben das Kommando. Und ich glaube, Sie wissen, was diese Situation erfordert. Wie wir bereits besprochen haben: Es gibt viele Gefahren im All.«
»Ja, Sir!«
Lanyan verließ die Brücke und wollte sich später mit einer angemessenen Durchsage an die Crew wenden.
Fitzpatrick wartete nicht einmal, bis der General sein Quartier erreicht hatte, bevor er den Befehl gab, das Feuer auf den Roamer-Frachter zu eröffnen.
37
CESCA PERONI
Am äußersten Rand des Osquivel-Systems, hoch über den Umlaufbahnen der Planeten, war das Licht der Sonne nur wenig heller als der Schein ferner Sterne. Die Kometengruppen der
Roamer hatten Reflektoren,
Sonnenspiegel, Kondensatoren und mit Atomenergie betriebene Schmelzöfen installiert. Die Lichter jeder Substation wurden reflektiert von Eisbergen und Gestein, das aus der Entstehungszeit des Sonnensystems stammte.
Del Kellum flog einen kleinen Transporter und brachte Cesca Peroni hoch über die beeindruckenden Werften in den Ringen von Osquivel. Er sprach pausenlos und war sehr stolz auf die neuen Anlagen im fernen Kometenhalo.
»Die riesigen Reaktoren haben wir in den Ringen gebaut und sie dann über die Ekliptik gebracht. Ein gravitationell stabiler Ort dient uns gewissermaßen als Pferch für die Kometen.
Triebwerksmodule steuern sie aus ihren Umlaufbahnen dorthin.«
»Sie spielen Billard mit gewaltigen Eisbergen«, sagte Cesca.
Kellum lachte, als er den Transporter durch den Halo steuerte, vorbei an Eis- und Gesteinsfragmenten. »Mit Eisbrocken, die nur so groß wie Berge sind, halten wir uns normalerweise nicht auf.«
Der Produktionsbereich enthielt einen Schwarm kleiner Schiffe und riesige Fabriken. Mit Sprengladungen zerlegten Arbeiter die größeren Kometen in kleinere Teile, die man dann mit Schmelzfilmen ausstattete. Unter diesen wurde aus Eis Wasser und aus Wasser Gas, das man absaugte und für die Herstellung von Ekti verwendete.
»Sehen Sie? Wer braucht Himmelsminen?«, fragte Kellum mit erzwungenem Optimismus. »Dies ist keine Protzerei. Es funktioniert wirklich.«
»Sie haben meine Herausforderung zweifellos angenommen, Del Kellum, aber stellen Sie es für mich nicht in den rosigsten Farben dar«, sagte Cesca. »Ich kenne die Zahlen. Von echter Effizienz sind Sie noch weit entfernt.«
»Uns bleibt keine Wahl, verdammt. Jedes Clan-Oberhaupt, das nicht in neuen Bahnen denken kann, sollte sich auf die Seite rollen und im Vakuum sein Helmvisier öffnen.« Kellum schüttelte den Kopf. »Mit verbesserten Ekti-Reaktoren können wir den minimalen Anforderungen genügen. Shizz, vielleicht bleibt sogar noch etwas für den Verkauf an die Große Gans übrig. Andernfalls denkt sie vielleicht, dass wir sie betrügen.«
Cesca rollte mit den Augen. »Davon geht sie ohnehin aus. Es entspricht ihrer Denkweise.«
Roamer waren immer Outcasts gewesen, aber mit der Lieferung von Ekti hatten sie sich eine respektable Nische geschaffen. Ohne diese Ressource würden sich vielleicht eines Tages verzweifelte Roamer gezwungen sehen, sich der größeren Gemeinschaft der Hanse anzuschließen. Vielleicht blieb ihnen keine andere Wahl, als die Charta der Hanse zu unterschreiben und sich jener Regierung zu unterstellen, der sie so lange zu entkommen versucht hatten.
Oder die verzweifelte Hanse machte Jagd auf sie.
Cesca wollte nicht zwischen Überleben und Freiheit wählen müssen.
Aber wo konnte sie Hilfe finden? Wer befand sich in einer ähnlichen Lage? Viele Jahre lang hatten Roamer an Bord gepachteter Himmelsminen für die Ildiraner gearbeitet und sich schließlich die Unabhängigkeit erworben. Wenn sie kein Ekti liefern konnten, blieben sie ohne Nutzen für den Weisen Imperator. Bei Clan-Versammlungen sprach man über die Möglichkeit, sich mit den schwächeren, abseits gelegenen Hanse-Kolonien oder mit Theroc zu verbünden.
Jeden Tag war sich Cesca ihrer überwältigenden Verantwortung bewusst, aber sie konnte die Techniker und Erfinder der Roamer nicht auffordern, noch härter zu arbeiten.
Sie gaben bereits ihr Bestes; mehr war einfach nicht möglich.
Ein mondgroßer Ofen nahm Kometenschutt auf und erhitzte ihn, wodurch Gase entstanden. Atomare Separatoren trennten die Wasserstoffmoleküle vom Rest ab und Kometenschlamm wurde durch Rückgewinnungsleitungen abgeleitet. Er enthielt zahlreiche schwere Elemente, die für andere Zwecke verwendet werden konnten.
Cesca beobachtete die Aktivitäten, während Kellum langsam durch den Produktionsbereich flog, damit sie einen Eindruck gewinnen konnte – das war der Grund für ihre Reise hierher.
Aber sie wäre viel lieber in den Ring-Werften von Osquivel gewesen, bei Jess. Wann konnten sie sich erneut treffen?
Del Kellum steuerte den Transporter zum größten Kometenverdampfer und dockte an. Das gewaltige, dünnwandige Gebilde ragte als schwarze Silhouette auf und verdunkelte die Lichter der industriellen Anlagen. »Wir nennen dies unser ›Kometen-Hilton‹. Das beste Quartier diesseits des Kuiper-Gürtels.«
Cesca lächelte. »Als Sprecherin der Roamer bin ich natürlich an solchen… Luxus gewöhnt.«
Die Wände des hellen Salons und des Freizeitraums bestanden aus den üblichen Metallplatten. Kellum zeigte Cesca stolz sein Aquarium mit den schwarzen und silbernen Meerengeln. »Sie vermehren sich gut, selbst hier draußen.
Ähnliche Aquarien habe ich auch in den anderen Anlagen, eine kleine Erinnerung an daheim.«
»Fische im Weltraum? Hätten Sie sich nicht Gartenbau als Hobby zulegen können?«
»Das ist nicht das Gleiche.« Kellum schob eine Tasse mit klarer Flüssigkeit über den Tisch. »Hier, frisches Kometenwasser. Unberührt seit der Entstehung des Sonnensystems. Alles andere, was Sie trinken, ist tausendmal durch menschliche Körper und Wiederaufbereitungssysteme gelaufen. Dies ist wahrhaft reines Wasser: Wasserstoff und Sauerstoff, sonst nichts. Könnte in den oberen Marktsegmenten ein Verkaufsschlager werden.«
Cesca sah auf die Tasse hinab. »Hat es einen anderen Geschmack?«
Kellum zuckte mit den Schultern. »Für mich nicht.«
Ein Arbeiter eilte mit einer Nachricht herbei. »Sprecherin Peroni! Dies kam gerade von einem Transportschiff bei den Ring-Werften.« Kellum bemerkte den Ernst im Gesicht des jungen Mannes und winkte ihn näher.
Cesca nahm die Nachricht entgegen. Sie hoffte, dass es sich um eine Mitteilung von Jess handelte, aber sie befürchtete auch, mit einem weiteren Notfall konfrontiert zu werden. Ein langer Übertragungsweg mit vielen Zwischenstationen lag hinter der Nachricht. Sie war von Handelsschiffen weitergegeben worden und ein Roamer hatte sie nach Rendezvous gebracht. Von dort aus war sie nach Osquivel gelangt.
»Wer eine Nachricht über so viele Stationen schickt, hat entweder sehr schlechte Neuigkeiten oder andere dringende Gründe, Sie erreichen zu wollen.«
Andere dringende Gründe…
Reynald von Theroc sandte Cesca einen sorgfältig formulierten Heiratsantrag.
Es dauerte nicht mehr lange, bis er zum neuen Oberhaupt seiner Welt wurde, und er brauchte eine starke Frau an seiner Seite. Er führte logische, offensichtliche Gründe dafür an, warum ein Bündnis zwischen Theronen und Roamern ihre Unabhängigkeit von der Hanse stärken würde. Dadurch hätten sie die Möglichkeit bekommen, Ressourcen und Fähigkeiten zu teilen und dem von der TVF ausgeübten Druck besser standzuhalten. Die kürzliche Belagerung der Kolonie Yreka zeigte die Erbarmungslosigkeit der Hanse. Es gab keine Garantie dafür, dass es Theroc oder den Roamern demnächst nicht ebenso ergehen konnte.
»Gegen die Hydroger kann die TVF nichts ausrichten und deshalb sucht sie nach anderen Siegen, auch wenn sie sich dabei gegen das eigene Volk wendet. Mit theronischen grünen Priestern und der Ekti-Produktion der Roamer können wir eine starke Gemeinschaft bilden. Denken Sie darüber nach. Ich bin sicher, es ist eine gute Idee.« Cesca stellte sich Reynalds scheues Lächeln vor. »Außerdem wären wir beide ein gutes Paar.«
Sie las die Nachricht erneut und glaubte zu spüren, wie es ihr das Herz zerriss. Der neugierige Del Kellum versuchte, einen Blick auf die Nachricht zu werfen, aber Cesca faltete sie zusammen. »Ich muss über dies nachdenken, Del. Verschieben wir den Rest der Tour auf später.«
Für Jess und sie war der Tag schon nahe, an dem sie ihre Heiratspläne publik machen wollten. Cesca liebte Jess sehr und hatte so lange gewartet. Sie verdiente ein wenig persönliches Glück.
Aber wenn Reynald Recht hatte?
Cesca wusste, was Sprecherin Okiah sagen würde. Wie konnte sie ihre eigenen Gefühle für wichtiger halten als die Zukunft aller Roamer-Clans? Die Theronen wären tatsächlich starke – und sehr willkommene – Verbündete gewesen, viel bessere als die Große Gans oder das Ildiranische Reich.
Und doch…
38
ADAR KORI’NH
Unter dem orangefarbenen, von Hyrillkas sekundärer Sonne erhellten Himmel beendete Adar Kori’nh die komplexe Himmelsparade mit zwei Kriegsschiffen. Die anderen fünf Schiffe standen auf dem Raumhafenplatz und wurden dort gewartet. In nur einem Tag sollte die Septa bereit sein für die Rückkehr nach Ildira – der Erstdesignierte wollte nicht lange auf Hyrillka bleiben.
Nach den Manövern flog Kori’nhs Flaggschiff übers Mosaik des Raumhafenplatzes. Während das große, verzierte Schiff mit glitzernden, flossenartigen Sonnensegeln über der Menge schwebte, nahmen die Sensortechniker eine Überprüfung aller Systeme vor.
Sie entdeckten das Hyrillka entgegenrasende Kugelschiff als Erste.
»Geben Sie Alarm!«, sagte Kori’nh. Kaltes Entsetzen breitete sich in seiner Brust aus, als er daran dachte, dass sich die meisten Besatzungsmitglieder der Kriegsschiffe in der Stadt aufhielten. »Alle Crewmitglieder sollen unverzüglich zu ihren Schiffen zurückkehren. Aber warten Sie nicht auf jeden.
Starten Sie, sobald genügend Besatzungsmitglieder an Bord sind.«
Kori’nh wies die beiden Kriegsschiffe der Himmelsparade an, über dem Zitadellenpalast des Designierten in Abwehrstellung zu gehen. Schnelle Scouts brachen auf, um das Kugelschiff der Hydroger im Auge zu behalten.
Die Angriffsjäger, die ebenfalls an der Parade teilgenommen hatten, lösten die bunten Bänder und Fahnen, ließen sie zu Boden fallen. Jedes kleine Schiff verfügte über die normale Bewaffnung, aber sie hatten nicht genug Munition für den Kampf.
Trotzdem würden sie sich dem Feind entgegenstellen.
Nach wenigen Minuten startete das erste der gelandeten Kriegsschiffe und der Adar war stolz auf die Tüchtigkeit des Captains – er hatte es innerhalb sehr kurzer Zeit geschafft, eine Minimalcrew zusammenzustellen. Hunderte von Angehörigen der Solaren Marine eilten durch die Stadt zu den wartenden Kriegsschiffen, um dort ihre Stationen zu besetzen.
Im rankenbedeckten Palast spürten die Höflinge, dass etwas Wichtiges geschehen war, aber noch ahnten sie nichts von der Art des Notfalls. Die drei Priester des Linsen-Geschlechts wirkten ebenso verwirrt wie die Leute, die sich Erklärung von ihnen erhofften. Der Hyrillka-Designierte zog seine geliebten Vergnügungsgefährtinnen näher zu sich heran und sagte in einem tröstenden Tonfall: »Ich beschütze euch, das verspreche ich.«
Als das Kugelschiff der Hydroger über der Stadt erschien, kam es zu Panik. Blaue Blitze zuckten von den pyramidenartigen Auswüchsen der Kugel nach unten. Die Fremden schickten keine Mitteilung, weder eine Warnung noch ein Ultimatum. Sie begannen einfach damit, den Planeten zu verheeren.
Kori’nh fühlte Übelkeit, als er vom Kommando-Nukleus seines Schiffes aus die Ereignisse beobachtete. Die Strahlblitze rissen den Boden auf und zerstörten Gebäude. Die hübschen Parks, die wundervollen hängenden Gärten, die von Nialias gesäumten Kanäle – saphirblaue Energiestrahlen vernichteten alles.
Der Adar erinnerte sich an seine Niederlage bei Qronha 3 und knurrte entschlossen: »Wir haben nicht um eine Konfrontation mit diesem Feind gebeten, aber wir werden nicht tatenlos zusehen, wie er Hyrillka zerstört.«
Auf dem Raumhafenplatz startete das nächste Kriegsschiff und daraufhin befanden sich vier Einheiten der Solaren Marine in der Luft. »Kreisen Sie das Schiff der Hydroger ein und nehmen Sie es mit Ihrem ganzen Arsenal unter Beschuss: Projektile, Bomben, Energiewellen – setzen Sie alles ein.
Vielleicht verdienen wir uns heute einen Platz in der Saga.«
Das erste Kriegsschiff, kühner als die anderen, sauste dem Feind entgegen. Seine silbrigen Flossen und Bänder wirkten wie spitzes Gefieder. Aus den Geschützkuppeln drangen immer wieder grelle Blitze, und destruktive Energie traf die kristallen glitzernde Außenhülle des Kugelschiffes. Kori’nh brachte sein eigenes Schiff nahe genug heran, um von der anderen Seite das Feuer auf den Feind zu eröffnen, aber es blieben nur einige dunkle Brandflecken am Kugelschiff zurück.
Der Zangenangriff schien die Hydroger überhaupt nicht zu beeindrucken. Weiterhin zuckten Blitze aus den pyramidenförmigen Erweiterungen, zerstörten Bewässerungskanäle, verwüsteten Felder und verbrannten Nialias. Einige grauweiße Pflanzenmotten lösten sich von den Stängeln und flatterten fort. Dampf und Rauch stiegen auf.
Das Kugelschiff summte unheilvoll, wendete in einem weiten Bogen und begann mit einem zweiten Angriffsflug. Wieder gleißten Energieblitze und brachten dem Rand der Hauptstadt Zerstörung.
Ein weiteres der gelandeten Kriegsschiffe startete, kletterte gen Himmel und eröffnete das Feuer auf den Feind. Doch das verzierte Schiff hatte gerade erst abgehoben, als die Kugel der Hydroger über den Raumhafenplatz hinwegflog. Das ildiranische Schiff schickte ihm Projektile entgegen, doch damit ließ sich gegen die Fremden nichts ausrichten.
Die Hydroger schienen zum ersten Mal Kenntnis von der Solaren Marine zu nehmen und das gerade gestartete Kriegsschiff wurde von mehreren Energiestrahlen getroffen.
Es platzte auseinander und die Treibstoffzellen explodierten.
Der große Rumpf fiel und die pfauenfederartigen Solarfinnen flatterten. Das Wrack prallte gegen eines der beiden anderen Kriegsschiffe, die noch Startvorbereitungen trafen. Sirenen heulten und Schreie erklangen aus den Kom-Lautsprechern –dann kam es zu weiteren Explosionen, die beide Schiffe verschlangen.
Kori’nh schnappte entsetzt nach Luft und erzitterte in den Schockwellen des Thism, rief dann mit scharfer Stimme: »Die Stationen besetzen! Bei diesem Kampf brauche ich die volle Aufmerksamkeit aller Soldaten!« Ich darf keine weitere Niederlage zulassen! Ich bin der Oberbefehlshaber der Solaren Marine, Protektor des Ildiranischen Reichs…
Bevor das letzte gelandete Kriegsschiff starten konnte, flogen die gnadenlosen Hydroger einen neuen Angriff. Die pyramidenförmigen Projektoren spuckten blaues Feuer, dem ein weiteres ildiranisches Schiff zum Opfer fiel.
Dicke schwarze Rauchsäulen wuchsen aus den Trümmern auf dem Raumhafenplatz, während sich das Feuer von Treibstoffzellen ausbreitete und nahe Gebäude erfasste.
»Einsatz aller Waffen!«, wiederholte Kori’nh, obwohl er die Kommandanten der vier verbliebenen Schiffe nicht extra dazu auffordern musste. »Kinetische Raketen und Schneidstrahlen!«
Während die Schiffe der Solaren Marine die Kugel unter Beschuss nahmen, feuerten die Hydroger auf Hyrillkas üppigen Rankenwald, verbrannten Blumen, Felder und Gärten.
Blaue Blitze ließen verzierte Häuser bersten, verdampften Nebengebäude und ließen kristallene Türme einstürzen. Die ildiranischen Verteidiger konnten kaum etwas gegen das Chaos unternehmen, aber Kori’nh war verpflichtet, es wenigstens zu versuchen.
