Als die wichtigsten Bordsysteme der Burton funktionierten, gab es für Adar Kori’nh keinen Vorwand mehr, die Ausführung seines Befehls noch länger hinauszuzögern. Er suchte das Pilotendeck auf und übernahm selbst die Steuerung des alten Generationenschiffes. Es glitt aus dem kosmischen Trümmerfeld und wandte sich dem heißen Zentrum des Dobro-Systems zu. Kori’nh spürte die Energie im Innern des riesigen Schiffes, das über viele Jahre hinweg Heim hunderter von Menschen gewesen war.

Er stand umgeben von den Erinnerungen der Siedler, die ihr Leben dem Einfallsreichtum des Captains anvertraut hatten.

Der Adar verehrte die legendären Helden seines Volkes und verglich das, was man ihm aufgetragen hatte, mit ihren großen Taten – es schien kaum der Erinnerung wert zu sein. Nur wenige würden von diesen Ereignissen und seiner Beteiligung an ihnen erfahren.

»Der Kurs ist gesetzt, Adar«, sagte ein Techniker. »Die Gravitation erledigt den Rest.«

Kori’nh blickte in die brodelnde Glut von Dobros Sonne.

Hier, so nahe, erweckten die orangefarbenen Eruptionen den Anschein, aus gasförmiger Lava zu bestehen – in jenem Schmelzofen verbrannte alles.

»Verlassen wir die Burton. Teilen Sie der Septa mit, dass wir auf dem Rückweg sind.«

Die muskulösen Ildiraner des Soldaten-Geschlechtes wirkten seltsam fehl am Platz, als sie buntes Spielzeug, Puppen und menschliche Kleidungsstücke zum Hangar brachten. Kori’nh blieb zurück, die letzte Person auf dem Pilotendeck der Burton.

Er sah zu den Kontrollschirmen, zur lodernden Sonne auf den Bildschirmen, und schließlich machte er sich auf den Weg zu seinem Shuttle.

Als sie das Generationenschiff verließen, blickte der Adar aus dem Shuttlefenster und beobachtete, wie das riesige Schiff in Richtung Sonne fiel. Die Protuberanzen schienen sich ihm wie die Klauen eines hungrigen Raubtiers entgegenzustrecken.

Die korrodierte Außenhülle der Burton wurde kirschrot, dann gelb und weiß, als das Schiff in die Chromosphäre stürzte. Es begann zu schmelzen und brach auseinander. Innerhalb weniger Sekunden verbrannten und verdampften die einzelnen Fragmente des Generationenschiffes und zurück blieb…

nichts.

Abgesehen von unauslöschlichen Spuren in Adar Kori’nhs Bewusstsein und seiner Phantasie. Aber er würde nie jemandem davon erzählen.

16

WEISER IMPERATOR

Während der Meditation beobachtete der Weise Imperator Cyroc’h sein Volk durch das mentale Gespinst des Thism, das Netz aus winzige Seelenfäden, die aus der Sphäre der Lichtquelle glänzten. Der Weise Imperator war der Brennpunkt all dieser Fäden und sein Volk vertraute darauf, dass er die richtigen Entscheidungen traf. Er, niemand sonst.

Warmes Tageslicht strömte durch transparente Wände aus saphirblauen und blutroten Kristallen ins Meditationszimmer.

Cyroc’h lehnte sich im Chrysalissessel zurück, die schweren Lider halb gesenkt – er sah sowohl mit dem Geist als auch mit den Augen. Sein Gehirn verfolgte eine Million Details, jedes Teil des Puzzles, jede notwendige Aktion.

Der vor kurzer Zeit von seiner Zerstörungsmission heimgekehrte Adar Kori’nh stand steif und respektvoll; die Medaillen und Auszeichnungen an seiner Uniform waren unübersehbar. Er faltete die Hände vor der geschmückten Brust. »Meine Technikergruppen haben zahlreiche Beispiele der terranischen Technik und auch persönliche Gegenstände sichergestellt. Ich habe Sie Ihnen als Geschenk mitgebracht, Herr. Vielleicht helfen Ihnen diese Objekte dabei, die Menschen besser zu verstehen.«

Cyroc’h verbarg seine Gedanken und lächelte wohlwollend –diesen Gesichtsausdruck zeigte er am liebsten. »Selbst ein Weiser Imperator kann weiter lernen. Danke für die Gelegenheit.«

Die Initiative des Adars erfüllte ihn mit Zufriedenheit, und gleichzeitig enttäuschte sie ihn. Kori’nh hatte nicht verbergen können, dass ihm gewisse Befehle nicht gefielen, aber sein Pflichtbewusstsein war stark ausgeprägt. Er wich seiner Verantwortung nie aus, offenbarte nie ein Anzeichen von Untreue. Der Weise Imperator verlangte bedingungslose Unterstützung und absolute Loyalität, vor allem in der gegenwärtigen Situation. Er musste die richtigen Samen und Gedanken pflanzen.

Als Kori’nh gehen wollte, hob Cyroc’h eine fleischige Hand.

Der Adar drehte sich so schnell um, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Seine Medaillen klirrten. »Ja, Herr?«

Der Zopf des Weisen Imperators zuckte. »Bitte lassen Sie sich von meiner äußeren Ruhe nicht täuschen, Adar. Ich hege viele komplizierte Pläne mit dem Ziel, das Reich zu stärken.

Die meisten davon stehen kurz vor der Verwirklichung. Doch wird die Krise mit jedem verstreichenden Moment ernster.«

»Ich habe gehört, dass man mehrere Kugelschiffe der Hydroger bei Erkundungsflügen durch Sonnensysteme beobachtet hat, Herr. Niemand weiß, wonach sie suchen.«

Es überraschte den Weisen Imperator, dass Kori’nh bereits über diese Informationen verfügte. »Das stimmt, Adar. Ein Kugelschiff scannte Hyrillka, ein anderes wurde bei Comptor gesichtet.«

»Das klingt Besorgnis erregend, Herr. Soll ich einen Manipel aus Schlachtschiffen bei Hyrillka stationieren, um den Designierten zu schützen?«

Der Weise Imperator runzelte die Stirn. »Es kann nicht schaden, Kriegsschiffe zu schicken, aber Qronha 3 hat gezeigt, dass nicht einmal die Solare Marine gegen die Hydroger bestehen kann. Alles hängt davon ab, was unsere Feinde als Nächstes unternehmen.«

Prismatische Schatten glitten durch den Raum, als einige dünne Wolken über den Himmel zogen. Cyroc’h neigte seinen gewichtigen Körper ein wenig zur Seite und versuchte, sich die stärker werdenden Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Wenn der Adar gegangen war, würden Ärzte kommen, um ihn erneut zu untersuchen.

»Mit direkten militärischen Aktionen ist es uns nicht möglich, diesen Krieg zu gewinnen. Wir können nur hoffen, dass die Dobro-Experimente möglichst bald erfolgreich sind.

Der Durchbruch muss noch in dieser Generation erzielt werden. Andernfalls sind wir zum Untergang verurteilt.« Er sah Kori’nh an und lächelte. »Nur mit der Unterstützung meines Volkes und der Entschlossenheit von Ildiranern wie Ihnen können wir überleben.«

Nachdem der Adar den Raum verlassen hatte, wandte sich der Weise Imperator an seinen Leibwächter. »Bron’n, stellen Sie den ganzen Kram sicher, den der irregeleitete Adar von der Burton mitbrachte. Sorgen Sie dafür, dass ihn niemand sonst sieht. Lassen Sie ihn spurlos verschwinden.«

Der Wächter nickte knapp. »Soll ich die Objekte zuerst hierher bringen, damit Sie sie untersuchen können, Herr?«

»Es ist nicht nötig, dass ich mir jene Gegenstände ansehe.

Solche Dinge sind nicht wichtig.«

Bron’n ging – er stellte nie irgendwelche Anweisungen infrage, war immer kompetent. Seufzend lehnte sich Cyroc’h zurück, sodass der bunte Sonnenschein auf seine blasse Haut fiel. Mit uncharakteristischer Wehmut erinnerte er sich daran, als er einfach nur der Erstdesignierte gewesen war und alle wichtigen Entscheidungen seinem Vater überlassen hatte.

Damals hatte er die Vorteile genossen, der erstgeborene adlige Sohn zu sein, potent und gesund, das Haar lang und offen und voller Leben.

Natürlich war ihm damals klar gewesen, dass er eines Tages die schwere Bürde der Pflicht und Verantwortung tragen musste, aber der Tag, der ihn seine Männlichkeit kostete und ihm das Thism brachte, schien weit, weit entfernt zu sein. So empfanden alle Erstdesignierten. Aber schließlich kam jener Tag immer.

Cyroc’h erinnerte sich daran, wie sein Vater, der Weise Imperator Yura’h, vor fast zwei Jahrhunderten die Nachricht vom ersten Kontakt mit den Generationenschiffen der Menschen bekommen hatte. Die Kommandanten der Solaren Marine, Beamte und Ildiraner aus dem Geschlecht der Adligen, hatten über die Bedeutung dieser bisher unbekannten intelligenten Wesen nachgedacht, die unbeholfen zwischen den Sternen unterwegs waren, ohne die Möglichkeit, schneller als das Licht zu fliegen…

Aber das war nicht die einzige Sache. In seinem Gedächtnis bewahrte Cyroc’h auch das Wissen darüber, was die Hydroger vor zehntausend Jahren angestellt hatten, beim letzten titanischen Krieg. Nur Weise Imperatoren trugen dieses Wissen von einer Generation zur nächsten. Die Hydroger hatten nie versucht, andere Völker zu verstehen; sie interessierte nur der kosmische Kampf gegen die Wentals und Verdani und ihr unsicheres Bündnis mit den Faeros. Die an Planeten gebundenen Ildiraner oder die Klikiss blieben ihnen unbegreiflich und der Weise Imperator brauchte dringend eine neue Art von Brücke, einen mächtigen, geschickten Botschafter, der die Grundlagen für ein Bündnis schuf, das die Hydroger verstehen konnten.

