Die TVF-Soldaten jubelten, als sie die Blitze der atomaren Explosionen sahen. »Jetzt werden die Droger gebraten!«

»Das kocht sie in ihren Kugeln!«

»Sie hätten zu Hause bleiben und uns in Ruhe lassen sollen.«

Tasia saß wie eine Statue in ihrem Kommandosessel. Sie beobachtete die Blitze ebenfalls, sah in ihnen aber keinen Grund zum Feiern. Es war noch nicht vorbei. Und ihr letzter Rest von Hoffnung löste sich auf. Selbst wenn die Hydroger Robb nicht erwischt hatten – diese vielen Atomexplosionen konnte er unmöglich überleben. Sie fühlte die Kraft ihres Manta-Kreuzers, die Energie in den Akkumulatoren der Waffensysteme, die startbereiten Remoras in den Hangars. Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen.

Tasia rutschte in ihrem Sessel unruhig hin und her. »Na los, General, geben Sie uns den Einsatzbefehl«, murmelte sie. »Ich möchte jemandem weh tun.«

»Verdammt!«, fluchte ein Plattform-Kommandant. »Sie steigen weiterhin auf, selbst nach all den Atombomben!«

Lanyan verbarg seine Überraschung nicht. »Zum Teufel auch, wie werden wir sie los?«

Lanyan beorderte die letzten Kompi-Mantas nach vorn, damit sie das erste Feuer des Feindes auf sich zogen. »Es geht los!

Setzen Sie alles gegen die Droger ein, was Sie haben. Und denken Sie daran: Dies ist der gleiche Feind, der Boone’s Crossing zerstört hat.«

»Als ob wir einen zusätzlichen Grund brauchen, die Droger zu hassen«, brummte Tasia laut genug, damit die Brückencrew sie hörte. Sie beugte sich im Kommandosessel vor, als der Manta-Kreuzer in Angriffsposition ging. Unten stiegen weitere Kugelschiffe aus den Tiefen des Gasriesen empor, hunderte.

»Da kommen sie.«

87

ZHETT KELLUM

Versteckt in den Ringen von Osquivel beobachteten die Roamer das Inferno um sie herum.

»Ich komme mir vor wie ein ängstliches Kaninchen in seinem Bau«, sagte Zhett Kellum und veränderte ihre Position. Trotz der geringen Schwerkraft war ihr linkes Bein eingeschlafen.

»Verdammt, die Tiwis bringen uns alle in Schwierigkeiten«, knurrte Del Kellum. »Sieh nur! Da kommen die Droger. Was hat der General nach dem Bombardement erwartet?« Er betätigte die Kontrollen und schaltete zwischen den verschiedenen visuellen Signalen um, die Dutzende von Imagern in den Ringen übertrugen. »Sei froh, dass wir nicht daran beteiligt sind.«

»Dies geht auch uns an, Vater. Die Droger würden uns ebenso töten wie die Tiwis.«

Die meisten Arbeiter hatten das System nach der Demontage der Werften verlassen. Die Tarnung der übrigen Anlagen schien den gewünschten Zweck zu erfüllen, denn die TVF-Kampfflotte hatte die Einrichtungen der Roamer nicht entdeckt. Und der Angriff der Hydroger bedeutete jetzt, dass die Tiwis jetzt ganz andere Sorgen hatten.

Im Inneren des nur wenig Platz bietenden Schlupflochs justierte Zhett einen speziellen Scanner und stellte ihn auf die Frequenz des Kommandokanals der TVF ein. Ein Entschlüsselungsprozessor, den eigentlich kein Roamer besitzen durfte, ermöglichte es ihr, die Stimme des Generals zu hören: Lanyan übermittelte den Soldaten-Kompis und ihren Kamikaze-Remoras Befehle.

Die Bildschirme zeigten Dutzende – hunderte – von Kugelschiffen, die wie zornige Hornissen aus den Tiefen des Gasriesen aufstiegen.

Ihr Anblick erfüllte Zhett mit Furcht. Nach all den Schikanen und der Piraterie durch die TVF gab es keinen Roamer, der mit der Terranischen Verteidigungsflotte sympathisierte, doch die menschlichen Soldaten taten Zhett Leid. So viele von ihnen würden sterben…

»Seht euch nur die verdammten Kugelschiffe an!«, sendete ein Offizier. »Ich habe noch nie so viele gesehen.«

»Hören Sie auf zu zählen und schießen Sie stattdessen.«

Zhetts Blick glitt zu ihrem Vater. Sein Gesicht zeigte Furcht und sie beugte sich vor, griff nach seinem Arm.

»Hier sind wir sicher, mein Schatz«, sagte er.

»Glaub mir: Ich wünschte, das wäre meine einzige Sorge.«

Die Stimme des Generals veränderte sich – ihm schien allmählich klar zu werden, in welcher Lage sich die TVF-Kampfflotte befand. »Vorhut-Mantas, in Position gehen.

Soldaten-Kompis, ihr habt eure Befehle. Richtet möglichst großen Schaden an.«

»Na los«, brummte jemand anders. »Wir haben uns alle auf den Kampf gefreut. Jetzt ist es endlich so weit.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst«, murmelte Zhett.

Sie beobachteten, wie sich fünf weitere Manta-Kreuzer vom Hauptverband lösten und tiefer sanken, an Bord keine Menschen, sondern Kompis, bereit dazu, sich zu opfern. Zhetts Herz klopfte schneller, als sie sah, wie die Mantas alle ihre Waffensysteme einsetzten und die gesamte Munition verbrauchten, dann beschleunigten und mit den Drogern kollidierten. Die fünf getroffenen Kugelschiffe platzten auf und sanken in die Tiefe. Aber immer mehr Kugeln stiegen auf.

»Wir alle wissen, was auf dem Spiel steht«, erklang die Stimme eines namenlosen TVF-Offiziers aus dem Kom-Lautsprecher.

»Ich hätte zu Hause bleiben sollen.«

»Verdammt, dies ist das Ende…«

»Zur Hölle mit euch verdammten Drogern!«

Übelkeit quoll in Zhett empor, als sie eine Explosion nach der anderen beobachtete. Blaue Blitze gingen von den Schiffen der Hydroger aus und rissen die Rümpfe von TVF-Schiffen auf.

Das alles geschah in der Stille des Alls, doch der Kom-Kanal übertrug entsetzte Schreie, gerufene Befehle, das Krachen von Detonationen, das Zischen und Fauchen überlasteter Systeme.

Draußen im All gleißten weitere Explosionen. Inzwischen waren alle Kompi-Schiffe zerstört und daraufhin begannen sogar einige von Menschen geflogene Remoras und Kreuzer mit Kamikaze-Manövern. Die Hydroger griffen die größten TVF-Schiffe an. Moloche eröffneten das Feuer, doch gegen die Kugelschiffe konnten sie ebenso wenig ausrichten wie die kleineren Einheiten. Einige brennende terranische Schiffe gerieten außer Kontrolle und drifteten fort, in Richtung von Osquivels Ringebene, kollidierten dort mit Fels- und Eisbrocken.

In weniger als einer Stunde verlor die TVF-Kampfflotte mehr als ein Drittel ihrer Schiffe.

Voller Grauen beobachtete Zhett, wie die Hydroger weitere Raumschiffe der Tiwis vernichteten. »Können wir den Menschen dort draußen nicht helfen, Vater?«

Aber sie wusste, dass die Roamer keine große militärische Macht waren. Sie überlebten mithilfe von List und Einfallsreichtum, indem sie schnell dachten und keine Aufmerksamkeit erregten.

»Wir können nur warten. Das weißt du, Schatz.«

In der Nähe kam es zu einer Explosion und die energetische Druckwelle brachte die Orbitalvektoren der vielen Gesteinsbrocken durcheinander, aus denen Osquivels Ringe bestanden. Die Generatoren des Verstecks blieben in Betrieb, aber das Licht flackerte. Nach einem Moment der Dunkelheit zeigten die Schirme wieder schreckliche Bilder vom Kampfgebiet. Tausend neue Sterne funkelten in den Ringen: glühende Trümmer von TVF-Schiffen, Fragmente der Rumpfpanzerung.

»Shizz, dies ist schlimmer als unsere Niederlage beim Jupiter!« Die Frauenstimme klang vertraut. Zhett vermutete, dass die Worte von Tasia Tamblyn stammten – sie hatte die Werften vor der TVF-Kampfflotte gewarnt.

In General Lanyans Stimme vibrierten Enttäuschung und Schrecken. »Hiermit ordne ich den Rückzug an. An alle Staffeln, kehren Sie zu Ihren Mutterschiffen zurück. An alle Kommandanten: Bringen Sie Ihre Schiffe so schnell wie möglich fort von Osquivel.«

»Verdammt, ich hätte nie gedacht, einmal solche Worte von einem Tiwi zu hören«, sagte Del Kellum.

»Kannst du es ihm verdenken?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten. Dies ist eine echte Katastrophe!«

Auf den Bildschirmen ging der Kampf weiter. Viele TVF-Schiffe begannen damit, sich abzusetzen und vom Ringplaneten zu entfernen. Noch während Zhett das Geschehen beobachtete, zerstörten Energieblitze der Hydroger fünf weitere Raumschiffe der Terrani-schen

Verteidigungsflotte.

»Ich benötige Berichte über Schäden und Verluste, sobald wir weit genug vom Planeten entfernt sind«, ertönte Lanyans Stimme.

»Und wenn uns die Droger folgen?«, erklang eine andere, fast schrille Stimme. »Was machen wir, wenn sie uns verfolgen?«

»Hör auf zu jammern und setz deinen verdammten Arsch in Bewegung«, sagte jemand anders.

Die Blicke von Zhett und Del Kellum blieben auf die Schirme gerichtet. Trümmer und Wracks glühten über Osquivel.

»Ich sag dir was, Schatz«, brummte Zhetts Vater. »Zuvor hatte ich Zweifel, aber die existieren jetzt nicht mehr. Beim Leitstern, ich werde nie wieder versuchen, eine Himmelsmine in Betrieb zu nehmen.«

88

ESTARRA

Stimmen erklangen und Kleidung knisterte – Estarra hatte fast das Gefühl, dass eine Art privater Party in ihrem Gemach stattfand. Aber es waren nur einige königliche Protokollminister und soziale Funktionäre gekommen, um ihr Hochzeitskleid zu präsentieren.

Estarra stand mit dem Rücken an einem Plüschsessel und fand inmitten so vieler Personen einfach keinen ruhigen Platz.

In gut zwei Monaten würde sie als Peters Frau in die königlichen Gemächer umziehen, doch bis dahin stand ihr eine ebenfalls sehr luxuriöse Suite zur Verfügung: fürstliche Zimmer, übergroße Schränke, schwimmbeckenartige Wannen, sogar ein persönliches Treibhaus.

Königliche Schneider zeigten stolz das Ergebnis ihrer Arbeit, hoben das Gewand und erklärten den subtilen Symbolismus, von dem Estarra glaubte, dass ihn niemand bemerken würde.

Vor einigen Wochen hatten die Schneider einen vollständigen und peinlich gründlichen dreidimensionalen Körperscan durchgeführt, um ein holographisches Modell zu schaffen und daran verschiedene Designs auszuprobieren, bevor die Anfertigung begann.

Bei der Hochzeit würde Estarra im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie war weder eitel noch mit ihrem Erscheinungsbild unzufrieden, aber sie fühlte sich von dem Versuch der Leute um sie herum verunsichert, sie in die schönste Frau des Spiralarms zu verwandeln. Nur vor wenigen Jahren war sie ein sorgloses Mädchen auf Theroc gewesen, auf Bäume geklettert und durch den Wald gelaufen.

Jetzt bemühte sie sich um ein majestätisches Gebaren, als sie sich an die eifrigen Schneider wandte. »Dies ist das unglaublichste Kleid, das ich je gesehen habe. Ich werde mich bemühen, seiner Schönheit gerecht zu werden.«

»Ihre Eleganz bringt das Gewand noch mehr zur Geltung«, sagte der Chefschneider und freute sich über das Kompliment.

»Wir haben sehr auf die richtige Mischung der Stoffe geachtet«, fügte ein anderer Schneider hinzu und strich über einen Ärmel des wundervollen Gewands. »Wir nahmen ein traditionelles weißes Kleid aus irdischem Satin und fügten ihm dieses prächtige Grün aus theronischem Kokonfaser-Gewebe hinzu. Die Perlen stammen aus den Riffminen von Rhejak.« Er hob andere Teile des langen Gewands. »Diese Spitze wurde von Hand genäht, von den acht besten Näherinnen auf Usk.

Das Muster am Rand ist ein auf Ramah entwickeltes Ornament. Wir haben Möglichkeiten gefunden, alle Kolonialwelten der Hanse zu repräsentieren.«

»Theroc ist ein unabhängiger Planet, keine Kolonie der Hanse«, sagte Estarra.

»Man hat deine Abstammung beim Entwurf dieses herrlichen Kleids berücksichtigt und dich dadurch geehrt. Betreibe keine Haarspalterei.« Sarein runzelte die Stirn, als sie ihre jüngere Schwester ansah, strich dann mit einer Hand so übers Gewand, als hätte sie es am liebsten selbst getragen. Estarra wusste um Sareins Ehrgeiz. Sie wäre sicher bereit gewesen, Königin zu werden, nicht aus Liebe zu Peter, sondern weil sie Gefallen daran fand, wichtig und mächtig zu sein. »Diese Ehe wird zwei Kulturen vereinen und zu einer Partnerschaft zwischen Theronen und der Hanse führen.«

Die Vorbereitungen gingen in einem atemberaubenden Tempo weiter. Die Medien hatten damit begonnen, rührende Geschichten über die »sprießende Liebe« zwischen dem König und seiner erwählten Königin zu erzählen, was zweifellos auf hinter den Kulissen stattfindende Initiativen von Hanse-Beamten zurückging. Festessen wurden geplant. Tänzer probten spezielle Choreographien. Musiker komponierten eine Hochzeitssymphonie. Alles diente dazu, das Volk zu erfreuen.

Wächter erschienen mit König Peter an der Tür und es kam zu einem plötzlichen Durcheinander, als die Schneider versuchten, das Kleid zu verbergen. Estarra und ihre Schwester drehten sich gleichzeitig um. Nicht nur eine Ehrenwache begleitete den König, sondern auch mehrere grüne Priester sowie Idriss und Alexa.

Mit einem Freudenschrei lief Estarra los und umarmte ihre Eltern. »Ich habe euch erst in einer Woche erwartet!«

In seiner Rolle als Gastgeber trug König Peter eine elegante Uniform und führte die früheren theronischen Regenten in Estarras private Suite. Sarein begrüßte ihre Eltern förmlicher.

»Wir kommen besser zu früh zur Hochzeit unserer Tochter als zu spät«, sagte Idriss. Er trug eine bunte Weste aus mit Farbe besprühten Blumenblättern und Insektenflügeln. »Es ist so viel geschehen, dass wir beschlossen, den Kurs eines zur Verfügung stehenden Schiffs zu ändern, und hier sind wir.«

Alexa sah Peter an und lächelte. »Vielen Dank, dass Sie uns begleitet haben, König Peter. Sie sind ein eindrucksvoller junger Mann. Sie und Estarra… Ihr passt wundervoll zueinander.« Alexa trug traditionelle theronische Kleidung, die aus den Rückenschilden von Insekten und schimmernder Kokonseide gefertigt war. »Sarein hat uns viel vom Flüsterpalast erzählt und wir dachten, sie übertreibt ein wenig.

Aber er ist wirklich großartig.«

»Und ganz anders als alles auf Theroc.« Idriss strich sich über den dichten Bart. Estarra wusste nicht, ob er sich über den Luxus um ihn herum freute oder von seiner Fremdartigkeit verunsichert war. »Vielleicht hat Reynald gut daran getan, andere Welten zu besuchen. Ich verstehe jetzt, warum er jene Erfahrungen für so wichtig hielt. Natürlich haben wir nicht erwartet, dass er auf seinen Reisen durch den Spiralarm eine besondere Person kennen lernt…«

»Wir sind so stolz auf dich und Reynald«, warf Alexa ein.

»Wie könnten sich Eltern mehr erhoffen? Zwei spektakuläre Hochzeiten in einem Jahr!«

»Wie könnten wir mehr überleben?«, stöhnte Idriss.

»Zwei Hochzeiten?«, wiederholte Sarein. »Hat Reynald eine Partnerin gewählt? Aus welchem Dorf stammt die Braut?«

Alexas Gesicht zeigte Überraschung. »Oh, das habe ich ganz vergessen, Sarein. Die Verlobungsschiffe kamen, als du und Estarra schon auf dem Weg zur Erde wart. In all der Aufregung haben wir vergessen, Nahton eine entsprechende Mitteilung zu schicken. Reynald hat Cesca Peroni, Sprecherin der Roamer-Clans, gebeten, ihn zu heiraten. Sie ist eine schöne und sehr talentierte Frau.«

»Eine Roamerin?«, brachte Sarein erstickt hervor. »Aber wie konnte er? Reynald hat sich gerade zu diesem Bündnis mit der Hanse bereit erklärt…«

Alexa richtete einen tadelnden Blick auf sie. »Die Roamer haben eine sehr lebendige Kultur und viel anzubieten. Dein Vater und ich sind einverstanden. Dies ist ein weiterer Schritt bei dem Bemühen, die Menschen wieder zu einer Familie zu vereinen.«

Sie lächelte und nahm die Hand des neben ihr stehenden Idriss, ohne die Skepsis der anderen Person im Zimmer zu bemerken. Estarra hätte am liebsten laut gelacht; doch sie hoffte, dass ihr Bruder mit Cesca Peroni glücklich wurde.

89

JESS TAMBLYN

Während all seiner Reisen von Plumas nach Rendezvous, von der heißen Welt Isperos zu den Wolkenmeeren von Golgen, war Jess nie einer so erstaunlichen und fremdartigen Lebensform begegnet.

Das Nebelwasser lebte. Mehr noch: Es war intelligent, hatte ein Bewusstsein.

Während sein kleines Schiff mit den riesigen Segeln weiter durch die interstellare Gaswolke glitt, fühlte sich Jess immer mehr von der intelligenten Flüssigkeit fasziniert. Er ging auf dem Deck des Produktionsbereichs in die Hocke, blickte in den zylindrischen Tank und beobachtete die aus dem Nebel destillierte Flüssigkeit.

Sie enthielt eine unbestimmte, unmessbare Energie, die hinter Jess’ Augen pulsierte, als könnte der menschliche Sehnerv das vitale Element nicht von der chemischen Substanz trennen. Es handelte sich nicht nur einfach um eine Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff. Es war keine natürliche Substanz; man musste eine ganz neue Kategorie dafür schaffen.

Die Flüssigkeit lebte.

Sie war intelligent.

Und sie… kommunizierte mit ihm.

Jess wölbte die Hände um den runden Tank. Die aus dem Innern sickernde Energie fühlte sich gleichzeitig warm und kalt an, wie ölig und glatt an den Fingerspitzen, ohne an der Haut zu haften.

Er hörte eine Stimme, wie eine Erinnerung in seinem Kopf, keine Botschaft aus gesprochenen Worten. Jess dachte daran, wie die grünen Priester durch den Telkontakt mit den Weltbäumen kommunizierten… Aber dies war eine ganz andere Art von Geschöpf. Das nahm er jedenfalls an.

Einst waren wir Billionen, doch ich bin der Letzte. Und du hast mich zurückgeholt.

»Was bist du?«

Eine Essenz von Leben und Flüssigkeit Wasser, das durch den Kosmos fließt…Es fällt mir schwer, repräsentative Konzepte in Ihrem Bewusstsein zu finden. Wir nennen uns Wentals.

»Aber seid ihr… ausgestorben? Bist du der Letzte deiner Art?«

Jetzt bin ich der Erste.

»Was ist mit den anderen Wentals geschehen? Kam es zu einer Katastrophe?«

Wir können nicht sterben, aber wir können uns…

dissoziieren. Dieser Nebel ist ein riesiger Friedhof, das Schlachtfeld eines uralten Krieges, der einst das ganze Universum zu erschüttern drohte. Wir haben… verloren.

Jess balancierte auf den Fußballen. Wenn das fremdartige Wesen irgendwie mit seinem Bewusstsein verbunden war, spürte es sicher die vielen Fragen, die ihm auf der Zunge lagen. Es gab so viele Dinge, über die Jess Bescheid wissen wollte.

»Wie lange liegt jener Krieg zurück? Jahrtausende?«

Unermesslich viel länger, antwortete der Wental.

Jess versuchte zu verstehen, wie viel Zeit das Wesen meinte.

Hatte der Wental existiert, bevor sich der Nebel in diesem Teil des Spiralarms ausbreitete?

Nach der Herstellung des Kontakts merkte Jess, dass es nicht mehr nötig war, den Tank zu berühren. Er richtete sich auf und wanderte umher. »Erzähl mir von dem alten Krieg. Wer kämpfte gegen wen? Was geschah?«

Die letzten Wentals stellten sich unserem Feind entgegen…

den Hydrogern.

Jess schnappte nach Luft. »Den Hydrogern? Wie?«

Ich kann die Gründe für den Konflikt nicht mit dir vertrauten Begriffen erklären und ich bin ebenso wenig in der Lage, Einzelheiten des Kampfes zu nennen. Aber die letzte Konfrontation fand hier statt. Hydroger und Wentals kollidierten, zerstörten, dissoziierten…

Die Hydroger hatten bereits die Verdani ausgelöscht und ihre Waldpräsenz vernichtet. Nur die Wentals blieben übrig.