Die fast schrille Stimme des Hyrillka-Designierten ertönte aus den Kom-Lautsprechern. »Adar Kori’nh, Sie müssen unverzüglich die gesamte Bevölkerung evakuieren! Wir können uns nicht vor den Angriffen schützen.«
»Mir stehen nicht genug Schiffe zur Verfügung, Designierter, und außerdem ist die Zeit zu knapp. Mir sind nur vier Kriegsschiffe geblieben, und ich kann sie nicht vom Kampf gegen die Hydroger abziehen.«
Das Kugelschiff feuerte eine laterale Salve ab und ein ildiranischer Raumer wurde von einem Energiestrahl gestreift
– zum Glück hielten sich die Schäden in Grenzen. Das getroffene Kriegsschiff drehte ab, während die drei anderen ihr ganzes offensives Potenzial gegen den Feind einsetzten.
»Sie müssen die Bewohner von Hyrillka retten, Adar!« Der Designierte klang fassungslos und schien nicht glauben zu können, dass die unbesiegbare Solare Marine in Bedrängnis geriet. Kori’nh vermutete, dass Rusa’h zu viele militärische Paraden gesehen hatte.
Er begriff, was er tun musste. »Ich schicke einen Rettungsshuttle zu Ihrer Zitadelle, Designierter. Es wird Sie in Sicherheit bringen, zusammen mit dem Erstdesignierten und seinem Sohn. Das hat jetzt Priorität.«
»Sie dürfen mein Volk nicht einfach dem Tod überlassen«, jammerte der Designierte. »Meine Künstler und Berater…
meine schönen Vergnügungsgefährtinnen!«
»Ich kann sie nicht retten.« Voller Kummer gab der Adar dem Piloten die Anweisung, das Flaggschiff von der Kugel fortzusteuern. Seine Stimme klang erneut scharf, als er sich an ein Besatzungsmitglied wandte. »Schicken Sie unverzüglich einen Personentransporter. Nehmen Sie so viele Leute wie möglich auf, aber vergewissern Sie sich, dass sich die Designierten unter ihnen befinden.« Der Soldat machte sich sofort auf den Weg zum Flugdeck. »Was die anderen betrifft…«
»Adar, sehen Sie nur!«, rief einer der taktischen Techniker erschrocken.
Kori’nh blickte auf den großen Bildschirm, der den rötlichen Himmel von Hyrillka zeigte – und ein zweites Kugelschiff, das den unbewohnten Bereichen des Planeten entgegensank. Wie die erste Hydroger-Kugel eröffnete auch diese ohne eine Warnung das Feuer.
39
RLINDA KETT
Der Flug nach Rheindic Co war langweilig, obgleich Rlinda einen Passagier an Bord hatte. Der hoch gewachsene, zurückhaltende Mann bot keine gute Gesellschaft, denn die meiste Zeit über schwieg er.
Nach dem Start von Crenna war Davlin Lotze sofort bereit, sich an die Arbeit zu machen. »Ich nehme an, Basil Wenzeslas hat Ihnen Dossiers und Informationsmaterial mitgegeben, oder?«
Rlinda hob und senkte ihre breiten Schultern. »Bevor ich losflog, hat er Dateien in den Bordcomputer transferiert. Sie stehen Ihnen zur Verfügung.« Sie führte Lotze zu einem Terminal, und er begann sogleich damit, Daten abzurufen. »Ich habe nicht nachgesehen, ob sie mit einem Kennwort geschützt sind.«
Lotze musterte sie mit seinen mahagonibraunen Augen.
»Natürlich haben Sie das.«
Rlinda wusste nicht, ob sie beleidigt oder amüsiert sein sollte, weil er sie so leicht durchschaute. »Nun, ich habe ein Recht darauf zu wissen, was sich an Bord meines Schiffes befindet, und dazu gehören auch Informationen.«
Der stille Spion lächelte und sah auf den Bildschirm. »Die Dateien sind ohnehin frei zugänglich.«
»Sind Sie nur ein schlechter Unterhalter oder fallen Sie ganz in die ›antisoziale‹ Kategorie?«
»Die Crenna-Siedler haben mich gemocht.« Lotze sah vom Schirm auf, der ihm Berichte und Zusammenfassungen zeigte.
»Ich habe nichts gegen Ihre Präsenz, aber diese Dinge erfordern jetzt meine volle Aufmerksamkeit.«
Während der nächsten Stunden saß Lotze am Terminal des Bordcomputers und sah sich die Daten an, die der Vorsitzende Wenzeslas für ihn übermittelt hatte. Er las die Colicos-Berichte von Rheindic Co und informierte sich auch über die archäologische Arbeit auf Llaro, Pym und Corribus. Als er schließlich eine Pause machte, um etwas zu essen, verschränkte Rlinda die Arme. »Vermuten Sie ein Verbrechen hinter dem Verschwinden der beiden Archäologen?«
»Derzeit können wir nicht einmal sicher sein, dass sie verschwunden sind. Wir wissen nur, dass der Kontakt zu ihnen abbrach.«
»Hmm. Wäre es denkbar, dass sich jemand an ihnen rächen will, weil sie die Klikiss-Fackel entdeckten? Immerhin: Damit begann der ganze verdammte Hydroger-Kram. Viele Leute sind deshalb ziemlich sauer.«
»Auch die Hydroger. Nun, warten wir ab, was wir auf Rheindic Co vorfinden.«
Als der goldbraune Planet auf dem Hauptschirm größer wurde, schaltete Rlinda das Interkom ein und rief Lotze aus seiner Kabine. Es gab für ihn keinen Sitzplatz im Cockpit, aber er beobachtete den Anflug so, als vergliche er die Details des Planeten mit den Informationen der Dateien.
Ohne Rlinda um Erlaubnis zu fragen, beugte er sich vor und aktivierte die allgemeinen Scanner des Schiffes. »Ich kenne den ungefähren Standort des vom Colicos-Team errichteten Basislagers.« Er rief ein Bild des Kontinents aufs Display und zoomte auf den Terminator, um in den langen Schatten der morgendlichen Wüste Schluchten zu erkennen. »Versuchen wir es dort. Überfliegen Sie jenen Bereich.«
»Vielleicht zeigen sie sich und winken. Dadurch würden wir Zeit sparen.«
Lotze richtete einen skeptischen Blick auf Rlinda. »Fünf Jahre sind vergangen. Ohne die Entdeckung zusätzlicher Nahrungsquellen können die drei menschlichen Mitglieder der Expedition unmöglich so lange überlebt haben.«
Rlinda runzelte die Stirn, als das Schiff durch die Atmosphäre des Planeten flog und es zu leichten Erschütterungen kam. »Wenn es kaum eine Chance gibt, jemanden lebend vorzufinden… Welchen Sinn hat dann diese Mission?«
»Man hat mich nicht hierher geschickt, damit ich nach Überlebenden suche. Ich soll Antworten finden.«
Die Neugier entdeckte die Reste des Colicos-Lagers unweit einer Ansammlung von Klikiss-Ruinen. Zelte und Ausrüstung befanden sich auf einer offenen Anhöhe, hoch genug über den Erosionsrinnen, um bei einer plötzlichen Überschwemmung geschützt zu sein. Es fiel Rlinda nicht schwer, auf dem kahlen Boden einen Landeplatz zu finden.
Sie verließen das Schiff, traten in heiße, trockene Luft. Lotze trug in der einen Hand einen Koffer und in der anderen einen Ranzen – er war bereit für die Arbeit.
Die Farben der Wüste wirkten fast grell und zeichneten sich durch eine Reinheit aus, die alle Ränder rasiermesserscharf und klar abhob. Die zerklüfteten Felsen standen in einem auffallenden Kontrast zum saftigen Grün, das Rlinda von anderen Planeten kannte. Die majestätischen Berge lagen noch im Schatten der Morgendämmerung. »Genau der richtige Platz für einen Kurort. Mit Bädern und einem Golfplatz.«
Eine kleine Windhose bildete vor ihnen eine Säule aus Staub, die wie trunken hin und her tanzte, bevor sie sich auflöste.
»Mir gibt vor allem zu denken, dass auch der Telkontakt abbrach«, sagte Lotze. »Wir wissen, dass die Weltbäume eingingen – vielleicht verbrannten sie in einem Feuer –, und deshalb war der grüne Priester nicht mehr zur Kommunikation imstande.«
Trotz der fünf Jahre Wüstenwetter, Hitze und Staubstürme, die das Lager heruntergekommen und windschief aussehen ließen, erweckte es nicht den Eindruck, als hätte hier eine schreckliche Katastrophe stattgefunden. Lotze betrat das Hauptzelt und ließ einen erfahrenen Blick über die Feldbetten, nicht mehr funktionierenden Computer, Proben und unter dem Einfluss von Zeit und Gravitation zu Boden gefallenen Notizen schweifen.
Unterdessen ging Rlinda zur Wasserpumpe. Die beweglichen Teile waren festgefroren, aber sie konnte die Apparatur problemlos schmieren und in Ordnung bringen. Die Hingabe, mit der sich Lotze seiner Aufgabe widmete, ließ Rlinda vermuten, das er hier bleiben wollte, bis er die gesuchten Antworten fand. Ob es Tage oder Monate dauern würde –darüber konnte sie nur spekulieren.
Lotze kam mit einigen Dingen aus dem halb zerrissenen Hauptzelt, legte sie auf den Boden und machte Inventur.
Rlinda schritt zu einem kleineren Zelt, das vermutlich dem grünen Priester zur Verfügung gestanden hatte. Dahinter sah sie die Reste des Weltbaum-Hains. »Sehen Sie sich das hier an.«
Die Schösslinge waren in Reihen gepflanzt worden und zweifellos hatte sich der grüne Priester liebevoll um sie gekümmert. Doch jeder einzelne Baum war wie von einem wütenden Vandalen entwurzelt und zerfetzt worden. Die gesplitterten Reste ihrer dünnen Stämme lagen im Staub. Die Zeit hatte Einzelheiten verschwinden lassen, aber die Szene vermittelte noch immer den Eindruck von Gewalt.
Lotze kam herbei und nahm alles in sich auf. »Dies erklärt den Abbruch des Telkontakts.«
Rlindas Fuß stieß gegen etwas Hartes im weichen Boden, wie Treibholz. Sie bückte sich, grub die Finger in den Staub und fand einen krummen Gegenstand. Außen war er ledrig und ausgedörrt. Sie wischte Staub und Sand beiseite, ahnte bereits, was es mit dem Objekt auf sich hatte.
Das verschrumpelte, mumifizierte Gesicht eines haarlosen grünhäutigen Mannes blickte zu ihr auf. Die trockene Umgebung hatte dem weichen Gewebe alle Feuchtigkeit entzogen und durch die zusammengezogenen Muskeln bildete das Gesicht eine sonderbare Grimasse. Aus dem Fleisch war eine harte Masse geworden, die an den Knochen festklebte.
Die Wüste hatte ganze Arbeit geleistet, den Körper sowohl zerstört als auch erhalten.
»Der grüne Priester«, sagte Rlinda. »Arcas. So lautete sein Name, nicht wahr?«
Lotze sah zu den Resten des Lagers. »Er scheint nicht in aller Form beerdigt worden zu sein. Deshalb bezweifle ich, dass er eines natürlichen Todes starb.« Er wanderte umher und ließ sich dabei Ideen durch den Kopf gehen. »Vielleicht litten Margaret und Louis Colicos so sehr unter der Einsamkeit, dass sie einen Koller bekamen.«
Rlinda richtete sich auf und ließ die mumifizierte Leiche im Staub liegen. Sie würde Gelegenheit für ein richtiges Begräbnis finden, wenn Lotze seine Untersuchungen fortsetzte.
»Sie sind vielleicht ein guter Detektiv, Lotze, aber ich glaube, Sie verstehen die Menschen nicht wirklich. Die beiden alten Archäologen waren seit Jahrzehnten verheiratet. Sie verbrachten ihr halbes Leben in abgelegenen Ausgrabungsstätten. Solche Leute können mit Einsamkeit gut fertig werden.«
»Ich bin noch nicht bereit, Schlüsse zu ziehen«, erwiderte Lotze. »Zum Team gehörten auch ein Kompi und drei Klikiss-Roboter.«
Rlinda wies zur Klippenstadt, wo die vor Jahrtausenden errichteten Gebäude auf sie warteten und mit Geheimnissen lockten. »Sollen wir uns die Ruinen ansehen?«
Verlassene Städte der Klikiss waren auf zahlreichen Planeten gefunden worden, doch gründlich untersucht hatte man nur wenige. Die Fremden hatten bienenstockartige Bauten in Steppenlandschaften konstruiert oder Tunnel in die Wände von Schluchten getrieben. Die Ildiraner wussten seit langer Zeit von den verschwundenen Klikiss, verzichteten aber darauf, sich die verlassenen Städte aus der Nähe anzusehen.
Zu Anfang hatte die Terranische Hanse eine einfache Möglichkeit der Expansion gesehen und Forscher beauftragt, alle von den Ildiranern katalogisierten und unbeachteten Welten zu untersuchen. Durch die auf das Colicos-Paar zurückgehende Entdeckung der Klikiss-Fackel war das Interesse an der untergegangenen Zivilisation neu erwacht, doch der Hydroger-Krieg warf alle Pläne für umfangreiche Ausgrabungen über den Haufen.
Staunend schritt Rlinda durch die alten Tunnel. Die Klikiss-Gebäude bestanden aus einem polymerisierten Beton, aus mit Siliziumoxid verstärkten Fasern – vielleicht handelte es sich dabei um eine organische Substanz, die jene Insektenwesen abgesondert hatten. An jeder Wand zeigten sich sonderbare Hieroglyphen und unverständliche Gleichungen.
Rlinda und Lotze verbrachten einen Tag im Labyrinth der Geisterstadt, fanden dabei einige Ausrüstungsgegenstände der Archäologen, aber mehr nicht. »Der letzte Bericht von Margaret Colicos erwähnt eine zweite, besser erhaltene Ruinenstadt«, sagte Lotze. »Ich vermute, sie haben vor allem dort gearbeitet.«
Sie brachen mit der Neugier auf und Rlinda flog in geringer Höhe über der Wüste, bis sie eine Schlucht mit den Resten eines Gerüsts an einer Klippenwand fanden.
»Wir müssen in die Stadt«, sagte Davlin.
»Klar. Finden Sie einen Parkplatz, der meinem Schiff genug Platz bietet.« Er lachte nicht über Rlindas Scherz, und deshalb ließ sie sich eine innovative Lösung des Problems einfallen.
»Die Neugier ist für die Beförderung von Fracht bestimmt.
Unten in den Laderäumen gibt es mehrere Levitationspaletten.
Sie können uns beide zusammen tragen.«
Sie landete auf dem flachen Tafelland über der Klippenwand.
Kurze Zeit später stand sie neben Lotze auf der Hightech-Palette, die quälend langsam zum Rand der Klippe glitt und dann in die Tiefe sank. »Das Ding ist dazu bestimmt, große Container zu transportieren. Rennen kann man damit nicht gewinnen.«
Rlinda steuerte die Palette unter den Überhang und landete im Zugang eines Tunnels. Staub hatte sich dort in den Ecken angesammelt. Die Luft war trocken und ihre Schritte verursachten leise, nach einem Flüstern klingende Geräusche.
Davlin deutete auf Lampen und Kabel in den Tunneln, auf Markierungen an den Wänden und zurückgelassene Kennzeichnungen. »Aus Margarets Schilderungen geht hervor, dass sie sich hier wichtige Entdeckungen erhoffte.«
Rlinda spähte in die Schatten und leuchtete mit ihrer Lampe.
»Vielleicht hat stattdessen etwas sie entdeckt. Ich hätte eine Waffe mitnehmen sollen. Es befinden sich zwei an Bord, glaube ich.«
Lotze konzentrierte sich auf die Umgebung und suchte mit allen seinen Sinnen nach Hinweisen. Tiefer in der Klippenstadt fanden sie die verstreuten Reste einer Barrikade, die den Eindruck erweckte, in aller Eile in der Tür eines großen Raums errichtet worden zu sein.
Jemand oder etwas hatte sie von außen aufgerissen. Rlinda leuchtete in den Raum, sah Maschinen und große, flache Wände.
Und auf dem Boden die Leiche eines alten Mannes.
Lotze eilte durch die Lücke in der Barrikade und leuchtete mit seiner eigenen Lampe. Der Leichnam von Louis Colicos war besser erhalten als der des grünen Priesters, so gut, dass die Spuren seines gewaltsamen Todes deutlich sichtbar waren.
Der zerschundene Körper wies viele tiefe Wunden auf. Rlinda sah sich misstrauisch um und warf auch einen argwöhnischen Blick über die Schulter, als rechnete sie damit, dass sich etwas aus dem Dunklen auf sie stürzte.
An einer Wand zeigte sich eine trapezförmige leere Stelle, wie ein Fenster aus Stein – seltsamerweise fehlten dort Klikiss-Zeichen. Symbolplatten umgaben das steinerne Fenster. Die Wand wies rote Flecken und Streifen auf, blutige Abdrücke –in den letzten Momenten seines Lebens schien Louis Colicos gegen die Wand geschlagen zu haben, wie mit der Absicht, sie zu öffnen.
Lotze runzelte die Stirn, als er die leere Wand mit den Blutflecken betrachtete. »Zwei Leichen und noch immer keine Erklärungen. Und wo ist Margaret Colicos?«
Es lief Rlinda kalt über den Rücken und sie ahnte, dass sie tatsächlich lange auf Rheindic Co bleiben würden.
40
ANTON COLICOS
»Ich habe eine Aktivität gewählt, die Ihnen gefallen wird, Erinnerer Anton«, sagte Vao’sh. »Mich faszinieren die traditionellen menschlichen Methoden des
Geschichtenerzählens und ich möchte versuchen, sie zu rekonstruieren.«
Der ildiranische Erinnerer brachte Anton zur Meeresküste und dort saßen sie allein auf einem Plateau, gut zehn Meter über dem Wasser einer abgeschirmten Bucht. Ein warmer Wind wehte und Anton nahm den säuerlichen Geruch von aquatischen Pflanzen wahr, von Ansammlungen großer orangefarbener Blumen, die wie eine Mischung aus Seerosen und langen Kelpbändern aussahen.