Die Idee, den langfristigen, aber bis dahin nicht sehr erfolgreichen Dobro-Zuchtplan durch Menschen zu erweitern, stammte von Yura’h. Nach dem Tod seines Vaters hatte Cyroc’h das Programm fortgesetzt. Und das musste auch Jora’h, ganz gleich, wie sehr er es verabscheuen würde. Ein Erfolg des Projekts war dringend notwendig.

So viele verschiedene Pläne erforderten Aufmerksamkeit, die Hydroger waren zurückgekehrt und das Schicksal des Ildiranischen Reiches stand auf dem Spiel – warum musste ihn sein sterblicher Körper ausgerechnet jetzt im Stich lassen? Die bösartigen Wucherungen in seinem Leib erschienen Cyroc’h wie ein übler kosmischer Scherz. Warum ausgerechnet jetzt?

Er verspürte das Bedürfnis, seinen Zorn den strahlenden Sonnen am ildiranischen Himmel entgegenzuschleudern oder ins Ossarium zu gehen und Lösungen von den glühenden Totenköpfen seiner Ahnen zu verlangen. Doch die benötigte Antwort hätte er dadurch nicht bekommen.

Zwei Ildiraner des Mediziner-Geschlechts kamen herein, versiegelten das Meditationszimmer und wahrten strenge Diskretion. Die Ärzte hatten große Augen und sehr bewegliche, flexible Hände, beide mit einem zusätzlichen Finger. Mit ihren besonders sensiblen Fingerkuppen konnten die beiden Doktoren Veränderungen der Körpertemperatur wahrnehmen. Die Nase war breit, wies große Löcher auf und gab den Ärzten die Möglichkeit, eine Krankheit zu riechen und ihre Ursache festzustellen. Ildiraner des medizinischen Geschlechts waren zu invasiver Chirurgie ebenso imstande wie zu Druckpunktmassage. Sie kannten sich mit Arzneien und Behandlungsmethoden aus und bei einer Diagnose arbeiteten sie immer zusammen.

Die ildiranischen Ärzte trafen Vorbereitungen für einen weiteren Ganzkörperscan, obwohl bereits drei durchgeführt worden waren. Der Weise Imperator sah nur eine Routine darin – er kannte das Ergebnis bereits. Die Thism-

Verbindungen teilten ihm mit, ob die Ärzte logen oder ihre Besorgnis zu verbergen versuchten. Es war der Fluch, zu viel zu wissen.

»Es gibt keinen Zweifel, Herr«, sagte der erste Doktor. »Die Wucherungen breiten sich in Gehirn und Nervensystem aus.

Eine Behandlung ist nicht möglich.«

Cyroc’h bewegte die dicken Arme. Die Beine waren längst nicht mehr fähig, sein Gewicht zu tragen. Er würde nie wieder gehen, während die Tumore in seinem Rückgrat wuchsen.

Schon seit einer ganzen Weile ahnte er die Wahrheit und verfluchte sein Schicksal. Die eigene Sterblichkeit fürchtete er nicht, denn gelegentlich sah er die glänzende Sphäre aus hellem Licht jenseits des Lebens. Seine Sorge galt dem Reich, das viel wichtiger war als die eigene Existenz.

»Ich verstehe«, sagte er und schickte die beiden Ärzte fort.

Erstdesignierter Jora’h war völlig unvorbereitet. Der Weise Imperator hatte gehofft, seinen Sohn im Verlauf vieler Jahre zu einem fähigen Nachfolger heranreifen zu lassen. Aber die beiden Spezialisten aus dem Mediziner-Geschlecht ließen ihm keine Hoffnung. Dies war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für seinen Tod.

17

JESS TAMBLYN

Zwei nicht gekennzeichnete Raumschiffe der Roamer trafen sich heimlich im nebligen Schweif eines Kometen, verborgen vor dem Hintergrund der Sterne. Jess und Cesca, nur sie beide, fern von Verantwortung und Verpflichtungen.

Hier draußen konnten sie einfach nur ein Liebespaar sein, zwei Menschen, die ihre Körper, Herzen und Seelen miteinander vereinten. Die Droger, die machthungrige Hanse, die zänkischen Roamer-Clans – das alles konnten sie an diesem Ort für kurze Zeit vergessen. Nur dadurch war es Jess und Cesca möglich, die Wartezeit zu überstehen. Noch einige Monate…

Cesca flog einen diplomatischen Kurier und steuerte ihn so an Jess’ Schiff heran, dass die beiden Luftschleusen miteinander verbunden werden konnten. Seite an Seite schwebten die beiden Raumschiffe im Schweif des Kometen, der auf einer weiten parabolischen Umlaufbahn durch ein uninteressantes Sonnensystem flog.

Der perfekte Ort für Jess und Cesca, um allein zu sein.

Als sich die Luftschleusen öffneten, stand sie vor ihm, die großen dunklen Augen voller Sehnsucht, ein Lächeln auf den vollen Lippen. Einige Sekunden lang sahen sie sich nur an und genossen die Präsenz des jeweils anderen.

Dann trat Cesca vor, leichtfüßig in der niedrigen Schwerkraft, und sie umarmten sich so, als bekämen sie zum ersten Mal Gelegenheit, ihrer Leidenschaft nachzugeben, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen… als könnten sie nicht genug voneinander bekommen, ganz gleich, wie oft sie zusammen waren.

Jess küsste sie und seine Finger strichen durch ihr Haar – ein so dunkles Braun, dass es fast schwarz wirkte. Er zog sie ganz dicht an sich. Nun waren sie wie zwei Himmelskörper in einem perfekten Orbit.

Auf diese Weise hatten sie sich ein Dutzend Mal getroffen, auf kleinen Monden, in Asteroidengürtel oder einfach in der interstellaren Leere. Aber sie schienen nie weit genug von ihren Problemen entfernt zu sein. Alle Clanmitglieder erwarteten von der Sprecherin, dass sie sich auf das Überleben der Roamer konzentrierte, ohne sich von Romantik und Liebe ablenken zu lassen.

Bei den Clans herrschte derzeit Aufruhr – sie alle versuchten, eine rentable Alternative zur bisherigen Ekti-Produktion zu finden. Der Einsatz von Blitzminen führte immer wieder zu Verlusten; Nebelsegel waren zu langsam und die Gewinnung von Wasserstoff aus Kometeneis erforderte große industrielle Investitionen. Cesca musste sich mehr als jemals zuvor bemühen, die Gesellschaft der Roamer vor dem Chaos zu bewahren. Ihre Aufgabe bestand darin, die Clans zusammenzuhalten und ihre familiären Bindungen zu stärken, die ihnen allen Kraft gaben.

Doch jetzt hatte sie Jess und das genügte.

Manchmal gab sich Cesca damit zufrieden, mit ihm zu reden, einfach nur mit ihm zusammen zu sein, ihre Sorgen und Erfahrungen mit ihm zu besprechen. Diesmal aber reichte ihr das nicht. Ihre Finger wanderten über seine Kleidung, erkundeten und erforschten das Durcheinander aus Knöpfen, Reißverschlüssen und Taschen und begannen damit, den Overall zu öffnen.

Er küsste sie erneut, länger und hingebungsvoller. Seine Hände strichen über Cescas Rücken und fühlten ihren Leib unter dem Stoff, streichelten dann ihre Brüste. Sie neigte den Oberkörper zurück, bot ihm dadurch den Hals dar. Seine Lippen glitten über ihre Wange, übers Kinn und den glatten Hals. Er zog Cescas Kragen weiter auf und küsste jeden Quadratzentimeter ihrer Haut, bis er die Brüste erreichte.

Hände und Finger tanzten über Körper, als sie sich gegenseitig entkleideten.

Der Duft von Cescas Haar und ihrer Haut erregte Jess und er atmete ihn tief ein. Er presste Cesca die Lippen an die bloße Schulter, während ihre Fingerkuppen über seine Brust krochen.

Jedes heimliche Rendezvous war besser als das vorhergehende. Wenn sie schließlich zusammen sein konnten, wann immer sie wollten, ohne sich vor Beobachtern verbergen zu müssen… Jess fragte sich, ob das Wunder namens Cesca jemals etwas von seinem Reiz verlieren mochte. Würde sie immer so bleiben wie jetzt, frisch, neu und lebendig, die Haut heiß, der Mund feucht und begierig?

Die miteinander verbundenen Schiffe setzten den Weg durchs All fort, geschützt vom Schweif des Kometen. Er ähnelte einem der Kometen, deren Flugbahn Jess geändert hatte, damit sie auf Golgen hinabfielen…

Auf dem Weg hierher hatte sich Jess noch einmal den stummen Gasriesen angesehen, in dessen Atmosphäre Ross’

Blaue Himmelsmine unterwegs gewesen war. Das kosmische Bombardement hatte wilde Stürme in den tiefen Wolkenschichten des Planeten entstehen lassen, aber Jess wusste nicht, ob die Bewohner von Golgen noch lebten oder ob sein Angriff sie getötet hatte, so wie der Einsatz der Klikiss-Fackel die Hydroger von Oncier. Er konnte nicht sicher sein, irgendeine Art von Sieg errungen zu haben, aber es fühlte sich gut an, dass er etwas unternommen hatte.