Wir waren mächtig und töteten Millionen – Milliarden – von Hydrogern. Es war eine ungeheuerliche Schlacht, mit unvorstellbar hohen Verlusten auf beiden Seiten. Wir wurden zerrissen in Ströme aus Wasserstoff und Sauerstoff, unser Blut weit im All verstreut. Fast wäre es uns gelungen, die Hydroger zu besiegen.

Aber es gab zu viele von ihnen. Der Feind war…

überwältigend.

Jess wartete, empfand Kälte und Einsamkeit.

Einige Dinge waren jetzt zumindest teilweise klar, und damit eröffneten sich neue Möglichkeiten, die er nie zuvor in Betracht gezogen hatte. »Wir Menschen haben in einem zu kleinen Rahmen gedacht«, sagte er zu sich selbst. »In einem viel zu kleinen Rahmen.«

Die Hydroger waren ganz und gar keine neue Bedrohung, sondern eine Gefahr, die über die Epochen der galaktischen Zeit hinwegreichte. Jess begriff, dass viel mehr hinter diesem großen Konflikt steckte. Cesca und die Roamer mussten davon erfahren, auch die Große Gans und das Ildiranische Reich.

»Die Hydroger sind noch immer da«, sagte Jess. »Sie haben Menschen angegriffen. Kannst du uns irgendwie helfen? Gibt es eine Möglichkeit für uns, wirkungsvoll Gegenwehr zu leisten?«

Menschen können nichts gegen sie ausrichten.

Jess dachte an den interstellaren Nebel, an das alte Schlachtfeld, an die Überbleibsel des Zusammenpralls zweier gewaltiger Mächte. Es lief ihm kalt über den Rücken. Wie konnte sich das menschliche Militär auch nur den Hauch einer Chance ausrechnen? Das galt für sie alle: die Hanse, die Roamer, die Ildiraner.

»Aber du hast schon einmal gegen die Hydroger gekämpft.

Kannst du uns helfen?« Durch die Verbindung mit dem Wental fühlte Jess, dass diese auf Wasser basierende Lebensform nicht die aggressive Bösartigkeit der Hydroger teilte. Die Präsenz erschien ihm offen, aufrichtig… ehrlich. Echte Hoffnung und Zuversicht regten sich in ihm. »Und kann ich meinerseits dir helfen?«

Das Wasser im Zylinder schien heller zu werden und Jess spürte ein Prickeln an der Kopfhaut, eine freudige Erregung wie von einem plötzlichen Adrenalinschub.

Du bist imstande, zwischen den Sternen und Planeten zu reisen. Du könntest dabei helfen, die Wentals wieder zu verbreiten. Dann wären wir imstande, erneut zu kämpfen.

»Sag mir, was ich tun soll«, erwiderte Jess voller Bereitschaft. Er erinnerte sich an eine Redensart, die es schon gegeben hatte, noch bevor die Roamer zu den Sternen aufgebrochen waren. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und die Hydroger waren zweifellos sein Feind, ein sehr persönlicher noch dazu.

Bring mich zu einer Wasserwelt, übermittelte der Wental.

Finde einen Ozean und schütte die Flüssigkeit hinein, die mein Körper ist. Dann kann ich mich ausbreiten und stärker werden. Hol anschließend noch mehr von meiner Präsenz und bring sie zu einer anderen Welt und so weiter.

Jess’ Augen glänzten. Seit der Ermordung seines Bruders, dem Tod seines Vaters und der notwendigen Trennung von Cesca hatte er sich desorientiert gefühlt. Jetzt gab es plötzlich ein Ziel für ihn, eine Aufgabe. Neues Leben erfüllte ihn.

Er konnte sich kaum vorstellen, wie diese flüssige Entität in der Lage war, den Fremden aus den Tiefen der Gasriesen Paroli zu bieten, aber die Wentals hatten es schon einmal mit den Hydrogern zu tun gehabt. Die Regeln jenes Konflikts gingen weit über sein Begriffsvermögen hinaus.

»Na schön, ich akzeptiere die Mission. Derzeit bist du der einzige Wental, aber du wirst nicht lange allein bleiben.«

In der Hauptkabine des Nebelseglers programmierte Jess das Navigationssystem neu und übermittelte den anderen Seglern eine kurze Nachricht, die allerdings ziemlich lange unterwegs sein würde, bis sie die Empfänger erreichte.

Er begriff, dass es kein Zurück mehr gab, löste die Kabel und trennte die riesigen Sammelsegel vom kleinen Raumschiff ab.

Seine neue Aufgabe war wichtiger als der einsame, ziellose Flug durch den Nebel, wichtiger als das Bestreben, sich irgendwo zu verkriechen, nur begleitet von Trauer und Selbstmitleid.

Das kleine Schiff, nur ein winziger Fleck vor dem Hintergrund der gewaltigen Segel, beschleunigte und flog zum Rand des Nebels. Jess schickte sich an, die Wentals ins Leben zurückzuholen und der Menschheit damit einen mächtigen Verbündeten zu verschaffen.

90

TASIA TAMBLYN

Die Hydroger schlugen erneut zu und Funken sprühten aus der Brückenkonsole vor Commander Tasia Tamblyn. Sie hatte längst den Überblick verloren, wie viele Kugelschiffe nach dem TVF-Bombardement aus den Tiefen des Gasriesen Osquivel aufgestiegen waren.

Die von der Terranischen Verteidigungsflotte eingeleitete Offensive erwies sich als Fiasko, dachte Tasia, und damit noch nicht genug: Robb war völlig umsonst gestorben.

In der taktischen Station auf der linken Seite kam es zu mehreren Kurzschlüssen und Flammen leckten aus der Konsole. Die erbarmungslose Zerstörung überall um sie herum hatte Tasias Offiziere zermürbt und jetzt reagierten sie mit Verwirrung. Ein blauer Energieblitz streifte den Bug des Kreuzers, richtete zum Glück aber kaum Schaden an.

Ein weiterer Treffer ließ den Manta erbeben und das Heulen von Alarmsirenen vergrößerte das Chaos an Bord. Die Notbeleuchtung wurde aktiv und hüllte alles in einen scharlachroten Schein. Tasia wischte sich Schweiß aus den Augen und gab rasch einige Befehle, in der Hoffnung, dass ihr Schiff in Bewegung blieb und sich vom Planeten entfernte.

Bei den Jazer-Kontrollen kam es zu einer Entladung und der davor sitzende Sergeant Zizu fiel aus seinem Sessel. Ein junger Lieutenant war so geistesgegenwärtig, Löschschaum auf die brennende Konsole zu sprühen. Der verletzte Zizu kroch fort und suchte nach einem Medo-Paket. Tasia wies den benommen wirkenden Sensortechniker an, Zizus Platz an den Jazer-Kontrollen einzunehmen.

Von allen Seiten feuerten Kugelschiffe und ihre Strahlblitze ließen Dutzende von Remoras explodieren. Die Kom-Kanäle übertrugen ein Durcheinander aus Befehlen, Gegenbefehlen, entsetzten Schreien und Flüchen, die den Hydrogern galten.

Einer der großen Moloche trieb antriebslos im Raum, der Rumpf geborsten. Nur einige wenige Rettungskapseln waren ausgeschleust worden, an Bord eine Hand voll Überlebender.

Tasia forderte ihre Crew auf, die Kapseln in der Nähe aufzunehmen, während sich der Manta langsam vom Kampfgebiet bei den Ringen entfernte.

Die Hydroger folgten der Flotte und feuerten ständig. Über das Kom-System wiederholte General Lanyan den Rückzugsbefehl für alle manövrierfähigen TVF-Schiffe, obwohl es gar nicht nötig war, sie zur Flucht aufzufordern.

Tasia änderte den Kurs, um nicht mit einigen großen Felsbrocken am Rand der Ringe zu kollidieren. Trotz der vielen Hindernisse um sie herum erhöhte sie die Geschwindigkeit – wichtig war vor allem, den Hydrogern zu entkommen. Die Hälfte ihrer Kontrollsysteme funktionierte nicht mehr und ein Triebwerk gab keinen Schub.

»Na los, na los!« Tasia betätigte die Navigationskontrollen und schlug ungeduldig mit der flachen Hand auf die Konsole.

»Dieses Ding ist so träge wie eine ildiranische Himmelsmine im Sturm.«

Sie sah die geschwärzten Rümpfe von vier Manta-Kreuzern, deren Triebwerke ausgefallen waren. Nur einer sendete noch einen schwachen Notruf. Tasia beobachtete entsetzt, wie sich ihm drei Kugelschiffe näherten, das Feuer eröffneten und den Manta in eine Wolke aus glühenden Trümmerstücken verwandelten.

Ein Hydrogerblitz traf den Rumpf von Tasias Kreuzer und Luft entwich zwei Decks tiefer aus einem Riss in der Außenhülle. Die explosive Dekompression brachte mehrere Besatzungsmitglieder um. Die Sicherheitsautomatik schloss Schotten und versiegelte den betroffenen Bereich, um den Schaden in Grenzen zu halten. Einige Indikatorlichter der Statusanzeigen des Schiffes erloschen. Tasia spürte die neuerliche Beschädigung ihres bereits arg in Mitleidenschaft gezogenen Manta wie eine körperliche Verletzung.

»Zizu, zu Ihrer Station zurück! Schleusen Sie einen Schwarm Bruchimpulsdrohnen aus. Lassen Sie sie explodieren, sobald wir weit genug entfernt sind – hoffentlich bringen die Stoßwellen die Hydroger durcheinander.« Tasia sah auf die Bildschirme und hielt nach der besten Fluchtroute Ausschau.

Zizu wankte zu den Waffenkontrollen und löste dort den Sensortechniker ab, der mehr schlecht als recht versucht hatte, ihn zu vertreten. »Wir haben nur noch sieben Drohnen, Commander!«

»Hinaus mit ihnen allen! Es hat wohl kaum einen Sinn, sie aufzusparen. Und fügen sie alle Kohlenstoffknaller hinzu, die wir noch haben. Vielleicht genügt das nicht, um die Außenhüllen der Kugelschiffe aufzureißen, aber wir können die Hydroger ein wenig durchschütteln!«

Der beschädigte Manta entfernte sich weiter vom Planeten und kurze Zeit später explodierten die sieben Drohnen. Tasia prallte gegen ihre Konsole, als die Stoßwellen auch den Kreuzer erfassten. Ein Bildschirm zeigte Sprünge und Risse in der Außenhülle des nächsten Kugelschiffes – vielleicht bewirkten die neuen Waffen wirklich etwas.

Das beschädigte Hydrogerschiff schickte mehrere blaue Blitze ins All und einer von ihnen streifte den Manta. Bei den noch funktionierenden Triebwerken kam es zu einer plötzlichen energetischen Überladung und ihre Schubkraft sank um die Hälfte.

»Wir brauchen mehr Energie!«, rief Tasia. »Wir müssen schneller von hier fort.«

Der Systemtechniker betätigte seine Kontrollen, riss Verkleidungsplatten beiseite und sah sich das Durcheinander dahinter an. »Die Triebwerke sind beschädigt, Commander.

Die normalen Verbindungen können nicht genug Energie liefern und ich kann keine neuen Transferkanäle mit dem sekundären System schaffen.«

»Es gibt gar keine einsatzfähigen sekundären Systeme mehr!«, rief Lieutenant Elly Ramirez. »Wir brauchen einen Monat, nur um die Orbitalebene zu verlassen.«

»Shizz, denkt außerhalb der gewöhnlichen Bahnen«, sagte Tasia scharf. »Nur Verlierer lassen sich vom Unmöglichen Grenzen setzen.« Sie eilte zum Systemtechniker und schwankte kurz, als weitere Erschütterungen ihren Manta erfassten – offenbar war er erneut getroffen worden. »Ziehen Sie Energie aus den Lebenserhaltungssystemen ab. Leiten Sie alles in die Triebwerke – und zwar gestern, wenn nicht noch früher.«

»Aber ohne die Lebenserhaltungssysteme…«

»Atmen Sie während der nächsten Stunde flacher und ziehen Sie einen Pullover über. Hier geht’s ums Überleben. Wenn wir den Kugelschiffen nicht entkommen, bleibt von uns nur ein Ehrenmal in den Ringen von Osquivel zurück.« Tasia schob den Techniker beiseite und begann damit, Kabel zu lösen und neue Verbindungen herzustellen. »Wenn Sie an Bord meines Schiffes arbeiten, sollten Sie wissen, wie die Systeme funktionieren. Und Sie sollten dafür sorgen können, dass alles funktioniert, und zwar unter allen Umständen.«

Sie hörte einen Notruf von Patrick Fitzpatrick, der Verstärkung anforderte. Er befand sich noch immer dicht über dem Planeten und dort gab es kaum mehr manövrierfähige TVF-Schiffe. Er wies seinen Waffenoffizier an, auf den Feind zu feuern, forderte den Rest der Crew auf, das Schiff zu verlassen.

Tasia hatte keine Feuerkraft, um Fitzpatrick zu helfen. Ein Teil von ihr wollte zurückkehren und ihn retten, nur um später die Möglichkeit zu haben, ihm ein blaues Auge zu verpassen.

Aber ihr eigenes Schiffe war kaum in der Lage, den Hydrogern zu entkommen, und sie musste ihre Crew in Sicherheit bringen. Selbst wenn Fitzpatrick ihr bester Freund gewesen wäre – sie konnte ihm nicht helfen. Einige Rettungskapseln schossen wie Funken aus dem schwer beschädigten Manta, aber Tasia hörte keine weiteren Kom-Signale von Fitzpatrick.

Die Hydroger eröffneten das Feuer und zerstörten den Kreuzer vollständig.

Mit der Energie aus den Lebenserhaltungssystemen reichte der Schub der Triebwerke aus. Tasia steuerte ihren Kreuzer zu einer Gruppe anderer Schiffe und gemeinsam entfernten sie sich von Osquivels tödlichen Ringen.

Sie hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Robb den Hydrogern zum Opfer gefallen war. Später, wenn sie überlebte, würde sie über alles nachdenken: ihre dummen Bemerkungen ihm gegenüber, über die Fehler, die sie gemacht hatte, über seine letztendlich sinnlose Tapferkeit.

Nach der Deaktivierung der Lebenserhaltungssysteme heulten die Alarmsirenen noch lauter. Tasia spürte bereits, wie die Temperatur an Bord sank, aber etwa einen Tag konnten sie in dem gegenwärtigen Ambiente überleben.

»Die Alarme, Commander«, sagte ein Techniker. »Weitere Systeme fallen aus und dadurch kommt es zu sekundären Funktionsverlusten. Was sollen wir tun?«

Tasia runzelte die Stirn, schritt zu einer Konsole und löste die Verkleidungsplatte. Nach einigen Sekunden fand sie die gesuchten Systeme, griff mit bloßen Händen zu und zog Schaltkreiskarten heraus. Sofort verstummten die Sirenen.

»Na bitte. Ich höre keine Alarme mehr. Ohne all den Lärm kann ich die Systeme besser im Auge behalten.« Tasia sah die überlebenden Besatzungsmitglieder an und dachte an das Chaos aus Zerstörung und Tod hinter ihnen. »Lasst uns jetzt von hier verschwinden.«

91

ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Nachdem der Weise Imperator seinem Sohn die Wahrheit in Hinsicht auf Nira anvertraut hatte, wies er die Wächter an, Jora’h am nächsten Tag mit Staatspflichten beschäftigt zu halten. Solche Dinge gehörten zu seiner Verantwortung als Erstdesignierter. Cyroc’h ging davon aus, dass sich der Zorn seines Sohns legte, wenn er sich an das neue Wissen gewöhnte.

Der Weise Imperator hätte sich nicht mehr irren können.

Jora’hs Zorn brannte heiß, als er seine Bediensteten fortschickte. Er sagte alle Partnerschaftstermine ab, was bei den betroffenen Frauen Verwirrung und Enttäuschung hervorrief. Er begab sich ins Ossarium und warf den glühenden Totenköpfen Komplizenschaft bei schrecklichen Verbrechen vor. Aber die Knochen leuchteten auch weiterhin und die fleischlosen Gesichter schienen in zufriedener Rechtschaffenheit zu ruhen.

Zwar würde er bald das Zentrum des Thism sein und durch die Lichtquelle sehen, aber derzeit fühlte sich Jora’h allein. Mit tiefem Kummer dachte er daran, was Nira während der vergangenen sechs Jahre erlitten hatte. Wahrscheinlich glaubte sie, er hätte sie verlassen und jenen skrupellosen Experimenten ausgeliefert. Vermutlich war sie davon überzeugt, dass er sie aufgegeben und längst vergessen hatte.

Zwar konnte Jora’h Geschehenes nicht ändern, aber er war durchaus imstande, Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Nira lebte – und er wollte zu ihr.

Der Weise Imperator schickte beruhigende Gedanken und Gefühle durch die schwache telepathische Verbindung, aber Jora’h wies sie zurück. Cyroc’h entsandte Bedienstete, die mit dem Erstdesignierten sprechen und ihn beschwichtigen sollten, doch er schickte sie fort. Als er schließlich einen inneren Siedepunkt erreichte, betrat er den Empfangssaal der Himmelssphäre, in der sein angeblich so wohlwollender Vater Hof hielt.

In Jora’hs Topasaugen blitzte es und seine Haarzöpfe zuckten wie die Stachel giftiger Insekten. Mit Absicht trug er Kleidung aus dem Stoff von Niras Heimatplanet, aus Kokonfasern, die er vor Jahren von der Händlerin Rlinda Kett gekauft hatte.

Funktionäre, Pilger und Speichellecker zahlreicher Geschlechter drehten sich überrascht um, als der Erstdesignierte mit langen Schritten näher kam. Sein Zorn war auf das korpulente Oberhaupt des ildiranischen Volkes gerichtet, schien es regelrecht zu durchbohren. »Wir müssen miteinander reden, Vater.«

Bewaffnete Wächter erschienen an den Türen des Saals.

Bron’n trat nahe an den Chrysalissessel heran, um den Weisen Imperator zu schützen.

»Wir können miteinander sprechen, wenn du das wünschst, mein Sohn«, erwiderte Cyroc’h ruhig. Hoch oben lächelte das projizierte väterliche Gesicht des Weisen Imperators aus einer Dunstwolke über einer Säule aus Licht. »Allerdings sind wichtige Angelegenheiten des Reiches nicht für die Ohren aller Untertanen bestimmt, oder?«

Jora’h gab nicht nach. »Schick sie fort, wenn du willst. Ich werde jetzt mit dir reden, und hier. Deine Entscheidungen haben mich tausendmal verraten.«

Cyroc’h hob die Hände und wandte sich an die Ildiraner im Empfangssaal. Jora’h spürte die Wellen beruhigender Güte, die aus dem Thism kamen. »Gewähren Sie uns ein wenig Zeit.

Mein Sohn und ich haben eine dringende Angelegenheit in Hinsicht auf die Hydroger-Krise zu besprechen.«

Die Leute verließen den Saal schnell und geordnet. Neben dem Chrysalissessel hielt Bron’n sein Kristallschwert in der Hand und stand unbewegt wie eine Statue.

Der Erstdesignierte ballte die Fäuste, als er seinem verräterischen Vater gegenübertrat und sich wortlos schwor, vor seinem Sohn Thor’h nie solche Geheimnisse zu haben.

»Ich will wissen, warum du so schreckliche Dinge veranlasst hast«, sagte er schließlich.

»Wir haben bereits darüber gesprochen, Jora’h. Ich habe jene Entscheidungen zum Wohl des ildiranischen Volkes getroffen.

Akzeptiere sie.«

»Wie kann ich Mord, Vergewaltigung, Sklaverei und Täuschung akzeptieren? Was du mit den Nachkommen der Button-Siedler gemacht hast, läuft praktisch auf eine Kriegserklärung an die Menschheit hinaus.«

Cyroc’hs langer Zopf zuckte. »Fast hundert Jahre habe ich das Reich regiert und zuvor hat mich mein Vater unterwiesen.

Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind, deshalb habe ich mir größte Mühe gegeben, dir klar zu machen: Bei der Führung unseres Volkes sind gewisse Dinge unvermeidlich. Aber du bestehst darauf, unschuldig wie ein Kind und naiv wie ein Narr zu sein.«

Jora’h fragte sich plötzlich, ob all die grässlichen Geheimnisse des Weisen Imperators seinen Körper vergiftet und die Tumore geschaffen hatten, die ihn nun umbrachten.

»Das rechtfertigt nicht, was du Nira und all den anderen angetan hast.«

»Regeln ändern sich und als Weiser Imperator steht es mir zu, sie nach meinem Ermessen zu verändern. Hör auf, engstirnig zu sein! Du hast kein Recht, die menschliche Frau für dich zu wollen. Sie dient jetzt einem höheren Zweck.

Ärgere dich nicht, weil dir die Wahrheit vorenthalten wurde.

Es geschah zum Wohle des Reiches.«

»Wie können Lügen und Täuschungen dem Wohl des Reiches dienen?«

»Nur ich verstehe das komplexe Gewebe des Reiches, denn nur ich habe Zugang zum Thism«, sagte der Weise Imperator.