Geschäftige, schnatternde Bedienstete waren vor ihnen eingetroffen, hatten Treibholz kegelförmig aufgeschichtet und an einigen Stellen trockenen Zunder hinzugefügt. Die kleinen Ildiraner zündeten den Stapel an und eilten fort.
Die Historiker blieben allein zurück und setzten sich auf weiches, kissenartiges Moos. Die Flammen leckten höher, und ihr flackernder Schein fiel auf die Gesichter der beiden Männer.
»Ist dies das korrekte Ambiente, Erinnerer Anton?«, fragte Vao’sh. »Erzählen sich Menschen Geschichten an einem Lagerfeuer am Meer?«
Anton lächelte. »Ja. Allerdings fehlt ein wichtiges Element.
Man erzählt die Geschichten am besten in der Dunkelheit, nicht im strahlenden Sonnenschein.«
Vao’sh schauderte. »Daran würde kein Ildiraner Gefallen finden.«
Anton beugte sich zum Feuer vor und rieb sich die Hände.
»Es geht auch so.«
Als Kind, so erinnerte er sich, war er im archäologischen Lager auf Pym manchmal bis spät abends aufgeblieben und hatte sich am Lagerfeuer die Geschichten seiner Eltern angehört. Kurze Trauer erfasste ihn und er hoffte, dass seine Mutter und sein Vater wohlauf waren. Hier auf Ildira würde er so bald nichts von ihnen hören.
Er atmete tief durch. »Noch bevor unsere Zivilisation schriftliche Aufzeichnungen kannte, saßen
Geschichtenerzähler an Lagerfeuern und wussten sich in Sicherheit, denn die gefährlichen Wölfe, Höhlenbären und Säbelzahntiger fürchteten die Flammen. Jene Geschichtenerzähler berichteten von Riesen, Ungeheuern und Monstren, die Müttern ihre Kinder raubten.« Anton lächelte.
»Sie erzählten auch von Helden, Kriegern und Mammutjägern, die tapferer und stärker als alle anderen waren. Die Geschichten bildeten ein Gerüst des Verstehens in einer Welt voller Rätsel. Sie formten unseren moralischen Charakter.«
Vom Plateau aus bemerkte Anton schlanke, dunkle Gestalten, die vom offenen Meer in die geschützte Bucht schwammen.
Vao’sh blickte zum Wasser hinab. »Das ist eine Erntegruppe der Schwimmer. Sie kehrt mit dem Gezeitenwechsel zurück.«
Die Ildiraner des Schwimmer-Geschlechts erinnerten Anton an geschmeidige Otter, die unermüdlich arbeiteten und doch alles wie ein Spiel aussehen ließen.
»Schwimmer haben einen dünnen Pelz über einer zusätzlichen Schicht aus subkutanem Fett, was sie in den tiefen kalten Strömungen warm hält«, erklärte Vao’sh. »Beachten Sie ihre großen Augen.
Sie verfügen über eine weitere Linsenmembran, was sie in die Lage versetzt, auch unter Wasser gut zu sehen. Die Ohren liegen flach am glatten Kopf und die Nase befindet sich weit oben, sodass die Nasenlöcher beim Schwimmen über dem Wasser sind.«
»Was enthalten die Körbe, die sie hinter sich her ziehen?«
»Schwimmer ernten Kelp, Schalentiere und Koralleneier.
Einige von ihnen treiben Fischschwärme zusammen, um Nahrung aus ihnen zu gewinnen.«
»Maritime Cowboys.«
Unterschiedliche Farben huschten über Vao’shs Hautlappen.
»Ein angemessener Vergleich.« Immer wieder knackte es im Feuer. »Schwimmer leben auf großen Flößen, die mit Leinen am Meeresgrund befestigt sind. Wenn die Fischschwärme weiterziehen oder bestimmte Teile der Kelpwälder abgeerntet sind, schneiden sie die Vertäuungsseile durch und lassen sich in andere Bereiche des Ozeans treiben.«
Anton schüttelte den Kopf. »Ich werde mich nie an die vielen Geschlechter gewöhnen. Wie können Sie dabei den Überblick behalten?«
»Für mich ist es erstaunlich, dass sich die Menschen so sehr ähneln. Wie können Sie alle auseinander halten?«
Anton nahm einen Stock und stocherte damit in der glühenden Asche des Feuers. »Sie müssen sich ebenso an uns gewöhnen wie ich an Sie, Vao’sh.«
Der Erinnerer deutete auf die Schwimmer, die Fangnetze zu Stegen brachten; andere Ildiraner nahmen sie dort entgegen.
»Ich kenne eine Geschichte über Schwimmer aus der Saga der Sieben Sonnen.«
»Ist es eine gruselige Geistergeschichte, die sich gut für das Erzählen am Lagerfeuer eignet?«
Wieder zeigte sich ein schnell wechselndes Farbspiel im Gesicht des Erinnerers. »Nein. Es ist eine Liebesgeschichte…
in gewisser Weise. Bei uns gibt es ein Geschlecht, das in den trockensten aller Wüsten lebt und arbeitet. Es ist eidechsenartig und liebt die Trockenheit. Die Geschuppten können monatelang mit einer geringen Menge Feuchtigkeit auskommen.« Vao’sh lächelte. »Sie können sich vermutlich vorstellen, dass die Liebe zwischen dem geschuppten Arbeiter Tre’c und der Schwimmerin Kri’l in einer Tragödie enden musste.«
Falten bildeten sich in Antons Stirn. »Ich dachte, die ildiranischen Geschlechter dürfen sich beliebig kreuzen.«
Vao’sh winkte ab. »Oh, bei uns gibt es keine Vorurteile gegen gemischte Blutlinien. Doch die Beziehung zwischen einem Geschuppten und einer Schwimmerin konnte wegen ihrer besonderen Natur nicht gut gehen. Niemand weiß, wie sie zueinander fanden. Tre’c und Kri’l mussten von den Schwierigkeiten gewusst haben, die ihnen im Weg standen, aber sie wollten trotzdem zusammen bleiben. Tre’c konnte das Salzwasser des Ozeans nicht ertragen und Kri’l war nicht imstande, in der trockenen Wüste zu überleben.
Also baute Tre’c sein Haus an einem felsigen Ufer, hoch genug, damit es die Flut nicht erreichen konnte. Kri’l band ihr Floß in einer Bucht fest, nicht weit vom Ufer – so konnten sie einander zurufen. Jeder von ihnen ertrug das Ambiente des anderen nur eine Stunde am Tag, aber diese eine Stunde brachte ihnen mehr Freude als ein ganzes Leben mit einer anderen Person.
Tre’c und Kri’l verbrachten einige glückliche Jahre, bis es eines Tages zu einem schlimmen Unwetter kam. Ein heftiger Sturm fegte über die Küste, warf Kri’ls Floß ans Ufer und zerstörte Tre’cs Haus. Sie klammerten sich aneinander, während der Regen auf sie herabprasselte und hohe Wellen nach ihnen schlugen. Schließlich gaben die Klippen nach. Sand und Felsen rutschten lawinenartig nach unten – Land und Meer verschlangen die beiden Liebenden.
Ihre Leichen wurden nie gefunden, aber manchmal…«
Vao’sh zögerte und die über seine Hautlappen streichenden Farben erinnerten an einen Sonnenaufgang. »Manchmal, wenn Ildiraner über einen Strand gehen, wo das Wasser des Meeres den trockenen Sand berührt, an Stellen, wo sich sonst nie jemand aufhält und wo es keine Beobachter gibt… Dort sehen sie zwei verschiedene Fußspuren, die eine im feuchten Sand, die andere auf dem Trockenen: eine Schwimmerin und ein Geschuppter, die nebeneinander über den Strand gewandert sind.«
Das Feuer knackte weiterhin und Anton lehnte sich zurück, die Hände aufs weiche Moos gestützt. »Das ist eine wundervolle Geschichte, Vao’sh.« Er fragte sich, welche er erzählen sollte, bevor das Feuer niederbrannte. »Und hier habe ich eine für Sie.«
41
NIRA
Ildiraner wohnten gern dicht beisammen, damit sie die Präsenz der anderen fühlen konnten, und nach diesem Prinzip hatten sie auch die Unterkünfte für ihre menschlichen Gefangenen geplant. Niras Quartier befand sich in einem großen Gebäude mit zahlreichen Schlafstellen, Tischen und
Gemeinschaftsbereichen. Hier kochten und schliefen die Menschen, hier verbrachten sie ihre freie Zeit. Sie waren wie eine riesige Familie, alle unter einem Dach.
Nira lebte still in ihrer Mitte, teilte die Mahlzeiten mit ihnen und schlief, wenn sie schliefen. Doch die ganze Zeit über fühlte sie sich von ihnen getrennt, denn sie unterschied sich von allen anderen. Die übrigen Gefangenen schlossen sie nicht aus, aber es fiel ihr schwer, sich anzupassen. Sie nahm Anteil am Schicksal der anderen, doch dem Gefühl der Einsamkeit konnte sie nie ganz entkommen, nicht einmal in Gesellschaft.
Während Dobros dunkler Nacht saß Nira stumm auf ihrem schmalen Bett und lauschte den Stimmen um sie herum. In ihrem kleinen persönlichen Bereich hatte sie mehrere Pflanzen in improvisierten Töpfen, Blumen, einen kleinen Busch, mehrere süß duftende Kräuter. Pflanzen waren ihr ein Trost.
Sie erinnerte sich an die vielen bunten Feiern und Feste, die Vater Idriss und Mutter Alexa in der großen Pilzriff-Stadt auf Theroc veranstaltet hatten. Sie dachte an Arbeiter, die an den hohen Weltbäumen emporkletterten und schwarze Samenkapseln sammelten, aus denen stimulierender Clee gekocht wurde, saftige Epiphyten ernteten und Larven von Kondorfliegen aufschnitten, um an das weiche Fleisch darin zu gelangen. Gruppen von Akolythen, Nira unter ihnen, waren ebenfalls an den schuppigen Stämmen hochgeklettert, um auf den miteinander verbundenen Wipfeln zu sitzen und den neugierigen Bäumen laut vorzulesen.
Es waren die schönsten Jahre ihres Lebens gewesen…
Ein Mann begann zu husten und seine Frau brachte ihn zu Bett, füllte dann ein Formular für die benötigte Arznei aus.
Nira sah sich um, blickte zu den Familiengruppen, die sich selbst unter diesen Bedingungen gebildet hatten. Die anderen Menschen schienen zu glauben, ein normales Leben zu führen.
Selbst im Gefangenenlager auf Dobro verliebten sich Männer und Frauen, gingen Beziehungen ein und hatten Kinder –obgleich manchmal Frauen aufgrund ihrer genetischen Eigenschaften ausgewählt und zu den Zuchtbaracken gebracht wurden. Die Ehemänner waren nicht gerade glücklich, wenn das geschah, aber sie fanden sich damit ab. Sie hielten diese unnatürliche soziale Ordnung seit Generationen für die Normalität.
Die männlichen menschlichen Gefangenen mussten Dutzende, sogar hunderte von ildiranischen Frauen schwängern. Wenn sich jemand weigerte, diesen Verpflichtungen nachzukommen, »ernteten« die Ildiraner des Mediziner-Geschlechts wiederholt Samen von dem Betreffenden und schickten ihn schließlich als Eunuchen zu den Arbeitsgruppen.
Nira litt mehr an ihrer Situation als die anderen Gefangenen.
Sie wusste, dass Menschen sehr anpassungsfähig waren und viele Dinge akzeptieren konnten. Ihr Kummer galt nicht etwa der Stärke und Ausdauer der übrigen Männer und Frauen, sondern dem Umstand, dass sie vergessen hatten, wie das Leben sein sollte.
Die Nacht hatte schon vor einigen Stunden begonnen und Sterne leuchteten am Himmel, aber in den Wohnbaracken ging nie das Licht aus. Auch in dieser Hinsicht hielt man sich an die ildiranische Tradition: Man erlaubte keine Dunkelheit in den Gebäuden, es sei denn als Strafe. Die Menschen hatten sich längst daran gewöhnt, trotz des Lichts zu schlafen. Viele Kinder waren bereits zu Bett gegangen, während die Erwachsenen beisammen saßen, sich unterhielten und entspannten.
Dies war die beste Zeit, um zu den anderen zu sprechen. Die Gefangenen wussten nur wenig von den Generationenschiffen der Erde und nichts über das Ildiranische Reich oder die Terranische Hanse. Was ihre Herkunft betraf, gab es nur mündlich überlieferte Schilderungen, die wenig Wahrheit enthielten. Nira kannte die besondere Dynamik von Geschichten, und aus dieser Perspektive fand sie jene Berichte interessant – wenn sie sich weit genug von ihrer Realität lösen konnte.
Nira trat vor und hörte sieben Männern und Frauen zu, die in einem offenen Kreis zusammensaßen und zwanglos miteinander plauderten. Benn Stoner, ein Mann mit rauer Stimme, dessen Haut wie sandgestrahlt aussah, bemerkte ihr Interesse. »Nur zu, Nira Khali. Welche Geschichte hast du heute Abend für uns?«
»Sie hatte den ganzen Tag unter der heißen Sonne Zeit, sich irgendwelchen Unsinn auszudenken…«, sagte ein junger Mann, unterbrach sich jedoch, als Stoner ihm einen scharfen Blick zuwarf.
Nira gab vor, diese Bemerkung nicht gehört zu haben. Zwar schenkten die anderen Dobro-Gefangenen ihren Geschichten kaum Glauben, aber sie hörten wenigstens zu. Sie sahen einen Zeitvertreib darin.
»Ich erzähle euch die Geschichte von Thara Wen und wie sie zur ersten grünen Priesterin von Theroc wurde.« Nira wartete und es kam zur üblichen Reaktion: Die Männer und Frauen lächelten. Sie waren amüsiert von ihren Berichten über
»Phantasiewelten«.
»Thara wurde an Bord der Caille geboren, einige Jahre bevor die Ildiraner unser Generationenschiff fanden und uns zum Weltwald brachten. Theroc erwies sich als wunderschöne Welt mit angenehmem Klima, voller Nahrung und Ressourcen. Von Anfang an war unsere Kolonie friedlich. Es gab kaum Kriminalität, denn dafür fehlte einfach die Grundlage.«
»Wie hier auf Dobro«, warf der junge Mann ein.
»Nein. Nicht wie hier auf Dobro. Ganz und gar nicht.« Nira holte tief Luft. »Aber von Zeit zu Zeit, aus unbekannten Gründen, trägt eine Person Dunkelheit im Herzen. Ein solcher Mann griff Thara Wen in den Tiefen des Weltwaldes an. Er jagte sie mit der Absicht, sie zu töten; er hatte bereits andere umgebracht. Thara floh und verbarg sich unter den dichtesten Blattwedeln. Und als der Wald sie beschützte, sie vor dem Mörder verbarg, vereinten sich die Bäume mit ihr, umgaben sie, stellten einen… innigen Kontakt her.
Als Thara wieder zum Vorschein kam, hatte sie keine Haare mehr am Leib und ihre Haut war grün geworden.« Nira rieb ihre Arme. »Und sie verfügte über die Fähigkeit, mit den Bäumen zu kommunizieren. Sie konnte sich an all die Dinge erinnern, die der Wald je gesehen hatte, und er erzählte ihr von den anderen Opfern des Mannes. Thara kehrte zur Siedlung zurück, klagte den Mörder an und zeigte den Ältesten, wo seine Opfer verscharrt lagen. Der Mann wurde zum Tod verurteilt – der erste Verbrecher auf Theroc. Man band ihn auf dem Wipfel eines Weltbaums fest und überließ ihn dort den Wyvern, die ihn zerfleischten.«
Einige Zuhörer waren fasziniert, andere skeptisch. Der junge Mann erlaubte sich einen weiteren Scherz. »Oh, erklärt das deine grüne Haut? Ich habe dich für ein weiteres seltsames Halbblut gehalten.«
»Zeig etwas Respekt«, sagte Benn Stoner. »Der Designierte wählt sie häufiger für die Zuchtbaracken als sonst jemanden von uns.« Er schien eine Art Ehre darin zu sehen. »Wir danken dir für deine Geschichte, Nira.«
Nira kehrte zu ihrem Bett zurück und hörte von dort aus, wie die anderen ihr Gespräch fortsetzten. Stoner kam nun an die Reihe und setzte die Tradition der Gefangenen fort, indem er die alten, entstellten Geschichten erzählte. Er sprach vage von einer langen Reise, einer Heimat, die nicht Erde hieß, sondern Burton. Selbst darüber wussten sie nicht Bescheid.
Nach ihren eigenen Legenden waren die Vorfahren dieser Menschen in Freundschaft nach Dobro gekommen, um in Frieden und Wohlstand mit den Ildiranern zu leben. Doch dann hatte irgendein schreckliches und unverzeihliches Verbrechen
– worum es dabei ging, wussten sie nicht – die Ildiraner veranlasst, die Kolonie der Menschen in ein Gefangenenlager zu verwandeln. Es gab keine Antwort auf die Frage, wie viele Generationen noch für jene Sünde büßen mussten.
Die Männer und Frauen taten Nira sehr Leid und von ihrem Bett aus sagte sie: »So wie hier ist es nicht überall. Es gibt Milliarden von Menschen auf zahllosen Welten. Und Dobro ist eine der schlimmsten.«
Benn Stoner hob das Kinn und vollführte eine Geste, die das ganze Lager und die öde Landschaft jenseits davon einschloss.
»Dobro ist alles, was wir haben, Nira Khali. Deine Phantasien können uns hier nicht helfen.«
42
ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Der Rettungsshuttle der Solaren Marine sank vom brennenden Himmel herab und näherte sich dem Zitadellenpalast von Hyrillka. Er erreichte ihn, als das zweite Kugelschiff angriff.
Es setzte eine Waffe ein, die die Ildiraner bisher noch nicht kennen gelernt hatten: verheerende Kältewellen, sichtbar in Form von weißem Dunst, der alles gefrieren ließ, was er berührte. Die Kälte strich über Pflanzen und ließ dicke Reben bersten. Hyrillkas prächtiges, üppiges Grün erstarrte in Eis, zerbrach und starb.