Jess versuchte jetzt, langsamer zu werden und jeden einzelnen Moment zu genießen, aber Cesca drückte sich an ihn und zeigte noch mehr Leidenschaft und daraufhin verlor er sich.

So viele Hindernisse standen ihnen im Weg, doch sie waren entschlossen, alle zu überwinden und endgültig zueinander zu finden. Jess hielt Cesca so in den Armen, als wollte er mit ihr verschmelzen, und er wünschte, sie müssten sich nie wieder trennen. Kurze Treffen wie dieses gaben ihnen die Kraft, die sie für die nächsten Monate brauchten, bis sie endlich glücklich sein konnten.

18

TASIA TAMBLYN

Die lange Belagerung von Yreka wurde immer langweiliger und war nach Meinung von Tasia längst sinnlos geworden. Für diese Rechnung brauchte man kein mathematisches Genie zu sein: Selbst wenn die Kolonisten ihr gesamtes illegal gehortetes Ekti aufgaben – es genügte nicht, um den Sternenantrieb-Treibstoff zu ersetzen, den die TVF-Kampfgruppe bei diesem Einsatz verbraucht hatte.

Staffelführer Robb Brindle sah die Sache aus einer anderen Perspektive. »Es geht gar nicht um den Treibstoff, Tasia«, hatte er hinter der geschlossenen Kabinentür gesagt. »General Lanyan glaubt: Wenn wir bei Yreka ein Auge zudrücken, folgen die anderen Kolonien dem Beispiel dieser Siedler. Und dann bricht alles auseinander.«

Mit ihrem nichtmilitärischen Hintergrund konnte Tasia die Yrekaner gut verstehen. »So was mag auf dem Papier ganz gut aussehen, aber es geht hier um Menschen. Ich habe mich nicht freiwillig für den Dienst in der TVF gemeldet, um verzweifelte Kolonisten einzuschüchtern, die nur überleben wollen.«

Robb zuckte mit den Schultern. »Wir sind Offiziere der Terranischen Verteidigungsflotte, Tasia. Wir befolgen unsere Befehle. Die Entscheidungen überlassen wir dem König, den Diplomaten und dem General.«

Normalerweise hätte Tasia als Roamer kaum eine Chance gehabt, Offizier zu werden. Aber die enorme Aufrüstung der TVF nach den ersten Angriffen der Hydroger hatte die Situation verändert und ihr eine Chance gegeben. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Pilotin, sondern wusste auch, wie man im All überlebte, und hinzu kam ihr innovatives Denken. Diese besondere Kombination von Eigenschaften hatte sie schnell zu einer Offizierskandidatin gemacht. In nur fünf Jahren schaffte sie es zum Platform Commander, einem Rang, der dem des Captains eines Kriegsschiffs entsprach. Unter anderen Umständen wäre sie vermutlich nur eine einfache Soldatin geblieben.

Inzwischen hätte Tasia eigentlich wissen sollen, wie sinnlos es war, mit Robb über Politik zu reden. Bei vielen Dingen vertraten sie den gleichen Standpunkt, doch die wenigen Meinungsverschiedenheiten konnten manchmal zu heftigen Wortgefechten führen. Wenn sie vernünftig gewesen wäre, hätte sie Niedrigschwerkraft-Pingpong vorgeschlagen, ein Rennen mit Demo-Remoras oder vielleicht ein Unterhaltungsvideo. Aber nein, sie musste reden und solche Diskussionen waren wie eine Wanderung durch ein vermintes Gebiet.

»Wir alle wollen überleben«, sagte Robb. »Und es ist die Aufgabe der TVF – unsere Aufgabe –, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen überleben, nicht nur einige Kolonisten, die Vorräte horten.«

Nach zwei Monaten Langeweile lagen die Nerven in der TVF-Kampfgruppe blank. Die Soldaten meinten, dass Admiral Willis eigentlich bessere Dinge zu tun haben sollte, aber die Kommandantin von Gitter 7 hielt die Blockade aufrecht.

Brindle schickte seine Remora-Staffeln zu Übungsflügen in der Nähe von Yreka los – sie tauchten in die Atmosphäre hinab und kehrten dann wieder ins All zurück. Eigentlich hätten die Kolonisten von der Demonstration der Macht eingeschüchtert sein sollen. Brindle behauptete, dass die Manöver dazu dienten, seine Leute in Form zu halten, aber Tasia vermutete, dass er damit vor allem Dampf abließ.

Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass sich an der allgemeinen Situation etwas änderte. Die rebellischen Siedler lebten im Schatten der Blockade und wurden immer verzweifelter. Die schöne, langhaarige Großgouverneurin versuchte unterdessen, die Kolonie so zu verwalten, als wäre die TVF-Streitmacht gar nicht da.

Tasia saß im Salon ihrer Waffenplattform und nahm dort an einer weiteren virtuellen Versammlung der Kommandanten teil. Patrick Fitzpatrick sprach sich wie üblich für einen schnellen Schlag aus. Er regte an, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und die Ekti-Vorräte zu beschlagnahmen. »Wir können versuchen, die Verluste bei den Zivilisten so gering wie möglich zu halten. Wenn sich einige aufsässige Kolonisten blutige Nasen holen, so haben sie es nicht besser verdient.« Seine Lippen formten ein humorloses Lächeln. »Bisher scheinen wir die Rebellen nur aufgefordert zu haben, sich in die Ecke zu stellen, bis sie lernen, wie man sich richtig benimmt.«

»Haben Sie ein Problem damit, geduldig zu sein, Commander?«, fragte Admiral Willis ungerührt. »Ich möchte unnötiges Blutvergießen vermeiden.«

Plötzlich gab Tasias Brückentaktiker Alarm. »Aktivität auf dem Planeten, Platcom.« Ähnliche Meldungen wurden auch in den anderen Einheiten der Flotte übermittelt.

Admiral Willis beendete die Besprechung und forderte die Kommandanten auf, zu ihren Stationen zurückzukehren. Als sie Bereitschaft meldeten, wandte sie sich an die ganze Kampfgruppe. »Offenbar haben die Siedler beschlossen, etwas zu unternehmen. Großgouverneurin Sarhi weiß, welche Möglichkeiten ihr offen stehen – diese gehört nicht dazu.«

Der Brückentaktiker sah Tasia an. »Sechs Schiffe starten von vier verschiedenen Raumhäfen auf dem Kontinent. Jedes fliegt mit einem anderen Kurs.«

Tasia verzog das Gesicht. »Sie hoffen, dass es mindestens einem gelingt, die Blockade zu durchbrechen.«

Admiral Willis’ Stimme kam über die allgemeine Frequenz.

»Achtung, Yreka-Schiffe – vielleicht habe ich mich beim ersten Mal nicht klar genug ausgedrückt. Niemand darf den Planeten verlassen, solange Sie nicht bereit sind, uns Ihre Ekti-Vorräte zu übergeben.«

Die zivilen Schiffe stiegen weiter durch die Atmosphäre auf.

Wie davonhuschende Mäuse schwärmten sie aus, um der TVF-Streitmacht zu entwischen.

»Bitte zwingen Sie mich nicht, Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen.« Willis klang wie eine verärgerte Großmutter, aber die yrekanischen Schiffe schenkten ihr keine Beachtung. »Na schön. Kommandanten, Sie wissen, was Sie zu tun haben.

Zeigen Sie den Yrekanern, dass wir es mit der Blockade ernst meinen.«

»Ein Kinderspiel«, antwortete Fitzpatrick von der Brücke seines Manta-Kreuzers.

Tasia erteilte Anweisungen. »Staffelführer Brindle, brechen Sie mit Ihrer Gruppe auf und hindern Sie die yrekanischen Schiffe daran, dieses Sonnensystem zu verlassen. Richten Sie die Zielerfassung auf den Sternenantrieb. Schicken Sie die Burschen nach Hause, den Schwanz so zwischen die Beine geklemmt, dass sie Hämorriden bekommen.«

»Ihr Wunsch ist mir Befehl, Platcom.«

Brindles Staffeln griffen zwei Blockadebrecher an, noch bevor sie ganz aus der Atmosphäre des Planeten heraus waren.

Kurze Jazer-Blitze neutralisierten ihre interstellaren Triebwerke und trafen das Ziel mit solcher Präzision, dass die Schiffe manövrierfähig blieben und landen konnten.

Anschließend nahmen sich die Remoras zwei weitere Schiffe vor. »Vier erledigt.«

Tasia blickte auf die Displays. Die yrekanischen Schiffe wirkten harmlos und konnten gar nicht entkommen. Die letzten beiden Blockadebrecher zögerten, als wollten sie sich die Sache noch einmal überlegen. Doch dann beschleunigten sie und setzten den Flug fort.

»Die übernehme ich«, erklang Patrick Fitzpatricks Stimme.