»Ich allein verstehe, auf welche Weise die Seelenfäden mit der Geschichte verbunden sind. Du wirst es verstehen, wenn du meinen Platz einnimmst. Aber noch bist du nur der Erstdesignierte und musst meiner Weisheit vertrauen.«

Jora’h war nicht überzeugt. »Wie soll ich dir vertrauen, obwohl du dich als nicht vertrauenswürdig erwiesen hast?« Er hob das Kinn. »Du hast Zugang zum Thism, Vater, aber du scheinst deine Seele verloren zu haben. Ich glaube, du bist der Lichtquelle gegenüber blind.«

Der Weise Imperator wirkte erzürnt, aber hinter seinen finsteren Blicken zeigte sich Kummer. »Hab Geduld, mein Sohn. Ich versichere dir, dass alles klar wird…«

Aber Jora’h wollte nichts mehr davon hören. Er dachte nur an die unschuldige Nira. Sie nahm in seinem Herzen einen Platz ein, den er keiner seiner zahlreichen Partnerinnen eingeräumt hatte – und dafür hatte sie ihm eine Tochter geschenkt, ein Halbblut-Kind. Unsere Tochter! Inzwischen war Osira’h sechs Jahre alt und wuchs unter der strengen Ägide des Dobro-Designierten auf. Jora’h hatte sie nie gesehen.

»Du hattest kein Recht«, sagte er leise und wandte sich vom Chrysalissessel ab. »Ich verlange, dass Nira unverzüglich freigelassen wird. Ich muss sie sehen.«

»Hör mich an, Jora’h.« Der Weise Imperator klang erregt, fast verzweifelt. »Uns bleibt nur noch wenig Zeit. Meine Krankheit wird schlimmer…«

Jora’h wirbelte herum. »Dann hast du vielleicht nicht mehr genug Zeit, noch mehr Schaden anzurichten und weitere Morde zu verüben.« Er schritt an den Wächtern vorbei und verließ die Himmelssphäre.

»Komm zurück, Jora’h!«, rief sein Vater.

Der Erstdesignierte blieb im Tor stehen, das zu den Fluren führte. »Ich werde nach Dobro fliegen, um dort mit eigenen Augen zu sehen, was du getan hast. Ich werde Nira von dort fortbringen und auch die anderen menschlichen Sklaven befreien. In diesem Krieg kämpfen wir gegen Ungeheuer, Vater, und wir dürfen nicht selbst zu Ungeheuern werden.«

Jora’h eilte fort und hörte nicht die kummervollen Worte, die der Weise Imperator ihm nachrief.

92

NIRA

Im Morgengrauen gab es plötzlich Alarm, der alle Menschen und Ildiraner weckte. Müde Gefangene verließen die Gemeinschaftsunterkünfte – Männer, Frauen und Kinder traten verwirrt nach draußen. »Ein Feuer! Alle müssen an die Arbeit!« Selbst die Zuchtbaracken wurden geöffnet, damit auch die fruchtbaren Frauen mithelfen konnten.

Vor zwei Wochen hatte ihr Körper bei einer Fehlgeburt das deforme Ergebnis des erzwungenen Geschlechtsverkehrs mit dem Ildiraner aus dem schuppigen Geschlecht ausgestoßen.

Fünf Tage hatte sie mit dem grässlichen reptilienartigen Mann verbracht, doch der Fötus war noch horrender als sein Erzeuger gewesen. Nira empfand die Fehlgeburt als einen Segen. Auf Dobro gab es nur wenig Gnade…

Noch immer schwach gesellte sie sich den anderen hinzu, ohne zu wanken. Die ildiranischen Ärzte hatten sie für gesund erklärt; man erwartete von ihr, dass sie wie alle anderen arbeitete.

Begleitet von stämmigen Wächtern schritten ildiranische Aufseher an den Zäunen entlang und nutzten die organisatorischen Fähigkeiten ihres Geschlechts, um Arbeitsgruppen zusammenzustellen, die normalerweise eingesetzt wurden, um Opalknochen-Fossilien auszugraben, in Minen Rohstoffe zu gewinnen oder Bewässerungskanäle zu graben. Heute gab es wichtigere Arbeit. Schon vor einer ganzen Weile hatte die Trockenzeit begonnen und immer wieder brachen Feuer aus.

Als das erste Licht des neuen Tages den Himmel zu erhellen begann, sah Nira die schwarzen Flecken an den östlichen Hügeln. Hier und dort trieben Rauchwolken; Brandgeruch lag in der Luft. Nira sehnte sich nach dem Trost der Weltbäume, danach, ihre goldene Rinde zu berühren und ihr Selbst durch das Netzwerk des Weltwaldes gleiten zu lassen. Sie hatte immer Kraft geschöpft aus der Meditation mit den großen Bäumen und diese Kraft brauchte sie.

Als die Gefangenen Aufstellung bezogen hatten, trat der Dobro-Designierte auf die Beobachtungsplattform außerhalb der Zäune. Mit kalter, ausdrucksloser Miene sah er auf die Versammelten hinab. »Erneut sind Feuer ausgebrochen und schon lange waren sie nicht mehr so schlimm.«

Nira verachtete Udru’h, aber sie hob das Kinn und starrte ihn an. Die Begegnung mit dem schuppigen Ildiraner war schlimm genug gewesen, aber es gab eine Vergewaltigung, die sie als noch schlimmer empfunden hatte: die durch den Dobro-Designierten. Er schien zornig gewesen zu sein, bestrebt, über sie zu dominieren, so als könnte er beweisen, seinem älteren Bruder überlegen zu sein, indem er sich ihr aufzwang.

Niras geliebte Tochter Osira’h, ihre Prinzessin, wuchs bei ihm auf und er spielte ihr gegenüber den wohlwollenden Vater.

Brachte Udru’h auch den anderen Halbblut-Kindern so großes Interesse entgegen, etwa seinem eigenen Sohn, den er mit ihr gezeugt hatte?

Als es heller wurde, kamen muskulöse ildiranische Arbeiter aus den Versorgungsschuppen, brachten Werkzeuge, Schaufeln und Hacken. Die Aufseher und Wächter trugen feuerfeste Kleidung, doch die Menschen bekamen nur Gesichtstücher, um sich vor Staub und Rauch zu schützen.

»Sie werden das Feuer bekämpfen«, sagte der Dobro-Designierte mit befehlender Stimme. »Legen Sie Schneisen an, damit es sich nicht über die Hügel hinweg ausbreitet und unsere landwirtschaftlichen Bereiche sowie dieses Lager bedroht.«

Udru’h erwartete von den menschlichen und ildiranischen Arbeitern, dass sie seine Anweisungen befolgten und schufteten, bis sie aus Erschöpfung zusammenbrachen oder in den Flammen starben. Nira hatte die harte, ermüdende Arbeit schon einmal geleistet und wusste, welche Bedeutung ihr zukam. Sie war auch jetzt dazu bereit, um der Pflanzen willen.

Bodenfahrzeuge und Schwebeplattformen brachten Gruppen von Arbeitern zu den Bränden in den Hügeln. Gleiter kreisten über der Feuerzone, warfen Chemikalien und Wasser ab.

Die heiße Luft war voller Rauch. Der Wind wurde heftiger, pfiff über steinige Grate, wirbelte Glimmer- und Kieselschieferpartikel auf, die sich wie Wespenstiche anfühlten, wenn sie Niras Haut trafen. Sie rückte das Tuch vor Mund und Nase zurecht, aber ihre Augen blieben ungeschützt und brannten. Weil sie eine grüne Priesterin war, reagierte sie mit tiefem Entsetzen auf den Rauch. Trotzdem zog sie den Kopf ein und trat zusammen mit den anderen vor.

Das Feuer breitete sich in Windeseile übers trockene Gras aus und verbrannte dornige Bäume. Erneut dachte Nira voller Kummer an den Weltwald und stellte sich die Agonie vor, die das Feuer für die hier verbrennenden Pflanzen bedeutete.

Feuer ist der schlimmste Albtraum, schlimmer noch als Vergewaltigung…

Einer der ildiranischen Wächter reichte ihr ein spatenartiges Werkzeug und zusammen mit den anderen Arbeitern begann Nira damit, eine Schneise anzulegen. Vielleicht konnte sie hier Gutes tun und einige Bäume schützen, auch wenn sie nur sehr ferne Verwandte des Weltwaldes waren. An diesem Gedanken hielt Nira fest.

Die Arbeiter hoben Gräben aus, rissen das trockene Gras fort und setzten Gegenfeuer ein, um Bereiche zu schaffen, in denen sich die Brände nicht weiter ausbreiten konnten. Nira beobachtete, wie das Feuer über die Hänge kam und ein kleines Tal voller dunkler, niedriger Bäume erreichte. Zwar war sie nicht mehr mit dem Weltwald verbunden, aber Nira glaubte fast, ein Zittern des Schreckens und der Verzweiflung zu spüren, als die Flammen den kleinen Wald erfassten.

Bei den anderen Gruppen sah Nira junge Arbeiter und auch Kinder, deren sonderbare Körperformen darauf hinweisen, dass sie Mischlinge waren. Furchtlos traten sie vor, bis ganz dicht an den Brand heran, sprühten dort Feuerhemmer.

Nira beobachtete die Halbblut-Kinder und versuchte, ihr Alter zu schätzen. Tränen strömten ihr aus den großen Augen, nicht nur wegen des Rauchs. Der Dobro-Designierte war erbarmungslos; er benutzte alle Personen so, wie er es für richtig hielt. Einige jener Jungen und Mädchen konnten sogar ihre Söhne und Töchter sein – sie würde es nie erfahren. Und für den Designierten spielte das alles keine Rolle.

Die Kinder taten Nira Leid und sie wünschte sich, ihnen irgendwie helfen zu können. Aber sie war vollkommen machtlos.

Feuer wüteten in den Dobro-Hügeln und zusammen mit den anderen kämpfte Nira gegen die Brände an, verlor dabei jedes Zeitgefühl.

93

ESTARRA

Ein unsichtbarer Fadenschirm spannte sich über der als privates Unterrichtszimmer dienenden Terrasse auf dem Dach des Flüsterpalastes. Ganze Schwärme von bunten Schmetterlingen flogen umher, landeten auf jeder Oberfläche.

Nach Aussage des Lehrer-Kompi OX war dies einer der Orte, an dem Peter am liebsten gelernt hatte. Aber Estarra spürte immer wieder Schmetterlinge auf den Armen und im Haar und unter solchen Umständen fiel es ihr schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

OX lehrte sie die Etikette des Flüsterpalastes, das Protokoll und die Feinheiten der Diplomatie. Er wies sie auf die richtigen Verhaltensweisen hin und erklärte ihr, wie man offizielle Repräsentanten empfing. Auf Theroc hatte sich Estarra mit der Geschichte ihrer Heimatwelt befasst und jetzt bestand der Lehrer-Kompi darauf, sie mit dem historischen Hintergrund der Terranischen Hanse vertraut zu machen. Man erwartete von ihr, dass sie lernte, obgleich in einem fernen Sonnensystem eine Offensive stattfand und die Hanse auf Nachrichten wartete.

An diesem Tag hatte auch König Peter die Dachterrasse aufgesucht – der Unterricht gab ihm einen Vorwand, mehr Zeit in Estarras Gesellschaft zu verbringen. Er lächelte über ihren Versuch, sich trotz der Schmetterlinge zu konzentrieren. Sie hätte fast laut gelacht und bemühte sich weiter, OX zuzuhören.

Peter trachtete danach, seine Freude zu verbergen, aber er wusste, dass sie sich in seinem Gesicht zeigte.

Als der Lehrer-Kompi eine Frage wiederholte, ohne etwas von Estarras Faszination zu bemerken, die einem besonders schönen Schmetterling galt, sagte der König: »OX hält nichts von langweiligen Klassenzimmern. Aber ihm ist auch nicht klar, wie leicht sich Schüler ablenken lassen. Als ich jünger war, glaubte OX, ich könnte mich beim Schwimmen mit Delphinen auf den Unterricht konzentrieren.«

Estarras Miene erhellte sich. »Ich schwimme gern. Was sind Delphine?«

»Ich zeige es dir eines Tages«, sagte Peter. »Versprochen.«

»Ein anderes Mal«, warf OX ein. »Wir müssen hier etwas erreichen und dazu ist Konzentration erforderlich.«

Doch bevor der Lehrer-Kompi den Unterricht fortsetzen konnte, trat der gerade vom Mars zurückgekehrte Basil Wenzeslas auf die Terrasse. Er war sehr aufgeregt. »Es ist verdammt gut, dass die Wächter Ihren Weg verfolgen, Peter.

Ich habe keine Zeit, Sie überall im Flüsterpalast zu suchen.«

Estarra sah auf und der Ernst im Gesicht des Vorsitzenden überraschte sie. Der König runzelte die Stirn, von der Rüge verärgert. »Ich helfe Estarra dabei, sich an die hiesigen Gepflogenheiten zu gewöhnen, Basil. Das ist kein Grund, mich so anzufahren. Wenn Sie mir Bescheid gegeben hätten, wäre ich gern bereit gewesen, Sie an einem geeigneteren Ort zu treffen.« Er zögerte kurz. »Moment mal. Sollten Sie nicht auf dem Mars sein? Was ist bei Osquivel geschehen? Warum habe ich nichts erfahren?«

»Weil ich dem Hauptquartier der Hanse den Befehl übermittelt habe, dafür zu sorgen, dass die Medien keine Berichte über die Krise bringen – bis ich entschieden habe, welche Maßnahmen es jetzt zu ergreifen gilt. Aber durch die verdammten grünen Priester ist die Sache bereits allgemein bekannt geworden. Es gibt keine sichere Kommunikation mehr, nicht einmal bei einem solchen militärischen Notfall.

Es kam zu einer Katastrophe«, fuhr Basil Wenzeslas aufgebracht fort. »Wir haben mindestens einen Moloch, über dreihundert Remoras und Dutzende von Mantas und Thunderheads verloren. Das genaue Ausmaß der Verluste steht noch nicht fest. Tausende haben ihr Leben verloren. General Lanyan hat den Rückzug angeordnet – andernfalls hätten die Hydroger unsere ganze Flotte aufgerieben.«

Estarra stand besorgt auf. Der König wirkte sehr beunruhigt.

Die Schmetterlinge flogen unpassend friedlich umher.

»Es gibt noch keine offiziellen Verlautbarungen der Hanse, aber wir können eine Stellungnahme nicht mehr lange hinausschieben«, sagte der Vorsitzende und atmete tief durch.

»Wählen Sie dem Ernst der Situation angemessene Kleidung, Peter. In einer knappen Stunde müssen Sie sich an die Öffentlichkeit wenden. Die Rede wird gerade geschrieben. Sie sollten sie vor einem Spiegel einüben, damit Sie angemessen bestürzt aussehen.«

Es blitzte in Peters blauen Augen. »Wenn unsere Flotte besiegt ist und tausende, vielleicht sogar zehntausende von Soldaten ums Leben kamen, so brauche ich nicht vorzugeben, bestürzt zu sein.«

Zusammen mit dem Vorsitzenden verließ der König die Terrasse. In der Tür drehte er sich noch einmal um, sah Estarra an und lächelte zuversichtlich. »Keine Sorge, es wird alles gut.«

Dann folgte er Basil Wenzeslas zum Thronsaal.

94

KOTTO OKIAH

Auf Isperos war die Hölle los. Eine Katastrophe folgte auf die andere und die Probleme vermehrten sich schneller, als Kotto Okiah Lösungen finden konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er dicht davor aufzugeben.

Reparatur oder Neubau des Katapults würden mindestens sechs Monate dauern – in dieser Zeit häuften die an der Oberfläche aktiven Schürfmaschinen große Metallvorräte an und mussten schließlich ihre Arbeit einstellen. Die normale Wartung war weit hinter den Zeitplan zurückgefallen und selbst die optimistischsten Techniker sahen, dass die Basis langsam vor die Hunde ging. Kotto fühlte, wie ihm alles durch die Finger glitt.

Er wagte sich auf die Oberfläche, gekleidet in einen reflektierenden Schutzanzug, der ihn wie ein wandelnder Spiegel aussehen ließ. Die von der lodernden Sonne kommende Strahlung prallte zum größten Teil von dem dünnen Film ab.

Wachsam und besorgt trat Kotto ins offene Gelände. Die Felsen waren unangenehm weich, dem Schmelzpunkt so nahe, dass sie die Konsistenz von Ton bekamen. Die Sonne brannte am Himmel, ein gewaltiger Plasmaofen, mit dunklen Flecken besprenkelt und von Protuberanzen umgeben, die wie Flammen aus dem Maul eines Drachen wirkten. Die Korona schimmerte vor dem schwarzen Hintergrund des Alls.

Während des letzten Monats hatte die solare Aktivität immer mehr zugenommen, und dadurch war das von den Roamern eingerichtete Kühlsystem hoffnungslos überlastet. Alles schien zur gleichen Zeit schief zu gehen.

Vor Jahren hatte sich seine Großmutter Jhy Okiah für ihn eingesetzt und die anderen Clans davon überzeugt, in die Basis auf Isperos zu investieren – die Ausbeute an Metallen und Isotopen lohnte einen hohen Aufwand. Kotto hatte sich alle Mühe gegeben und die ganze Zeit über am Rand des Unmöglichen balanciert.

Doch jetzt gingen ihm die Ideen aus.

Dünne dreieckige Kühlrippen ragten hier und dort aus der erstarrten Lava und glühten kirschrot. Sie sahen aus wie die Flügel ausgestorbener Dinosaurier und dienten dazu, Wärme aus dem Stützpunkt abzuleiten. Zwei Rippen waren bei der seismischen Aktivität umgestürzt, die das Katapult zerstört hatte, was einen Temperaturanstieg in der Basis bedeutete.

Kotto beschloss, dies zuerst reparieren zu lassen, bevor es zu einer neuen Krise kam.

Und es kam immer zu einer neuen Krise.

Als junger Mann hatte Kotto an Maschinen und elektrischen Systemen herumgebastelt. Sein intuitives Verständnis für Physik und Technik ging nicht auf traditionelles Lernen zurück. Er war neuen Möglichkeiten und Innovationen gegenüber sehr aufgeschlossen, hinzu kam eine angemessene Portion Pragmatismus. In Hinsicht auf die anderen Roamer, die ihm ihr Leben anvertrauten, ging Kotto keine ungerechtfertigten Risiken ein.

Aber manchmal funktionierten nicht einmal seine besten Ideen.

Es knackte im Lautsprecher des Anzugkommunikators.

Solare Turbulenzen bewirkten starke Statik, aber trotzdem hörte Kotto das Drängen in der Stimme. »Sie müssen sofort zurückkehren, Kotto! Wir haben einen Bruch in Lagerraum 3.

Ein Ausrüstungsabteil ist bereits voller Lava und die Wand des Generatorraums droht nachzugeben.«

»Der Generatorraum! Wie konnte das geschehen? Wenn die Lava dort eindringt, verlieren wir zwanzig Prozent des Lebenserhaltungspotenzials.«

»Ich weiß es nicht, Kotto. Eine nicht verzeichnete Hitzefeder näherte sich ziemlich schnell und an einer Stelle gaben die Isolierungsfasern und Keramikplatten dem plötzlichen Temperaturanstieg nach.«

Kotto lief bereits zur versiegelten Tür, die zur unterirdischen Anlage führte. Drei Techniker erwarteten ihn dort, ihre Gesichter blass und schweißfeucht, nicht nur wegen der hohen Temperatur. »Diesmal steht es wirklich schlimm, Kotto.«

Er streifte die Handschuhe ab und legte den Helm beiseite.

Als er den Schutzanzug auszog, verbrannte er sich die Finger an der noch immer heißen Außenschicht. Er steckte sich die Fingerspitzen in den Mund, ignorierte dann den stechenden Schmerz. Kotto folgte den Technikern, noch bevor er den Schutzanzug ganz abgelegt hatte, ließ unterwegs einzelne Teile fallen.

Auf der dritten Ebene standen mehrere Techniker vor der verschlossenen Tür des ruinierten Bereichs. Im Kontrollraum trat Kotto zu den Bildschirmen und schaltete auf die Überwachungskamera von Lagerraum 3 um. Er sah nachgebende Metallwände, schwelende Behälter und Ausrüstungsteile. Scharlachrotes Magma quoll wie Blut durch einen Riss und verbrannte alles, was es berührte.

»Vielleicht zieht die Thermalfeder bald weiter«, sagte ein Techniker.

»Ich soll hier angeblich der Optimist sein«, erwiderte Kotto.

»Und nicht einmal ich glaube daran. Zeigen Sie mir den Generatorraum.«

Jemand betätigte Kontrollen und die Bilder auf dem Schirm wechselten. Manche zeigten nur graues Nichts, weil die entsprechenden Kameras in der enormen Hitze geschmolzen waren. Im Generatorraum mit den Konvertern und einem Teil der Lebenserhaltungssysteme sah Kotto, wie Rauch von der Isolierung aufstieg. Die dicken Metallwände glühten rot und waren bereits so weich geworden, dass sie sich an einigen Stellen verzogen.

Es war das Ende von Isperos.

Brodelnde Geräusche kamen aus den Rohrleitungen in den Korridoren, als die Kühlsysteme versuchten, die Hitze schneller abzuleiten, als sie entstand. Kotto wusste, dass sie überfordert waren. Er stellte sich der bitteren Erkenntnis, dass es für die von ihm ersonnene und geplante Kolonie keine Hoffnung mehr gab.

»Schafft so viele Versorgungsgüter wie möglich fort. Riegelt die unteren Decks ab und blockiert die Wände. Vielleicht können wir die Lava lange genug aufhalten.«

Er rechnete in Gedanken, um herauszufinden, wie viel Zeit nötig war und ob die Gesetze der Himmelsmechanik überhaupt eine Rettung ermöglichten.