Und die beiden Kugelschiffe setzten ihre Angriffe fort.
Jora’h griff nach dem dünnen Arm seines Sohnes, eilte mit ihm über den Hof und wich den Explosionen im Zitadellenpalast aus. Immer wieder gleißten Energiestrahlen vom Himmel, während die vier Kriegsschiffe der Solaren Marine ihr ganzes offensives Potenzial gegen die Hydroger einsetzten.
»Was sollen wir tun?«, heulte Thor’h. »Warum hören die Fremden nicht auf zu schießen?«
Jora’h hatte keine Antworten für ihn.
Entsetzte Höflinge und Künstler eilten in den Banketträumen hin und her. Die drei Priester des Linsen-Geschlechts führten die Ildiraner nach draußen, damit sie nicht unter den Trümmern einstürzender Gebäude begraben wurden. Doch andere Männer und Frauen suchten genau dort Schutz. Kein Ort schien sicher zu sein. Die Hydroger hatten es nicht auf ein bestimmtes Ziel abgesehen. Ihre Zerstörungswut galt nicht nur der ildiranischen Stadt, sondern auch der Vegetation der unbewohnten Gebiete.
»Hilfe!«, rief Thor’h, als ob ihn die Zitadelle selbst hören konnte. Er lief zu einem bunten Fenster und sein Vater riss ihn gerade noch rechtzeitig zurück – einen Moment später splitterten die Scheiben. Die Druckwelle einer Explosion schleuderte Glassplitter wie Geschosse durch den Raum.
Jora’h zog seinen Sohn nach unten, während um sie herum scharfkantige Fragmente niedergingen. Thor’h tastete nach den vielen kleinen Schnittwunden im Gesicht und an den Armen, stellte fest, dass seine Prachtkleidung zerrissen war. »Wir müssen… meinen Onkel… finden«, stammelte er fassungslos.
»Er w-weiß bestimmt, was wir tun müssen. Er wird uns alle retten.«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte Jora’h. »Er kann es nicht. Adar Kori’nh wird uns evakuieren.« Und er muss all diese Leute zurücklassen…so viele…
Am von Rauchwolken verhangenen Himmel wandten sich die ildiranischen Kriegsschiffe – jedes von ihnen beschädigt –erneut den Hydrogern zu, ohne eine Chance gegen sie zu haben. Die beiden Kugelraumer setzten ihren Flug ungerührt fort, schickten dem Planeten Tod und Verderben.
Energiestrahlen fauchten, Explosionen krachten.
»Ich muss dich schützen, Thor’h. Du bist der nächste Erstdesignierte. Und ich werde bald zum… Weisen Imperator.« Jora’h wusste, dass sein Vater den Angriff auf Hyrillka durch das Thism mitverfolgte. Schock und Schmerz mochten Cyroc’hs Zustand sogar noch verschlimmern, ihm schneller den Tod bringen. »Wir müssen das Kampfgebiet irgendwie verlassen.«
Die vielen Rauchwolken verdunkelten den Himmel und in der Zitadelle leuchteten tausende von Lampen auf, schufen einen künstlichen Tag.
Jora’h fand seinen Bruder Rusa’h auf dem offenen Platz, unter den rankenbewachsenen Bögen. Der pausbäckige Hyrillka-Designierte hob die Arme und winkte. »Wir dürfen nicht in Panik geraten! Bitte bringen Sie sich in Sicherheit.«
»Wo?«, rief eine Tänzerin. »Wo sind wir sicher?«
Rusa’h schob seine Darsteller fort vom Feuer und den Explosionen. Seine Vergnügungsgefährtinnen suchten bei ihm Schutz, ihre lieblichen Gesichter voller Tränen, Ruß und Blut.
»Eilt zu den Blubberbecken«, sagte er, obwohl er selbst Mitleid erweckend hilflos wirkte. »Dort gibt es Schutz. Hoffe ich.« Die Frauen liefen los und vertrauten seinem Rat, aber Rusa’h schien nicht so sicher zu sein.
Beide Kugelschiffe glitten über die Landschaft. Eins feuerte mit blauen Energieblitzen auf die fruchtbaren Nialia-Felder, das andere setzte Kältewellen ein. Kurz darauf änderte die zweite Kugel den Kurs und beschrieb einen Bogen, ohne auf das Feuer der ildiranischen Kriegsschiffe zu achten. Jora’h sah, dass der nächste Angriff die Regierungszitadelle treffen würde.
»Alle runter vom Hügel! Den Hügel verlassen!«
Der Hyrillka-Designierte sah seinen Bruder verwirrt an, dann zeigte sich Erleichterung in seinem Gesicht. »Ja! Befolgt die Anweisung des Erstdesignierten!« Die Ildiraner liefen los.
Einige Nachzügler kamen aus den Innenräumen des Zitadellenpalastes.
Schließlich landete Adar Kori’nhs Rettungsshuttle auf dem Hof – Energiestrahlen der Hydroger hatten Brandspuren an seinem Rumpf hinterlassen. Viele Hyrillkaner liefen dem kleinen Raumschiff entgegen, aber muskulöse Krieger traten aus den Luken, ihre Rüstungen mit Stacheln besetzt, die Augen wachsam. »Wir sind nur wegen der Designierten gekommen.
Bleiben Sie zurück! Unsere Befehle stammen von Adar Kori’nh.«
Thor’h griff nach dem Arm seines Onkels. »Ja, bringt uns fort von hier.«
Jora’h wandte sich an einen der Krieger aus dem Shuttle.
»Wie viele Personen könnten an Bord Platz finden?«
»Sie, Erstdesignierter, Ihr Sohn und Ihr Bruder.«
»Wie viele andere?«, beharrte er.
»Unsere Priorität besteht darin, Sie zu einem sicheren Ort zu bringen. Vielleicht auch noch einige Kinder Ihres Bruders. Das ist alles.«
»Ich gebe hier die Befehle. Ich bin der Erstdesignierte.«
Jora’h wartete auf eine Antwort.
»Die maximale Beförderungskapazität des Shuttles lässt achtundvierzig weitere Passagiere zu«, sagte der Krieger schließlich.
»Gut. Beginnen Sie damit, Personen an Bord zu nehmen.«
Mit einem Ruck löste der Hyrillka-Designierte seinen Arm aus Thor’hs Griff. »Nein! Meine Gefährtinnen sind noch im Zitadellenpalast. Ich habe sie zu den Blubberbecken geschickt.
Wir müssen sie retten. Sie… sie sind sehr wichtig für mich.«
»Keine Zeit«, erwiderte Jora’h. Ein Kugelschiff näherte sich und blaue Blitze rissen den Hang des Hügels dort auf, wo Flüchtlinge liefen und versuchten, die offenen Straßen zu erreichen.
»Wir dürfen sie nicht einfach sich selbst überlassen. Einige von ihnen tragen meine Kinder.« Im Gesicht des Hyrillka-Designierten zeigte sich etwas, das gar nicht zu ihm zu passen schien: entschlossene Tapferkeit. Er drehte sich um und kehrte in den Palast zurück, kletterte über Trümmer hinweg. »Sie vertrauen darauf, dass ich sie beschütze. Ich werde sie retten.«
Jora’h staunte über seinen hedonistischen und weichherzigen Bruder, den er immer für verwöhnt und feige gehalten hatte –jetzt zeigte sich der Hyrillka-Designierte von einer ganz neuen Seite. Dann dachte Jora’h an seine eigenen Partnerinnen, insbesondere an Nira Khali. Ja, für Nira wäre er das gleiche Risiko eingegangen wie Rusa’h.
Mit seltsam scharfer, befehlender Stimme rief der junge Thor’h den Kriegern zu: »Haltet meinen Onkel auf, bevor er verletzt wird! Ihr seid verpflichtet, den Hyrillka-Designierten zu retten. Er ist der Sohn des Weisen Imperators.«
Zwei Ildiraner aus dem Krieger-Geschlecht reagierten sofort, liefen los und folgten Rusa’h in den Palast. Eine große Menge aus Hyrillkanern drängte dem Shuttle entgegen.
Unterdessen setzten die Hydroger ihre Angriffe fort. Das zweite Kugelschiff schickte blaue Blitze in den Gebäudekomplex des Palastes. Explosionen rissen Torbögen und Wände auf. Hängende Gärten fingen Feuer. Rauch stieg empor.
Vier Strahlen bohrten sich ins Herz des Zitadellenpalastes, das Ziel des Designierten Rusa’h. Ein ganzer Flügel der großen Anlage wurde zerstört. Wände stürzten ein und dichter schwarzer Qualm kroch über die Dächer.
»Nein, Onkel!« Thor’h kehrte der Sicherheit des Rettungsshuttles den Rücken und lief zum zerstörten Bereich des Palastes. »Der Designierte ist dort drin gefangen! Wir müssen ihn da herausholen!« Jora’h und drei Krieger folgten ihm.
Die beiden Kugelschiffe flogen über das Palastgelände hinweg, noch immer bedrängt von Kori’nhs Schiffen. Weiße Kältewellen berührten acht kleine Angriffsjäger und rissen sie vom Himmel, wie vom Wind fortgewehte Getreidekörner.
Die muskulösen Krieger schoben Trümmer beiseite und bahnten einen Weg durch die Flure, bis sie schließlich den Raum mit den Blubberbecken erreichten. Wände und kuppelförmige Decken hatten sich in ein Durcheinander aus Fliesenscherben und durchsichtigen Blöcken verwandelt.
»Der Designierte erreichte diesen Raum kurz vor der Explosion«, sagte ein Krieger. »Er muss unter den Trümmern liegen.«
»Er ist tot«, stöhnte Thor’h.
Mit Klauenhänden und kräftigen Armen räumten die Krieger Trümmer, stützende Stangen und Träger beiseite. Säulen waren umgestürzt. Der Hyrillka-Designierte saß unter ihnen fest, aber sie hatten ihn auch vor den herabfallenden Deckenelementen geschützt.
Sie fanden eine blasse Hand und einen bunten, blutverschmierten Stofffetzen. Vier Vergnügungsgefährtinnen hatten auf der anderen Seite des Schuttbergs überlebt, waren verletzt und völlig durchnässt. Einige hatten sich im Becken befunden, als es zu der Explosion gekommen war.
Herabstürzende Trümmer hatten zwei von ihnen bewusstlos geschlagen und dadurch waren sie ertrunken.
Feuer breiteten sich im zerstörten Palast aus, und nicht überall konnte der Rauch durch Öffnungen in Decken abziehen. Jora’h trat vor, um den Kriegern zu helfen, obgleich er nicht annähernd so stark war wie sie.
Schreie kamen von draußen, das Donnern weiterer Explosionen und das Fauchen von Energiestrahlen. Doch Jora’h konzentrierte sich darauf, seinen Bruder unter den Trümmern hervorzuholen. Er versuchte, ihn durchs Thism zu fühlen, aber das Schimmern des Lichts und der verbindenden Seelenfäden war schwach und dunkel geworden.
Zwei Krieger hoben eine schwere Steinsäule an und stießen sie beiseite – mit lautem Krachen fiel sie neben dem Schutt auf den Boden. Schließlich kaum Rusa’hs rundliches Gesicht zum Vorschein. Die Wangen waren blutig, die Augen zugeschwollen, das Gesicht eine Fratze des Schmerzes. Seine Haut war gerötet, und es ließ sich ein wenn auch schwacher Puls feststellen.
»Der Designierte lebt!«, sagte ein Krieger.
»Bringt ihn nach draußen.« Mit Händen, die überhaupt nicht an Arbeit gewöhnt waren, kratzte Thor’h im Schutt, bis sie den dritten Sohn des Weisen Imperators völlig freigelegt hatten. Er blieb an der Seite seines Onkels, als die Krieger den Designierten vorsichtig hochhoben. »Schnell. Wir müssen zum Shuttle. Adar Kori’nh wartet auf uns.«
Sie trugen den Designierten Rusa’h, aus dessen Wunden Blut tropfte. Zusammen mit Jora’h eilten die Krieger erneut durch die Flure, gefolgt von den vier überlebenden Vergnügungsgefährtinnen. Der Hyrillka-Designierte hatte schwere Verletzungen erlitten, aber er lebte.
Als sie an Bord des Shuttles waren, zusammen mit Dutzenden von anderen Flüchtlingen, verlor der Pilot keine Zeit. Mit heulendem Triebwerk hob das überladene kleine Raumschiff ab und ließ den brennenden Zitadellenpalast hinter sich zurück. Eines der ildiranischen Kriegsschiffe wandte sich von den Hydrogern ab und nahm den Shuttle an Bord.
Der Adar begrüßte die Evakuierten im Hangar, obwohl er wusste, dass er den Kommando-Nukleus während eines Kampfes eigentlich nicht verlassen sollte. Es erleichterte ihn, Jora’h und seinen Sohn Thor’h zu sehen, doch er reagierte mit Kummer auf den Anblick des schwer verletzten Hyrillka-Designierten.
Ildiraner des Mediziner-Geschlechts eilten herbei, untersuchten Rusa’h und behandelten die Verletzungen der übrigen Flüchtlinge. Thor’h blieb die ganze Zeit über an der Seite seines blutenden, bewusstlosen Onkels. Rusa’h klammerte sich am Leben fest, obgleich er reglos blieb und nicht ein einziges Mal stöhnte.
Adar Kori’nh übermittelte seiner Crew Anweisungen.
»Rückzug! Alle Angriffsjäger sollen dieses Schiff flankieren und abschirmen. Wir müssen den Erstdesignierten und seinen Sohn schützen.
Ich… sehe keine Möglichkeit, die übrigen Bewohner des Planeten zu retten.«
Das Flaggschiff entfernte sich von den Kugelschiffen, die ihr Zerstörungswerk auf Hyrillka fortsetzten. Doch plötzlich, ohne erkennbaren Grund, brachen die Hydroger ihre Angriffe ab.
Sie schenkten der Solaren Marine keine Beachtung, als sie aufstiegen und dabei nicht den Eindruck erweckten, es eilig zu haben.
Jora’h beobachtete sie vom Kommando-Nukleus des Flaggschiffs aus. »Warum?«, fragte er. »Warum richten sie ein solches Chaos an und fliegen dann einfach fort?«
Kori’nh stand wie ein versteinerter Baum da und bemühte sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Vielleicht haben sie nicht gefunden, wonach sie suchten.«
Ohne ein Wort der Erklärung oder des Triumphes verließen die Kugelschiffe der Hydroger Hyrillka und verschwanden im All. Zurück blieb eine einst friedliche Welt, die jetzt in Schutt und Asche lag.
43
JESS TAMBLYN
Von Osquivels Werften lieh sich Jess eine für zwei Personen bestimmte Greifkapsel aus und flog damit Cesca Peroni entgegen, die vom Kometenhalo zurückkehrte. Es fiel ihm schwer, seine Vorfreude zu verbergen – das letzte Treffen mit Cesca lag schon lange zurück.
»Sprecherin Peroni, bitte erlauben Sie mir, Sie zu eskortieren«, sendete er auf einem offenen Kom-Kanal. »Zehn weitere Nebelsegler sind für den Start bereit. Sie warten in ihren ballistischen Kokons und sehen recht eindrucksvoll aus.«
»Ich setze sie bei Ihnen ab, Jess«, erwiderte Del Kellum. In seinem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Lächelns, als ahnte er etwas. »Ich muss mich um andere Dinge kümmern.«
»In Ordnung. Ich glaube, Ihre Meerengel müssen gefüttert werden. Sie haben nach einigen Roamer-Kindern geschnappt, die am Aquarium vorbeigingen.«
In freudiger Erregung dockte Jess an. Die beiden Luftschleusen wurden miteinander verbunden und Cesca kam an Bord. Sie war wunderschön… aber auch verwirrt und besorgt. Jess begriff sofort, dass irgendetwas geschehen sein musste.
»Geben Sie gut auf sie Acht, Jess!«, rief Kellum vom anderen Cockpit. »Sie möchte bald nach Rendezvous zurück.«
Jess’ Blick klebte an Cescas kummervollem Gesicht fest, aber er schwieg, bis er die Schleusen versiegelt und voneinander gelöst hatte. Als die beiden Schiffe nicht mehr miteinander verbunden waren, trat Cesca näher und umarmte ihn stumm. Jess erwies ihr den Gefallen, noch nicht nach Einzelheiten zu fragen. Er küsste sie auf die Stirn, auf den Augenwinkel und schließlich auf den Mund.
Cesca zog ihn enger an sich, sank dann neben ihm auf den Sitz des Kopiloten. Als sie die unausgesprochene Frage in Jess’ Gesicht sah, sagte sie: »Reynald wird bald zum neuen Vater von Theroc gekrönt und schlägt ein Bündnis mit uns vor.
Er… hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«
Jess fühlte sich, als hätte er einen Schlag erhalten. Sein ganzes Denken und Fühlen drehte sich um den Tag, an dem sie heiraten konnten, und plötzlich löste sich das alles auf, wie ein kleiner Bausch Zuckerwatte in Pfefferblumentee.
Cesca brauchte nicht auf die politischen Vorteile einer Ehe mit Reynald hinzuweisen. Jess kannte die angespannte Lage der vielen Roamer-Clans: vermisste Schiffe, Mangel an Versorgungsmaterial, verlorene Ekti-Ladungen. Viele Familien zweifelten daran, dass die Droger für all das verantwortlich waren. Sie glaubten stattdessen, dass die Tiwis nicht vor Piraterie zurückschreckten.