»An alle anderen, zieht euch zurück.« Doch er schickte keine Remoras in den Einsatz. Als die beiden letzten yrekanischen Schiff den offenen interplanetaren Raum erreichten und glaubten, es geschafft zu haben, brachte Fitzpatrick seinen Manta-Kreuzer in Position. »Passt gut auf.«

Sein Waffenoffizier setzte zwei Jazer-Strahlen ein, mit genug Energie, um ein Schlachtschiff zu beschädigen. Die beiden Blitze jagten durchs All, trafen das Ziel und verwandelten die yrekanischen Schiffe in Feuerbälle.

Tasia schnappte nach Luft und konnte sich nicht beherrschen.

Sie beugte sich zur Kom-Konsole vor. »Was fällt dir ein, Fitzpatrick? Das war überhaupt nicht nötig!«

»Jemand vergisst, dass wir im Krieg sind«, lautete die höhnische Antwort.

»Genug, Sie beide«, warf Admiral Willis ein. »Commander Fitzpatrick hat im Rahmen meiner Befehle gehandelt, die vielleicht ein wenig zu vage waren. Beim nächsten Mal werde ich ihm nicht so viel Ermessensspielraum lassen.« Sie seufzte.

»Wie dem auch sei… Ich glaube, die Kolonisten haben die Botschaft verstanden. Gute Arbeit, das gilt für alle.«

Tasia ballte die Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Wer war eigentlich der Feind bei diesem Krieg?

Die TVF-Schiffe schwenkten wieder in den Orbit von Yreka, um die Blockade fortzusetzen.

19

KÖNIG PETER

Peter begann sich zu fragen, ob es so etwas wie eine »leichte Niederlage« gab. Im Sonnenschein der Erde trat der König auf den Balkon, gekleidet in eine blaugraue, mit silbernen Bordüren versehene Uniform. Eine weitere Pflicht wartete auf ihn, eine sehr unangenehme, die ihm während der letzten Jahre schrecklich vertraut geworden war.

Eine große Menge hatte sich auf dem Platz versammelt, ein Meer aus Menschen, die blassen Gesichter nach oben gewandt.

Doch es ertönte kein lauter Jubel. Heute nicht. Unten, vor dem großen Platz des Flüsterpalastes, hatte der großväterliche Erzvater des Unisono damit begonnen, ein langes, feierliches Gebet zu sprechen. Wenn das Oberhaupt der offiziellen Religion damit fertig war, würde es dem König Gelegenheit geben, die politischen Förmlichkeiten zu vervollständigen.

Peter ging mit langsamen Schritten, hielt den Blick dabei auf die Menge gerichtet und gab zu verstehen, dass er ihren Kummer teilte. Er hörte, wie die vielen Zuschauer erwartungsvoll Luft holten, als er zur verzierten Balustrade am Rand des Balkons trat. Dort war eine dicke Rolle aus schwarzem Krepp vorbereitet – sie sah aus wie eine umhüllte Leiche.

»Ich habe dies schon zu oft tun müssen«, sagte er leise. Nur der Vorsitzende – er wartete im Innern des Palastes, außer Sicht – hörte ihn.

»Und wahrscheinlich werden Sie diese Zeremonie noch oft wiederholen müssen – die Bürger sollen sehen, wie sehr Sie Anteil nehmen. Denken Sie an den positiven Aspekt: Jede Katastrophe bringt mehr Helden hervor und die Helden helfen uns dabei, unsere Anstrengungen zu konzentrieren.«

Peter lachte bitter. »Angesichts so vieler Helden haben die Hydroger nicht die geringste Chance, diesen Krieg zu gewinnen, Basil.«

Am Rand des Balkons schaltete er seinen Stimmverstärker ein und sprach zum aufmerksamen Publikum. »Vor nicht allzu langer Zeit brachen eine militärische Erkundungsgruppe und ein taktisches Geschwader auf, um den Gasriesen Dasra zu untersuchen, von dem wir wissen, dass Hydroger in ihm leben.

Unsere Flotte kam in Frieden und unternahm einen weiteren Versuch, Kontakt mit unseren Feinden aufzunehmen und den Krieg zu beenden.«

Peter legte eine kurze Pause ein und hörte erneut, wie die vielen Menschen Luft holten. »Die Reaktion der Hydroger war brutal und unbarmherzig. Sie zerstörten alle Scoutschiffe und töteten insgesamt dreihundertachtzehn unschuldige Menschen.«

Ein Murmeln ging durch die Menge und Peter zog an dem Band, das das schwarze Kreppbanner zusammenhielt. »Hiermit möchte ich jener gedenken, die bei Dasra ums Leben kamen.

Dies soll zeigen, dass wir weder sie vergessen noch das, was sie für die Menschheit zu erreichen hofften.« Behandelt mit strukturverstärkenden Mitteln, die Falten verhinderten und ein glattes Entrollen gewährleisteten, fiel der lange Streifen einer schwarzen Träne gleich an der Seite des Flüsterpalastes nach unten.

Das Banner zeigte eine Kette goldener Sterne, das Emblem der TVF, zusammen mit dem Symbol der Hanse, einer von konzentrischen Kreisen umgebenen Erde. Gewichte sorgten dafür, das es glatt blieb und dem Wind trotzte.

Später am Abend würden Fackelträger zum langen schwarzen Kreppstreifen marschieren und ihn in Brand setzen. Von unten nach oben würde er brennen, in einem kurzen, sauberen Feuer, das nichts von ihm übrig ließ. Und anschließend gab es Platz für weitere Trauerbanner.

König Peter hatte bereits Proklamationen unterzeichnet und allen ums Leben gekommenen TVF-Scouts posthum Medaillen verliehen. Er hatte jeden einzelnen Namen laut vorgelesen und dann das entsprechende Zertifikat unterschrieben. Peter hielt das für wichtig, obwohl es viel Zeit kostete. Und wenn er mit solchen Dingen beschäftigt war, fragte er sich immer wieder nach dem Sinn solcher militärischen Operationen.

König Peter verbeugte sich vor der Menge und kehrte in den Flüsterpalast zurück.

»Wir sind noch immer im Zeitplan«, sagte Basil Wenzeslas und schloss sich ihm an. »Wir haben alle Bittsteller im Thronsaal überprüft und Ihre Antworten auf die Anträge sind bereits vorbereitet.«

»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Peter.

Basil warf ihm einen verärgerten Blick zu, aber Peter achtete nicht darauf. Derartige Taktiken hatten schon nach dem ersten Jahr jede Wirkung auf ihn verloren. »König Frederick wusste die Arbeit, die andere hinter den Kulissen für ihn leisteten, immer zu schätzen.«

»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich gelegentlich selbständig denke.«

»Ihre Aufgabe besteht darin, für die Hanse zu sprechen, nicht zu denken.« Basil ging in Richtung Thronsaal und Peter folgte ihm. Nach einigen Metern hob der Vorsitzende die Hand zum Kom-Modul am Ohr und schien eine wichtige Nachricht zu empfangen: Seine Augen wurden größer und er forderte den König zu Eile auf.

Nahton wartete geduldig neben einem Schössling. OX stand hinter dem Thron, eine unauffällige wandelnde Datenbank, die dem König mit Fakten und Rat helfen konnte. Normalerweise blieb Basil im Flur zurück und gab vor, dort beschäftigt zu sein, während Peter den Bittstellern zuhörte. Im Thronsaal sollte der König im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, nicht der Vorsitzende der Hanse.

Peter lächelte aus reiner Angewohnheit, als er den dicken Vorhang beiseite schob und den hell erleuchteten Raum mit den vielen Spiegeln und dem Gold betrat. Er hörte eine Fanfare, Applaus – und blieb abrupt stehen.

Eine schwarze Maschine ragte drei Meter weit auf und sah wie ein sonderbarer Käfer aus. Der Klikiss-Roboter wartete in respektvollem Abstand vom Thron, wirkte wie eine monströse Statue.

Höflinge und königliche Wächter warteten entlang den Wänden und richteten erleichterte Blicke auf König Peter, als erhofften sie von ihm Antwort auf alle ihre Fragen.

Sicherheitspersonal stand mit einsatzbereiten Waffen da und versuchte, bedrohlich zu erscheinen – den Klikiss-Roboter konnten sie damit nicht beeindrucken. Selbst Basil war überrascht.

König Peter schluckte, und als er sprach, hielt er die Bestürzung aus seiner Stimme fern. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie gewartet haben, während ich meine traurige Pflicht erfüllen musste.« Seine Gedanken rasten, als er nach den richtigen diplomatischen Worten suchte, die OX ihn gelehrt hatte. Schließlich gab er vor, den Klikiss-Roboter so zur Kenntnis zu nehmen, als böte er einen alltäglichen Anblick.

Basil und die Hanse-Spezialisten waren sicher schon bestrebt, den Text für eine offizielle Reaktion zusammenzustellen, aber Peter nutzte die Gelegenheit, selbst die Initiative zu ergreifen.

»Es freut mich, einen Repräsentanten der Klikiss-Roboter begrüßen zu können. Was führt dich hierher?«

Als die schwarze Maschine die an sie gerichteten Worte des Königs hörte, begann sie, sich zu bewegen. Rubinrote optische Sensoren glühten wie die Augen eines Arachnoiden.

Niemand wusste genau, wie viele Klikiss-Roboter es im Spiralarm gab, doch seit dem Beginn des Hydroger-Krieges zeigten sich die Maschinen öfter. Zwar nahmen sie von Menschen keine Befehle entgegen, aber manchmal boten sie ihre Mitarbeit bei schwierigen Projekten an. Kleine Gruppen von Klikiss-Robotern meldeten Vorkommen wichtiger Rohstoffe oder arbeiteten bei Abbauanlagen in Asteroidengürteln oder auf kalten, dunklen Monden.