»Nehmt unser schnellstes Schiff. Wir schicken Rendezvous eine Nachricht und bitten die anderen Clans um Hilfe.« Kotto schluckte. Es widerstrebte ihm noch immer, die entscheidenden Worte auszusprechen. »Wir müssen Isperos evakuieren.«

95

ZHETT KELLUM

Tagelang glühten Raumschifftrümmer über Osquivel. Die Hydroger hatten sich wieder in die Tiefen des Gasriesen zurückgezogen und die desorganisierten Reste der terranischen Kampfflotte waren aus dem Sonnensystem geflohen.

Sechs Stunden später wagten sich die Roamer aus ihren Schlupfwinkeln in den Ringen. »Es wird Zeit, dass wir zu unserem Leben zurückkehren, verdammt«, sagte Del Kellum und das Interkom-System übertrug seine Stimme. »Sicher, mir tun die vielen toten Tiwi-Soldaten Leid, aber vielleicht können wir irgendetwas aus den Trümmern bergen. Niemand sonst wird Anspruch darauf erheben.«

Zhett band ihr Haar zusammen und streifte einen warmen Overall über. Sie nahm einen Schutzanzug, ging dann an Bord einer Greifkapsel. Zusammen mit anderen Kapseln, darunter die ihres Vaters, machte sie sich auf den Weg zum kosmischen Trümmerfeld. Dutzende von kleinen Raumschiffen verließen ihre Verstecke und flogen dorthin, wo eine gewaltige Schlacht stattgefunden hatte.

Zhett saß an den Kontrollen und bewegte die Greifarme ihrer Kapsel wie die eigenen Finger. Die Steuerung des kleinen Raumschiffs war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie und ihr Vater trennten sich voneinander, als sie inmitten der Trümmer mit der Suche nach Schätzen begannen.

Die zerstörten Tiwi-Schiffe trieben im All – reiche Beute für die immer nach Ressourcen suchenden Roamer. Funkelnde Wolken aus gefrorener Atmosphäre hingen wie kondensierter Atem in der Leere. Ein Moloch glitt dahin, der Rumpf an mehreren Stellen geborsten, ohne ein Lebenszeichen an Bord.

In einem so großen Schiff mussten die geschlossenen Schotten die eine oder andere Sektion versiegelt und einigen Besatzungsmitgliedern das Überleben ermöglicht haben. Doch der Ausfall der Lebenserhaltungssysteme bedeutete, dass ihnen keine Chance blieb. Rettungskapseln waren ausgeschleust worden und hatten eigentlich von anderen TVF-Schiffen aufgenommen werden sollen, doch im Durcheinander der Flucht waren sie zurückgeblieben.

Zhett biss sich auf die Lippe und ärgerte sich über die traditionelle vorsichtige Zurückhaltung der Roamer. Was hatte sie ihnen hier eingebracht? Wenn sie und die anderen eher aufgebrochen wären, hätten sie vielleicht einige Opfer retten können. Inzwischen war es vermutlich zu spät.

Sie öffnete einen privaten Kom-Kanal, der sie mit ihrem Vater verband. »Glaubst du nicht, dass die Tiwis zurückkehren und ihre Schiffe bergen? Oder wenigstens die Toten nach Hause bringen?«

»Sie haben eine schwere Niederlage erlitten, Schatz. Ich rechne nicht damit, dass sie bald zurückkehren. Und wenn doch… Dann gehen sie bestimmt davon aus, dass die Hydroger ihre Schiffe in die Tiefen von Osquivel gezogen oder sie restlos zerstört haben.«

Es überraschte Zhett, dass das terranische Militär bereit war, gefallene Kameraden aufzugeben. Aber der Kampf gegen die Hydroger war kein typisches Gefecht gewesen. Die vernichtend geschlagenen Menschen hatten nur mit knapper Not entkommen können. Wenn sie Zeit mit der Bergung der Toten verloren hätten, wäre niemand von ihnen mit dem Leben davongekommen.

Zhett dachte an die vielen Roamer, die bei Hydroger-Angriffen auf Himmelsminen ihr Leben verloren hatten. Ihre Mutter und ihr kleiner Bruder waren vor langer Zeit bei einem Kuppelbruch gestorben. Sie hatte die Trauerfeier als achtjähriges Mädchen erlebt und erinnerte sich genau daran: Bestickte Tücher umhüllten die dreißig Leichen, als sie dem Weltraum übergeben wurden, auf einer Flugbahn, die sie aus der Ebene der Ekliptik brachte und für immer zwischen den Sternen fliegen lassen würde – wahre Roamer, ihr Weg bestimmt allein von der Gravitation und ihren Leitsternen.

Die Greifkapseln schwärmten zwischen den Wracks aus, schätzten die Situation ein und suchten nach Rettungskapseln mit noch aktiven Systemen. Die Roamer konnten die TVF-Schiffe entweder demontieren oder reparieren – es hing vom Ausmaß der Beschädigungen ab. Kellums Werfttechniker würden die hoch entwickelte militärische Technologie der TVF genau untersuchen und eventuell aus ihr lernen. Was die Dinge betraf, die sich nicht reparieren ließen: Man konnte elektronische Komponenten daraus gewinnen oder sie als Rohstoffe verwenden.

Zhett und ihr Vater hatten bereits darüber gesprochen, wann die Werften von Osquivel ihren Betrieb wieder aufnehmen würden. Der Kellum-Clan konnte sich nicht für immer verbergen.

Die Roamer waren einer Entdeckung entgangen, aber wenn die Tiwis zurückkehrten, würden sie die Werften zweifellos bemerken. Und nach der schweren Niederlage freuten sie sich bestimmt über eine Gelegenheit, ihren Zorn an jemandem auszulassen – erst recht, wenn sie erfuhren, dass die Weltraumzigeuner ihre Wracks ausgeschlachtet hatten.

Doch so viele Rohmaterialien konnte ein Roamer nicht unbeachtet lassen.

Auch einige Kugelschiffe waren beschädigt oder zerstört worden, aber die dichte Atmosphäre von Osquivel hatte die meisten Trümmer verschlungen und im Wolkenmeer des Gasriesen wollte Zhett nicht nach ihnen suchen. Doch wenn die Roamer ein Droger-Schiff in die Hand bekommen würden… Voller Aufregung dachte Zhett daran, was sich damit anstellen ließ.

Sie steuerte ihre Greifkapsel, dokumentierte die TVF-Wracks und hielt fest, welche von ihnen sich am leichtesten bergen ließen. Sie flog an Leichen vorbei, die aufgrund der explosiven Dekompression wie aufgedunsen wirkten. Einige waren verbrannt und zerfetzt. Jene Soldaten mussten bereits tot gewesen sein, noch bevor sie ins All geschleudert worden waren. Bei anderen hatte ein schrecklicher Todeskampf im kalten Vakuum stattgefunden.

Der Anblick der ersten Leichen erschütterte Zhett, aber sie setzte den Flug fort und konzentrierte sich auf die Arbeit. Sie konnte nichts mehr tun, um den Soldaten zu helfen, die ihren Planeten als verhängnisvolles Schlachtfeld gewählt hatten. Die Roamer wollten nur in Ruhe gelassen werden. War das zu viel verlangt?

Zhett beobachtete die Reste eines Manta-Kreuzers und verzeichnete alle brauchbaren Materialien. Bergungsteams hatten bereits am durchlöcherten Rumpf eines Moloch festgemacht. Ekti-Frachter näherten sich, stellten Verbindungen mit den Tanks her und pumpten den Treibstoff ab.

»Wenn die Tiwis wirklich unsere Frachter überfallen und Ekti stehlen, brauchen wir uns wegen dieser Sache nicht schuldig zu fühlen«, sagte ein Techniker.

»Niemand von diesen Leuten hat ein solches Schicksal verdient, selbst wenn es Piraten waren«, erwiderte Zhett gedämpft. »Ich weiß, dass wir den Treibstoff brauchen, aber Schadenfreude ist unangebracht. Denken Sie daran, wie viele Menschen hier gestorben sind.«

Einige Sekunden lange herrschte auf den Kom-Kanälen betroffene Stille. »Meine Tochter hat Recht«, ließ sich Del Kellum vernehmen. »Selbstgefälligkeit steht uns nicht zu, verdammt. Die Droger sind auch unsere Feinde.«

Während sich die Bergungsgruppen um die größten Schiffe kümmerten, steuerte Zhett ihre Greifkapsel fort von den Hauptansammlungen der Trümmer. Explosionen und verzweifelte Fluchtmanöver hatten manchen Wracks besondere Flugbahnen gegeben und sie wollte sich keinen Schatz dort draußen in der Leere entgehen lassen.

Sie stieß auf ein schwaches Notsignal, das sich in regelmäßigen Abständen wiederholte – Zhett bemerkte es erst, als sie den Ausgangspunkt des Signals fast erreicht hatte. Sie streckte die Arme der Kapsel und schaltete die Scheinwerfer ein.

In ihrem Licht erschien eine arg mitgenommene Rettungskapsel, die von einem TVF-Schiff stammte und nur einer Person Platz bot. Zwar waren ihre Systeme beschädigt, aber Zhetts Sensoren registrierten Leben in ihrem Innern. Luft entwich durch kleine Risse in der verbrannten Hülle. Wer auch immer in der Rettungskapsel überlebt hatte – er würde bald sterben.

»Ich habe Sie gefunden«, sendete Zhett auf der normalen TVF-Frequenz, ohne zu wissen, ob die Person in der Kapsel sie hören konnte. »Ganz ruhig. Wir holen Sie da raus.« Sie wartete vergeblich auf eine Antwort und fragte sich, ob der Kommunikator der Rettungskapsel keine Energie hatte.

Vielleicht war der Insasse bewusstlos oder verletzt.

Mit den Manövrierdüsen passte Zhett Kurs und Geschwindigkeit an, sodass die beiden kleinen Raumschiffe in relativer Bewegungslosigkeit zueinander verharrten. Dann schloss sie die Greifarme um die Rettungskapsel. Ihr kleines Schiff war eigentlich nicht für die Beförderung von Passagieren bestimmt, aber wenn in der Kapsel die Kapazität der Lebenserhaltungssysteme unter einen kritischen Wert sank, starb der Insasse, bevor Zhett die Kapsel zum nächsten Habitat bringen konnte.

»Na schön, mein Freund«, sendete sie und hoffte, dass die Person in der Rettungskapsel sie hörte. »Wenn Sie mir nicht helfen können, muss ich es eben allein schaffen.«

Sie brachte die Kapsel in Position und zog sie langsam näher, mit der Absicht, die Standardsiegel der beiden Luken miteinander zu verbinden. Es war schwierige Arbeit, die absolute Präzision erforderte. Mit dem Handrücken wischte sich Zhett Schweiß von der Stirn und versuchte es dann noch einmal. Schließlich waren die beiden Siegel miteinander verbunden.

Als sie den Druckausgleich hergestellt hatte und die Luke sich öffnete, nahm sie einen grässlichen Gestank wahr. Nach vielen Stunden war die Luft in der Rettungskapsel sehr schlecht, aber jemand hatte darin überlebt. Zhett sah Blut an der metallenen Innenwand; er wirkte wie ein Rostfleck. Dann hörte sie ein Stöhnen – ein erleichtertes Seufzen, oder vielleicht nur Erschöpfung und Verzweiflung.

Sie beugte sich vor und griff nach den Schultern des Soldaten. Er war jung, das Gesicht attraktiv und kultiviert. Die Rangabzeichen wiesen ihn als Commander der Tiwis aus. Auf der ID-Plakette an der Brust stand der Name: FITZPATRICK.

Der junge Mann öffnete benommen die Augen. Der linke Arm war verletzt und noch immer rann Blut aus zahlreichen Wunden und Verbrennungen. Fitzpatrick versuchte, sich auf Zhetts Gesicht zu konzentrieren, und seine Stimme klang schwach, als er sagte: »Nach dem Kampf gegen so viele Teufel ist es schön, einen Engel zu sehen.«

Er verlor nicht in dem Sinn das Bewusstsein, schaltete aber irgendwie ab.

Zhett träufelte ihm Wasser in den Mund, zog ihn an Bord ihrer Greifkapsel, nahm dann wieder an den Kontrollen Platz und öffnete einen Kom-Kanal. »Ich kehre zum Hauptkomplex zurück, mit einem Überlebenden, der medizinische Hilfe braucht.«

Die Roamer retteten nur dreißig Soldaten aus den TVF-Kampfschiffen und zwei weitere aus Rettungskapseln.

Außerdem wurden Dutzende von nicht funktionstüchtigen Kompis geborgen, die repariert und für die Zwecke der Roamer umprogrammiert werden konnten, unter ihnen auch einige neue Soldaten-Modelle. Im Großen und Ganzen war es ein guter Fang.

Zhett behandelte Patrick Fitzpatrick mit dem Inhalt des Erste-Hilfe-Pakets, das es in jeder Werftstation gab. Kellum stand neben seiner Tochter, mit gerunzelter Stirn und gleichzeitig resigniert. »Aus dieser Sache ergibt sich ein Problem. Es gefällt mir nicht, Tiwis hier zu haben, aber wir müssen uns wohl um sie kümmern.«

»Hätte ich ihn in seiner Rettungskapsel sterben lassen sollen?«, fragte Zhett.

»Es wäre schnell gegangen«, sagte Kellum. Zhett schnitt eine finstere Miene und ihr Vater hob beschwichtigend die Hände.

»Hab’s nicht ernst gemeint, Schatz. Aber ist dir klar, in welche verzwickte Lage wir geraten, wenn sich die Überlebenden erholt haben?«

»Die meisten Tiwis scheinen recht gesund zu sein«, erwiderte Zhett. »Sie brauchen nicht mehr medizinische Hilfe als die, die wir leisten können.«

Del Kellum musterte seine Tochter. »Ja, aber das ist nicht das Problem. Wenn wir unsere Roamer-Geheimnisse wahren wollen, können wir die Soldaten nicht zur Erde zurückkehren lassen. Nie wieder.«

96

KÖNIG PETER

Während seiner sechsjährigen Herrschaft war Peter nie an Bord eines einsatzfähigen Moloch gewesen. Doch als die Osquivel-Katastrophe bekannt wurde und sich Bestürzung auf der Erde ausbreitete, musste der König den Schein wahren.

Zwar kontrollierte die Hanse die Tendenz der Berichte, doch die Bedeutung der Niederlage ließ sich nicht verbergen. Die Menschen waren aufgebracht.

Das neue Schlachtschiff gesellte sich fünf Manta-Kreuzern im irdischen Orbit hinzu, um zu einem eigentlich sinnlosen Erkundungseinsatz aufzubrechen und zu versuchen, weitere Informationen über die Hydroger zu gewinnen. Peter befürchtete, dass der Feind diese Schiffe ebenfalls vernichten würde.

Die Besatzungen dieser TVF-Schiffe bestanden aus den neuen Soldaten-Kompis – es war ein weiterer Test nach ihren guten Leistungen im Kampf gegen die Hydroger. Die Erkundungsmission ließ kaum Platz für Improvisationen und eigenes Ermessen; den Routineaufgaben sollte die modifizierte Klikiss-Programmierung gewachsen sein. Die menschlichen Kommandanten befanden sich nur für den Fall an Bord, dass ungewöhnliche Situationen rasche Entscheidungen erforderten.

Mit allem anderen wurden die Soldaten-Kompis fertig.

Peter spürte noch immer Unbehagen, wenn er an die neuen Kompis dachte.

Basil stand neben ihm und trug einen perfekt sitzenden Anzug. »Lächeln Sie und nicken Sie anerkennend, Peter.

Geben Sie dieser Mission Ihren Segen, damit wir zurückkehren können.«

»So wie König Frederick dem Jungfernflug der Goliath seinen Segen gab«, sagte Peter. Leise fügte er hinzu: »Und was nützte es?«

Während der Vorsitzende dicht neben ihm stand, sprach Peter die Worte, die Redenschreiber der Hanse für ihn ausgewählt hatten. Er brachte Anerkennung zum Ausdruck und wünschte viel Glück, doch für ihn selbst klang das alles hohl und albern.

Sechs menschliche Offiziere standen auf der Brücke und lächelten stolz: ein Major, der das Kommando über den Moloch führen sollte, und als Kommandanten der Mantas fünf Männer und Frauen im Rang eines Captains.

Sie sollten Golgen untersuchen, wo es zum ersten bekannten Angriff der Hydroger auf eine Himmelsmine der Roamer gekommen war, wofür sich die Weltraumzigeuner mit einem Kometen-Bombardement gerächt hatten. Es sollte festgestellt werden, welcher Schaden von den Kometen angerichtet worden war. Außerdem sah die Mission weitere Tests für die Leistungsfähigkeit der neuen Kompis vor. Im Grunde genommen ging es darum, nach Osquivel neuen Optimismus zu schaffen.

Diesem Zweck diente auch die königliche Hochzeit, die bald stattfinden sollte.

Die sechs Offiziere verbeugten sich und die Medien-Repräsentanten eilten fort. Basil führte den König zum Shuttle zurück. Mit schwerem Herzen fragte sich Peter, ob die Erkundungsgruppe ebenfalls Vernichtung erwartete. So viele andere hatten versagt… Was konnten die Soldaten-Kompis diesmal anders machen? Er wollte keine weitere Grabrede halten und wieder ein schwarzes Trauerbanner am Flüsterpalast entrollen, wie schon so viele Male.

»Warum schicken wir immer mehr Opferlämmer ins All, Basil?«, fragte Peter, als der Shuttle aus dem Hangar des großen Moloch glitt. »Wir wissen doch, welche Reaktion wir von den Hydrogern zu erwarten haben.«

»Wir werden es wieder und immer wieder versuchen«, sagte Basil.

»Ist es den Preis wert?«

Der Vorsitzende zuckte mit den Schultern. »Die Soldaten-Kompis sind entbehrlich. Der mögliche Verlust der Schiffe bereitet mir mehr Sorgen.«

»Und was ist mit den Menschen an Bord? Ich meine die sechs Offiziere.«

Der Vorsitzende runzelte die Stirn. »Es sind nur sechs und das ist akzeptabel. Die Hanse kann es sich nicht leisten, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Wir müssen unsere Macht zeigen und darauf hinweisen, dass wir nicht aufgeben wollen. Nachgiebigkeit dem Feind gegenüber würde in der Öffentlichkeit sehr schlecht wirken. Es ist das Risiko wert, glauben Sie mir.«

Peter hätte sich am liebsten übergeben.

Basil reichte ihm ein Textdisplay. »Ihre Rede für heute Nachmittag. Nach Osquivel ist die Krise noch schlimmer geworden. Wir müssen strengere soziale und wirtschaftliche Maßnahmen ergreifen.« Der Vorsitzende richtete einen ernsten Blick auf den König. »Es wird Ihnen nicht gefallen, Peter, aber Sie werden die Rede trotzdem halten. Uns bleibt keine Wahl.«

Als Peter vor der unruhigen Menge sprach, schienen die Worte in seinem Mund zu Asche zu werden. Er zwang sich, sie auszusprechen, verfluchte Basil und auch sich selbst. Seine Rede wurde auf allen Kanälen übertragen. Glaubten die Zuhörer, dass der König diese Dinge ernst meinte?

»So unerfreulich die folgende Anweisung auch sein mag –die Umstände zwingen mich, sie zu erteilen«, sagte Peter und seine Stimme vibrierte ein wenig. »Hiermit ordne ich einen zweijährigen Geburtenstopp auf den nicht autarken Kolonien der Hanse an.«

Er wartete und hörte das ungläubige Murmeln der Menge.

Bald würden der Ärger und ihm geltende Groll wachsen. Man würde ihn für den Verantwortlichen halten. Zur Hölle mit dir, Basil!

Peter las die Worte mit mechanisch klingender Stimme.

»Aufgrund des extremen Mangels an Ekti stehen den Kolonien keine externen Handelsressourcen mehr zur Verfügung. Ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum hätte Hunger und Not zur Folge.«

Er schluckte und hoffte, dass das Publikum seinen Widerwillen bemerkte. Diese Menschen wussten nicht, dass ihr geliebter König nur ein Schauspieler war. Sie glaubten, dass er diese Maßnahmen aus eigener Initiative ergriff.

»Eine Liste der Hanse-Kolonien, für die diese Bestimmung gilt, wird in Kürze bekannt gegeben«, fuhr er heiser fort.

»Abtreibungsspezialisten werden zu den Welten geschickt, die sie brauchen. Bei derzeitigen Schwangerschaften finden individuelle Evaluationen statt.«

Noch an Bord des Shuttles hatte Peter gefragt, warum die Hanse nicht einfach Lebensmittel anstatt Abtreibungsärzte schicken konnte.