»Er hat Recht«, sagte Jess heiser. »Ein Bündnis zwischen Roamern und Theronen könnte stark genug sein, den Krieg zu überstehen und die Große Gans auf Distanz zu halten. Ja… ich schätze, in politischer Hinsicht wäre das sehr sinnvoll.«
Sie sahen sich an und spürten beide, wie die Benommenheit des Schocks allmählich dem Schmerz der Realität wich. Jess fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Cescas Gesicht zeigte hilflose Trauer. »Ich möchte ihn nicht heiraten, Jess.«
Er ließ die Schultern hängen, seufzte tief und begriff, dass er Cesca endgültig verlieren würde, für immer. »Ich möchte es ebenso wenig. Wenn ich jetzt Gelegenheit dazu hätte, würde ich Reynald vermutlich erwürgen.«
Cesca lächelte schief. »Das solltest du besser nicht.«
»Aber du musst dich der Realität stellen. Du bist die Sprecherin aller Clans. Reynald wird zum Oberhaupt aller Theronen, auch der grünen Priester und ihres Weltwaldes. Der Leitstern ist klar erkennbar.«
»Ich weiß, Jess – aber ich liebe dich. Dies ist nicht nur eine…
geschäftliche Vereinbarung.«
Er richtete einen strengen Blick auf sie. »Wenn du das Wohl aller Roamer einfach beiseite schieben, die eigenen Wünsche in den Vordergrund stellen und deine Pflichten vergessen kannst… Dann wärst du nicht die Frau, die ich liebe.«
Zwar war Jess abgelenkt, aber er steuerte die Greifkapsel weiterhin durch das Gewirr aus Gesteinsbrocken, das die Werften in den Ringen von Osquivel umgab. Die navigatorische Herausforderung half ihm dabei, mit seiner Verzweiflung fertig zu werden. Sie beide sahen den Leitstern in dieser Situation.
Cesca blickte aus dem Fenster zu den Sternen. »Ich könnte als Sprecherin zurücktreten, Jess. Soll jemand anders die Verantwortung übernehmen…«
»Wer?« Zorn verlieh seiner Stimme Schärfe. »Sprecherin Okiah hat dir vertraut. Alle Clans vertrauen dir. Und wer sonst könnte dieses Bündnis mit Theroc schließen? Du kannst die Roamer nicht sich selbst überlassen. Du musst uns durch diese schweren Zeiten bringen.« Als Jess diese Worte formulierte, wurde ihm klar: Indem er sie laut aussprach, wurde alles real und unvermeidlich.
Jess beobachtete, wie Cesca nach vernünftigen Gegenargumenten suchte, nach einer Möglichkeit, Reynalds Heiratsantrag abzulehnen. Er hob die Hand. Sein Herz wetterte gegen die eigenen Worte, aber der Verstand zwang ihn, sie auszusprechen. »Muss ich dich daran erinnern, wie oft du mich darauf hingewiesen hast, dass wir unserem Leben eine Bestimmung geben müssen, die über uns selbst hinausgeht?
Wenn es uns nicht um das Wohl unseres Volkes ginge, hätten wir schon vor Jahren heiraten und uns auf Plumas niederlassen können.«
»Vielleicht wäre das besser gewesen«, sagte Cesca, aber sie wusste, dass sie es nicht ernst meinte. Sie konnte es nicht ernst meinen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie Jess liebte.
Sie diskutierten weiter, aber alle möglichen Lösungen des Problems schienen egoistisch und erzwungen zu sein. Jess beharrte auf seinem Standpunkt und wusste, dass er Recht hatte. Welchen Rat hätte Cesca einer anderen Frau in ihrer Situation gegeben? Die Antwort lag auf der Hand, wenn man all die Dinge berücksichtigte, die man sie gelehrt hatte und an die sie glaubte. Vielleicht war sie selbst von ihrem Widerwillen überrascht, den Traum von einem glücklichen Leben mit Jess aufzugeben. Hatte sie sich zu viel erhofft?
Als die Greifkapsel ans Haupthabitat von Osquivel andockte, sagte Jess: »Du weißt, was du tun musst, Cesca.«
Als Cesca die Werften besuchte, bewegte sie sich wie eine Person, die nur halb am Leben war. Sie wollte lange genug bleiben, um den Start der neuen Nebelsegler zu beobachten.
Anschließend beabsichtigte sie, nach Rendezvous zurückzukehren und ihre Arbeit fortzusetzen. Warum hatte die frühere Sprecherin Okiah nicht eine andere Nachfolgerin gewählt?
Aber das entsprach gar nicht Cescas Wünschen. Jene, die ein ruhiges Leben führten, träumten manchmal davon, einen wichtigen Posten und Macht zu haben – aber die meisten von ihnen würden gern darauf verzichten, um die alte Ruhe zurückzubekommen. So sehr Cesca auch darunter litt: Sie musste den Preis bezahlen. Ihr Leitstern verlangte es. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste sich mit der Situation abfinden und persönliche Verluste akzeptieren, worin auch immer sie bestanden.
Jess ging ihr aus dem Weg und wusste, dass er Cesca bei dieser Sache nicht helfen konnte. Seine unmittelbare Präsenz hätte es ihr nur schwerer gemacht. Es ging um eine rationale, politische Entscheidung, die mit kühlem Kopf getroffen werden musste, nicht mit einem kummervollen Herzen. Ihre Seelen waren eins; daran würde sich nie etwas ändern.
Jess sah eine Möglichkeit, es Cesca leichter zu machen.
Del Kellum war überrascht, als der junge Mann am Startdock an ihn herantrat.
»Ich möchte mit einem der neuen Nebelsegler aufbrechen, Del«, sagte Jess. »Holen Sie einen der Piloten aus dem Cockpit und versprechen Sie ihm einen anderen Segler. Ich muss jetzt sofort los. Wenn ich hier bleibe… Dann ist Cesca abgelenkt und gerät in Versuchung, eine falsche Entscheidung zu treffen.«
»Dies ist unbesonnen, Jess.« Kellum schien ihn zu verstehen und Jess errötete. Wussten denn alle über Cesca und ihn Bescheid? »Verdammt, wenn Sie da draußen so lange allein sind, kommen Sie ins Grübeln. Zeit kann ein Luxus oder ein Fluch sein, es kommt ganz darauf an.«
Jess blieb hart. »Ich möchte nicht fort, Del, aber ich kenne Cesca zu gut. Mich jetzt in der Nähe zu wissen… Das ist zu schwer für sie. Viel zu schwer. Ich habe meinen Leitstern gesehen und muss ihm folgen.«
Kellum seufzte. »Na schön, ich arrangiere alles. Ich schätze, der alte Bram hat seine Sturheit an Sie weitergegeben.«
Jess verstaute seine Sachen im Habitatmodul und überprüfte die Vorräte an Bord, bevor das Schiff angehoben und dem ellipsenförmigen ballistischen Kokon hinzugefügt wurde, der den zusammengefalteten Mikrofaserfilm enthielt.
Bevor er Jess im Innern des Moduls einschloss, sagte Kellum: »Soll ich ihr etwas ausrichten? Sie wird den Start beobachten.«
»Sagen Sie ihr, ich wünschte, unsere Herzen wären unser Leitstern. Aber das sind sie nicht.« Jess schloss die Augen.
»Cesca wird tun, was getan werden muss. So hat sie immer gehandelt.«
Cesca würde an Bord der Ringstation neben Del Kellum stehen und beim Start der neuen Nebelsegler zuschauen – das war ihre Pflicht als Sprecherin.
Im Innern des gemütlichen Habitatmoduls hörte Jess wie benommen zu, als Checklisten verlesen und Meldungen ausgetauscht wurden. Kurze Zeit später sausten die ballistischen Kokons ins offene All, wie die Sporen eines Pilzes. Ein schneller Flug bis zum Nebel stand Jess bevor; dort würden sich die Segel entfalten.
Weit, weit von Osquivel entfernt.
Er wollte alle Gedanken und Gefühle von sich abstreifen, aber er wusste auch: Er hatte mehr als genug Zeit, um immer und immer wieder über alles nachzudenken.
Noch bevor er sein Ziel im Herzen des Nebels erreichte, wusste Jess, dass Cesca die richtige Entscheidung treffen und Reynalds Heiratsantrag annehmen würde.
44
REYNALD
Mit einem diplomatischen Schiff der Hanse kehrte Sarein nach Theroc zurück – es sank an den hohen Weltbäumen vorbei und landete auf der Raumhafenlichtung. Reynald näherte sich mit schnellen Schritten, glücklich über das Wiedersehen mit seiner Schwester. Er hatte sich die gebräunte Haut mit Spreiznussöl eingerieben, sodass sie eindrucksvoll glänzte.
Sarein umarmte ihn kurz. Sie sah gesund aus und ihr dunkles Haar war kurz geschnitten, nach terranischer Art; die langen Zöpfe, die sie auf Theroc getragen hatte, existierten nicht mehr. Hanse-Parfüms gaben ihr einen exotischen Duft.
»Es scheint dir auf der Erde gut zu gehen.« Reynald zupfte spielerisch am Ärmel ihrer Bluse. »Aber offenbar hast du dich verkleidet. Warum bist du so lange fort gewesen?«
»Ich wollte eher heimkehren, Reynald, aber wenn Kolonisten Not leiden, weil dringend benötigtes Ausrüstungsmaterial nicht geliefert werden kann… Wie soll ich unter solchen Umständen einen Besuch bei meiner Familie rechtfertigen?« Es funkelte in Sareins Augen. »Aber da ich die Botschafterin bin und du der Vater von Theroc sein wirst, habe ich vor, in Zukunft eng mit dir zusammenzuarbeiten.«
»Ich bin auch weiterhin dein Bruder. Nichts hat sich geändert.«
Sarein bedachte Reynald mit einem durchdringenden Blick.
»Wenn du Vater Reynald bist, wirst du feststellen, dass sich viele Dinge geändert haben. Ich hoffe, dass sie besser werden.«
Sie deutete zum offenen diplomatischen Shuttle. »Ich habe einen Überraschungsgast für deine Krönung mitgebracht.
Erinnerst du dich an den Vorsitzenden, Reynald?«
In einen perfekt sitzenden Anzug gekleidet kam Basil Wenzeslas aus dem Shuttle und sah interessiert zu den aufragenden Weltbäumen. Reynald hatte den Vorsitzenden vor sechs Jahren bei seinem Besuch auf der Erde kennen gelernt.
»Willkommen. Einen so wichtigen Gast habe ich nicht erwartet.«
Basil lächelte väterlich. »Sie werden zum Oberhaupt einer der wichtigsten Welten im Spiralarm, Reynald. Eine geringere Präsenz der Terranischen Hanse käme einer Beleidigung gleich. So etwas können wir nicht zulassen.«
»Danke, Vorsitzender.« Reynald errötete. »Ich bin noch nicht daran gewöhnt, mit solcher Förmlichkeit behandelt zu werden.« Er ergriff die Hand seiner Schwester. »Komm. Vater und Mutter freuen sich darauf, dich wieder zu sehen.«
Für die Krönung waren die Räume der Pilzriff-Stadt mit mehr Farben und Glanz geschmückt als die prächtigste Chromfliege.
Vor kurzer Zeit geschlüpfte und mit Fäden festgebundene Kondorfliegen flatterten an den Fenstern und ihre Flügel glitzerten in allen Farben des Spektrums. Idriss und Alexa hatten sich selbst übertroffen und waren sehr stolz auf das von ihnen vorbereitete Spektakel.
Estarra sah hinreißend aus in ihrem Gewand aus Federn und Mottenschuppen – nie zuvor hatte sie auf Reynald so erwachsen gewirkt. Das geölte Haar der sechzehnjährigen Celli bildete lange Flechten und war so sehr nach hinten gezogen, dass ihr Gesicht einen gequälten Ausdruck bekam. Sie verabscheute solche förmlichen Ereignisse.
Sarein wirkte sehr würdevoll im Botschaftermantel, den sie von der alten Otema erhalten hatte, und sie saß neben dem Vorsitzenden Wenzeslas in der ersten Reihe. Der Abstand zwischen ihnen war gering, so als wären sie nicht nur politische Kollegen, sondern auch gute Freunde.
Seltsamerweise blickten sie beide immer wieder zu Estarra und schienen sie einzuschätzen.
Ein gemischtes Publikum von vielen verschiedenen Waldsiedlungen füllte den Raum und draußen die Balkone.
Reynald bemerkte die grüne Priesterin Almari, die ihm bei den Spiegelglasseen die Ehe vorgeschlagen hatte. Jetzt, da er zum neuen Vater von Theroc wurde, schien sie noch mehr an ihm interessiert zu sein. Aber er hatte bereits um Cesca Peronis Hand angehalten. Er hoffte, bald eine Antwort von ihr zu bekommen.
Viele Theronen standen auf dem Waldboden oder auf dicken Ästen der Weltbäume und versuchten, etwas von der Zeremonie mitzubekommen. Überall auf dem Planeten berührten grüne Priester die Weltbäume und nahmen durch den Telkontakt an den Vorgängen teil.
Reynald hörte die feierlichen Lieder, gefolgt von der Ansprache seines Onkels, des grünen Priesters Yarrod – er wies darauf hin, dass der theronische Vater den Weltwald und sein Volk hüten musste. Doch an diesem Tag waren seine Worte ein kaum verständliches Brummen.
Als es Zeit für ihn wurde, stand Reynald auf, trat vor den doppelten Thron und legte seinen Eid ab. »Ich schwöre, mein Äußerstes zu geben, um das theronische Volk gerecht und klug zu führen, zum Wohle des Weltwaldes und zum Nutzen aller, die hier leben.«
Mutter Alexa blieb sitzen, die Schultern von Insektenschalen und fedrigen Tüchern bedeckt. Ihr Kopfschmuck sah aus wie eine kleine Kathedrale, die auf ihrem Haar ruhte. Idriss trug einen beeindruckenden Umhang und seine Krone war noch größer, geschmückt mit Insektenflügeln, Rückenschilden von Käfern und polierten Holzspänen.
»Reynald, mein Sohn«, sagte Idriss mit tiefer Stimme, »ich vertraue dir meinen Platz als Vater aller Theronen an. Keine Zeremonie und kein Segen kann bedeutungsvoller sein als das.« Er nahm die Krone ab und setzte sie Reynald auf den Kopf. Sie fühlte sich sonderbar leicht und erhebend an.
Unvergossene Tränen glänzten in Reynalds Augen. »Ich verspreche dir, mir alle Mühe zu geben, Vater.«
Idriss nahm die Hand seiner Frau und Alexa stand auf.
Gemeinsam traten sie von ihren Sesseln fort und blieben rechts und links ihres Sohnes stehen. Reynald sah dorthin, wo seine Mutter eben noch gesessen hatte, und er fragte sich, ob Cesca Peroni ihm dort jemals Gesellschaft leisten würde. Im Publikum befanden sich auch Uthair und Lia. Sie saßen neben Idriss’ alten Eltern und lächelten.
»Nun, nimm Platz, Reynald«, sagte seine Mutter. »Alle warten.«
Er trat auf die Estrade und drehte sich dort zum Publikum um. Fast überwältigt von der Verantwortung, die er gerade übernommen hatte, setzte er sich, während Idriss und Alexa zu ihren Eltern gingen. Stille herrschte – alle warteten auf Vater Reynalds erste Proklamation.
Er dachte kurz nach und erließ dann eine Verfügung, die allen gefallen würde. »Ich meine, es ist an der Zeit, mit dem Bankett zu beginnen!«
Musiker und grüne Priester unterhielten die Krönungsgäste bis spät in die Nacht. Kinder liefen umher, tuteten und pfiffen mit den seltsamen Musikinstrumenten, die Uthair und Lia ihnen geschenkt hatten. Draußen im dichten Wald wurde die Musik der Insekten zu einer summenden Symphonie und es klang so, als wollte auch der Weltwald das neue Oberhaupt willkommen heißen. Vielleicht war das dank der grünen Priester wirklich der Fall.
Reynald bedauerte Benetos Abwesenheit, aber die weite Reise von Corvus Landing nach Theroc war ihm nicht möglich gewesen. Durch den Telkontakt hatte er geistig an dem Fest teilnehmen können, wie alle anderen grünen Priester im Spiralarm.
Überall gab es Speisen: Salznüsse, Paarbirnen, Perrinsamen, Platschbeeren, gedünstete und mit Zucker bestreute Kräusler, Spieße mit Kondorfliegenfleisch, pikante Käfer, in ihren Schalen gebacken. Lange Fahnen und hauchdünne Schleier aus Kokonfaser-Stoff trieben wie Spinnweben hin und her, gerieten beim geringsten Luftzug in Bewegung. Die vielen Menschen – fast alle lächelten – schienen miteinander zu verschwimmen.
Reynald tanzte mit seinen drei Schwestern. Nachdem Sarein und Basil einen langsamen Walzer getanzt hatten, nahmen sie Reynald diskret beiseite. Sarein führte ihn hinter den Thronraum, durch einen ins Pilzriff gebohrten Tunnel und in ein kleines Zimmer, in dem gelegentlich Dinge gelagert wurden.
»Erinnerst du dich an diesen Raum?« Sarein schloss die Tür, damit sie allein waren. »Hier haben wir uns als Kinder versteckt.«
»Natürlich«, erwiderte Reynald wachsam. »Aber ich nehme an, derzeit hast du keine Kinderspiele im Sinn.«
Sareins Lippen formten ein zufriedenes Lächeln. »Siehst du, Basil? Ich habe dir ja gesagt, dass mein Bruder intelligent ist.
Du kannst darauf zählen, dass er die allgemeine Situation versteht.«
»Junger Mann«, sagte Basil Wenzeslas, »Ihre Krönung ist ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Theroc und der Hanse.«
Reynalds Gedanken rasten und er begriff, dass sich sein Leben bereits verändert hatte. Sarein stand dicht neben dem Vorsitzenden; er blickte von einem Gesicht zum anderen. Der Lagerraum schien immer kleiner zu werden. »Was wollen Sie?«
»Ob es uns gefällt oder nicht, Vater Reynald, wir alle befinden uns im Krieg gegen die Hydroger«, sagte Wenzeslas.
Zum ersten Mal wurde Reynalds neuer Titel bei einer offiziellen diplomatischen Angelegenheit verwendet – es hörte sich seltsam an. »Der Feind hat geschworen, uns zu vernichten.