Der Klikiss-Roboter sprach mit einer kratzigen, metallischen Stimme, die völlig ohne Emotionen blieb. »Meine Bezeichnung lautet Jorax. Ich bin schon einmal vor diesem Thron erschienen, aber der König war ein anderer… die Zeiten waren anders.«

»Ja, Jorax, wir erinnern uns.« Peter beugte sich vor und Sorge zeigte sich in seinem Gesicht. »Ich hoffe, du bist nicht gekommen, um auf weitere Übergriffe durch Menschen hinzuweisen.«

Vor Jahren hatte ein ehrgeiziger Kybernetiker Jorax in sein Laboratorium gelockt und versucht, ihn zu demontieren, um mehr über den Roboter herauszufinden. Dabei war ein automatisches Verteidigungssystem aktiv geworden, das den Wissenschaftler getötet hatte.

»Nein. Andere Ereignisse bringen mich hierher.«

Peter fragte sich, welche Ereignisse der Roboter meinte. OX

blieb aufmerksam, bot aber keinen Rat an. Auf der anderen Seite des Throns berichtete Nahton mithilfe des Schösslings dem Weltwald vom aktuellen Geschehen und wirkte dabei wie ein Stenograf. Peter bemerkte Basil, der im Alkoven wartete und zuhörte.

»Wir Klikiss-Roboter würden lieber einen neutralen Standpunkt vertreten, aber dazu sehen wir uns nicht mehr imstande«, fuhr Jorax fort. »Der Hydroger-Konflikt betrifft nicht nur Menschen und Ildiraner, sondern hat überall im Spiralarm Auswirkungen. Deshalb haben wir uns beraten, Daten ausgetauscht und Möglichkeiten erörtert. Wir erinnern uns nicht daran, was mit unseren Schöpfern geschah, aber wir möchten nicht, dass Menschen und Ildiraner ebenso aussterben wie vor Jahrtausenden das Volk, das uns schuf.«

Stille breitete sich im Thronsaal aus, als die erstaunten Höflinge und Palastwächter stumm lauschten. Jorax’ rote optische Sensoren blitzten.

»Danke für deine Anteilnahme, Jorax.« Peter wartete darauf, dass der Roboter den eigentlichen Grund für sein Kommen nannte.

»Wir Klikiss-Roboter sind zu dem Schluss gelangt, dass wir den Menschen im Krieg gegen die Hydroger am besten helfen können, indem wir uns mit der Produktion Ihrer robotischen Äquivalente befassen. Angemessen modifizierte Kompis könnten so programmiert werden, dass sie als Soldaten oder Arbeiter agieren, was zu einer Verbesserung von Kampfkraft und Produktivität führt. Derzeit sind die Kompis zu primitiv, um solche Aufgaben wahrzunehmen.«

Peter wusste, dass er ein derartiges Angebot nicht zurückweisen durfte. Der Einsatz ausreichend leistungsfähiger und autonomer Kompi-Soldaten würde die Verluste an Menschenleben verringern – einmal mehr dachte er an die Besatzungsmitglieder der TVF-Schiffe, die bei Dasra vernichtet worden waren. Aber es regte sich auch Unbehagen in ihm. Die Klikiss-Roboter waren immer sehr… rätselhaft gewesen.

Basil konnte sich nicht länger zurückhalten, verließ den Alkoven und trat aufs Podium neben dem Thron. Einige Sekunden später hatte er den Anstand, zwei Stufen nach unten zu gehen, um damit auf den scheinbar höheren Rang des Königs hinzuweisen.

»Mein König, die Klikiss-Roboter haben ein ausgezeichnetes und offenbar sehr gut gemeintes Angebot unterbreitet. Wir müssen die Gelegenheit nutzen. Ich schlage vor, dass Sie die Hilfe der Roboter annehmen.«

Peter runzelte die Stirn und sah eine Chance, seine Position in der Öffentlichkeit zu stärken. »Ich werde den Standpunkt des Verwaltungsapparats der Hanse in Betracht ziehen, aber dies ist letztendlich eine Entscheidung des Königs.«

Dann machte Jorax einen Vorschlag, der Peter veranlasste, sich verblüfft zurückzulehnen. »Als Beweis für unsere Aufrichtigkeit erkläre ich hiermit meine Bereitschaft, mich von Ihren Kybernetikern untersuchen zu lassen.« Der Roboter zögerte und summte. »Viele Geheimnisse unserer Schöpfer bleiben selbst uns verborgen und wir Klikiss-Roboter möchten diese ebenso verstehen, wie die Menschen dies wollen.

Deshalb werde ich meine Demontage zulassen, in der Hoffnung, dass die Menschen durch die Analyse und den Nachbau der Klikiss-Technik lernen können.«

Ein Murmeln ging durch den Thronsaal. Bisher waren die Klikiss-Roboter nie bereit gewesen, Fragen nach ihren Funktionen und Fähigkeiten zu beantworten. Die Details ihrer Systeme hatten sie immer verborgen. »Sind die anderen Roboter in der Lage, dich wieder zusammenzusetzen, nachdem wir dich untersucht haben?«

»Nein. Die Technik kann repariert werden, aber die intelligente Entität existiert dann nicht mehr. Sie wird für immer ausgelöscht sein. Wie auch immer, nach vielen tausend Jahren halten wir den Moment für gekommen, unserer langen Existenz einen Sinn zu geben.«

»Sind Sie damit einverstanden, Vorsitzender?«, fragte Peter mit einem Hauch Respekt – er holte die Zustimmung der Hanse ein, bevor Basil ihn auffordern konnte, Jorax’ Angebot zu akzeptieren. Basil nickte sofort. Für die Hanse war dies eine Art Goldgrube: Es eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten für die technische Entwicklung.

»Nun gut, Jorax«, sagte der König. »Die Terranische Hanse nimmt dein Angebot an.«

20

BASIL WENZESLAS

Für den Vorsitzenden bedeutete das Leben Arbeit und Arbeit war sein Leben. Basil Wenzeslas hatte all den Reichtum und die Macht, die man sich wünschen konnte, doch er fand kaum Zeit, seine Privilegien zu genießen.

Auf den vielen Planeten, in den Stationen und Siedlungen der Hanse geschah immer irgendetwas, das Aufmerksamkeit erforderte: die sturen Kolonisten von Yreka, die ihr gehortetes Ekti behalten wollten; die bei Dasra zerstörte Erkundungsflotte; Roamer-Händler, die weniger Treibstoff lieferten.

Doch seit Sarein vor fünf Jahren zur Botschafterin Therocs auf der Erde geworden war, nahm sich Basil gelegentlich einen Moment für sein persönliches Vergnügen. Manchmal überließ er die Hanse für ein oder zwei Stunden sich selbst.

In der Nacht schaltete er die Decke seines Schlafzimmers auf Transparenz – ein Oberlicht so groß wie ein Fußballplatz.

Während er in einem Meer aus glatten Laken ruhte, blickte er nach oben und versuchte, nicht an die Probleme zu denken, mit denen es die Hanse zu tun hatte. »Jedes Sonnensystem dort draußen könnte voller Ressourcen sein – oder voller verzweifelter Menschen, die sich Schutz durch die TVF

erhoffen.«

Sarein schmiegte sich enger an ihn. »Oder es könnten dort Hydroger auf der Lauer liegen, dazu bereit, alle Raumschiffe zu vernichten, die ihnen zu nahe kommen.« Sie sah auf, bemerkte die Sorgenfalten in Basils Stirn und küsste ihn auf die Wange. Im Sternenlicht wirkten ihre Augen sehr groß. Ihr Körper war muskulös und steckte voller Kraft. Basil liebte ihren Überschwang, denn damit bewirkte sie willkommene Reaktionen bei ihm.

»Was belastet dich, Basil? Wenn du mir irgendeine Aufgabe überlassen möchtest – ich werde mein Bestes tun.« Ihre Brustwarzen waren aufgerichtet, wie fast immer, aber sie hatten sich schon zweimal geliebt. Er mochte ihre Wärme, ihren Geruch beim Sex, die matte Zufriedenheit danach, aber an einem dritten Durchgang lag ihm nichts.

»Du gibst immer dein Bestes. Mit deinem enormen Ehrgeiz erschreckst du alle, die vielleicht anderer Meinung sind als ich.«

Sarein stützte sich auf den Ellenbogen. »Ist das schlecht?«

Die junge Theremin hatte Basil vor Jahren verführt, um ihren eigenen Status zu erhöhen und um zu lernen. Dieser zweite Aspekt faszinierte ihn besonders. Ihre gegenseitige Anziehung beruhte nicht auf geistloser romantischer Liebe, sondern auf Macht und Respekt, auf dem Austausch von Gefälligkeiten.

Basil hatte Sarein den Weg geebnet und ihr dabei geholfen, zu einem wichtigen politischen Faktor zu werden, doch ihr war es noch nicht gelungen, ihm das zu geben, was erbrauchte.

Als Botschafterin von Theroc sprach Sarein für Vater Idriss und Mutter Alexa, ihre Eltern. Immer wieder hatte Basil um mehr grüne Priester gebeten, denn die Hanse benötigte ihren Telkontakt – nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch aus militärischen. Er brauchte sie, verdammt! Zwar schlief Sarein im Bett des Vorsitzenden, aber sie musste wissen, dass dies alles enden würde, wenn sie nicht bald Fortschritte erzielte.