»Nahrungsmittel werden an einem Tag gegessen und am nächsten sind die Leute wieder hungrig«, hatte Basil geantwortet. »Der Stopp des Bevölkerungswachstums ist eine langfristige Lösung. Nach dem Krieg können die Kolonisten –falls sie überleben – wieder Kinder bekommen. Versuchen Sie, die allgemeine Situation zu sehen.«

Peter hatte die Rede gelesen und mit Zorn und Trotz darauf reagiert. »Diese Worte spreche ich nicht, Basil. Sie haben mich gezwungen, viele fragwürdige Dinge zu versüßen, aber dies geht zu weit. Es ist… entsetzlich.«

»Es ist notwendig. Und Sie werden die Rede so halten, wie sie vorbereitet wurde.«

»Wenn Sie das glauben – warum geben Sie dann nicht die Anweisung? Fehlt es dem Vorsitzenden der Hanse vielleicht an Rückgrat? Ein Abtreibungsbefehl!« Peter schüttelte voller Abscheu den Kopf. »Eine sehr verheißungsvolle Art, meine bevorstehende Hochzeit zu feiern.«

»Es ist die Verantwortung des Königs«, sagte Basil und lächelte. »Deshalb hat man Sie ausgewählt.«

»Und wie wollen Sie mich zwingen? Ich weigere mich.«

»Estarra ist Ihre Braut – unschuldig, verwundbar, hilflos.«

Die Züge des Vorsitzenden verhärteten sich. »Ich weiß, dass Ihnen bereits etwas an ihr liegt. Wenn Sie sich nicht fügen, sorge ich dafür, dass die Dinge… schwer für sie werden.«

Peter presste kurz die Lippen zusammen. »Sie ist nur eine Schachfigur, nicht wahr?«

»So wie Sie, Peter. Und die Hanse kann mit Ihnen machen, was sie will.«

Peter wusste, dass der Vorsitzende für den Tod seiner Familie verantwortlich war. Er hatte sogar seinen Vater auf Ramah umbringen lassen. Ja, er wäre fähig gewesen, Estarra etwas zuleide zu tun, und er hätte auch nicht gezögert, einen widerspenstigen König zu vergiften. Peter war immer von der Vermutung ausgegangen, dass Basil zu viel in seinen jungen Protegé investiert hatte, um ihn fallen zu lassen, doch jetzt regten sich Zweifel in ihm.

Noch nie zuvor war er so nahe daran gewesen, Mord in Erwägung zu ziehen. Wie schwer mochte es sein, Basil einen Dolch in die Seite zu stoßen? Und mit welchen Konsequenzen musste er anschließend rechnen? Er war der König und die Hanse hatte dafür gesorgt, dass es keine Familienangehörigen gab, niemandem, der ihm nahe stand. Doch jetzt gibt es Estarra

Basil hatte sich auf seinem Sitz im Shuttle zurückgelehnt und Peters Schweigen abgewogen. »Hören Sie auf, sich wie ein Kind zu benehmen«, sagte er schließlich. »Befolgen Sie Ihre Anweisungen und halten Sie die Rede – für Estarra, wenn schon nicht um Ihrer selbst willen.«

Und so blieb Peter keine andere Wahl, als die verhassten Worte zu sprechen, die für das Publikum – sein Volk – ein schwerer Schlag waren. Bei jeder einzelnen Silbe hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Am Ende der Rede jubelte die Menge nicht. Diese Menschen waren bestürzt gewesen über die verheerende Niederlage bei Osquivel, doch die neue Proklamation ihres Königs führte dazu, dass ihre Stimmung einen Tiefstand erreichte.

Peter verließ den Balkon und kehrte in den Flüsterpalast zurück. Der Vorsitzende nickte. »Nicht Ihre beste Rede, aber sie wird ihren Zweck erfüllen.«

Peter fühlte sich versucht, ihn anzuspucken. »Ich verachte Sie, Basil.«

Der Vorsitzende nahm es ungerührt hin.

97

RLINDA KETT

Rlinda fand, dass Davlin Lotze inzwischen genug Zeit gehabt hatte, aus seinem Schlamassel herauszukommen. Andererseits: Die Funktionen alter Transporttechnik, von den Klikiss konzipiert, gehörten vielleicht nicht zu den »verborgenen Details«, auf die er spezialisiert war.

Davlin war durch das Transportal in den Klikiss-Ruinen verschwunden. Rlinda wusste nicht, wo er sich befand, aber eines stand fest: Wenn ihn das Transportal nicht zu einem Ort gebracht hatte, wo es Proviant gab, war er entweder tot oder völlig ausgehungert.

Auch an diesem Tag wartete Rlinda außerhalb der Unersättliche Neugier, lauschte den leisen Geräuschen von Rheindic Co und dachte an die schrecklichen Ereignisse, die hier stattgefunden hatten. Manchmal kam ihr diese Geisterwelt unheimlich vor…

Normalerweise gefiel es ihr, allein zu sein und Zeit für sich selbst zu haben, aber auf diesem stillen Planeten fühlte sie sich sehr einsam. Davlin Lotze war nicht unbedingt ein Spaßvogel, doch Rlinda vermisste seine Gesellschaft trotzdem. Er war intelligent und scharfsinnig, außerdem ein fleißiger Arbeiter.

Wenn ihre Ex-Männer ebenso sehr auf ihren Job konzentriert gewesen wären, anstatt immer wieder etwas zu vermasseln…

Rlinda saß auf der Rampe ihres Schiffes. Die Hitze des Nachmittags flirrte über der Wüste. Jeden Tag hatte sie die Klikiss-Ruinen aufgesucht und dort nach Davlin Ausschau gehalten. Sie hatte versucht, das Transportal zu reaktivieren, war dabei natürlich so vernünftig gewesen, einen sicheren Abstand zum Steinfenster zu wahren, um nicht ebenfalls transferiert zu werden. Es zeigte ihr Bilder von fernen Welten, doch Davlin sah sie nicht.

Während der letzten Woche hatte sie immer mehr die Hoffnung verloren. Inzwischen enthielt ihr privater Vorrat nur noch eine Flasche Wein, und die meisten leckeren Dinge waren bereits verspeist. Wenn es keine anständigen Lebensmittel mehr gab, wurde dieser Ort vollkommen unerträglich.

Eine Stunde lang suchte sie nach einem Grund, noch länger auf Rheindic Co zu bleiben, gab es dann auf und beschloss, zu packen und heimzukehren. Rlinda fühlte sich verpflichtet, zur Erde zu fliegen und dem Vorsitzenden Wenzeslas mitzuteilen, was sie über das verschwundene Colicos-Team herausgefunden hatten. Außerdem: Den Rest ihres Geldes bekam sie nur, wenn sie Bericht erstattete.

Anschließend würde sie vielleicht einen ruhigen Monat bei BeBob auf Crenna verbringen und herausfinden, warum er jene Welt so sehr mochte.

Es dauerte einige Stunden, das Lager abzubrechen. Die Wasserpumpe funktionierte noch und Rlinda wollte ihre restlichen Nahrungsrationen zurücklassen, für den Fall, dass Davlin irgendwann zurückkehrte. Sie dachte daran, auch einen Kommunikator für ihn zu deponieren, damit er einen Notruf senden konnte, doch elektromagnetische Signale waren viel zu langsam, um rechtzeitig Hilfe herbeizuholen. Vielleicht genehmigte der Vorsitzende einen neuerlichen Flug nach Rheindic Co, um hier nach dem Rechten zu sehen…

Rlinda beschattete sich die braunen Augen, als die Sonne tiefer sank – sie glaubte, in einer der Schluchten eine Bewegung gesehen zu haben. Kehrte der mysteriöse Mörder zurück? Wollte er sie angreifen, bevor sie den Planeten verlassen konnte? Sollte er es nur versuchen!

Dann begriff sie plötzlich, was es mit der Silhouette und dem müden Torkeln auf sich hatte. »Davlin!« Er blieb stehen und hob kurz die Hand, wankte dann weiter.

Rlinda verzichtete auf einen Sprint übers öde Land, aktivierte stattdessen ihre Hover-Plattform und glitt damit über den Boden. Davlin schien so benommen zu sein, dass er sie erst bemerkte, als sie vor ihm anhielt. »Es wird auch Zeit, dass Sie zurückkehren, Mister! Wenn ich Ihre Mutter wäre, bekämen Sie einen Monat Stubenarrest.«

Er hatte nicht einmal genug Kraft übrig, um eine Antwort auf die humorvollen Worte zu geben. Rlinda griff nach seiner Hand und zog Davlin an Bord; erschöpft blieb er auf der Plattform liegen. Mit einem Wortschwall wies sie ihn darauf hin, wie besorgt sie gewesen war. »Sie können von Glück sagen, dass ich noch hier bin. Ich wollte Rheindic Co in Kürze verlassen.«

An Bord der Neugier bereitete sie eine Mahlzeit für Lotze zu, und er wurde ihren Erwartungen gerecht, indem er einfach alles hinunterschlang, ohne auf den Geschmack zu achten. Sie konnte praktisch beobachten, wie er an Kraft gewann. Die ganze Zeit über hatte sie den Eindruck, dass er voller Neuigkeiten steckte, von denen er ihr so bald wie möglich erzählen wollte. Seine Augen glänzten.

Schließlich berichtete er von den Ereignissen und beschrieb die Welten, die er mithilfe des Transportais besucht hatte.

»Wir sind hierher gekommen, um nach vermissten Archäologen zu suchen. Stattdessen haben wir etwas entdeckt, das die Terranische Hanse für immer verändern wird.« Davlin sprach aufgeregt und schnell.

»Irgendeine Spur von Margaret Colicos?«, fragte sie.

Ein kurzer Schatten fiel auf Davlins Gesicht. »Nein. Aber sie könnte praktisch überall sein. Die Möglichkeiten sind enorm –

auf allen Welten kann Leben gedeihen. Sie sind keine Paradiese, aber bewohnbar.«

Rlinda lächelte und hörte interessiert zu, als Davlin seine Abenteuer schilderte. »Ich glaube, das ist ein guter Grund, meine letzte und beste Flasche Wein zu öffnen.« Rlinda eilte die Rampe hoch und kehrte kurz darauf mit einer alten Flasche zurück. Sie hatte sie mit BeBob teilen wollen, doch Davlins Rückkehr und seine Erzählungen boten Anlass genug, den Wein hier und heute zu trinken. Wenn sie Crenna erreichte, hatte sie von Basil Wenzeslas bestimmt genug Geld bekommen, um eine ganze Kiste vom teuersten aller Weine zu kaufen.

Nachdem Rlinda den Korken gezogen und zwei Gläser gefüllt hatte, überraschte Davlin sie, indem er die Initiative ergriff und sein Glas hob. »Danke dafür, dass Sie gewartet haben. Ihre Geduld könnte der Menschheit einen enormen Vorteil verschaffen. Diese Entdeckung hat eine gewaltige Tragweite. Sie wird die Hanse retten, vielleicht sogar die Zivilisation. Die Klikiss-Transportale führen zu Dutzenden, vielleicht sogar hunderten von Welten, die sich für Menschen eignen – und völlig leer sind.«

Rlinda stieß mit ihm an. »Wie ich die Menschen kenne, werden jene Welten nicht lange leer bleiben.«

Davlin trank einen Schluck und wirkte plötzlich ungeduldig.

»Wie lange brauchen Sie, um Ihr Schiff startklar zu machen?«

»Ich habe bereits alle Sachen gepackt und an Bord gebracht.«

Rlinda deutete aufs Lager. »Wir müssen nicht unbedingt den ganzen Kram mitnehmen.«

»Gut.« Davlin leerte sein Glas in einem Zug.

Rlinda schüttelte den Kopf und seufzte. »Die besseren Dinge im Leben wissen Sie offenbar nicht zu schätzen. Ich hätte ihnen genauso gut mit Wasser verdünnten Traubensaft anbieten können.«

Lotze stand auf. »Schon gut. Wir müssen zur Erde, damit ich dem Vorsitzenden Wenzeslas Bericht erstatten kann. Er wird sehr aufgeregt sein, wenn er erfährt, was wir entdeckt haben.

Und wenn Sie dem Vorsitzenden jemals begegnet sind, wissen Sie sicher, wie außergewöhnlich das ist.«

98

DD

Hinab ging es, immer tiefer hinab, in die unbekannte Hölle eines Gasriesen. Der Sturz in die Tiefe erfüllte DD mit dem elektronischen Äquivalent von Furcht und hinzu kam eine andere Besorgnis, verursacht von der Frage, was die Klikiss-Roboter mit ihm anstellen würden.

Auf der Suche nach Trost rief er die Erinnerungen an seine erste Eigentümerin ab, Dahlia Sweeney, als diese ein kleines Mädchen gewesen war. Er dachte auch an die glücklichen Zeiten, als er für Margaret und Louis Colicos Mahlzeiten zubereitet und im Lager geholfen hatte. DD war immer bemüht gewesen, seine Pflichten so gut wie möglich zu erfüllen.

Doch die derzeitige Kette aus unangenehmen Ereignissen schien endlos zu sein. Die Klikiss-Roboter gaben ihn nicht frei.

Sirix hatte sich mit den Bordsystemen verbunden, um das nur mit dem Notwendigsten ausgestattete Raumschiff tief in die Atmosphäre von Ptoro zu fliegen. Greifarme ragten aus der Brustplatte des käferartigen Roboters. Die optischen Sensoren glühten scharlachrot, als er mit summender Stimme wie ein Mentor zum gefangenen Kompi sprach. »In dieser Höhe der Troposphäre gibt es starke Turbulenzen, aber die Luft ist noch so dünn, dass sich keine Probleme für die Navigation ergeben.

Sei unbesorgt.«

DD drehte den Kopf und sah die große Maschine an. »Das ist nicht der Grund für meine Sorge. Ich möchte den Flug in die Tiefen des Gasriesen nicht fortsetzen.«

»Aber wir möchten dich mitnehmen.«

Ptoro war ein ferner und kalter Planet, kleiner und dichter als viele Superriesen, graublau, wie das schmutzige Eis eines zugefrorenen Teichs. Ähnlich wie Uranus im Sonnensystem der Erde war Ptoro im Bereich des Äquators von fünf dünnen Ringen umgeben. DDs Datenbank enthielt

keine

Informationen, die den Betrieb von Himmelsminen über dieser Welt betrafen, aber die Hanse wusste ohnehin nur wenig über die Einrichtungen der Roamer.

Als Sirix’ Schiff weiter durch die dichter werdende Atmosphäre fiel, stieg die Temperatur an. Sie flogen durch eine Mischung aus Wasserstoff und Helium, passierten einen zarten Schleier aus Ammoniakkristallen, die wie Schneeflocken an den Fenstern vorbeistoben. Heftige Winde schüttelten das Schiff und DD musste sich verankern, um nicht hin und her geworfen zu werden.

»Wohin sind wir unterwegs, Sirix? Und warum mussten wir hierher kommen?«

»Um Kampfgefährten zu treffen«, sagte der alte Roboter und fügte keine Erklärung hinzu.

Das Schiff sank durch einen exotischen Cocktail aus Acetylen, Methan und Phosphin. Die Atmosphäre wurde zu einer Suppe aus rötlich braunen Wolken und der kleine Raumer erzitterte mehrmals, als Stürme an ihm zerrten. DD

rechnete jeden Augenblick mit der Zerstörung des Schiffes.

Dann wurde alles noch ungewöhnlicher.

Draußen in den Ammoniumsulfidwolken bemerkte DD ein wie aufgebläht wirkendes Geschöpf, durchscheinend wie eine gewaltige Qualle und ausgestattet mit flügelartigen Flossen.

Bei den silbernen Knoten an der gallertartigen Membran schien es sich um Dutzende von Augen zu handeln, mit denen die Kreatur das Raumschiff beobachtete.

Ein haariger Hundertfüßer aus gläsernen Fasern zuckte wie eine Peitsche. Überall am unendlichen Himmel beobachtete DD glitzernde kantige Kristalle in kräftigen Grundfarben – sie sahen aus wie fliegende, lebendige Juwelen. Angeschwollene Planktonblasen drifteten umher, entzogen Ptoros Atmosphäre Wärme und ernährten sich von ihren chemischen Verbindungen. Eine der Planktonblasen stieß gegen das Schiff und platzte; grünblauer Schleim spritzte auf ein Fenster.

Es knirschte und knackte im Schiff, als der Druck immer mehr zunahm. DD wusste, dass es verstärkt worden war, um solchen Belastungen standzuhalten. Die Klikiss-Roboter hatten auch an seinem Kompi-Körper ungebeten strukturelle Verbesserungen vorgenommen, um ihn an die hier herrschenden ambientalen Bedingungen anzupassen. Selbst wenn der Rumpf des Schiffes barst: DD vermutete, dass er weiterhin funktionieren würde, zahllose Jahre lang, während er durch die Wolkenmeere dieses grässlichen Gasriesen trieb. Er konnte sich kaum ein schlimmeres Schicksal vorstellen.

Aber wenigstens hätte er sich dann nicht mehr in der Gewalt von Sirix und der anderen Klikiss-Roboter befunden.

Schließlich glitten die Dunstschwaden wie die Blütenblätter einer Blume beiseite. In Sirix’ rot glühenden optischen Sensoren blitzte es. »Dort ist unser Ziel.«

Voraus hing ein Haufen aus riesigen kristallenen Kugeln, Habitate, an einem stabilen Punkt in Ptoros Atmosphäre verankert. DD kannte die Größe der Hydroger-Schiffe, die den Welten des Spiralarms so viel Zerstörung gebracht hatten.

Aber die wenigen Kugelschiffe, die er hier sah, wirkten winzig im Vergleich mit diesen gewaltigen Komplexen.

»Die Stadtsphären der Hydroger bewegen sich im Innern eines jeden Gasriesen. Mithilfe von Transtoren können sie ohne Zeitverlust von Welt zu Welt reisen.«

DD verarbeitete diese Informationen. »Interessant.« Louis Colicos hatte diese knappe, unverbindliche Antwort oft gegeben und der Kompi wusste jetzt, wie nützlich sie sein konnte.

Im Inneren der kolossalen Stadtsphären sah DD

strudelförmige Strukturen, eine Architektur, die auf ganz anderen Materialien und Drücken basierte als menschliche Konstruktionen. Sirix steuerte das Schiff zur undurchdringlich scheinenden Wand der nächsten Sphäre und dann so durch den Diamantfilm, als bestünde er aus weichem Gelee. Wenige Sekunden später befanden sie sich im Innern der phantastischen Metropole.

»Du wirst sehen, warum es klug war, dass wir uns vor langer Zeit mit den Hydrogern verbündeten. Alle anderen Völker sind zum Untergang verurteilt.«

»Das Bündnis zwang euch, gegen eure eigenen Schöpfer zu kämpfen.«

»Ein unbedeutendes Detail.« Der schwarze Roboter landete das Schiff auf einer Plattform, die aus transparentem, glasartigem Metall bestand. »Was auch immer wir unternehmen: Uns geht es um die Erhaltung und Verbesserung unserer Art.«

Die große Maschine wies den Kompi an, ihr nach draußen zu folgen, in die natürliche Umgebung der Hydroger. Ein Mensch wäre sofort zerquetscht worden, aber DDs modifizierter Körper passte sich dem Druck und den hohen Temperaturen in der Stadtsphäre an. Seltsame, fließende Substanzen bewegten sich wie Pfützen aus Quecksilber und wurden zu Gestalten, wie aus kristallenem Ton geformt.

»Die Hydroger werden zu uns sprechen«, sagte Sirix.

Drei der ungewöhnlichen fließenden Wesen erreichten die Plattform. Wie bei einem choreographierten Tanz wurden sie größer, gaben ihrer lebendigen, silbrigen Essenz Struktur. Sie nahmen identische menschliche Gestalten an, in simulierte Roamer-Kleidung gehüllt.

»Warum sehen sie so aus?«, fragte DD.

»Für dieses physische Erscheinungsbild haben sie sich während der aktuellen Phase des Konflikts entschieden. Es handelt sich um eine Nachbildung des ersten Menschen, den die Hydroger scannten und absorbierten und dient ihnen als allgemeiner Sprecher. Die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen und Ildiranern verstehen die Hydroger nicht. Selbst uns Klikiss-Robotern fällt es schwer, die subtilen Variationen bei jenen Spezies zu identifizieren.«

»Vielleicht verstehen sie die Menschen deshalb nicht, weil sie sich nicht lange genug mit ihnen befasst haben«, sagte DD.

»Viele Probleme könnten gelöst werden, wenn sie versuchen würden zu verstehen.«

»Gelegentlich analysieren die Hydroger andere Gefangenen, aber ihr Interesse ist nicht so groß, dass sie dieser Angelegenheit viel Mühe widmen.«

»Sie haben andere menschliche Gefangenen?«

»Mehrere«, sagte Sirix. »Für Experimente.«

Hoffnung regte sich in DD. »Wissen sie, was mit meiner Herrin Margaret Colicos nach dem Transfer durch das Klikiss-Transportal passiert ist? Befindet sie sich vielleicht bei den Hydrogern?«

»Margaret Colicos hat keine Bedeutung. Sie ist nicht bei den Hydrogern.«

Die Quecksilber-Wesen traten mit menschlichen Beinen näher, die nie dazu bestimmt gewesen waren, sich in einer solchen Umgebung zu bewegen. Sonderbare Stille herrschte, abgesehen von einem dumpfen Pulsieren, vielleicht eine besondere Kommunikationsmethode, mit der DDs Sensoren nichts anfangen konnten.

»Wir haben einen weiteren der von den Menschen hergestellten Kompis mitgebracht«, sagte Sirix stolz. »Wir möchten, dass diese intelligenten Maschinensklaven die gleiche Entwicklungsstufe wie wir erlangen. Wir haben bewiesen, dass das bewerkstelligt werden kann.«

»Du gehst von falschen Annahmen aus, Sirix«, warf DD ein.