Nicht nur uns Menschen, sondern auch die Ildiraner. Das Ultimatum der Hydroger hat die interstellare Raumfahrt im Spiralarm praktisch gelähmt. Die Kolonien der Hanse leiden Not; auf manchen Welten herrscht Hunger. Die Terranische Verteidigungsflotte hat versucht, uns zu schützen, aber wir haben zahlreiche Schiffe verloren und viele mussten Gelegenheiten verstreichen lassen, weil wir nicht in der Lage sind, ohne Zeitverlust über interstellare Entfernungen hinweg zu kommunizieren.«
»Sie wollen mehr grüne Priester«, sagte Reynald.
»Ist das eine so schreckliche Sache?«, warf Sarein ein. »Die TVF versucht, den Spiralarm zu verteidigen, aber wir können es nicht allein schaffen. Denk daran, wie viele Leben und Ressourcen gerettet werden können, wenn grüne Priester bereit wären, mit ihren besonderen Fähigkeiten zu helfen.
Stützpunkte der Hanse könnten per Telkontakt um Hilfe rufen, wenn sie angegriffen werden. Man könnte die Position fremder Schiffe melden. Derzeit müssen wir Scouts ausschicken und mithilfe von Kurierdrohnen kommunizieren, die wertvolles Ekti verbrauchen.« Sareins Stimme klang bitter, als sie hinzufügte: »Die Theronen sollten endlich damit aufhören, in ihrer kleinen, isolierten Ecke des Universums zu leben und all jenen Welten, die von den Hydrogern angegriffen werden, keine Beachtung zu schenken.«
»Ich habe viele Planeten im Spiralarm besucht«, entgegnete Reynald. »Ich sehe nicht nur Theroc.«
»Die Hilfe Ihrer Welt bedeutet uns viel, Vater Reynald«, sagte Basil. »Deshalb ist die Hanse zu einem beispiellosen Zugeständnis bereit. Wir fordern Sie nicht auf, die Charta der Hanse zu unterzeichnen. Wir bestätigten Therocs Status als unabhängige Welt mit eigenen Bedürfnissen und einer eigenen Kultur. Wir bitten Sie jedoch um eine Partnerschaft zu beiderseitigem Nutzen.«
»Und an welche Grundlage für diese Partnerschaft dachten Sie?«, fragte Reynald.
»Wir könnten sie mit einem Ehebund besiegeln«, sagte Sarein voller Enthusiasmus. »Wir dachten dabei an König Peter und… Estarra.«
Reynald glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Er hatte bereits die Notwendigkeit gesehen, dass sich Theroc mit einer anderen Macht verbündete, um auf diese Weise ein System der gegenseitigen Hilfe zu schaffen – deshalb sein an Cesca Peroni gerichteter Heiratsantrag. Wenn der Hydroger-Krieg Theronen, Roamer und die Hanse zusammenbringen und die Menschheit einen konnte, ohne dass eine der beteiligten Gruppen ihre Rechte oder Identität opfern musste – eine solche Gelegenheit durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Reynald dachte an den Flüsterpalast und die von Sarein oft beschriebene Pracht der Erde. Er hatte Bilder gesehen, die den attraktiven König Peter zeigten, einen vitalen und offenbar freundlichen jungen Mann. Es schien eine wundervolle Chance für seine kleine Schwester zu sein, insbesondere in Hinsicht auf den Rat, den Uthair und Lia ihnen beiden vor langer Zeit gegeben hatten. Wie konnte Estarra es ablehnen, die Gemahlin eines Großen Königs zu werden? Bestimmt sah sie den Nutzen einer solchen Ehe ein.
»Ich… ich muss Estarra natürlich fragen und die Angelegenheit mit unseren Eltern besprechen.«
Sarein musterte ihren Bruder ernst. »Sprich mit ihnen, wenn du möchtest, aber denk daran, dass du Vater Reynald bist«, sagte sie mit Nachdruck. »Du entscheidest.«
Reynald zögerte und seufzte. »Ja, diesen Hinweis habe ich von dir erwartet.«
45
KÖNIG PETER
Praktisch die ganze Zeit über musste Peter den König spielen.
Es gab keine Ausnahmen, keine Atempause. Er saß auf seinem Thron, mit einem ruhigen, wissenden Gesichtsausdruck. Die Leute erwarteten Trost, Ehrlichkeit und Kraft von ihm. Ein König musste vor allem moralische Integrität haben.
Ganz gleich, was Basil Wenzeslas glaubte.
Zwar war der Vorsitzende zusammen mit Botschafterin Sarein nach Theroc geflogen, aber deshalb hatte Peter noch lange nicht die Freiheit, eigene Gedanken zu denken oder ganz offen zu sprechen. Er war sowohl König als auch Gefangener, auch wenn das niemand in der Hanse wusste.
Admiral Lev Stromo, Kommandeur und Repräsentant der Terranischen Verteidigungsflotte in Gitter 0, war zum Flüsterpalast gekommen, begleitet von dem technischen Spezialisten Lars Rurik Swendsen. General Lanyan führte irgendwo Manöver durch und Basil weilte auf Theroc – unter diesen Umständen schien Stromo nicht recht zu wissen, an wen er sich wenden sollte. Dem Admiral war klar, dass es Peter eigentlich nicht zustand, ganz allein wichtige Entscheidungen zu treffen.
Die beiden Männer schritten über den roten Teppich der Zugangsplattform, passierten den Spiegelflur und erreichten den Thronsaal. Die königlichen Wächter und Herolde kündigten sie an, obwohl Peter sowohl Stromo als auch Swendsen erkannte. Er richtete einen durchdringenden Blick auf den Kommandeur von Gitter 0 und Stromo erwiderte ihn –sie beide wussten, welche Farce dieses Treffen war.
Der Techniker trat vor, einen Projektionsapparat in den Armen. »König Peter, es freut mich, Ihnen von den technischen Durchbrüchen berichten zu können, zu denen es nach der Demontage des Klikiss-Roboters kam. Unsere Forschungen waren die Mühe wert.«
Peter hob die Brauen. »Nach wessen Maßstäben?«
Swendsen schien Peters Skepsis überhaupt nicht zu bemerken. »Nach jedem beliebigen Maßstab, Euer Majestät.«
Er projizierte mehrere Bilder, die Kompi-
Produktionsplattformen, Montagebänder und automatische Fabriken zeigten. Der Techniker sprach so schnell, dass seine Worte den Darstellungen vorauseilten.
»Die Untersuchungen haben uns tiefen Einblick in erstaunliche robotische Systeme gewährt. Wir haben bereits damit begonnen, die Produktionsverfahren zu modifizieren –
Sie werden sehen, dass sich alles gelohnt hat, Euer Majestät.
Wir restrukturieren die Fabriken, um neue Kompi-Modelle zu konstruieren, die weitaus effizienter sind als die alten und auch als Kampfroboter eingesetzt werden können. Die neuen Kompis werden in der Lage sein, eigene Kommando-Entscheidungen zu treffen, anstatt sich darauf zu beschränken, expliziten Anweisungen zu folgen. Sie können erkunden, angreifen und autonom gegen den Feind kämpfen. Kurz gesagt, sie sind perfekte Soldaten – und eine enorme Verbesserung gegenüber unseren bisherigen Kompis.«
Der nur ein Meter zwanzig große OX stand neben dem Thron des Königs. Peter sah zum Lehrer-Kompi und runzelte skeptisch die Stirn, als er sich an den Techniker wandte.
»Kompis wie OX leisten uns seit Jahrhunderten gute Dienste.
Sie sollten besser auf solche Behauptungen verzichten, wenn es keine Faktenbasis dafür gibt.«
»Eine solche Faktenbasis existiert durchaus, Euer Hoheit«, sagte Admiral Stromo. »Mit den auf die Klikiss-Technik zurückgehenden Modifikationen zeichnen sich die militärischen Modelle durch größere Zuverlässigkeit und verbesserte allgemeine Zielorientierung aus. Sie werden unablässig bestrebt sein, komplexen Aufgaben gerecht zu werden. Es sind keine kompetenten computerisierten Helfen mehr, keine Spielzeuge, sondern richtige Soldaten.«
»Das stimmt«, pflichtete Lars Swendsen dem Admiral bei.
»Die neuen Kompis sind imstande, all jene Soldaten zu ersetzen, die…« Er zögerte. »Wie viele nicht unbedingt erforderliche Menschen gibt es in der TVF?«
»Dies versetzt uns in die Lage, die Anzahl potenzieller menschlicher Verluste bei den nächsten Konfrontationen mit den Hydrogern zu reduzieren«, fuhr Stromo fort. »Dann brauchen Sie nicht annähernd so viele Gedenkbanner wie nach dem Dasra-Zwischenfall zu entfalten.«
Von seinem Thron aus betrachtete Peter die Bilder restrukturierter Kompi-Fabriken. Er konnte kaum etwas dagegen haben, dass weiterentwickelte Kompis gewisse Risiken übernahmen, aber ein Teil von ihm dachte noch immer darüber nach, was sich hinter dem angeblichen Hilfsangebot der Klikiss-Roboter verbarg. »Sie scheinen sehr begeistert zu sein, Techniker Swendsen. Haben Sie überhaupt keine Zweifel?«
»Nicht die geringsten, Euer Majestät.«
»Vielleicht können wir diesen Krieg doch noch gewinnen.«
Admiral Stromo verbeugte sich, wich zurück und glättete die Jacke seiner TVF-Uniform. »Wir legen einen detaillierten Bericht vor, wenn der Vorsitzende Wenzeslas von seiner diplomatischen Mission auf Theroc zurückkehrt.«
»Ach?«, erwiderte der König. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir mitteilen möchten?«
»Nein, Euer Majestät«, antwortete Admiral Stromo.
»Dann dürfte ein zweites Treffen mit dem Vorsitzenden Wenzeslas nicht nötig sein. Sie haben alles gesagt, was gesagt werden musste.« Der Blick von Peters blau gefärbten Augen durchbohrte Stromo, der nicht wusste, wie er reagieren sollte.
Der Techniker Lars Swendsen spürte nichts von der Anspannung. Er lächelte, nahm seine Unterlagen und den Projektor.
»Nun gut, Sie können Ihre Arbeit fortsetzen«, sagte der König. »Aber seien Sie vorsichtig.«
46
TASIA TAMBLYN
Etwas hatte die Droger aktiv werden lassen. Die Fremden aus den Tiefen der Gasriesen durchstreiften das All und griffen bewohnte Sonnensysteme an, offenbar wahllos. Die TVF hatte die zunehmenden Sichtungen analysiert, ohne ein Muster zu erkennen. Zwischen den einzelnen Attacken schien es keine verbindenden Elemente zu geben.
Als die Kugelschiffe den dicht bewaldeten Planeten Boone’s Crossing angriffen, sendeten die Siedler verzweifelte Notrufe.
Der Zufall wollte es, dass die kleine Gitter-7-Flotte nahe genug war, um sofort zu intervenieren.
»Gefechtsstationen besetzen! Alle Schiffe, volle Beschleunigung. Auf geht’s nach Boone’s Crossing.« In Admiral Willis’ Stimme erklang so etwas wie grimmige Freude. »Wir müssen dort rechtzeitig genug eintreffen, um den Hydrogern ordentlich in den Hintern zu treten.« Sie schloss die Hände fest um die Armlehnen ihres Kommandosessels, als könnte sie die Jupiter auf diese Weise schneller werden lassen.
Tasia – sie hatte vor kurzer Zeit das Kommando über einen Manta-Kreuzer erhalten – fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie an die bevorstehende Begegnung mit den Hydrogern dachte. Sie wollte gegen die verdammten Fremden kämpfen, wo immer sie sich zeigten. Das war ihr weitaus lieber als Aktionen gegen aufsässige Kolonisten.
Die Scoutflotte bestand aus einem Moloch, sieben Mantas und tausend kampfbereiten Remoras. Sie flog zum nächsten Sonnensystem mit der kleinen grünen Welt namens Boone’s Crossing. Das reflektierte Sonnenlicht zeigte eine winzig wirkende, friedliche Hanse-Kolonie.
Der Boden von Boone’s Crossing eignete sich perfekt für das schnelle Wachstum genetisch veränderter Koniferen. Die dunklen Nadelbäume stammten von der Erde und waren mit einheimischen Pflanzen gekreuzt worden. Das Ergebnis: ein dichter, wundervoller Wald, der fast ebenso schnell wuchs wie Bambus. Die Dunkelkiefern breiteten sich rascher aus, als die Holzindustrie sie verarbeiten konnte.
Als sich die Flotte mit hoher Geschwindigkeit näherte, sendeten die siebzehn großen Siedlungen, jede von ihnen an einem See oder einem Fluss errichtet, weitere Notrufe. Tasia bemerkte zickzackförmige Schneisen im Wald, wie Schnitte durch den dicken Teppich aus dunkelgrünen Bäumen. An manchen Stellen konnte sie neue Anpflanzungen ausmachen.
Der dunkle Wald wirkte üppig und gesund – bis auf die von den Hydrogern verheerten Bereiche. Dort lagen dicke Baumstämme zerfetzt am Boden und Kältewellen hatten Raureif auf ihnen hinterlassen. Vier Kugelschiffe waren damit beschäftigt, die Wälder aus Dunkelkiefern systematisch zu vernichten.
»Wie bei einem Tsunami!«, kam Commander Fitzpatricks Stimme aus dem Kom-Lautsprecher – er war von der Patrouille mit General Lanyan zurückgekehrt.
»Mit Siedlung A gibt es keinen Kontakt mehr, Commander Tamblyn«, meldete die neue Navigationsoffizier in Elly Ramirez. »Offenbar hat es die dortigen Kolonisten erwischt.«
Tasia sah zum Hauptschirm, der den wehrlosen Wald zeigte, und Kälte breitete sich in ihrer Magengrube aus. »Welche Siedlung ist die nächste, wenn wir vom gegenwärtigen Kurs der Hydroger ausgehen, Lieutenant?«
Ramirez überlagerte die Echtzeit-Darstellungen auf dem Hauptschirm mit einem taktischen Gitter, während der Manta durch die wolkige Atmosphäre flog. »Siedlung D, am großen See dort, Commander. Wenn die Kugelschiffe den Flug wie bisher fortsetzen, wird der Ort in weniger als einer Stunde ausgelöscht.«
Tasia nickte grimmig. »Die dortigen Kolonisten sitzen wie vor einer Dampfwalze.«
Admiral Willis erteilte Anweisungen über die Kommandofrequenz. »Beeilen wir uns! Alle Remoras starten!
Mantas, Jazer laden und Projektilwaffen vorbereiten. Die Jupiter wird von ihrer ganzen Feuerkraft Gebrauch machen.
Ich glaube nicht, dass unsere Waffen für diese Burschen wirkungsvoll genug sind, aber ich würde mich darüber freuen, Unrecht zu haben.«
Fitzpatricks Manta löste sich vom Gros der Flotte und Willis’
Moloch begleitete ihn auf dem Weg zum ersten Kugelschiff.
Die aufgeregten Remora-Piloten und TVF-Kanoniere eröffneten das Feuer, noch bevor sie in Waffenreichweite waren.
Die Hydroger schickten der menschlichen Streitmacht blaue Blitze entgegen und pulverisierten ein Dutzend der schnellsten, kühnsten Remoras. Doch das Hauptaugenmerk der Fremden galt weiterhin dem Planeten: Kältewellen strichen über den Wald, ließen majestätische Dunkelkiefern bersten.
Tasia hätte gern an dem Angriff teilgenommen, wusste aber, dass sie nichts ausrichten konnte. »Admiral Willis, selbst mit unserer gesamten Feuerkraft haben wir keine Chance gegen vier Kugelschiffe. Meine Taktikerin sagt die Vernichtung der Siedlung D in einer Stunde voraus. Wir müssen sie evakuieren.«
»Was ist los, Tamblyn?«, ertönte Fitzpatricks Stimme. »Nicht genug Mumm für einen echten Kampf?«
»Warum fragst du das nicht die hilflosen Siedler dort unten, Fitzpatrick? Oder soll ich ihnen mitteilen, dass du damit beschäftigt bist, in einen Orkan zu spucken?«
»Sie haben Recht, Tamblyn«, sagte Willis. »Fliegen Sie mit Ihrem Kreuzer zur Siedlung und nehmen Sie die Kolonisten an Bord. Sie sollen sich in den Korridoren zusammendrängen, wenn im Frachtraum nicht genug Platz ist.«
»Ja, Ma’am!« Tasia winkte Lieutenant Ramirez zu. Der Manta ging tiefer, um den Hydrogern zuvorzukommen.
Der Moloch Jupiter feuerte mit den Jazern auf das vorderste Kugelschiff. Wie verärgert über die Störung antworteten die Hydroger mit einem blauen Blitz, der den Steuerbordrumpf des großen Flaggschiffs streifte, wodurch sich der Moloch auf die Seite legte und vom Kurs abkam.
Tasia rief ihrem Kommunikationsoffizier einen Befehl zu.
»Setzen Sie sich mit Siedlung D in Verbindung – die Leute sollen ins Freie kommen und für die Evakuierung bereit sein.
Shizz, wir brauchen die ganze Zeit, die wir haben, nur um alle aufzunehmen.«
Wie kosmische Bulldozer glitten die Kugelschiffe über den Wald. Hinter ihnen blieben nicht ein Baum und nicht ein Grashalm stehen.
Tasias Manta flog vor den Hydrogern; die Distanz betrug nur hundert Kilometer. Mit jeder verstreichenden Sekunde näherten sich die erbarmungslosen Hydroger Siedlung D.
Der Ort am See bestand aus Sägemühlen, Ladeplattformen und kastenförmigen Unterkünften auf einer Lichtung mit vielen Baumstümpfen. Mit dem Fällen weiterer Dunkelkiefern war die Siedlung gewachsen. Die Kolonisten hatten neue Gebäude errichtet, um die Bäume zu verarbeiten und exportfähige Produkte aus Holz herzustellen.
Sorgenvoll sahen die Siedler gen Himmel und eilten hin und her, wie Ameisen auf einem heißen Teller. Kom-Operatoren in Kontrolltürmen von Sägemühlen beobachteten, wie die Kugelschiffe der Hydroger näher kamen und Zerstörung brachten.
Als der Manta-Kreuzer in Sichtweite des Sees geriet, hielt Tasia sofort nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. Die Siedler liefen umher, winkten und schienen bereit zu sein, noch vor der Landung des Schiffes an Bord zu springen.