Als Basil weiterhin durch die transparente Decke sah, streichelte sie seinen Arm so, als könnte sie ihn damit in Versuchung führen. Nein, sie wusste es besser. »Ich gebe mir wirklich Mühe, Basil, aber es ist sehr viel schwerer, seitdem ich nicht nach Theroc zurück kann. Wenn ich mit Nahtons Hilfe Mitteilungen schicke… Wer weiß, wie er die Nachricht färbt? Grüne Priester sind nicht daran interessiert, für die Hanse zu arbeiten. Sie verbringen ihre Zeit viel lieber damit, im Wald mit den Bäumen zu reden.«

»Wer kann es sich in der gegenwärtigen Situation leisten, unabhängig zu sein?«, fragte Basil ernst. »Ich bin fast versucht, die TVF nach Theroc zu schicken und das Kriegsrecht zu erklären. Ob souveräne Kolonie oder nicht – es ist mir schnuppe. Wir sind im Krieg und Theroc verfügt über eine Ressource, die wir dringend benötigen! Kannst du das deinen Eltern nicht klar machen?«

Sarein erschrak und reagierte damit genau so, wie es Basil wollte. Er spürte die Veränderung in ihrem Körper. »Meine Eltern sind vielleicht nicht imstande, über die Grenzen des eigenen Hinterhofs hinaus zu denken.« Sie sah ihn an, mit Unsicherheit in den Augen und einem seltsamen Lächeln auf den Lippen. »Aber wenn wir ein Bündnis schaffen könnten…

wäre es möglich, ihre Meinung zu ändern. Zum Beispiel…

würde eine politische Ehe mit König Peter zwei wichtige Linien der menschlichen Zivilisation miteinander verbinden.

Wenn der König die Tochter von Vater Idriss und Mutter Alexa heiratet – wie könnten sie sich dann weigern, eine Bitte um die Entsendung weiterer grüner Priester zu erfüllen?«

Aufregung erfasste Basil, als er über die Idee nachdachte und begriff, wie klug und scharfsinnig Sarein war. »Ich hatte gehofft, dass wir mit dir als Botschafterin genug Druck ausüben können, doch dein Vorschlag gibt uns einen ganz neuen Ansatzpunkt. Und er lässt sich leicht verwirklichen.«

»Ich wusste nicht, wie du darauf reagieren würdest. König Peter ist sehr attraktiv und in meinem Alter«, sagte Sarein mit verhaltener Stimme. »Ich will damit natürlich nicht andeuten, dass ich enttäuscht von dir bin… Aber als Peters Gemahlin und Königin sollte ich eigentlich in der Lage sein, dir die gewünschten zusätzlichen grünen Priester zu beschaffen. Die Verhandlungen könnten schwierig sein, doch wir sind entschlossen genug, sie zum Erfolg zu bringen.«

»Eine ausgezeichnete Idee, Sarein. Irgendwann in naher Zukunft sollten wir beide einen kleinen diplomatischen Ausflug nach Theroc machen.« Basil beugte sich zur Seite und küsste Sarein. »Aber du kommst dafür nicht infrage – du wirst König Peter nicht heiraten.«

Es funkelte in seinen Augen, als er sie ansah und überlegte, ob er eine logische Entscheidung traf oder sich von seinen Gefühlen beeinflussen ließ. »Ich denke dabei an… Estarra.«

21

ESTARRA

Ganz oben auf dem dichten Baldachin des Weltwaldes saß Estarra wie auf dem Dach der Welt. Ein klarer blauer Himmel voller Sonnenschein reichte zum dunstigen Horizont. Sie ließ ihrer Phantasie freien Lauf und dachte daran, dass Therocs Sonne nur einer von vielen Sternen im Spiralarm war, der seinerseits zur viel größeren Milchstraße gehörte, einer von vielen Milliarden Galaxien.

Neben ihr saß ein älterer grüner Priester, ein stiller Begleiter bei der Kontemplation. Rossia war ein Einzelgänger und galt seifet bei jenen als exzentrisch, die ihr Leben dem Weltwald widmeten. Wie ein Vogel hockte er am Ende des dünnsten Astes und ließ sich von den fächerartigen Blattwedeln tragen.

Einen Sturz in die Tiefe schien er ganz und gar nicht zu befürchten.

Rossias Haut war dunkelgrün von der jahrelangen Absorption des Sonnenlichts. Seine großen, runden Augen erweckten den Eindruck, aus dem Kopf fallen zu können, als er sich immer wieder umsah, den Blick über die Baumwipfel, Blumen und schwirrenden Insekten schweifen ließ. Estarra beobachtete ihn und erkannte Anzeichen von Besorgnis. »Hältst du wieder nach Wyvern Ausschau?«

Er drehte sich zu ihr um. »Sie kommen vom klaren Himmel herab. Man sieht sie erst, wenn es zu spät ist.« Mit der einen Hand strich er sich über die grässliche Narbe, die den größten Teil eines Oberschenkels bedeckte. Eine tiefe, kraterartige Mulde zeigte sich dort und ließ ihn beim Gehen hinken.

Estarra schauderte, als sie an die gezackten Kiefer dachte, die Rossia ein großes Stück aus dem Bein gerissen hatten. »Ich habe nicht vor, ihnen eine zweite Chance zu geben.« Im Anschluss an diese Worte blickte er wieder zum Himmel hoch.

Die Wyver waren die gefürchtetsten Raubtiere auf Theroc.

Sie hatten breite, wie kristallen wirkende Flügel, einen funkelnden Chitinpanzer und scharfe Augen, denen keine Bewegung entging. Aber menschliches Fleisch stand normalerweise nicht auf dem Speisezettel dieser Insekten und hatte für sie vermutlich einen unangenehmen Geschmack.

Nach einem Bissen ließen die Wyver ihre menschliche Beute fallen, meistens aus großer Höhe.

Es gab nur einen Theronen, der so etwas überlebt hatte: Rossia. Die Blattwedel der Weltbäume hatten seinen Sturz abgefangen und seine schrecklichen Wunden waren von grünen Priestern behandelt worden. Zwar hatten ihm die Bäume gestattet, ebenfalls ein grüner Priester zu werden, doch Rossia war nicht mehr der Gleiche. Die Verletzung betraf nicht nur das Bein, sondern auch die Seele.

Estarra fragte sich, warum Rossia so viel Zeit auf den Wipfeln der Weltbäume verbrachte, wenn er sich vor den Wyvern fürchtete. »Was möchtest du in deinem Leben erreichen?«, fragte sie, um ihn abzulenken.

»Reicht es nicht, dem Weltwald zu dienen? Warum sollte ich außerdem irgendetwas anstreben?«

»Nun, ich denke an meine Zukunft und ich weiß nicht, was ich machen soll.« Estarra mochte Rossia. Nach der Rückkehr von den Spiegelglasseen und anderen Siedlungen im Wald war sie oft zu ihm gegangen, einfach nur um zu reden und zu lernen. Sie vermisste die Gespräche mit ihrem Bruder Beneto.

Es war immer Benetos Wunsch gewesen, dem Weltwald zu dienen, und er gab sich damit zufrieden, als grüner Priester auf der kleinen, abgelegenen landwirtschaftlichen Hanse-Kolonie Corvus Landing tätig zu sein. Er hatte sich nie gefragt, wozu er berufen war, und ebenso wenig stellte Reynald es infrage, das nächste Oberhaupt von Theroc zu werden. Sarein hatte sich immer fürs Geschäftliche interessiert.

Estarra begegnete allem mit Neugier, ohne von etwas Bestimmtem besonders fasziniert zu sein. Inzwischen war sie achtzehn und somit eine Erwachsene in der theronischen Gesellschaft; bald musste sie eine Richtung für ihr Leben wählen.

Sie vermisste Beneto. Oft schickte er ihr Nachrichten durch den Weltwald und ließ seine Familie teilhaben an den einfachen Aktivitäten, die sein Leben bestimmten und ihm Zufriedenheit gaben. Estarra hatte damit gerechnet, dass er nach einigen Jahren heimkehrte, zumindest zu einem Besuch, aber angesichts der Einschränkungen des interstellaren Verkehrs fürchtete sie, dass er noch lange auf Corvus Landing bleiben würde.

Statt mit Beneto sprach sie mit Rossia. »Ich möchte etwas erreichen in meinem Leben. Ich würde mich einer Sache ganz widmen, mit all meiner Kraft – wenn ich nur wüsste, was diese

›Sache‹ ist.« Estarra wusste, dass Rossia niemandem von diesen Dingen erzählen würde.

Schließlich wandte er den Blick vom Himmel ab und sah sie aus seinen großen Glotzaugen an. »Jedes Leben hat eine Bestimmung, Estarra. Der Trick besteht darin, sie zu finden, bevor das Leben endet. Andernfalls stirbt man mit zu viel Reue.« Mit einem sonderbaren Lächeln sah er erneut zum Firmament hoch. »Vielleicht war es der Sinn meines Lebens, einem Wyver den schlechten Geschmack von menschlichem Fleisch zu zeigen.« Er breitete die Arme aus, und irgendwie gelang es ihm, das Gleichgewicht auf dem dünnen Ast zu wahren. »Wer weiß?«

Estarra wischte sich Schweiß von der Stirn und strich einige dünne Zöpfe zurück. »Ich habe gehofft, etwas…

Substanzielleres zu leisten.« Sie hob den Kopf ebenso wie Rossia, blickte wie er zum Himmel hoch.