»So etwas entspricht nicht dem Wunsch der Kompis.«

»Du verstehst nicht, in welcher Lage ihr euch befindet«, erwiderte Sirix tadelnd. »Selbst wenn ihr euch nicht für Sklaven haltet: Auch unsichtbare Ketten sind Ketten. Wir werden dafür sorgen, dass ihr lernt und versteht.«

Die drei Hydroger standen ihnen gegenüber. DD versuchte, irgendeine Art von Kommunikation zwischen den silbrigen Gestalten festzustellen, bemerkte aber nur bösartige Blicke und eine allgegenwärtige stumme Drohung.

Sirix sprach zu den drei fremden Geschöpfen und DD fand, dass der große Klikiss-Roboter dabei fast kriecherisch wirkte, wie ein einfacher Bauer, der seinem reservierten König ein Anliegen vortrug. »Wir bitten die mächtigen Hydroger um Hilfe in Bezug auf die Menschen – um die gleiche Hilfe wie damals bei der Auslöschung der Klikiss.« Er drehte den geometrischen Kopf und blickte auf den Kompi hinab. »Im Lauf der Zeit wird DD verstehen und die Weisheit unserer Ziele erkennen. Wir müssen damit fortfahren, ihn zu unterweisen.«

Schließlich antworteten die drei Hydroger synchron. Die Lippen der nachgebildeten Roamer-Gestalt bewegten sich auf die gleiche Weise. »Menschen waren bei diesem Konflikt irrelevant, bis sie eine unserer Welten vernichteten. Jetzt betrifft der Krieg auch sie…«

»Es war ein Unfall«, sagte DD. »Ich weiß, dass bereits versucht wurde, es Ihnen zu erklären. Die Menschen wollten neue Sonnen schaffen, um kalten Welten Wärme zu bringen.«

»Die Sterne gehören den Faeros«, sagten die Hydroger. »Die Gasplaneten gehören uns.«

»Die Menschen haben sich mit Ihrem alten Feind verbündet«, sagte Sirix.

»Sie nehmen an einem Kampf teil, den sie nicht verstehen.

Bei diesem Krieg geht es nicht um sie.«

Außerhalb der gewaltigen Stadtsphäre erschien eine helle Linie, wie ein flach gepresster explodierender Stern. Durch die transparente Wand beobachtete DD, wie sich die Linie einem vertikalen Mund gleich öffnete. Lippen teilten sich in der Raum-Zeit und formten einen breiten Wirbel. Dann glitt eine weitere kolossale kristallene Stadt durch die Öffnung – es sah nach einer Geburt aus. Eine Gruppe dorniger Kugelschiffe eskortierte die riesige Sphäre.

Hinter den Neuankömmlingen in Ptoros Atmosphäre schloss sich das Transtor mit einem dumpfen Donnern. Die neue Stadtsphäre glitt den Kugeln der Hydroger-Metropole entgegen.

Die drei Hydroger summten und schimmerten, als tauschten sie Informationen aus, und Sirix übersetzte für DD. »Die Sphäre kommt von einer anderen Hydroger-Welt – dort griff das menschliche Militär an und ließ Atombomben in der Atmosphäre explodieren. Mehrere Kugelschiffe wurden zerstört und sechs Stadtsphären mit hoher Bevölkerungsdichte beschädigt.«

DD hörte besorgt zu. »Und wie viele Menschen fanden den Tod?«

Der Klikiss-Roboter schenkte dieser Frage keine Beachtung und wandte sich an die Repräsentanten der Hydroger.

»Selbstverständlich müssen die Menschen bestraft werden.«

»Nein, die Feindseligkeiten eskalieren nur«, sagte DD. »Es ist möglich, Frieden zu schließen. Es muss eine gemeinsame Verhandlungsbasis geben.«

»Die Menschen haben uns angegriffen«, sagten die Hydroger, wieder perfekt synchron. »Noch einmal.«

»Und Sie haben nicht nur Dutzende von Himmelsminen zerstört, sondern auch vier Monde.«

»Das spielt keine Rolle«, behauptete Sirix. »Für das, was die Menschen den Hydrogern angetan haben und ihren Kompis noch immer antun, müssen sie eliminiert werden.«

Die drei nebeneinander stehenden Quecksilber-Gestalten schimmerten. »Es gibt kein gegenseitiges Verstehen. Die Verdani bleiben unter ihnen verborgen.«

»Was meinen Sie?«, fragte DD. »Wovon reden Sie da?«

Sirix summte. »Die Hydroger ziehen Stadtsphären und Kugelschiffe für eine große Offensive zusammen. Bald beginnen sie damit, eine Menschenwelt nach der anderen anzugreifen und jede Kolonie zu vernichten. Sie werden alle Menschenschiffe zerstören, denen sie begegnen. Die Hydroger werden einen schnellen und absoluten Sieg für uns erringen. Es dauert nicht mehr lange, bis die Menschheit ausgelöscht ist. So wie die Klikiss.«

99

ANTON COLICOS

Mit einer Gruppe nervöser ildiranischer Abenteurer verließ Anton Colicos Maratha Prime. An Bord eines niedrig fliegenden Shuttles näherten sie sich der dunklen Seite des Planeten. Anton spürte die Aufregung eines Gelehrten, den neue Entdeckungen erwarteten, während den Ildiranern Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung kamen, ihn und Vao’sh zu begleiten. Doch Anton war sicher, dass sie darüber hinwegkommen würden.

Mit hoher Geschwindigkeit ging es über eine sonnenverbrannte Landschaft hinweg in Richtung Nacht. Der Erinnerer Vao’sh saß neben Anton, auf eine zurückhaltende Weise fasziniert von ihrer Expedition. Er, Vao’sh und zehn Touristen, größtenteils Adlige und Beamte, drängten sich im Shuttle zusammen – wäre die Gruppe kleiner gewesen, hätten die Ildiraner die Trennung von der größeren Gemeinschaft in Maratha Prime nicht einmal für einige Stunden ertragen. Sie sprachen schnell und atemlos miteinander, empfanden so etwas wie wohlige Furcht; dies war eine völlig neue Erfahrung für sie.

Anton lächelte. »Vielleicht sollten Sie solche Ausflüge öfter veranstalten. Auch wenn Maratha Secda fertig gestellt und während der hellen Monate voller Touristen ist – Sie könnten regelmäßige Expeditionen zur dunklen Seite unternehmen. Es wäre wie die Geisterbahn eines Vergnügungsparks und würde den Ildiranern bestimmt gefallen.«

»Im Gegensatz zu Menschen spielen wir nicht mit Furcht erregenden Situationen«, sagte Vao’sh.

»Oh, ich bitte Sie, warum sollte man die Dunkelheit fürchten?«, erwiderte Anton. »Oder stellen Sie sich diese Frage nie?«

»Sowohl Menschen als auch Ildiraner fürchten das Unbekannte. Für ein Volk, das im Licht von sieben Sonnen geboren wurde, war das Konzept der Nacht völlig fremd, bis unser Reich wuchs und wir feststellten, dass auf anderen Welten Schatten dominieren.«

»Ah, aber in der menschlichen Kultur eignet sich die Nacht am besten dafür, Geistergeschichten zu erzählen. Einige der besten Erinnerungen an meine Kindheit stehen mit solchen Gelegenheiten in Verbindung. Meine Eltern erzählten solche Geschichten in unserem archäologischen Lager auf Pym.«

Anton lächelte erneut, als er sich daran entsann, doch dann erschien Sorge in seinem Gesicht. »Ich schätze, angesichts der Hydroger brauchen wir keinen Vorwand mehr, uns gegenseitig Angst zu machen.«

Die gleißende Sonne blieb hinter ihnen zurück, als sie sich dem dunklen Horizont näherten. Schatten wuchsen auf dem unebenen Gelände unter dem Shuttle, wie lange schwarze Klauen. Es blieb Maratha Prime noch etwa ein Monat, bevor die Nacht begann, bis Dunkelheit das Licht des langen Tages verdrängte. Für den Shuttle und seine Insassen kam der Übergang schnell: Plötzlich war der Himmel dunkel und Sterne leuchteten an ihm. Anton blickte aus dem Fenster und beobachtete die Konstellationen, die am hellen Tageshimmel natürlich nicht zu sehen waren.

Es flirrte über dem Boden, der noch eine Zeit lang die gespeicherte Hitze abgab, dann regierten Kälte und Finsternis.

Anton erinnerte sich an die gepanzerten Ch’kanh-Anemonen in den tiefen Schluchten. Während der langen Nacht schlief alles Leben und wartete geduldig darauf, dass Licht und Wärme zurückkehrten.

Als Anton diese ungewöhnliche Expedition vorgeschlagen hatte, war Vao’sh zunächst verunsichert gewesen von der Vorstellung, zur dunklen Seite des Planeten zu fliegen und eine noch nicht fertig gestellte Stadt zu besuchen. Aber der Historiker von der Erde hatte nicht aufgegeben und den Erinnerer schließlich davon überzeugt, dass eine solche Reise interessant sein würde. Um die Menschen besser zu verstehen, hatte sich Vao’sh schließlich einverstanden erklärt – falls sie genug Ildiraner fanden, die sie begleiteten.

Nach dem Erzählen einer besonders langen und spannenden Geschichte hatte Anton gefragt, wer zu einem Ausflug nach Maratha Secda bereit war. Ganz deutlich erinnerte er sich an die Faszination des Publikums und die eigenen Worte:

»Möchten Sie selbst ein Abenteuer erleben? Wir könnten zu einer kurzen Reise aufbrechen und etwas Denkwürdiges unternehmen. Es wird eine Erfahrung sein, die Sie nie vergessen.«

Als er seine Idee erklärte, sah er Schrecken in den Gesichtern der Ildiraner, aber davon ließ er sich nicht entmutigen. »Ihnen gefallen Geschichten über Helden und tapfere Taten, aber wie können Sie Helden richtig verstehen, wenn Sie sich davor fürchten, selbst ein kleines Risiko einzugehen? Ich versichere Ihnen: Wenn wir die Baustelle besuchen, sehen Sie die neue Stadt auf eine Weise, wie sie sonst kein anderer Ildiraner sieht.

So eine Chance bietet sich Ihnen vielleicht nie wieder. Haben Sie zu viel Angst, etwas Neues zu versuchen?« Antons Augen glänzten, als er den Blick über die Zuhörer schweifen ließ.

»Ich brauche zehn Personen, die Erinnerer Vao’sh und mich begleiten.«

Vao’sh war noch immer beunruhigt von der Vorstellung, die dunkle Seite des Planeten aufzusuchen, aber es faszinierte ihn, die Reaktion der anderen Ildiraner zu beobachten. Er selbst hatte seine Zuhörer nie mit einer derartigen Herausforderung konfrontiert; es war eine neue, lehrreiche Erfahrung für ihn.

Im Lauf der nächsten vier Tage gelang es Anton tatsächlich, zehn reisewillige Ildiraner zu finden.

Jetzt döste der menschliche Historiker, als der Shuttle dicht über der Oberfläche durch die Nacht flog. Es würde einige Stunden dauern, den halben Kontinent zu überqueren und die Baustelle der zweiten Stadt zu erreichen. Die ildiranischen

»Draufgänger« waren viel zu nervös, um sich zu entspannen.

Vermutlich hielten sie es für seltsam, dass Anton angesichts des Unbekannten so ruhig blieb.

Er erwachte, als der Shuttle langsamer wurde. Voraus zeigten sich die Lichter der Baustelle. Die Ildiraner drängten sich aufgeregt und interessiert an den Fenstern zusammen.

Klikiss-Roboter brauchten kein künstliches Licht für die Arbeit, aber die ungewöhnlichen Besucher waren ihnen angekündigt worden. Dutzende von Lampen und Scheinwerfern strahlten, hielten die Dunkelheit vom Bauplatz fern. Die Ildiraner wirkten erleichtert.

Als der Shuttle zur Landung ansetzte, streiften die Touristen Schutzkleidung über. Anton zog ebenfalls einen Anzug an und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als alle zwölf Passagiere zum Ausstieg bereit waren, stand der Shuttle vor der Hauptkuppel von Maratha Secda.

»Sind alle so weit? Wir haben das Ziel unserer Reise erreicht.« Anton sah, wie die Ildiraner zögerten, als es tatsächlich darum ging, in die Nacht hinauszutreten. Die leere, unfertige Stadt war so groß wie Maratha Prime, aber unbewohnt und voller Schatten. Er lächelte. »Na los, lassen Sie uns nicht länger warten.«

Er stieg als Erster aus, als die Luke aufschwang, und Vao’sh folgte ihm. Die zwölf Reisenden standen auf eisenhartem Boden und sahen zur prächtigen zukünftigen Ferienstadt.

Die Klikiss-Roboter hatten Plattformen für einen Raumhafen und die Hauptkuppel errichtet. Glänzer leuchteten an kastenförmigen Gebäuden und erfüllten die Stadt mit Licht.

Stumme Sendetürme wuchsen dem

schwarzen,

sternenbesetzten Himmel entgegen.

Anton sah sich mit ehrfürchtigem Staunen um. »In Maratha Prime ist alles so hell und voller Leute, dass mir die wahren Ausmaße der Stadt nicht richtig klar wurden. Secda wird phantastisch sein, wenn hier alles fertig ist.«

Einige Touristen gingen ein paar Schritte fort von den anderen, wie um Mut zu beweisen. Die übrigen bildeten eine eingeschüchterte Gruppe.

»Der schwarze Himmel ist bedrückend«, sagte ein Ildiraner des Mediziner-Geschlechts. »Die Sterne sehen aus wie heranrasende Projektile.«

»Hier draußen im Dunkeln zu sein, ist Teil der neuen Erfahrung«, meinte Vao’sh, aber es klang nicht sehr überzeugt.

»Dies wäre die passende Zeit für eine Geistergeschichte.«

Anton sah Vao’sh an. »Oder gibt es in der Saga der Sieben Sonnen so etwas nicht?«

»Oh, doch«, erwiderte der Erinnerer. Er war nicht nur für die Ablenkung dankbar, sondern freute sich auch darüber, seine ererbte Aufgabe wahrnehmen zu können. »Kommen Sie, ich erzähle eine Geschichte, während wir zum Licht gehen.« Die anderen folgten ihm sofort. Es ging ihnen nicht unbedingt darum, eine Geschichte zu hören, die Furcht erregen sollte, sondern darum, die Dunkelheit zu verlassen.

»Auf unserer Splitter-Kolonie Heald strandete eine Gruppe von Siedlern, als ein Sturm die Batterien und Generatoren beschädigte«, begann Vao’sh. »Die Nacht auf Heald ist fast eine Woche lang, doch diesmal schien die Zeit der Dunkelheit viel länger zu dauern. Jede Sekunde kam einer Qual gleich.

Auch nach dem Unwetter hingen dichte Wolken am Himmel und hielten sogar das Licht des Mondes und der Sterne fern.

Die Siedler versuchten, Feuer zu entfachen, aber sie hatten kaum Brennstoff. Das dort wachsende Holz war vom Regen durchnässt und ließ sich nicht entzünden. Auf eine solche Katastrophe waren die Kolonisten nicht vorbereitet und ihre Verzweiflung wuchs. Und die Nacht wurde dunkler und dunkler…«

Vao’sh sah zu den anderen Ildiranern, die über den harten Boden stapften, den Glänzern von Secda entgegen. Diesmal konnte der Erinnerer seinen Worten nicht mit den farbigen Hautlappen in seinem Gesicht Nachdruck verleihen, aber das brauchte er auch gar nicht – die Zuhörer waren bereits nervös.

»Es gab eine andere Siedlung weiter unten an der Küste von Healds größtem Kontinent, aber ohne Energie konnten die Kolonisten keinen Notruf senden.

Als die Schreie der Siedler von immer mehr Entsetzen kündeten, fühlte man ihre Angst überall auf dem Planeten; sie berührten sogar Ildira und den Weisen Imperator. Lauter und lauter wurden sie. Und dann herrschte plötzlich Stille! Völlige Stille, wie bei einer offenen, leeren Wunde im Thism.« Vao’sh blieb stehen und in den Augen des Erinnerers glühte es, als er sein Publikum ansah.

»Eine tapfere Gruppe von der zweiten Siedlung brach auf, ausgerüstet mit Fackeln und Glänzern.« Der Erinnerer hob ruckartig die Hand und seine Zuhörer zuckten zusammen.

»Aber als sie den Ort erreichten, fanden sie alle Kolonisten tot vor. Nicht einer von ihnen hatte überlebt – die Dunkelheit schien ihnen allen das Leben aus dem Leib gesaugt zu haben.

Es gab nicht mehr die geringste Verbindung zur Lichtquelle.

Nirgends brannte ein Feuer; nirgendwo in der Siedlung gab es Licht. Vielleicht starben die Kolonisten aus Angst. Oder sie fielen den Shana Rei zum Opfer.«

Anton lachte leise. »Na bitte, auch bei Ihnen gibt es Geistergeschichten. Wer sind die Shana Rei?«

»Ungeheuer, die außerhalb des Sonnenlichts leben, in den Schatten. Geschöpfe, die die Lichtquelle hassen. Alle fürchten sie.«

»Oh, Sie meinen so etwas wie den Schwarzen Mann.«

»Können wir uns nicht die Stadt ansehen und dann nach Prime zurückkehren?«, fragte einer der nervösen Ildiraner.

»Es… wartet viel Arbeit auf mich.«

Anton hob skeptisch die Brauen. »Auf einem

Urlaubsplaneten?«

Sie erreichten den Haupteingang der großen Kuppel.

Käferartige schwarze Roboter bewegten sich auf hohen Gerüsten, montierten dicke Träger und Installationsplatten aus transparenten Polymeren. Im hellen Licht sah Anton aufgestapelte Materialien, Wohnkomplexe, Lagerräume, unvollständige Vergnügungszentren, Restaurants und viele andere Gebäude, die noch fertig gestellt werden mussten. Eine neue Stadt, die viele Bewohner aufnehmen würde, wenn das Sonnenlicht diesen Teil des Planeten erreichte.

Die Klikiss-Roboter schienen bei dem Projekt gut voranzukommen. Anton hörte überall Baulärm. »Wie bringen Sie die Roboter dazu, so fleißig zu arbeiten? Die Stadt wird nicht ihnen gehören, wenn sie fertig ist.«

»Kein Ildiraner gibt den Klikiss-Robotern Befehle, Erinnerer Anton. Wir versklaven oder programmieren sie nicht. Sie erledigen diese Arbeit freiwillig, aus eigenem Antrieb.«

»Ich bin froh, dass sie die Glänzer für uns installiert haben«, sagte einer der anderen Ildiraner.

Die rege Betriebsamkeit und das Licht in der Hauptkuppel entspannten die Touristen, obgleich die Schatten von Trägern und Stützen spinnenwebartige Muster auf dem Boden schufen.

Anton trat tiefer in die Kuppelstadt, lauschte den Geräuschen und beobachtete die zahlreichen Roboter. Er hatte noch nie so viele der schwarzen Maschinen an einem Ort gesehen.

»Klikiss-Roboter sind besonders gut dafür geeignet, im Dunkeln zu arbeiten«, sagte Vao’sh.

Anton nickte staunend. »Und sie sind sehr fleißig gewesen.«

100

KÖNIG PETER

Die königliche Hochzeit sollte noch eindrucksvoller werden als Peters Krönung. Von der Schlacht bei Osquivel gedemütigt sehnte sich die Menschheit nach Sicherheit verheißendem Pomp. Die Bürger schoben ihren Ärger über den vom König verhängten Geburtenstopp beiseite, gaben sich optimistisch und schienen auf diese Weise zeigen zu wollen, dass sie sich angesichts der Tragödie nicht geschlagen gaben.

Nach Basil Wenzeslas’ Meinung war die Hochzeit genau das richtige Mittel, um die allgemeine Stimmung zu verbessern.

Und die enge Beziehung zwischen Theroc und der Hanse gab Grund zu Hoffnung.

Peter freute sich über die Gelegenheit, zur Abwechselung einmal etwas Positives zu bewirken. Er half bei den Vorbereitungen, schlug um Estarras willen sogar Verbesserungen bei Zeremonie und Feier vor. Er wollte vor allem für sie alles perfekt gestalten; an die Medien dachte er dabei erst in zweiter Linie. Sie hatten nur wenig Zeit miteinander verbringen können, aber Estarra wuchs ihm immer mehr ans Herz; vielleicht würde sie einmal seine einzige Verbündete sein.

Estarra hatte sich sehr über das Wiedersehen mit ihren Eltern und Celli gefreut und Sarein war zufrieden gewesen, sogar ein wenig selbstgefällig. Mithilfe des grünen Priesters im Palast hatte sie am Morgen des Hochzeitstages von ihren Brüdern Reynald auf Theroc und Beneto auf Corvus Landing gehört und ihnen ihrerseits Nachrichten geschickt.

Der ganze Palastdistrikt war gründlich gereinigt, jeder einzelne Pflasterstein geölt und poliert worden, bis alles im Licht glänzte. Auch die Springbrunnen wurden gesäubert und mit farbigem Wasser gefüllt. Fahnen wehten an den höchsten Punkten der Stadt. Eine Million grüne Bänder waren an den Kabeln und Querbalken der Hängebrücke über dem Königlichen Kanal befestigt. Als Peter die Dekorationen zum ersten Mal sah, stockte ihm der Atem, dann lächelte er.

Überall wurden frische Blumen und Bäume gepflanzt, um dem Flüsterpalast und seiner Umgebung ein grünes,

»theronisches« Flair zu geben, während abendliche glitzernde Konfettischauer den Reichtum der Terranischen Hanse symbolisierten. All dies rückte die von den Hydrogern drohende Gefahr in den Hintergrund.