»Die Droger sind siebzig Kilometer entfernt und nähern sich schnell«, sagte Ramirez.
Tasia deutete auf ein Lagerhaus so groß wie ein Hangar.
»Wird Zeit für eine urbane Neugestaltung. Pusten Sie das Gebäude weg und landen Sie dort. Wir können nur hoffen, dass sich niemand mehr darin befindet.«
Ein einzelner Jazer-Strahl ließ das Lagerhaus auseinander platzen und der Kreuzer landete. Der Bug berührte das Ufer und kaltes Wasser zischte am heißen Rumpf. Mehrere tausend Siedler drängten nach vorn.
»Wir müssen Ordnung schaffen, Sir«, sagte der Sicherheitsoffizier Sergeant Zizu. »Sonst trampeln sich die Leute gegenseitig nieder.«
Tasia sah aufs Chronometer – ihnen blieben nur noch wenige Minuten. »Den Luxus von Ordnung können wir uns nicht leisten, Zizu.« Die Frachtluken waren bereits offen und Siedler kletterten hastig an Bord. »Staffelführer Brindle! Starten Sie die Remoras des Heckhangars, um Platz zu schaffen. Wir können weitere Flüchtlinge auf dem Flugdeck unterbringen.
Wir öffnen die Kielluken, wenn es sein muss. Machen Sie alles auf und holen Sie die Leute so schnell wie möglich an Bord!«
Am Horizont hinter ihnen zeigte sich eine von Kältewellen stammende Dunstwolke. »Admiral Willis, ich muss wissen, ob es Ihnen gelingt, die Hydroger aufzuhalten.«
Das Flaggschiff übermittelte Echtzeit-Bilder von den Kugelschiffen, die den Wald verheerten. »Einer unserer Kreuzer ist zerstört, hinzu kommen über zweihundert vernichtete oder kampfunfähige Remoras – bisher.«
Tasia nahm diese Nachricht mit Betroffenheit entgegen.
»Irgendwelche Schäden beim Feind?«
»Nicht ein verdammter Kratzer! Wir können von Glück sagen, dass es den Drogern vor allem darum geht, aus Bäumen Kleinholz zu machen. An uns sind sie kaum interessiert.«
Hunderte von Kolonisten befanden sich bereits an Bord von Tasias Schiff. Viele waren von Freunden und Familienangehörigen getrennt, aber darum konnten sie sich später kümmern. Draußen erklangen nicht nur die Stimmen der Flüchtlinge – Tasia hörte auch ein dumpfes Donnern und Zischen, das von den näher kommenden Kugelschiffen stammte.
Admiral Willis setzte sich erneut mit dem Manta-Kreuzer in Verbindung. »Commander Tamblyn, wie ist der Evakuierungsstatus von Siedlung D?«
»Ich habe die meisten Flüchtlinge an Bord, aber sie füllen alle Ecken und Winkel.«
»Gute Arbeit, Tamblyn«, sagte Willis. »Wenigstens einer von uns bringt etwas zustande.«
Offenbar war der Admiralin noch nicht klar geworden, was Tasia bereits wusste. »Ma’am, wir können diese Leute in Sicherheit bringen, aber… Sehen Sie sich die Karte an. Die Hydroger gehen methodisch vor und scheinen zu beabsichtigen, den ganzen Kontinent zu verheeren, Zentimeter für Zentimeter!«
»Also schaffen Sie die Leute fort!«
»Genau das habe ich vor, Admiral. Ich kann die meisten Bewohner der Siedlung D wegbringen, bevor die Hydroger hier sind, aber es gibt noch fünfzehn andere Siedlungen, mit insgesamt etwa hunderttausend Kolonisten. Wenn die Droger ihre Angriffe wie bisher fortsetzen, geraten sie alle in Gefahr.
Es wird zu enorm hohen Verlusten kommen, wenn wir nicht alle unsere Ressourcen – und ich meine wirklich hundert Prozent – für die Rettung der Siedler einsetzen.«
Tasia bekam unerwartete Unterstützung von Fitzpatrick. »So ungern ich das auch zugebe, Admiral, aber Tamblyn hat Recht.« Er erschien auf dem Kom-Schirm und wirkte recht mitgenommen. Sein Kreuzer war beim Kampf gegen die Hydroger beschädigt worden. »Wenn man die Dinge aus einem politischen Blickwinkel sieht… Sie möchten wohl kaum das Kommando über eine Mission haben, bei der die meisten Todesopfer in der Geschichte der Menschheit zu beklagen sind.«
Willis verzog das Gesicht. »Ob wir uns auf die Defensive beschränken oder offensiv vorgehen – offenbar können wir nicht viel gegen die Droger ausrichten.«
Tasia schloss den akustischen Kanal und rief ihrer Crew zu:
»Wie sieht’s aus? Sind alle an Bord?«
»Es fehlen nur noch einige Nachzügler, Commander.«
Der Ort am See wirkte wie ausgestorben. Hier und dort leckten kleine Flammen aus den Trümmern des zerstörten Lagerhauses. Einige Männer und Frauen lagen auf dem Boden, zu Tode getrampelt oder verletzt. »Ein letzter Aufruf«, sagte Tasia. »Und dann verschwinden wir von hier.«
Hinter ihnen näherten sich die Kugelschiffe und ihre Kältewellen mähten den Wald nieder.
»An alle, den Gegenangriff abbrechen!«, befahl Willis schließlich. »Fliegen Sie zu den Siedlungen und beginnen Sie mit der Totalevakuierung von Boone’s Crossing.«
»Commander Tamblyn, wir haben etwa
zweitausendvierhundert Siedler gerettet«, sagte Sergeant Zizu.
»Eine genaue Zählung nehmen wir später vor, aber es sind über fünfzig Prozent der Bevölkerung von Siedlung D.«
Tasia erschrak. Nur die Hälfte…
Der Sicherheitsoffizier bemerkte ihren Gesichtsausdruck.
»Mehr ließ sich unter diesen Umständen nicht bewerkstelligen.
Viele Arbeitsgruppen befinden sich im Wald und konnten nicht rechtzeitig zurückkehren.«
Tasia sah auf die Karte, die ihr den Kontinent und einen großen Ozean zeigte. Sie kannte die Frachtkapazität des Moloch Jupiter sowie der übrigen Kreuzer und rechnete schnell.
Die TVF-Schiffe konnten nicht alle Bewohner von Boone’s Crossing aufnehmen.
47
CESCA PERONI
Der zentrale Komplex von Rendezvous bestand aus mehreren Asteroiden, zusammengehalten von Schwerkraft und speziellen Konstruktionen. Träger und Kabel stabilisierten den Asteroidenhaufen in der Umlaufbahn eines granatroten Zwergsterns. Im Lauf von zwei-hundertsiebenunddreißig Jahren war dieser Ort zum Zentrum der Roamer-Zivilisation geworden. Clan-Versammlungen fanden hier statt. Händler kamen und gingen.
Als Sprecherin wohnte Cesca Peroni in Rendezvous; sie trat als Vermittlerin zwischen Familien und geschäftlichen Konkurrenten auf. Ihr Vater, der Händler Denn Peroni, hatte sie als Mädchen an diesem Ort zurückgelassen, damit sie Politik und Diplomatie kennen lernte. Jhy Okiah war wie eine Mutter für sie gewesen; Cesca wusste Rat und Weisheit ihrer Vorgängerin noch immer zu schätzen.
Nach ihrer Rückkehr von Osquivel stattete Cesca der Alten einen Besuch ab, mit schwerem Herzen und aufgewühlten Gedanken. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als ganz offen über ihre Gefühle und Zweifel zu sprechen, in der Hoffnung, dass Jhy Okiah helfen konnte.
Seit sie sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte, schien die frühere Sprecherin jünger geworden zu sein. Die Augen wirkten lebhafter und das graugelbe Haar glänzte wieder. Über viele Jahre hinweg war Jhy Okiah Friedensstifterin und Sprecherin gewesen und der damit einhergehende Stress hatte sie ausgelaugt. Aber nachdem sie die Zügel jemand anders übergeben hatte, wirkte die alte Frau vitaler als zuvor. Sie begrüßte Cesca mit einem aufrichtigen Lächeln.
»Willkommen, Kind.« In ihren von Falten umgebenen Augen funkelte es. »Oder möchtest du, dass ich respektvoller bin, wenn ich mit unserer verehrten Sprecherin rede?«
»Mir gegenüber brauchst du nie förmlich zu sein. Ich habe auch ohne diesen Unsinn genug Sorgen.«
»Die Diplomatie ist kein Unsinn! Habe ich eine falsche Entscheidung getroffen, als ich dich zu meiner Nachfolgerin wählte?«
Cesca nahm in einem Schlaufensessel Platz, der mit bunten Fäden in der Art einer Roamer-Kette geschmückt war. »Wenn du jemand anders gewählt hättest, wäre mein Leben viel einfacher, Jhy Okiah.«
Die Alte griff nach einer Karaffe und schenkte Pfefferblumentee ein. »Wir wissen beide, dass die Roamer unter deiner Führung die beste Überlebenschance haben. Ich vertraue deinem Leitstern.« Sie lächelte wehmütig. »Mein Enkel Berndt dachte einmal, er hätte das Amt des Sprechers allein aufgrund seiner Abstammung verdient. Er war laut und großmäulig, aber schließlich lernte er. Er fand seinen Platz als Chief einer Himmelsmine und leistete ausgezeichnete Arbeit –bis die Hydroger ihn umbrachten.«
Den Bewegungen der früheren Sprecherin hafteten Eleganz und Würde an. Cesca trank den würzigen Pfefferblumentee und dachte daran, dass es Bram Tamblyns Lieblingsgetränk gewesen war. Jetzt erinnerte der Geschmack sie an Jess und wieder wurde ihr das Herz schwer.
Was Jhy Okiah natürlich nicht entging. »Nun, Kind, entweder sind deine Pflichten als Sprecherin leichter, als meine es waren, und du hast nichts Besseres zu tun, als ein wenig mit einer alten Frau im Ruhestand zu plaudern… Oder du stehst vor einem Problem und glaubst, ich könnte dir eine magische Löschung anbieten.«
»Ich fürchte, eine einfache Lösung gibt es nicht«, erwiderte Cesca.
Jhy Okiah ließ sich zu einem sehr unbequem wirkenden Lotossitz nieder und lauschte. Cesca holte tief Luft, sammelte Kraft und begann zu erzählen. Sie erwähnte Reynalds Heiratsantrag und die Gründe, die den jungen Mann veranlassten, ein Bündnis zwischen Theronen und Roamern anzustreben. Sie besann sich auf ihre politische Ausbildung und versuchte, alles ruhig und neutral vorzutragen.
Jhy Okiah erkannte die Bemühungen der jungen Frau –immerhin war sie es gewesen, die ihr diese rhetorische Technik beigebracht hatte. »Na schön, du siehst also politische Klugheit in einer Ehe mit Reynald. Kein Clan könnte Einwände gegen ein solches Bündnis erheben und Ross Tamblyn ist seit fast sechs Jahren tot. Wo liegt das Problem? Hat das Oberhaupt von Theroc ein dunkles Geheimnis? Findest du Reynald in irgendeiner Hinsicht ungeeignet?«
Cesca blickte auf ihren Tee hinab. »Nein, nein, ich glaube, Reynald wäre ein guter Ehemann. Es gibt kein vernünftiges Argument, das gegen ihn spricht…« Normalerweise verstand sie es besser, ihre Gefühle zu verbergen – für die Sprecherin eine politische Notwendigkeit. »Um ganz ehrlich zu sein: Mein Herz hat immer jemand anders gehört, auch… vorher.«
Dieser Hinweis schien Jhy Okiah nicht zu überraschen. Sie nickte. »Und was hält Jess Tamblyn von dem Heiratsantrag?«
»Woher weißt du das? Jess und ich…«
Die Alte lachte leise und lehnte sich zurück. »Cesca Peroni, ich wusste praktisch von Anfang an, wen du liebst, und ich schätze, das gilt für die meisten Roamer-Clans. Wir fanden es recht bewundernswert, wie sehr ihr beide versucht habt, euch auf die Pflicht zu konzentrieren und den Anschein zu erwecken, überhaupt nicht aneinander interessiert zu sein. Hast du etwa geglaubt, dass wir alle blind sind?«
Cesca brauchte einige Sekunden, um das zu verarbeiten.
»Sollten Jess und ich die Maske fallen lassen? In einigen Monaten wollten wir unsere Verlobung bekannt geben, aber…«
Daraufhin wurde Jhy Okiah sehr ernst. »Dafür ist es zu spät, Kind. Wenn du dich vor Jahren ganz offen für Jess entschieden hättest, wäre ich bereit gewesen, dich zu unterstützen. Aber jetzt gibt es andere Verpflichtungen für dich. Die Umstände haben sich geändert und wir sehen deutlich, was uns der Leitstern zeigt.«
Cesca hörte die Strenge in Jhy Okiahs Stimme und begriff, dass es keine Diskussion darüber geben konnte. Tiefer Kummer erfasste sie.
»Du bist nicht wie andere Frauen, Sprecherin Peroni.« Okiah betonte den Titel; es klang wie das Knallen einer Peitsche. »Du darfst deine Entscheidungen nicht auf der Grundlage persönlicher Vorlieben und Wünsche treffen. Du kannst nicht leichtfüßig und mit glänzenden Augen durchs Leben gehen, erfüllt von mädchenhaften Phantasien. Eine Sprecherin muss über persönliche Erwägungen hinauswachsen. Du wirst Lohn dafür empfangen, aber du musst auch einen Preis zahlen.«
»Jess ist mit einem der neuen Nebelsegler in den interstellaren Raum aufgebrochen. Er meinte, er wüsste, dass ich die richtige Entscheidung treffe«, gestand Cesca.
»Offenbar hat er mehr Vertrauen als ich.«
Jhy Okiah legte Cesca eine ledrige Hand auf den Arm. »Er hat versucht, dir zu helfen. Er hat gesehen, was du nicht sehen konntest… oder nicht sehen wolltest.«
Eine Zeit lang saß Cesca stumm da. Sie hatte bereits gewusst, welche Antwort sie Reynald geben musste. »Nun gut, ich bin bereit, den Preis zu zahlen, wie hoch er auch sein mag.«
48
JESS TAMBLYN
Wie ein prächtiger Schmetterling breitete der Nebelsegler seine Schwingen aus und entfaltete mikrodünnen, mehrere tausend Quadratkilometer großen Stoff. Heiße neue Sterne im Zentrum des Nebels schickten Photonenströme ins diffuse Gas, rissen Elektronen von Atomen fort, schufen lindgrünes Glühen und Wirbel aus rosaroten und blauen Tönen.
Der Segler glitt durch den Nebel und sammelte im Fast-Vakuum eine Hand voll Atome pro Kubikmeter: neutralen oder ionisierten Wasserstoff, vermischt mit Sauerstoff, Helium, Neon und Stickstoff. Das gewölbte Segel fügte die einzelnen Moleküle zusammen und fungierte wie ein Kompressor. Der für die Produktion von Ekti bestimmte Wasserstoff wurde von den anderen Elementen getrennt. Die Rohstoffe waren dünn gesät, aber sie füllten den Raum zwischen den Sternen.
Jess’ kleine Habitatkapsel und die Verarbeitungsanlagen hingen an einem riesigen Segel, das durch Stützen und Kabel mit dem hauchdünnen Kollektor verbunden war. Weiter hinten, angetrieben vom Druck der Photonen auf der reflektierenden Oberfläche, hingen leichte Kondensatoren, Filter und ein leistungsfähiger kleiner Ekti-Reaktor, entwickelt von Kotto Okiah.
Andere Roamer-Segler glitten ebenfalls durch den Lichtjahre durchmessenden Nebel. Wie eine Flotte aus Fischerbooten auf dem interstellaren Meer schwärmten sie aus und blieben dabei in Funkkontakt. Die meisten Piloten führten lange Gespräche oder vertrieben sich die Zeit mit Strategiespielen, die sich aufgrund der Signalverzögerung durch die wachsenden Entfernungen in die Länge zogen.
Jess hingegen blieb lieber für sich und dachte nach. Tief in seinem Herzen würde er für immer Cesca gehören, doch die Realität zwang sie, getrennt zu bleiben. Ich hätte dich schon vor Jahren heiraten sollen.
Wie dumm von ihnen – sie hatten zu lange gewartet, waren zu sehr besorgt gewesen in Hinsicht auf mögliche Skandale und negative Auswirkungen. Hätten sie mit der Bekanntgabe ihrer Verlobung Ross’ Andenken wirklich entehrt? Wäre Cesca dadurch zu sehr vom Hydroger-Konflikt abgelenkt gewesen? Jess bezweifelte dies, aber jetzt war es zu spät. Die Verheimlichung ihrer Liebe hatte mehr abgelenkt als alles andere. Ich habe den Leitstern nicht deutlich genug gesehen.
Inzwischen hatte Cesca Reynalds Heiratsantrag sicher angenommen. Roamer und Theronen konnten ihre Ressourcen teilen, zu beiderseitigem Nutzen. Von jetzt an würden sie gemeinsam den Kräften entgegentreten, die sie zu absorbieren oder zu vernichten drohten.
Jess trieb allein durch einen Ozean aus dünnem Gas. Selbst die stärksten Plasmawellen und ionischen Stürme waren so schwach, dass er überhaupt nichts von ihnen spürte.
Jess kletterte durch eine Luke und zog sich zu den Verarbeitungskammern unter der Habitatkapsel hinab. Eine Kontrolle seiner Fortschritte gehörte inzwischen zur täglichen Routine.
Wasserstoff war das häufigste Element des Nebels, insbesondere in den peripheren Bereichen, und die Segler pumpten das gesammelte Gas in den leistungsfähigen Ekti-Reaktor.