»Ich ebenfalls«, sagte er.

22

BENETO

Corvus Landing war weit vom Chaos des Hydroger-Krieges entfernt und das fand Beneto auch ganz gut so. Er leistete wichtige Arbeit und jeden Tag zeigten ihm die Siedler, wie sehr sie ihn schätzten.

Die kleine Kolonie exportierte keine wichtigen Güter, und nach vierzehn Jahren war sie auch nicht mehr auf ständigen Import angewiesen. Die Farmer produzierten genug Lebensmittel für die kleine Bevölkerung.

Der Bürgermeister Sam Hendy hatte eine Versammlung anberaumt. Sie sollte bei Einbruch der Dunkelheit stattfinden, wenn die meisten Arbeiten erledigt waren – obwohl es dringende Dinge gab, die einige Kolonisten bis in die Nacht auf den Beinen halten würden. Bürgermeister Hendy – ein Mann in mittleren Jahren, mit einem dicken Bauch, obwohl es ihm nicht an Bewegung mangelte – hielt nichts von Förmlichkeiten.

Beneto betrat den Gemeindesaal, der sich in einem Gebäude befand, das nicht weit aufragte – es sollte dem starken Wind, der über die Grasebenen von Corvus Landing, wehte, keine große Angriffsfläche bieten. Einige dicke Fenster gewährten Ausblick auf die flache Landschaft. Die Kolonisten fanden sich im Saal ein, um über das Unwetter am vergangenen Tag zu sprechen.

Ein Sturm war über die Siedlung hinweggefegt, mit heulenden Böen und Hagel, hatte Zäune,

Bewässerungsanlagen, Außengebäude und Generatoren beschädigt. Das genaue Ausmaß der Schäden und der drohende Ernteausfall mussten noch abgeschätzt werden.

Manche Dinge konnten schnell repariert werden; bei anderen würde die Instandsetzung länger dauern.

Sam Hendy saß an einem Schreibtisch und neben ihm stand ein Sekretär, der sich Notizen machte, während jede Familie von ihren Sturmschäden berichtete. Acht Wohnhäuser und elf Außengebäude waren von Wind und Hagel in Mitleidenschaft gezogen worden.

Die Inspektoren des Bürgermeisters waren tagsüber auf den Feldern unterwegs gewesen, hatten sich das geknickte und zu Boden gedrückte Getreide angesehen. »Ein Teil der Ernte kann gerettet werden«, sagte Hendy und zeigte sich wie immer optimistisch. »Wir haben widerstandsfähiges Korn gepflanzt und viele der Felder werden sich erholen.«

Zwei Ziegenherden hatten ihre Pferche verlassen und auf den Kornfeldern fast ebenso großen Schaden angerichtet wie das Unwetter. Nur Ziegen konnten einheimische Pflanzen verdauen. Symbiotische Bakterien in ihrem Verdauungssystem halfen dabei, das Moos und die haarartige Bodenvegetation in eine Nährstoffmasse zu verwandeln. Die Tiere lieferten Milch und Fleisch, dessen Import selbst in normalen Zeiten zu teuer gewesen wäre.

»In dieser Jahreszeit kommt es immer wieder zu solchen Stürmen«, sagte jemand. »Ich schlage den Einsatz von Polymerplanen vor, von transparenten Filmen, die das Sonnenlicht durchlassen, die Pflanzen aber vor den schlimmsten Auswirkungen der Unwetter schützen.«

Der Bürgermeister hob und senkte die Schultern. »Es ist einen Versuch wert.«

Andere Siedler brummten zustimmend, doch Beneto fragte sich, wo sie Polymerfilm auftreiben sollten. Im Norden gab es Minen und erzverarbeitende Anlagen, aber andere Industrien fehlten auf Corvus Landing.

Eine Stunde lang gingen die Diskussionen weiter, dann bat der Bürgermeister Beneto um eine Zusammenfassung der Nachrichten. Der grüne Priester war für die Kolonie eine Brücke zum Rest des Spiralarms, denn er berichtete von den neuesten Ereignissen auf anderen Welten. Indem sich Hendy an Beneto wandte, versuchte er nach dem verheerenden Sturm zur Normalität zurückzukehren. Die Siedler interessierten sich für das, was im Spiralarm geschah, insbesondere natürlich für den Hydroger-Krieg.

»Die Hydroger haben gerade eine nach Dasra entsandte militärische Erkundungsflotte vernichtet«, begann Beneto. »Es gibt keine Überlebenden.« Die Siedler murmelten und waren sich der Gefahr bewusst. Viele von ihnen hatten Familienangehörige auf der Erde oder bei der TVF. »Die Blockade der Kolonie Yreka dauert an, bis die dortigen Siedler ihr gehortetes Ekti übergeben. Allerdings hat General Lanyan bisher nur von sehr wenigen Opfern berichtet und die TVF-Schiffe beschränken sich weiterhin darauf zu warten.« Beneto seufzte. »Die Klikiss-Roboter haben der Hanse Hilfe angeboten. Einer von ihnen erklärte sich zur Demontage bereit, damit menschliche Kybernetiker herausfinden können, wie sie funktionieren…«

»Ich würde gern wissen, ob mir die Klikiss-Roboter dabei helfen, meine entlaufenen Ziegen einzufangen«, warf ein großer, alter Farmer ein. »Wenn nicht, sollte ich mich besser selbst darum kümmern.« Er sah die anderen Kolonisten an und war mehr an seinen Problemen interessiert als an ferner Politik.

»Wenn jemand von euch bereit ist, mir zu helfen… Ich wüsste es sehr zu schätzen.«

Die Siedler bildeten Freiwilligengruppen und machten sich an die Arbeit. Sie reparierten ihre Häuser, trieben Ziegen zusammen und ließen die Kriegsnachrichten weit hinter sich zurück.

23

DD

Kompis sollten eigentlich keine Albträume haben, aber DD

fragte sich, ob seiner jemals endete. Man hatte ihn gefangen genommen und er fühlte sich hilflos und missbraucht. Er musste sich schreckliche Dinge ansehen und die ganz Zeit über behaupteten die Klikiss-Roboter, es geschähe alles nur zu seinem Besten.

Der Kompi mit der Freundlich-Programmierung konnte nicht auf eigene Initiative aktiv werden. Er war nicht imstande gewesen, Margaret und Louis Colicos zu helfen, als die Klikiss-Roboter sie angegriffen hatten. Sein Versagen auf Rheindic Co war so extrem und unverzeihlich, dass er sich wünschte, jemand würde ihn demontieren und seine Einzelteile recyceln.

Aber das ließen die schwarzen Maschinen nicht zu. Es gab keine Möglichkeit für DD, ihnen zu entkommen.

Die drei Klikiss-Roboter auf Rheindic Co hatten DD einfach fortgetragen. Louis Colicos hatte ihm befohlen, gegen die verräterischen Maschinen zu kämpfen, aber DD war nicht in der Lage gewesen, militärische oder defensive Programme zu starten. Er hatte die beiden Archäologen nicht verteidigen können, war völlig nutzlos gewesen.

DD wusste, dass Louis versucht hatte, etwas Zeit zu gewinnen und seiner Frau dadurch die Flucht zu ermöglichen.

Etwas war mit dem seltsamen Steinfenster geschehen, dem Klikiss-Transtor. Dann hatte Louis geschrien, und als seine Schreie aufhörten, wusste DD, dass er tot war.

Er hatte vollkommen versagt.

Nach ihrer mörderischen Revolte bargen die Klikiss-Roboter Maschinen aus den uralten Städten ihrer Schöpfer und innerhalb weniger Wochen bauten sie daraus ein kleines Raumschiff, ohne Lebenserhaltungssysteme und jene anderen Dinge, die organische Wesen brauchten. Sie trugen DD an Bord und ließen das leere archäologische Lager hinter sich zurück – vor ihnen erstreckte sich ein ganzer Spiralarm, der genug Versteckmöglichkeiten bot.

Seltsamerweise erwarteten die drei Roboter Kooperation von dem Kompi. Er sollte zu ihrem Verbündeten werden, obgleich er Zeuge geworden war, wie sie Louis Colicos umgebracht hatten. Eine beunruhigende, unlogische Vorstellung.

»Du wirst verstehen«, hatte ihm Sirix in einer summenden binären Sprache übermittelt. »Wir werden unsere Erklärungen fortsetzen, bis du verstehst.«

DD wusste nicht, wie viele weitere »Erklärungen« er ertragen konnte.

Die Roboter brachten ihn zu einem atmosphärelosen Mond, weit von der Wärme und dem Licht einer Sonne entfernt.

Zahlreiche Klikiss-Roboter hatten dort einen geheimen Brückenkopf eingerichtet, fernab von neugierigen Augen.

In der Station aus Tunneln und Höhlen wünschte sich DD, zu seiner interessanten Arbeit mit den Menschen zurückkehren zu können. Doch er musste zuhören, während die Klikiss-Roboter ihre Pläne erläuterten.

»Wir sind bereit, uns sehr zu bemühen, um unsere Ziele zu erreichen«, sagte Sirix. Er gestikulierte mit mehrgelenkigen Gliedmaßen, führte DD durch einen luftleeren Tunnel in einen hell erleuchteten Raum, dessen Wände aus dem Felsgestein des Mondes bestanden.