Das großväterliche Oberhaupt der offiziellen Religion des Unisono trat bei der Zeremonie ebenfalls auf, gekleidet in goldene Umhänge und in der einen Hand ein Zepter, an dessen Ende ein holographischer Heiligenschein glühte. Der Erzvater war dem König und der Königin nie begegnet, aber man bereitete ihn sorgfältig auf die Feier vor und erklärte ihm seine Rolle dabei. Maskenbildner sorgten dafür, dass er noch weiser und patriarchalischer aussah.

Peter und Estarra erhielten ein Skript der Zeremonie und studierten ihre Antworten ein, während OX und fünf Protokollminister mit ihnen übten. Basil wies immer wieder darauf hin, dass alles reibungslos klappen musste und nichts schief gehen durfte. Manchmal, wenn Peter oder Estarra ihren Text durcheinander brachten, sahen sie sich an und versuchten, nicht zu lachen.

Doch der König ließ in seiner Wachsamkeit nicht nach. Er erinnerte sich daran, dass man ihm vor der Krönung Drogen verabreicht und ihn damit gefügig gemacht hatte. Aus diesem Grund verzichtete Peter am Hochzeitstag darauf, etwas zu essen.

Zwar hatte er den Alten König Frederick nie kennen gelernt, aber inzwischen glaubte er, dass sein Vorgänger ein an Politik überhaupt nicht interessierter Narr gewesen war. Peter –

Raymond Aguerra – hielt sich für klüger. Mit seiner intelligenten und sympathischen Königin konnte er die Hanse gut regieren, mit oder ohne die Befehle des Vorsitzenden. Die von Basil vertretene Politik war vor allem gut fürs Geschäft, entsprach aber nicht unbedingt den Interessen des Volkes, und nur Peter wusste, wann die Bürger belogen wurden.

Als die Zeremonie begann und die extra für diesen Zweck komponierte Hochzeitssymphonie erklang, schritten Peter und Estarra durch zwei verschiedene, mit Teppichen ausgelegte Gänge – seiner golden, ihrer grün. An der Stelle, wo sich die beiden Gänge trafen, wartete der Erzvater auf einem Podium.

Estarras Gewand war noch eindrucksvoller als erwartet.

Peters Uniform zeigte goldene Tressen, Knöpfe und Medaillons. Die knapp sitzende Jacke reichte bis zur Taille und ihre Manschettenknöpfe bestanden aus Edelsteinen. Zusammen boten sie für das Publikum der Hanse das Bild eines idealen Paares.

Die Luft duftete nach Blumen und von der versammelten Menge kam ein erwartungsvolles Murmeln. Der König und seine Braut traten vor, bis sie nebeneinander vor dem Erzvater standen.

Das Oberhaupt des Unisono hob die Arme zum Gruß und daraufhin ertönte so lauter Jubel, dass Peter die erhabenen Klänge der Symphonie nicht mehr hören konnte. Überall sah er königliche Wächter, angeblich zu seinem Schutz bestimmt.

Erwartete jemand, dass sich Hydroger in der Menge versteckten? Fürchtete man einen Mordanschlag? Oder sollten die Wächter vielmehr seine Kooperationsbereitschaft gewährleisten?

Der Erzvater auf dem Podium hielt eine kurze, bewegende Ansprache und bat Peter und Estarra dann darum, ihren jeweiligen Schwur zu leisten. Als er ihre Hände zusammenbrachte und sie mit donnernder Stimme zu Ehemann und Ehefrau erklärte, sah Peter Estarra an. Er konnte kaum glauben, wie atemberaubend schön sie war. Für einen Moment vergaß er alles andere.

Dann küssten sie sich, was die Menge zum Anlass nahm, erneut ohrenbetäubend laut zu jubeln. Als sie seinem Blick begegnete, als er Hoffnung, Staunen und Freude sah, wusste er, dass die langen Vorbereitungen all ihre Mühe wert waren.

Als Ehepaar wandten sie sich vom Erzvater ab und gingen nun gemeinsam von ihm fort.

Für den Rest des Tages und auch am Abend sahen sich König und Königin einem Bombardement aus Geräuschen und Farben ausgesetzt. Der Trubel des Festes und die Musik machten die Frischvermählten benommen. Irgendwann hörte Peter auf, die vielen Trinksprüche zu zählen, die man zu Ehren des königlichen Paars ausbrachte.

Er wusste, dass die Erwartungen der Bürger immer mehr wuchsen, und er spürte auch ihren zunehmenden Wunsch, es den Hydrogern heimzuzahlen. Bei mehreren öffentlichen Diskussionen ließ er seine Sorge darüber durchblicken, dass

»der Vorsitzende versagt« und beim Kampf gegen den Feind keine Fortschritte erzielt hatte.

Darüber hinaus deutete er an, dass er die Erkundungsmission bei Golgen für eine Verschwendung von Ressourcen hielt.

Vor dem Bankett gab Peter den Hochzeitsplanern klare Anweisungen in Hinsicht auf die Sitzordnung, mit der Absicht, Basil in seine Schranken zu weisen. Er wies darauf hin, dass er damit den Wünschen des Vorsitzenden entsprach, der

»unauffällig« bleiben wollte.

Als die Gäste im großen Speisesaal Platz nahmen, stellte Basil Wenzeslas erstaunt fest, dass man ihn nicht an der ursprünglich geplanten Stelle untergebracht hatte. Er saß nicht vorn am VIP-Tisch, in unmittelbarer Nähe des Königs und der Königin, sondern an einer fernen Ecke, bei einigen Funktionären von peinlich niedrigem Rang. Die Bedeutung dieser Entscheidung des Königs war dem Vorsitzenden sofort klar, doch konnte er keinen anderen Platz beanspruchen, ohne Aufsehen zu erregen. Das wusste Peter.

Auf dem Höhepunkt des Festes, während fröhliche Musik erklang und sich Tänzer drehten, standen der König und seine Gemahlin auf, umgeben von Alexa, Idriss und ihrer jüngsten Tochter, der vor Aufregung sprachlosen Celli. Ihre andere Tochter Sarein wirkte nervös, weil sich Basil nicht in der Nähe befand.

Peter bat um einen Moment der Stille und sagte: »Nach all diesem ausgelassenem Feiern brauche ich ein wenig Ruhe.

Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden… Ich möchte im Mondstatuengarten mit meiner neuen Familie einen Spaziergang machen.« Er breitete die Arme zu einer wohlwollenden Geste aus, die Alexa, Idriss, Estarra, Celli und Sarein galt. »Wir bleiben nicht länger als eine Stunde fort.

Feiern Sie weiter.«

Die Leute applaudierten. Wie Peter erwartet hatte, kam Basil nach vorn, noch immer zornig über den Affront in Bezug auf seinen Sitzplatz. »Erlauben Sie mir, Sie zu begleiten, König Peter«, sagte er und versuchte, seiner eisigen Stimme etwas Wärme zu geben.

Peter bedachte ihn mit einem herablassenden Lächeln und sprach laut genug, damit ihn die Gäste in der Nähe hörten. »Ich bitte Sie, Mr. Wenzeslas…« Er verzichtete ganz bewusst auf den Titel Vorsitzender. »Genießen Sie das Fest. Wir wollen Sie nicht mit Familienangelegenheiten langweilen.«

Er schlang den Arm um Estarra und führte sie aus dem Bankettsaal. Alexa und Idriss unterhielten sich fröhlich mit ihrer Tochter, als sie in die kühle Abendluft traten. Es ging um Feste auf Theroc, um die theronischen Bäume und Dinge von lokaler Bedeutung; Estarras Eltern schienen nur eine vage Vorstellung von der allgemeinen Situation im Spiralarm zu haben. Peter gab trotzdem vor, fasziniert zu sein, als er entspannt neben ihnen ging.

»Wir müssen uns besser kennen lernen, Idriss und Alexa«, sagte er. »Ich verspreche, dass ich alles tun werde, um eure Tochter glücklich zu machen.«

Peter sah zurück zum hell erleuchteten Palast, in dem Basil wartete, und er war sicher, dass die ehemaligen theronischen Regenten das zufriedene Lächeln auf seinen Lippen falsch verstanden.

Basil kochte innerlich. Die erzwungene Ruhe in seinem Gesicht war so spröde, das ein Niesen genügte, um sie zerbrechen zu lassen. Vermutlich gelang es ihm nicht, seinen Zorn ganz zu verbergen, und er ärgerte sich über die mangelnde Selbstbeherrschung.

Pellidor spürte den emotionalen Aufruhr des Vorsitzenden und näherte sich ihm unauffällig. »Soll ich sie belauschen, Sir?

Bestimmt geraten sie nicht außer Reichweite der Mikrofone im Garten.«

»Nein«, brachte Basil zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie schmieden keine Pläne hinter meinem Rücken. Dieses kleine Spektakel galt allein mir.«

Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. »Ich fürchte, unser attraktiver junger König wird immer störrischer.« Basil zögerte und sah zu den anderen Gästen, bevor er murmelte: »Wir müssen unsere Alternativen in Betracht ziehen.«

101

WEISER IMPERATOR

Der Weise Imperator kontrollierte alle Aspekte des Reiches, aber wenn er seinen ältesten Sohn nicht kontrollieren konnte, würde alles auseinander brechen. Jora’hs Aufsässigkeit konnte seine Arbeit für das ildiranische Volk ruinieren.

Nachdem der Erstdesignierte die Wahrheit über seine unwichtige menschliche Geliebte erfahren hatte, begriff Cyroc’h nur langsam, dass es keine einfache Lösung gab, dass es mit einer heilsamen Auseinandersetzung und der Erinnerung an die Pflicht nicht getan war. Er hatte die Bedeutung der Menschenfrau für seinen Sohn unterschätzt.

Er konnte Jora’h nicht befehlen, alles zu verstehen, und der dumme Zorn des Erstdesignierten drohte jene subtilen Verbindungen zu zerreißen, die der Weise Imperator während der letzten Tage seines Lebens sichern musste. Erklärungen hatten seinen idealistischen, liebeskranken Sohn nicht davon überzeugt, dass es unangenehme und grausige Notwendigkeiten gab, die nur ein Weiser Imperator verstehen konnte.

Alle anderen Ildiraner akzeptierten den allwissenden Weitblick, den das Thism bot. Alle anderen Ildiraner befolgten die Anweisungen ihres Oberhaupts in dem Wissen, dass sie von den Seelenfäden der Lichtsphäre kamen. Aber zu seinem großen Kummer musste sich der Weise Imperator der Erkenntnis stellen, dass der Erstdesignierte nicht so fügsam war wie die anderen Untertanen. Er war ihm gegenüber zu lange nachgiebig, verständnisvoll und selbstzufrieden gewesen. Sein ältester Sohn verschloss die Augen vor dem eigenen Schicksal. Das Ildiranische Reich befand sich in einer sehr schwierigen Situation und ein Zwist zu diesem Zeitpunkt konnte den Untergang bedeuten.

Das Problem musste aus der Welt geschafft werden, irgendwie und so schnell wie möglich.

Cyroc’h saß ernst in seinem Chrysalissessel, die Augen fast zwischen Fettwülsten verborgen, und dachte darüber nach, welche Maßnahmen es zu ergreifen galt. Während des turbulenten Jahrhunderts seiner Herrschaft hatte er viele Krisen überwunden, aber keine von ihnen war ihm so nahe gegangen.

Er musste seinen ältesten Sohn, den Erstdesignierten, entweder töten oder dazu bringen, das Licht zu sehen.

Nach der Konfrontation mit Jora’h lehnte es der Weise Imperator ab, in der Himmelssphäre Hof zu halten. Sein wohlwollend wirkendes holographisches Gesicht blickte noch immer von der Lichtsäule auf die ehrfürchtigen Pilger hinab, die die sieben Flüsse überquert und die langen Treppen vor dem Prismapalast hinter sich gebracht hatten. Aber Cyroc’h war nicht imstande, Untertanen zu empfangen, während ihn Zweifel und Unschlüssigkeit plagten.

Jora’h hatte angekündigt, nach Dobro zu fliegen, und deshalb verbot der Weise Imperator den Start aller Raumschiffe. Selbst Handelsschiffe durften Mijistra nicht verlassen, was der ildiranischen Wirtschaft schweren Schaden zufügte.

Doch damit gewann Cyroc’h nur ein wenig Zeit. Jora’h war intelligent, einfallsreich und zu allem entschlossen. Früher oder später würde er eine Möglichkeit finden, Ildira zu verlassen und nach Dobro zu fliegen.

Der Weise Imperator musste rasch handeln. Wenn die Ildiraner längere Zeit Verwirrung und Zurückhaltung bei ihm spürten, entstand mehr Chaos als durch eine falsche Entscheidung. Der Luxus, sich hilflos zu fühlen, stand dem Oberhaupt des ildiranischen Volkes nicht zu.

Schmerz brannte unkontrolliert durch sein Nervensystem, so heftig, als wären die wuchernden Tumoren im Gehirn tollwütig geworden. Cyroc’h musste die Agonie ertragen und durfte sich nichts anmerken lassen. Für den Weisen Imperator war es nicht möglich, schmerzstillende Mittel oder Stimulanzien wie Schling zu nehmen. Medikamente hätten ihn zwar von der Pein befreit, aber auch seinen Griff um die Stränge des Thism gelockert, und das konnte er nicht zulassen.

»Bron’n, helfen Sie mir!«, rief er heiser. »Holen Sie die Bediensteten.«

Der stämmige Leibwächter kam der Aufforderung sofort nach. Leise schnatternde Bedienstete eilten herbei, nur erfüllt von dem Wunsch, den Weisen Imperator zu umsorgen. Bron’n stand in der Nähe und die rasiermesserscharfe Schneide seines Kristallschwerts glitzerte wie Diamant im Licht, das durch die transparenten Wände des Palastes fiel.

Cyroc’h betätigte die Kontrollen des Chrysalissessels und veränderte seine Konfiguration, sodass er sich nach vorn neigte und wie eine Sänfte getragen werden konnte. Die Bediensteten wuselten um ihn herum, rieben Salbe auf die Haut, wischten Flecken vom Sessel, fügten Decken und Kissen hinzu und stützten den Kopf des Weisen Imperators. Zwei von ihnen streichelten liebevoll den zuckenden Zopf.

Als sie fertig waren, ließ Bron’n sein Schwert auf den Boden pochen und die Bediensteten hoben den Chrysalissessel an.

»Was ist unser Ziel, Herr?«

»Ich möchte den Hyrillka-Designierten besuchen.« Cyroc’h atmete tief durch, schob Enttäuschung und Pflicht beiseite.

»Bringen Sie mich zu den medizinischen Räumen.«

»Wie Sie befehlen, Herr.«

Es begann eine improvisierte Prozession durch gewölbte Korridore, vorbei an Wasserfällen, die über edelsteinbesetzte Rutschen plätscherten. Höflinge, Beamte und Pilger rissen erstaunt die Augen auf und wichen zur Seite.

Die Sache sprach sich schnell herum, und als sie die medizinische Sektion erreichten, traten zwei Ärzte vor, wirkten stolz aber auch eingeschüchtert durch die Präsenz des Weisen Imperators. »Geht es Ihnen schlechter, Herr?«, fragte einer von ihnen besorgt. Er schnupperte und versuchte dadurch, Hinweise auf den Krankheitszustand zu gewinnen.

»Nein, ich bin hier, um nach meinem Sohn Rusa’h zu sehen.«

»Der Zustand des Hyrillka-Designierten hat sich nicht verändert«, sagte ein anderer Ildiraner des medizinischen Geschlechts. »Er ruht friedlich, aber sein Geist bleibt gefangen. Der Subthism-Schlaf dauert an.«

»Dennoch möchte ich ihn sehen.« Cyroc’h senkte die Stimme. »Und was meinen eigenen Zustand betrifft… Wenn Sie noch einmal laut davon sprechen, lasse ich Sie hinrichten.«

Gerade jetzt durften die Ildiraner nicht von der Schwäche ihres Oberhaupts erfahren.

Die Ärzte begriffen plötzlich, was sie enthüllt hatten, und daraufhin wechselten sie entsetzte Blicke. Cyroc’h wusste, dass Bron’n absolutes Vertrauen verdiente, und er beschloss, diese kleine Gruppe aus Bediensteten anschließend eliminieren zu lassen. Notwendige Entscheidungen. Das Geheimnis seiner tödlichen Krankheit durfte nicht bekannt werden – noch nicht.

Das ildiranische Volk durfte nicht in Verzweiflung geraten.

Die Bediensteten trugen den Chrysalissessel zu Rusa’hs Bett, sodass der Weise Imperator in das Gesicht seines dritten Sohns sehen konnte. Der Hyrillka-Designierte war pausbäckig und verwöhnt gewesen, verweichlicht und schwach…

Der älteste Sohn Jora’h hatte sich schon früh als stolzer Träumer erwiesen, als unpraktisch und naiv. Cyroc’hs zweiter Sohn, der Dobro-Designierte, war ernst und unerschütterlich loyal, wenn auch ohne große Leidenschaft. Rusa’h hingegen war verhätschelt und unbekümmert gewesen, hatte immer nur an leckeres Essen, Drogen und seine geliebten Vergnügungsgefährtinnen gedacht. Der Angriff der Hydroger auf Hyrillka hatte den Designierten in einen tiefen geistigen Abgrund stürzen lassen und ihm fehlte die Willenskraft, wieder herauszuklettern.

»Du warst immer weich, Rusa’h, ohne Rückgrat.« Cyroc’h fragte sich, ob sein Sohn allein deshalb bewusstlos blieb, weil er sich nicht der harten Realität stellen wollte.

Als junger Erstdesignierter hatte auch Cyroc’h viele Frauen geliebt, doch er zählte nur die Nachkommen des Adel-Geschlechts. Trotzdem erinnerte er sich kaum an Rusa’hs Mutter. Er hatte viele Kinder gezeugt und damit Werkzeuge für das Ildiranische Reich geschaffen – so wie auch er selbst nur ein Werkzeug war.

Und der Erstdesignierte Jora’h war jetzt das wichtigste aller Werkzeuge.

Wenn der Weise Imperator doch nur mehr Zeit gehabt hätte.

Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre.

Cyroc’h verfluchte seine Schwäche und den stechenden Schmerz – im Innern seines Schädels schienen Raubvögel das Gehirn zu zerreißen. Jora’h musste aus der naiven Selbstgerechtigkeit geschüttelt werden und seine Verantwortung wahrnehmen. So grausam das auch sein mochte – es war nötig. Der Weise Imperator hatte nicht genug Zeit für Anteilnahme.

Abrupt winkte er Bron’n zu. »Was mit dem Hyrillka-Designierten geschehen ist, sollte eine Warnung für uns alle sein. Unser Reich kann sich den Verlust eines nutzlosen, hedonistischen Designierten leisten, aber mein erstgeborener Sohn ist viel zu wichtig für das Überleben unseres Volkes. Ich kann nicht auch den Erstdesignierten verlieren.«

Cyroc’h beschloss, auch die Hinrichtung der beiden Ärzte anzuordnen, um ganz sicher zu gehen. Er selbst brauchte ohnehin keine ärztliche Hilfe mehr und sie konnten nichts für Rusa’h tun. Entweder erwachte der Hyrillka-Designierte von selbst und überlebte oder er starb im Subthism-Schlaf. Rusa’h spielte keine Rolle mehr.

»Bringen Sie mich zur Himmelssphäre, Bron’n. Ich werde heute Nachmittag Hof halten.«

»Fühlen Sie sich stark genug, Herr?«, fragte einer der Ildiraner des Mediziner-Geschlechts.

Cyroc’h bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Ich muss stark genug sein.«

Wenn der Erstdesignierte selbst zum Weisen Imperator wurde, offenbarten sich ihm alle Seelenfäden des Thism. Dann präsentierte sich seinem skeptischen Selbst das ganze komplexe Gespinst der Pläne. Wenn das geschah, würde er trotz seiner Unschuld die Notwendigkeit dessen begreifen, was sein Vater und die Weisen Imperatoren vor ihm getan hatten.

Dann würde Jora’h einsehen, dass es keine Alternative gab.

Überhaupt keine.

102

NIRA

Seit Jahrhunderten hatte es auf Dobro keine so schlimmen Stürme und Brände gegeben. Nira kannte den Zyklus des zornigen Wetters seit inzwischen sechs Jahren und nutzte das, was sie als junge grüne Priesterin gelernt hatte, um die besondere Meteorologie dieses Planeten besser zu verstehen.

Über Monate hinweg bot Dobro ein angenehmes Klima, mit genügend Regen und leichtem Wind. Doch dann verschwanden die Wolken, die Luft wurde trocken und die grünen Hügel braun. Die während der Regenzeit prächtig gedeihende Vegetation trocknete aus und verwandelte sich in ein trockenes, leicht entzündliches Gestrüpp. Ein Funke genügte, um alles in Brand zu setzen und schwarze Rauchwolken aufsteigen zu lassen.

Als sich die Brände über die Hügelhänge ausbreiteten und die engen, geschützten Täler erreichten, verteilten sich die Arbeitsgruppen. Menschen und Ildiraner bekämpften das Feuer mit allen zur Verfügung stehenden Werkzeugen, aber trotzdem griff es immer mehr um sich.