Nach den Daten der Sensoren zu urteilen flog Jess seit Tagen durch einen besonders dichten Bereich des Nebels, der an dieser Stelle nicht nur Wasserstoff enthielt, sondern auch Hydroxyl und Kohlendioxid-Moleküle, außerdem Spuren von Kohlenmonoxid und doppelt ionisiertem Sauerstoff. Und was am erstaunlichsten war: Die Analysedaten deuteten darauf hin, dass diese Gasansammlung beträchtliche Mengen intakter Wassermoleküle enthielt, was für interstellare Wolken sehr ungewöhnlich war.
Jess erinnerte sich an die Eisminen von Plumas – er kannte die Bedeutung von Wasser für die interstellaren Kolonien.
Roamer hatten immer Bedarf daran, als Trinkwasser oder für die Verwendung in hydroponischen Anlagen. Mithilfe der Elektrolyse ließ es sich in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten und, zu Peroxiden weiterverarbeitet, als Raketentreibstoff oder gar Schmiermittel verwenden. Eine solche Ressource durfte man nicht vergeuden.
Jess hatte genug Zeit für die notwendigen technischen Veränderungen und Erweiterungen. Er rekonfigurierte die molekularen Filter, um das Wasser aus dem interstellaren Nebel zu trennen. Voller Optimismus und Ehrgeiz konstruierte er einen Zylinder, der hunderte von Litern aufnehmen konnte, obwohl der Bereich des dichten Gases nur ein oder zwei Wassermoleküle pro Kubikmeter enthielt.
Die Arbeit hielt ihn beschäftigt und lenkte vom Schmerz des Verlustes ab.
Jess segelte weiter durchs dünne Gas, das von den Photonen ferner Sterne erhellt wurde. Der Ekti-Reaktor summte und verarbeitete den gesammelten Wasserstoff, während die Destillatoren kosmisches Wasser gewannen, Tropfen für Tropfen.
Wie bei Roamer-Männern üblich schmückte Jess seine Kleidung mit gestickten Clan-Zeichen – die verschiedenen Symbole zeigten die wachsenden Zweige seiner Familie. Doch die Muster des Tamblyn-Clans wirkten jetzt schlicht und reduziert.
Stundenlang und in völliger Einsamkeit saß Jess da und stickte komplexe neue Muster, die er in Gedanken entworfen hatte. Wenn sich die Dinge anders entwickelt hätten, wäre es zu einer Verbindung zwischen seinem Clan und dem der Peronis gekommen – er stellte sich einen bunten Regenbogen vor, der über die Taschen und Ärmel seiner Overalls reichte.
Doch jetzt endete ein Zweig mit ihm.
Abgesehen von Seitenmustern für seine Onkel gab es nur noch einen anderen Zweig, der Tasia repräsentierte. Vielleicht konnte sie ihre Familienlinie fortsetzen. Es gab viele junge Roamer-Männer, die sich darüber gefreut hätten, sie als Partnerin zu gewinnen. Vorausgesetzt natürlich, sie überlebte ihre Zeit beim Militär.
Oh, wie er die Hydroger hasste! Ross, Tasia, Cesca… Eines Tages würde der Krieg enden, aber das Leben konnte nie wieder so sein wie vorher. Eines Tages mochte es ihm gelingen, noch einmal von vorn zu beginnen und ein neues Muster seines Lebens zu zeichnen.
Aber nicht heute. Jener Tag lag in ferner Zukunft.
49
TASIA TAMBLYN
Systematisch und unerbittlich fuhren die Hydroger damit fort, Boone’s Crossing zu verheeren. Ungehindert und ohne Eile flogen die Kugelschiffe über den Wald hinweg; unter ihnen ließen Kältewellen hohe Dunkelkiefern bersten.
Tasia Tamblyn startete ihren überladenen Kreuzer und verließ die am See gelegene Siedlung D unmittelbar vor dem Eintreffen des Feindes. Die enorme zusätzliche Last machte den Manta schwerfällig, und zunächst war Tasia nicht sicher, ob sie den Fremden entkommen konnten. Direkt hinter ihnen zermalmten die Kältewellen der Hydroger Kiefern, Läden, Wohnhäuser, Sägemühlen und Lagergebäude.
Mit vollem Schub der Triebwerke trudelte der Kreuzer wie eine betrunkene Hummel dahin, wurde schneller und gewann an Höhe. Allmählich vergrößerte sich der Abstand zu den Hydrogern und ihrem Zerstörungswerk.
An Bord des Schiffes standen die Flüchtlinge Schulter an Schulter, blickten auf Bildschirme oder durch Fenster und beobachteten, wie die Droger ihr Zuhause vernichteten und der einst blühenden Holzindustrie die Grundlage nahmen.
Kältewellen trafen den See, rissen das Wasser empor und ließen es erstarren. Feuchtigkeit im Boden bildete Dampfgeysire. Baumstämme platzten auseinander. Gebäude aller Art wurden innerhalb weniger Sekunden vernichtet.
Siedlung D war nur die erste. Die taktischen Karten zeigten zahlreiche andere Siedlungen, die auf dem Pfad der Zerstörung lagen. Die Schiffe der Gitter-7-Flotte versuchten alles, um so viele Siedler wie möglich zu retten.
»Bei uns geht’s drunter und drüber«, meldete sich Fitzpatrick von Siedlung J. »Wenn wir noch mehr Leute an Bord nehmen, kann mein Kreuzer nicht mehr starten!«
Tasia flog zur östlichen Küstenlinie, in Richtung des grauen, kalten Ozeans. Staffelführer Robb Brindle und seine Remoras eskortierten ihren Manta. »Commander«, sagte er, »sollen meine Jäger die Kugelschiffe angreifen oder zu einer der anderen Siedlungen fliegen, um dort bei der Evakuierung zu helfen?«
Tasia erwog verschiedene Möglichkeiten und verwarf eine nach der anderen. »Ich kann keine weiteren Passagiere aufnehmen und es gibt keinen sicheren Ort, an dem wir die Siedler absetzen könnten.« Sie fragte sich sogar, ob sich in den engen Remora-Cockpits ein oder zwei Kolonisten unterbringen ließen.
»Die Jupiter ist voll«, ertönte Admiral Willis’ Stimme aus dem Kom-Lautsprecher. »Wir könnten nicht einmal mehr einen Hamster aufnehmen.«
Der Ozean weiter vorn bot keine Sicherheit und Tasia wusste nicht, was sie tun sollte. Sie flog einfach weiter, fort vom Feind. »Wir könnten noch den einen oder anderen Ort evakuieren, Admiral«, sagte sie. »Wenn wir die Möglichkeit hätten, die bereits aufgenommenen Siedler irgendwo abzusetzen.«
»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendwo auf dem Planeten einen sicheren Ort finden, Tamblyn. Den wünschen wir uns alle.«
Tasia biss sich auf die Lippe, als sie beobachtete, wie die Hydroger auch weiterhin den Wald vernichteten. Sie waren über den ganzen Kontinent hinweggeflogen und dabei den Binnenmeeren und großen Seen ausgewichen – sie konzentrierten sich allein auf den Wald.
Derzeit leuchtete Tasias Leitstern nicht sehr hell, doch sie musste irgendetwas unternehmen. »Admiral Willis, die Anzeigen des taktischen Displays deuten darauf hin, dass der Feind vor allem am Wald interessiert ist. Den großen Wasserflächen hat er keine Beachtung geschenkt, soweit ich das feststellen kann. Wir könnten die Kolonisten weit aufs Meer hinaus bringen. Dorthin folgen uns die Droger vielleicht nicht.«
»Das sind Spekulationen, Tamblyn.«
»Entweder gehen wir ein Risiko ein und hoffen das Beste oder wir lassen die übrigen Siedler sterben. Weitere Flüchtlinge können wir nicht aufnehmen und das Land bietet nirgends Sicherheit.«
Willis war verzweifelt genug, um auf sie zu hören. »Und was haben Sie vor, wenn wir über dem Wasser sind? Wollen Sie die Kolonisten ins Meer werfen, in der Hoffnung, dass sie lange genug schwimmen können, bis wir sie wieder an Bord holen?«
Tasia hatte plötzlich eine Idee. »Jedes TVF-Schiff hat taktischen Armierungsschaum an Bord. Die flüssigen Polymere werden beim Kontakt mit Wasser sofort hart. Wenn wir sie auf die Wellen sprühen, entstehen große Flöße, gewissermaßen Schwimmwesten – nicht für eine einzelne Person, sondern für hunderte.«
»Das ist eine verrückte Idee…«, begann Fitzpatrick.
Willis unterbrach ihn mit einem Lachen. »Aber verdammt innovativ. Könnte es wirklich klappen?«
»Ich schlage vor, wir lassen die künstlichen Inseln zwanzig oder dreißig Kilometer vor der Küste entstehen. Ich setze die Kolonisten ab und sie schwimmen zu den Polymerflößen.
Anschließend hole ich eine weitere Ladung Flüchtlinge. Wenn wir alle unsere Schiffe auf diese Weise einsetzen, können wir viele Siedler retten.«
»Klingt nach einem ziemlichen Durcheinander«, kommentierte Willis. »Aber es könnte den übrigen Kolonisten eine Überlebenschance geben. Also los, Tamblyn.«
Während Tasias Kreuzer dicht über dem Wasser flog, öffnete Robb Brindle einen privaten Kom-Kanal. »Du hättest den Mund halten sollen.«
»Sag das den Leuten, die wir retten werden.« Tasia hoffte, dass ihre Intuition sie nicht in eine falsche Richtung geführt hatte – es war tatsächlich eine verrückte Idee.
Der Manta-Kreuzer ging noch tiefer, sauste dicht über der Wasseroberfläche des seichten Meers dahin. Mithilfe des Interkoms wandte sich Tasia an die Kolonisten und erklärte ihnen den Plan.
Die Siedler von Boone’s Crossing waren nicht sonderlich begeistert.
Vom unteren Rumpf aus sprühten Tasias Waffenoffiziere die gummiartige Substanz des taktischen Armierungsschaums auf die Wellen und bei dem Kontakt mit dem Wasser härtete die Substanz sofort. Tasia versetzte sich in die Lage der Kolonisten. Sie hatten sich von den Hydrogern bedroht gesehen und waren im letzten Augenblick gerettet worden.
Jetzt stand ihnen ein Sprung ins Meer bevor, das ihnen nicht den geringsten Schutz vor den Hydrogern gewährte.
Doch es gab keine andere Möglichkeit – es sei denn, man überließ über neunzig Prozent der Bevölkerung des Planeten dem sicheren Tod.
Die Frachtluken des Manta öffneten sich und die ersten Siedler sprangen widerstrebend ins Wasser. Manche fielen auf die weichen und alles andere als stabilen künstlichen Inseln.
Einige Kolonisten zögerten am Lukenrand und fürchteten sich vor dem Sprung mehrere Meter in die Tiefe. Aber die hinter ihnen schoben sie nach vorn – hunderte von Flüchtlingen fielen wie Lemminge ins Meer und schwammen zu den Inseln aus erstarrtem Armierungsschaum.
Tasias Stimme ertönte aus den Interkom-Lautsprechern.
»Jede Verzögerung kostet andere Siedler das Leben.
Bewegung!« Sie schickte Sergeant Zizu und sein Sicherheitsteam mit Betäubungswaffen los, um dafür zu sorgen, dass die Kolonisten das Schiff verließen. »Keine Sorge«, fügte sie hinzu und sprach etwas sanfter. »Wir haben sie schon einmal gerettet und lassen sie auch diesmal nicht im Stich.«
Zwei weitere Manta-Kreuzer kamen heran und sprühten Schaum, der weiche Plattformen bildete. Jedes einzelne Polymerfloß konnte hunderte von Menschen tragen. Die Rettungsmission ging im Rekordtempo weiter.
Siedler stolperten und fielen. Tasia wollte nicht an die Anzahl der Knochenbrüche denken – sie hoffte, dass die Kolonisten lange genug überlebten, um darüber klagen zu können. Wasser strömte über die Ränder der größten sich langsam drehenden Flöße. Gruppen von Flüchtlingen blickten übers Meer zum Horizont und schienen zu befürchten, dass sich dort die Kugelschiffe der Hydroger zeigten.
Die Frachtluken schlossen sich und Tasias Schiff stieg auf, flog noch einmal über die künstlichen Inseln hinweg und raste dann zum Kontinent zurück. Siedlung L sah sich unmittelbar von den Kugelschiffen bedroht und Tasia hörte ihre Notrufe.
»Halten Sie sich bereit«, sendete sie. »Wir sind unterwegs.«
Und die Hydroger kamen näher.
50
ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Nach dem Angriff auf Hyrillka fühlte sich der Erstdesignierte Jora’h selbst im Prismapalast nicht mehr sicher. Verstärktes Sonnenlicht glänzte durch die Fenster und gewölbten Scheiben, erleuchtete alle Ecken und ließ nirgends Platz für Schatten. Doch Jora’hs Gedanken galten den Hydrogern, die irgendwo dort draußen sein mochten und sich vielleicht in diesem Augenblick Ildira näherten…
Die Solare Marine hatte bittere Niederlagen hinnehmen müssen, erst bei Qronha 3 und dann bei Hyrillka. Wenn die Hydroger beschlossen, andere Welten des Ildiranischen Reiches anzugreifen – wer konnte sie daran hindern?
Jora’hs Vater rief ihn zu einer Konsultation zu sich, aber der Erstdesignierte kam dieser Aufforderung nicht sofort nach und versuchte zuerst, die Unruhe aus sich zu vertreiben. Er gab einem Hauch Sentimentalität nach und streifte ein Hemd mit weiten Ärmeln über, das aus theronischen Fasern bestand, ein Geschenk von Nira Khali. Er erhoffte sich Kraft und Frieden davon.
Kurze Zeit später stand er steif vor dem Chrysalissessel. Es schmerzte ihn, den Schock des Verlustes und das Entsetzen im grauen Gesicht des Weisen Imperators zu sehen. Jora’h glaubte, die Knochen durch die fahle Haut seines Vaters zu erkennen. Hatte sich Cyroc’hs Gesundheitszustand während der letzten Wochen erheblich verschlechtert? Der Glanz des langen Zopfs schien sich getrübt zu haben – offenbar verloren selbst die Haare ihren Lebenswillen.
Durch das Thism hatte der Weise Imperator Not und Leid der Hyrillkaner erfahren. »Bist du unverletzt, mein Sohn?« Die Sorge um Jora’hs Wohlergehen schien nicht so sehr persönlicher, sondern eher politischer oder dynastischer Natur zu sein.
»Ja, Vater. Ich habe den Angriff der Hydroger unversehrt überstanden, ebenso wie Thor’h. Mein Bruder Rusa’h hingegen wurde schwer verletzt. Ich fürchte um sein Leben.«
Der Weise Imperator runzelte die Stirn. »Die besten Ärzte kümmern sich um ihn. Es wird dem Hyrillka-Designierten gewiss nicht an angemessener Behandlung mangeln, aber seine Rekonvaleszenz hängt von der inneren Kraft ab. Dein Bruder hat ein bequemes Leben ohne Herausforderungen geführt.
Vielleicht fehlt ihm das Durchhaltevermögen, das nötig ist, um die Gefahr zu überwinden.«
Die kalte Analyse und der Mangel an Anteilnahme überraschten Jora’h. »Er befindet sich noch immer im Subthism-Schlaf, Vater.«
Der Weise Imperator verzog das normalerweise immer sanft wirkende Gesicht. »Der Subthism-Zustand bedeutet, dass sich das betreffende Selbst versteckt, Jora’h. Für so etwas kann ich derzeit keine Zeit vergeuden. Wir müssen an die jüngsten Ereignisse denken und über die Konsequenzen sprechen.
Rusa’h kann den Seelenfäden folgen und die Sphäre der Lichtquelle aufsuchen, wann immer er möchte.« Cyroc’h hob einen dicken und leicht zitternden Finger. »In gewisser Weise könnte der jüngste Angriff eine gute Sache gewesen sein.«
Jora’hs offenes Haar umwogte wie von statischer Elektrizität bewegt den Kopf. Er versuchte, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. »Hunderttausende starben auf Hyrillka! Wie kann so etwas gut sein?«
»Ich meine, eine solche Katastrophe beobachtet zu haben, könnte eine gute Lektion für dich sein«, erwiderte der Weise Imperator sofort. »Auf Hyrillka hast du gesehen, wie schwer es ist, Oberhaupt eines Volkes zu sein. Bald werde ich Adar Kori’nh empfangen und mit ihm die Maßnahmen besprechen, die zum Schutz des Reiches ergriffen werden müssen.«
Jora’h stand stumm da und spürte, wie die Unruhe in ihn zurückkehrte. Schon bald würde er die Nachfolge seines Vaters antreten und er nahm sich vor, ein mitfühlenderes Oberhaupt der Ildiraner zu sein. Er wollte vor allem an die Personen denken und erst in zweiter Linie an Politik.
»Wie sollen wir gegen einen Feind kämpfen, den wir nicht verstehen? Die Hydroger kamen aus dem Nichts. Wir haben ihre Aggression nicht provoziert.«
Cyroc’h musterte seinen erstgeborenen Sohn kühl. »Wir wissen mehr über die Hydroger, als du glaubst.« Jäher Schmerz stach hinter der Stirn des Weisen Imperators und er sank zurück, sah erschreckend schwach aus. »Geh und denk über das nach, was ich dir gesagt habe.« Er schickte Jora’h fort und wies den Leibwächter Bron’n an, den Adar zu holen, um strategische Fragen mit ihm zu erörtern.
Der Hyrillka-Designierte lag in einem komfortablen Bett, in einem warmen, hellen Zimmer. Bedienstete und Ärzte umgaben ihn wie Parasiten, überprüften die Anzeigen medizinischer Geräte, verabreichten Injektionen und trugen Salben auf. Zwei Ildiraner des Linsen-Geschlechts standen mit ernster Miene in der Nähe, als ob sie dem bewusstlosen Rusa’h dabei helfen könnten, die Fäden zu seinem Körper zurückzuverfolgen.
Das runde Gesicht des Hyrillka-Designierten wirkte nun eingefallen und blass. Die Augen waren geschlossen. Das erschlaffte Haar blieb völlig reglos, was entweder an den verabreichten Arzneien lag oder am tiefen Koma des Designierten. Jora’h sah auf ihn hinab.