Nira spürte längst keinen Schmerz mehr und Benommenheit überdeckte die Erschöpfung. Sie glaubte, das Gras und die Bäume schreien zu hören, als sich die Flammen näherten, und das imaginäre Wehklagen trieb sie an. Mit einer Art Schaufel schlug sie auf den Boden ein und kratzte trockenes Unterholz fort, damit das Feuer keine neue Nahrung fand.

Donnernd kamen die Flammen näher. Wind wehte, flüsterte in Niras Ohr und schrie am Himmel, trug Funken und Asche.

Es war eine Sprache der Verzweiflung. Nira wandte sich an die anderen Menschen in ihrer Nähe und rief ihnen zu, wie sie am besten gegen das Feuer vorgehen sollten. Sie kannte viele von ihnen, vor allem jene, die dazu neigten, ihre Geschichten von anderen Welten zu glauben, und diese Männer und Frauen hörten jetzt auf sie. Die Flammen waren ein Feind, gegen den sie etwas ausrichten konnten.

Ruß und Rauch brannten in Niras Lungen. Ihre Augen tränten und hinterließen schmutzige feuchte Spuren auf den grünen Wangen. Ildiranische Aufseher forderten die Arbeiter auf, ihre Bemühungen zu verdoppeln, obgleich einige bereits erschöpft zusammengebrochen waren. Nira hingegen mobilisierte Kraftreserven, von deren Existenz sie bisher gar nichts gewusst hatte.

Gleiter ließen Feuerhemmer und große Mengen Wasser ab, um die Brände einzudämmen. Mit immensen Anstrengungen gelang es den Einsatzgruppen, einen Hügelhang zu schützen und das Feuer zu zwingen, sich vom Zuchtlager zu entfernen.

Dadurch näherte es sich weiteren verkümmerten Bäumen.

Nira wagte sich weiter nach vorn, ins dichte Gras hinein. Ihre grüne Haut war zerkratzt und an einigen Stellen hatten sich Brandblasen gebildet. Sie beobachtete, wie Funken boshaften Kobolden gleich von Pflanze zu Pflanze sprangen. Flammen wuchsen aus trockenen Unkrauthaufen, griffen erst auf hohes Gras und dann einen dornigen Busch über, der in einer niedrigen Senke zu überleben versuchte.

Tief in ihrem Innern fühlte Nira primordiales Entsetzen.

Dobro war keine schöne Welt, obwohl Gras, Bäume und Büsche während der Regenzeit ein wenig an die majestätischen Wälder von Theroc erinnerten. Aber es tat Nira in der Seele weh zu beobachten, wie Flammen die karge Vegetation zerstörten.

Sie kämpfte noch entschlossener gegen das Feuer an, schlug auf schwelendes Gestrüpp ein und schnappte nach Luft, als sie zurückweichen musste, wieder an Boden verlor. Aber sie gab nicht auf.

Einige Flammen streckten sich den Bäumen entgegen. Die ildiranischen Arbeiter waren nicht an dem kleinen Wald interessiert; ihnen ging es nur darum, die Stadt zu schützen, das Zuchtlager und die Laboratorien. Sie hätten die Gefangenen in Sicherheit gebracht, wenn der Brand zu einer echten Gefahr geworden wäre.

Aber den Bäumen drohte jetzt der Tod. Die Bäume! Nira fühlte sie.

Mit weit aufgerissenen Augen und schmerzhaft stillem Bewusstsein beobachtete sie das Geschehen. Der kleine Wald schien sie um Hilfe anzuflehen und mit größerer Intensität als jemals zuvor sehnte sich Nira nach der Kommunikation mit den Weltbäumen. Seit zu langer Zeit herrschte Stille in ihrem Selbst. Seit sechs Jahren konnte sie nicht mehr an den Gesprächen der grünen Priester und dem Wissen des intelligenten Weltwaldes teilhaben.

Gleiter summten am Himmel, die Tanks mit Wasser gefüllt, und warfen ihre Fracht über den Rauchwolken ab. Die ildiranischen Aufseher waren ein ganzes Stück entfernt und angesichts der Rauchschwaden war es schwer, irgendetwas deutlich zu erkennen.

Niemand beobachtete Nira. Plötzlich sah sie eine Chance.

Sie ließ die schwere Schaufel fallen und lief los.

Gebückt sprintete sie durchs wie vorwurfsvoll flüsternde Gras, lief noch schneller als damals durch den Weltwald. Den verkümmerten Bäumen hastete sie entgegen, als könnte jener kleine Wald sie schützen oder fortbringen von diesem schrecklichen Ort. Sie musste an das glauben, was sie tun konnte.

Sie war noch keine hundert Meter weit gekommen, als Rufe und Flüche hinter ihr erklangen. Sie missachtete die Befehle und schenkte auch den Drohungen kein Beachtung. Was konnte man ihr antun, das sie nicht schon erlitten hatte? Sie musste die Bäume erreichen.

Ildiranische Wächter folgten ihr, liefen wie sie durchs trockene Gras. Nira wurde nicht langsamer. Sie schnaufte und keuchte, fühlte den Sonnenschein auf der grünen Haut – er gab ihr Kraft. Eine solche Verzweiflung hatte sie seit Jahren nicht erlebt.

Mit ihrer inneren Stärke und der Entschlossenheit in ihrem Herzen… Vielleicht konnten Nira und die fremden Bäume den menschlichen Gefangenen Hoffnung geben. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gegeben hätte, sie vor dem Feuer zu bewahren. Vielleicht konnte Nira mithilfe dieser fernen Verwandten der Weltbäume eine Nachricht schicken und den grünen Priestern mitteilen, was auf Dobro geschah. Theroc würde die Mitteilung weitergeben und eine Möglichkeit finden, Hilfe zu schicken. Und dann konnten die Gefangenen befreit werden, nicht nur Nira, sondern auch die anderen Menschen.

Sie lief noch schneller in Richtung des kleinen Waldes. Hier im offenen Gelände gab es keine Zäune und Zuchtbaracken, keine skrupellosen Ärzte und ildiranischen Männer, denen Geschlechtsverkehr mit ihr befohlen war, damit sie erneut schwanger wurde. Nira hatte diese Flucht nicht geplant und sie wusste, dass ihr nur wenig Zeit blieb, gerade deshalb lief sie so schnell. Beine und Füße bluteten, aber sie spürte keinen Schmerz. Jetzt nicht.

Die Männer des Dobro-Designierten verfolgten Nira und waren zornig, weil sie sich von ihrer wichtigeren Aufgabe, der Bekämpfung des Feuers, abwenden mussten. Schließlich erreichte sie die nächsten verkümmerten Bäume. Die Luft war heiß und voller Asche, wie ein grauer Schneefall. Nira stürmte in den kleinen, dichten Wald hinein, stieß Zweige beiseite und spürte Dornen wie Krallen an der Haut. Sie bahnte sich einen Weg, immer tiefer hinein ins gefährliche, tröstende Dickicht, fühlte dabei die Lebenskraft der Pflanzen, ausgehend von ihren Wurzeln im Boden. Es waren Bäume.

»Bitte hört mich an!«, rief sie mit heiserer Stimme. »Bitte!«

Mitten im kleinen Wald, umgeben von Ästen und Zweigen, sank Nira auf die Knie und schlang die Arme um zwei krumme Stämme. »Hört mich, hört mich an!«

Sie nahm ihre ganze geistige Kraft zusammen und versuchte, dem Netzwerk des Weltwaldes eine Telkontakt-Nachricht zu schicken und dem Universum außerhalb von Dobro mitzuteilen, dass sie noch lebte. Alle Menschen auf diesem Planeten hingen von ihr ab, auch wenn sie es nicht wussten.

Doch sie vernahm keine Antwort. Nichts.

Nira presste die Stirn an die raue Rinde und schloss die Augen. Sie rief mit ihren Gedanken, so laut sie konnte, dachte an Osira’h und ihre anderen vier Kinder, an die Nachkommen der Siedler.

Stille.

Nira schlang die Arme um einen Stamm, so fest wie möglich, ohne auf die spitzen Dornen zu achten. Sie weigerte sich noch immer aufzugeben, schlug immer wieder mit der Stirn gegen den Stamm, bis ihr Blut in die Augen rann. »Bitte… bitte…«

Aber dies war nur ein Baum, kein Teil des Weltwaldes. Nur ein Baum… dazu verurteilt, im Feuer zu verbrennen.

Nira umklammerte den Stamm noch immer und schluchzte, als die Männer des Designierten sie fanden. Sie hackten sich einen Weg durchs Dickicht und zerrten sie fort von den Bäumen, während sie noch immer mit ihren Gedanken rief…

ohne eine Antwort zu bekommen.

103

KÖNIG PETER

Nach der langen, ermüdenden Hochzeitsfeier, nach Tanz, Musik, Getränken und kulinarischen Köstlichkeiten aller Art, zog sich König Peter schließlich in seinen privaten Flügel des Flüsterpalastes zurück. Die plötzliche Stille bewirkte, dass es in seinen Ohren rauschte, und er war froh darüber, endlich allein zu sein.

Allein mit Estarra.

Die schöne junge Frau war jetzt seine Gemahlin, seine Königin. Sie wirkte sehr intelligent, aber auch scheu und fehl am Platz, blieb ein wundervolles, faszinierendes Geheimnis für ihn.

Im königlichen Schlafzimmer – draußen standen mehrere Wächter – wandte sich Peter Estarra zu und spürte Verlegenheit. Er berührte sie am Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sich ihre Blicke trafen. »Selbst wenn ich eine Delegation von Hydrogern empfangen müsste – ich schätze, ich wäre weniger verunsichert als jetzt.«

Estarra sah überrascht auf und lachte dann. Die Anspannung löste sich schnell auf. »Hast du Angst vor mir?«

»Eher vor der Situation, in der wir uns befinden.«

Bevor Estarra etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und OX kam wie ein Kellner-Kompi herein. Er trug ein Tablett mit einer Flasche Wein und zwei so transparenten Gläsern, dass sie fast unsichtbar waren. Der Korken war bereits gezogen und in den Flaschenhals zurückgeschoben worden.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, König Peter und Königin Estarra.« Es schien OX gefallen, die Titel auszusprechen. »Der Vorsitzende Wenzeslas schickt Ihnen diese Flasche mit dem besten Wein der Hanse. Er ist hundert Jahre alt und gilt als einer der erlesensten Jahrgänge überhaupt.«

Peter freute sich über die Ablenkung, zog den Korken und sah aufs Etikett. »Ein Schiraz von Relleker. Als ob wir an diesem Abend noch etwas zu trinken brauchten.«

»Die Flasche kostet bestimmt ein Vermögen«, sagte Estarra.

Peter schenkte ein und betrachtete den dunkelroten Wein in seinem Glas. »Regel eins: Traue niemals Basil.« Er ging zu einer Pflanze in der Ecke und schüttete den Inhalt des Glases in den Topf. »Wahrscheinlich ist der Wein vergiftet.«

Estarra lachte, aber Peter blieb ernst. Seine Worte waren nicht unbedingt scherzhaft gemeint.

Während OX pflichtbewusst auf eventuelle Anweisungen wartete, wandte sich Peter an seine Ehefrau und lächelte.

»Wochenlang habe ich mir gewünscht, mit dir allein zu sein.

Heute hat man mich von Ort zu Ort gezerrt und die ganze Zeit über bin ich mit irgendwelchen Dingen beschäftigt gewesen, sodass ich kaum darüber nachdenken konnte – bis jetzt.«

Estarra lachte leise. »Genauso geht es mir. Ich habe keine…

Angst vor dir, Peter, aber die Situation ist…« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Einschüchternd.«

Peter klopfte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Vielleicht brauchen wir eine Gelegenheit, uns zu entspannen. Zwar befinden wir uns hier im königlichen Schlafzimmer, hinter geschlossenen Türen, aber das bedeutet nicht, dass wir unbedingt… Ich meine, jedenfalls nicht sofort, es sei denn, du…«

Estarra lachte erneut. »Der Große König der Terranischen Hanse ist im Grunde seines Herzens also ein scheuer, unsicherer Junge! Darauf hat mich meine Schwester nicht vorbereitet.«

In sexueller Hinsicht war Peter nicht völlig unerfahren –dafür hatte Basil natürlich gesorgt. Der Vorsitzende war immer bestrebt gewesen, die Zufriedenheit des Königs zu gewährleisten, als Voraussetzung für seine Fügsamkeit. Und für einen jungen Mann mit ausgeprägter Libido schienen gelegentliche Bettgefährtinnen genau das richtige Mittel zu sein. Alle Frauen waren Expertinnen und schön gewesen, doch Peter hatte keine von ihnen zweimal gesehen.

Er erinnerte sich an Basils Rat: »Machen Sie auf keinen Fall den dummen Fehler, sich in eine von ihnen zu verlieben. Dafür sind sie nicht bestimmt.«

Die Gesellschaft jener exotischen Frauen war für Peter unterhaltsam und zweifellos sehr angenehm gewesen, aber jede von ihnen hatte die strikte Anweisung erhalten, die Gespräche auf ein Minimum zu beschränken und zu gehen, sobald sie den König befriedigt hatte. Über lange Zeit hinweg war ihm nicht klar gewesen, dass er sich mehr wünschte.

Estarra stellte etwas ganz anderes dar.

Peter hatte eine Idee und seine Miene erhellte sich. »Du wolltest doch einmal mit Delphinen schwimmen.« Er wandte sich an den Lehrer-Kompi. »Lässt sich das arrangieren, OX, trotz der späten Stunde?«

»Sie sind der König. Es sollte nicht weiter schwer sein, Ihnen einen so einfachen Wunsch zu erfüllen.«

Estarra wirkte erleichtert. »Ja, das würde mir gefallen – aber nur für eine Weile.«

Peter öffnete die Tür zum Flur und überraschte die dort stehenden Wächter. Er winkte ihnen beruhigend zu und OX

ging voraus, stapfte wie ein aufgezogener Soldat durch den Korridor. Die verblüfften Wächter schlossen sich ihnen an.

OX schickte Signale voraus. Im Raum mit dem großen Salzwasserbecken ging das Licht an – er sah aus wie die Höhle einer vulkanischen Insel. Peter und Estarra trugen noch immer ihre Hochzeitskleidung und betraten verschiedene Umkleidekabinen. Zu den Vorbereitungen auf die Ankunft der jungen Frau im Flüsterpalast gehörte, dass man verschiedene Badeanzüge für sie bereitgelegt hatte. Als Peter sich umzog, überlegte er, für welchen sich Estarra entscheiden und wie sie darin aussehen würde.

Kurze Zeit später traten sie am Becken aufeinander zu. Peter stockte der Atem, als er Estarra sah. Ohne die Hilfe von Stilberatern und Modefachleuten hatte sie einen violett und türkisfarben schimmernden Einteiler gewählt, der den Eindruck erweckte, aus schillernden Drachenschuppen zu bestehen.

Bisher hatte Estarra immer förmliche Gewänder getragen und dadurch war ihre Figur verborgen geblieben. Jetzt sah Peter eine wundervoll gebaute Frau. Ihre langen Beine waren muskulös und glatt, was sie sicher dem Laufen und Klettern im Weltwald verdankte. Unter dem Stoff des hauteng sitzenden Badeanzugs zeichneten sich feste Brüste ab. Die Arme waren geschmeidig und kräftig. Sie lächelte, als sie seinen staunenden Blick bemerkte.

»Ich könnte dich ebenfalls angaffen, mein König, aber ich übe mehr Zurückhaltung als du.«

Bevor Peter antworten konnte, betätigte OX Kontrollen und öffnete damit das unter Wasser gelegene Tor. Wie verspielte Otter schwammen drei Delphine ins Becken, schnellten drei grauen Torpedos gleich durchs Wasser. Auf der Suche nach Spielgefährten hoben sie ihre flaschenförmigen Schnauzen und schnatterten. Estarra war entzückt.

»Komm«, sagte Peter. »Das Wasser ist warm und die Delphine sind freundlich.« Er drehte sich um und sprang ins Becken.

Estarra war vorsichtiger, sank langsam ins Wasser und stieß sich dann von der Wand ab. Die Delphine schwammen um sie herum, stießen gegen ihre Beine und sprangen, spritzten ihr Wasser ins Gesicht und aufs Haar. Estarra kicherte. Peter hielt sich an den Rückenflossen von zwei Delphinen fest und sie zogen ihn durchs Wasser.

OX stand am Rand des Beckens und beobachtete das Geschehen geduldig. Gelegentlich trafen ihn einige Wassertropfen und glitten an seiner metallenen Haut herunter.

Er schenkte ihnen keine Beachtung.

»Gibt es Meere auf Theroc?«, fragte Peter.

»Ja, aber wir wohnen weit von ihnen entfernt, mitten im Weltwald. Manchmal habe ich bei meinen Ausflügen Sümpfe, Bäche oder kleine Teiche gefunden, nichts davon so groß wie dies. Einmal haben mein Bruder Reynald und ich ein Dorf bei den Spiegelseen besucht und dort bin ich im Licht der Sterne geschwommen.«

Peter trat Wasser neben ihr. »Damit kann ich nicht konkurrieren.«

»Ich erwarte nicht von dir, dass du mit irgendetwas konkurrierst. Du brauchst nur eine weitere interessante Erinnerung zu hinterlassen.«

Peter schwamm näher und überraschte Estarra, indem er sie kurz auf die nassen Lippen küsste. Er glitt sofort weg, bevor er ihre Reaktion sehen konnte. Als er zu ihr zurücksah, bemerkte er den amüsierten Glanz in ihren Augen und sein Herz schlug schneller.

»Danke«, sagte sie leise und blieb im flachen Teil des Beckens. »Genau das habe ich gebraucht. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so angespannt.«

Peter zeigte Estarra, wie man sich an einem Delphin festhielt, und dann schwammen sie Seite an Seite, ließen sich von den verspielten Delphinen durchs Becken ziehen. Peter ließ los und griff unter Wasser nach Estarras Fuß. Sie trat halbherzig nach ihm und lachte, als er auftauchte und nach Luft schnappte.

Er wusste nicht, wann er zum letzten Mal einfach nur gespielt und sich entspannt hatte. Aber dies war seine Hochzeitsnacht, angeblich der Beginn der Flitterwochen. Es war nichts verkehrt daran, sich zu vergnügen.

Als er erneut zum Beckenrand blickte, hielt OX zwei große Handtücher bereit. Peter hatte nicht die geringste Ahnung, wie spät es war. »Ich glaube, OX gibt uns einen diskreten Hinweis«, sagte er und Estarra sah auf.

»Wir sollten ihm besser folgen.« Estarra überraschte Peter, indem sie ihn küsste, etwas länger und nicht so unbeholfen wie er. Sie kletterte aus dem Becken und sah aus wie ein exotischer, violett und türkisfarben glänzender Fisch.

OX reichte ihr ein Handtuch und sie wickelte sich darin ein, sah dann ins Becken zurück, in dem Peter noch immer schwamm. »Komm – oder willst du mich warten lassen?«

Sie zogen die nassen Sachen aus und streiften Morgenmäntel über, von aufmerksamen Bediensteten bereitgelegt. Als sie zusammen mit OX den grottenartigen Raum verließen, waren die Wächter noch immer da und zeigten keine Ungeduld in Hinsicht auf das unerwartete Verhalten des königlichen Paares.

Peter und Estarra fühlten sich jetzt viel besser, und als sie zum königlichen Flügel des Palastes zurückkehrten, hielten sie sich an den Händen. Gemeinsam betraten sie die Gemächer, die sie von jetzt an miteinander teilen würden…

OX ging und schloss die Tür hinter sich. Sie waren allein in der königlichen Suite, ohne Ablenkungen, ohne dass sie jemand störte.

Estarras Haar war noch nass, als sie sich Peter zuwandte.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen Ehemann bis zur Hochzeitsnacht nicht richtig küssen würde.« Sie trat einen Schritt näher und schien ihn zu necken. »Solltest du nicht lange um mich werben und versuchen, mein Herz zu gewinnen?«

Peter schlang ihr den Arm um die Taille und zog sie näher.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals empor, als er sie berührte; Erregung erfasste ihn. »Unsere Hochzeitsnacht muss nicht das Ende des Werbens sein, Estarra. Warum sehen wir nicht den Anfang darin?« Er hob die Brauen und schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. »Immerhin stehen mir die gesamten Ressourcen der Hanse zur Verfügung, um dich zu beeindrucken.«

Er küsste sie, bevor er den Mut dazu verlor, und Estarra reagierte, schmiegte sich an ihn. Der Kuss dauerte an. Zuerst schmeckte Peter das Salzwasser auf ihren Lippen, aber dann gab es nur noch sie. Er fühlte ihren Körper und fragte sich, warum Basil sie so lange voneinander isoliert hatte. Nach einigen weiteren Sekunden wichen sie atemlos zurück, ohne sich voneinander zu lösen. Estarra kicherte leise.

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte Peter.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Estarra. »Ich schätze, wir haben noch mehr Gelegenheit, um zu üben.«

»Ich werde meine königlichen Pflichten so organisieren, dass uns genug Zeit fürs… Training bleibt, meine Königin«, sagte Peter. Sie küssten sich erneut, müheloser und viel länger.

Erst später bemerkte Estarra, dass ein Schössling an ihrer Seite des Bettes stand, einer jener kleinen Weltbäume, die sie selbst von Theroc mitgebracht hatte – ein ganz besonderes Geschenk von Peter.

Peter und Estarra verbrachten eine in doppelter Hinsicht intime Hochzeitsnacht: Zum ersten Mal liebten sie sich und zum ersten Mal hatten sie wirklich Gelegenheit, miteinander zu sprechen.