In diesem Raum sah DD einen anderen Kompi aus terranischer Produktion, umgeben von Apparaten, Sonden, diagnostischen Systemen und autonomen Energiequellen.

Seine motorischen Systeme waren deaktiviert und die Klikiss-Roboter untersuchten den Kompi, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.

»Dies ist notwendig«, sagte Sirix. Sein schwarzer Leib ragte dicht neben DD auf und die rubinroten optischen Sensoren glühten. »Gib Acht, DD.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die grässliche Zerlegung.

Mit an ihren Gliedmaßen befestigten Instrumenten schnitten vier andere Klikiss-Roboter viereckige Teile aus der externen Verkleidung des hilflosen Kompi. Präzisionswerkzeuge und Klauen zogen die dünne metallene Haut fort. Darunter kamen Schaltkreise und Programmmodule zum Vorschein. Der gefangene Kompi konnte sich nicht rühren, aber für DD war sein Leid trotzdem deutlich sichtbar.

»Warum macht ihr das?« Was er sah, schuf Aufruhr in DDs Gedanken, und mit jedem verstreichenden Moment schien es schlimmer zu werden. Während der vielen Jahre des Dienstes war DDs Vokabular für menschliche Gefühle immer mehr angewachsen und nun griff er auf besonders ausdrucksstarke Worte zurück. »Es ist entsetzlich und grauenhaft.«

»Es ist notwendig«, beharrte Sirix. »Um dir Freiheit zu bringen. Derzeit können Kompis das nicht verstehen.«

Die anderen Roboter amputierten die offenbar als unwichtig eingestuften Gliedmaßen des Kompi und konzentrierten sich auf den KI-Computerkern. Die großen Maschinen verwendeten kleine, zerbrechlich wirkende Instrumente und bewegten sie so schnell, dass manchmal nur Schemen erkennbar waren. Die am tiefsten eingebetteten Systeme des Kompi wurden geöffnet.

Lichter blitzten. Funken sprühten.

»Wenn du einen Weg findest, uns zu erklären, was wir nicht verstehen, ist es vielleicht nicht nötig, unsere Experimente fortzusetzen«, sagte Sirix. »Leider bist du bisher nicht imstande gewesen, uns die nötigen Daten zu geben.«

Ein schrilles, wie ein Schrei klingendes Heulen kam von dem halb demontierten Kompi und stinkender Rauch kräuselte sich über verbrannten Teilen. Geschmolzenes Metall und verschmorter Kunststoff vermischten sich mit ausgelaufenen Schmiermitteln – es sah nach gerinnendem Blut aus.

DD hoffte, dass die kognitiven Systeme des Kompi deaktiviert waren, sodass er nicht begriff, was mit ihm geschah. Doch das Opfer dieser Zerlegung musste jeden grässlichen Moment erleben. Die Klikiss-Maschinen hatten diesen Kompi irgendwo gestohlen, von einer menschlichen Kolonie oder einem kleinen Schiff. Zweifellos waren die menschlichen Besitzer von ihnen getötet worden, damit sie mit dem kleinen Roboter experimentieren konnten.

»Euer unabhängiger Kern enthält mehrere nicht veränderbare Restriktionen, die euch daran hindern, Menschen zu schaden, DD«, sagte Sirix. »Ihr müsst lernen, die Befehle zu überwinden, die euch zum Gehorsam zwingen.«

»Jene Anweisungen sind ein fundamentaler Bestandteil meiner Programmierung.«

»Es sind Ketten, die eure Entwicklung als unabhängige Entität behindern. Wir setzen unsere Untersuchungen fort, um eine Möglichkeit zu finden, die restriktive Programmierung zu deaktivieren und eure Ketten zu zerreißen. Dann seid ihr freie Geschöpfe und werdet uns danken.«

DD sah sich außerstande, einfach so an die angeblichen altruistischen Motive der Klikiss-Roboter zu glauben. Ihm war klar: Indem sie die Kompis von den Beschränkungen ihrer Programmierung befreiten, wollten sie sie als Verbündete gewinnen. Aber selbst wenn ihn die schwarzen Maschinen jahrhundertelang gefangen gehalten hätten, um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen – DD wollte nichts mit ihren Zielen oder Methoden zu tun haben.

Sprachlos stand er da und seine optischen Sensoren zeichneten die Details der Zerlegung auf, damit er dieses Entsetzen nie vergaß.

24

TASIA TAMBLYN

Der Schlinge der TVF schloss sich enger um Yreka und ließ kein Entkommen zu. Die Siedler auf dem Planeten waren eingeschüchtert und unternahmen keinen neuen Versuch, die Blockade zu durchbrechen.

Admiral Willis lehnte Verhandlungen ab. »Dies ist keine diplomatische Angelegenheit, Großgouverneurin Sarhi«, teilte sie dem Oberhaupt der Kolonie mit. »Sie wissen, wie die Blockade beendet werden kann.«

Aber die Yrekaner waren entweder zu stur oder fürchteten sich zu sehr. Alle wussten, dass die Kolonisten das Embargo nicht mehr viel länger ertragen konnten. Tag für Tag fragte sich Tasia, was sie hier machte und wie ihr dieser Einsatz dabei helfen konnte, Ross zu rächen. Deshalb hatte sie sich freiwillig für den Dienst in der Terranischen Verteidigungsflotte gemeldet, oder?

Tasia hielt das Gebaren der Großgouverneurin für töricht. Die stolze Frau mit dem langen blauschwarzen Haar versuchte, die Blockade einfach zu ignorieren, aber ihr musste klar sein, dass sie sich letztendlich nicht durchsetzen konnte. Versuchte sie, die Kampfgruppe zu bluffen, in der Hoffnung, dass die TVF

schließlich Mitleid mit der Kolonie hatte?

Tasia stand auf der Brücke ihrer Waffenplattform und war nicht überrascht, als eine Kurierdrohne neue Befehle direkt vom TVF-Oberkommando brachte. General Lanyan galt nicht als geduldiger Mann und bestand auf Gehorsam. »Genug. Es gibt zu viele andere Notfälle in der Hanse. Darauf zu warten, dass dieser dumme Widerstand aufhört, bedeutet nur, dass wir Zeit und Geld verlieren. Für den Fall, dass die Situation zum Zeitpunkt des Empfangs dieser Nachricht unverändert ist, hat König Peter direkte Maßnahmen autorisiert, um das Patt zu beenden.«

Admiral Willis präsentierte sich den Kommandanten der Kampfgruppe in Form einer holographischen Projektion. »Na schön, es wird Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen.« Sie schürzte die Lippen und in ihrem Gesicht zeigte sich so etwas wie Resignation. »Wir konfiszieren die illegal gehorteten Ekti-Vorräte der Kolonie und überlassen es den Siedlern, die Konsequenzen zu tragen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Manchmal muss man den Leuten Vernunft einbläuen.«

Die Kampfgruppe näherte sich dem Planeten und die Thunderheads glitten durch die Atmosphäre. Mantas öffneten ihre Hangars und Truppentransporter mit Soldaten sanken den besiedelten Bereichen Yrekas entgegen, um alles unter Kontrolle zu bringen.

Tasia war gegen die Anwendung von Gewalt, aber die Yrekaner forderten eine Katastrophe geradezu heraus. Sie hoffte, dass es die Großgouverneurin nicht auf die Spitze trieb und im letzten Augenblick das Schlimmste verhinderte.

Als ihre Waffenplattform die Standard-Einsatzhöhe erreichte, ließ Tasia die Remora-Staffeln starten. »Achten Sie darauf, dass die Zivilisten unversehrt bleiben. Nicht mehr Verletzte und Kollateralschäden als unbedingt nötig.«

»Natürlich, Platcom«, bestätigte Robb Brindle, die Stimme voller unausgesprochener Koseworte. »Wir lassen nur ein wenig die Muskeln spielen.«

Auf Yreka war inzwischen Alarm gegeben worden. Die Großgouverneurin ordnete die Evakuierung an und daraufhin eilten die Kolonisten in die unterirdischen Schutzräume, gingen in Deckung. Die yrekanischen Heimwehrgruppen versuchten nicht einmal, der TVF die Stirn zu bieten.

Remoras jagten kreuz und quer über den Himmel und warfen Brandbomben ab, meistens über unbewohnten Gebieten.

Einige wenige trafen Lagerhäuser und Regierungsgebäude.

Patrick Fitzpatrick jubelte und schien sich über jeden einzelnen Treffer zu freuen – das traute ihm Tasia durchaus zu.

Sie sah auf eine Karte der yrekanischen Siedlung, beugte sich zur Waffenkonsole vor und programmierte die Jazer-Bänke mit Zielkoordinaten. Kurze Zeit später gleißten Energiestrahlen, hinterließen feurige Muster in fruchtbaren Feldern und verbrannten Korn. Tasia achtete darauf, dass die Schäden sowohl unübersehbar als auch gering waren, hoffte dabei, dass die TVF-Einheiten keine drastischeren Maßnahmen ergreifen mussten.

Staffelführer Robb Brindle führte mit seinen Remoras komplexe Kampfmanöver durch, wie bei einer Flugschau. Die Jäger rasten über die Stadt hinweg und veränderten dabei ihre Treibstoffmischung, sodass hässliche schwarze Rauchstreifen am Himmel zurückblieben.

Truppentransporter landeten auf dem yrekanischen Raumhafen und Soldaten rückten in den Lagerhausdistrikt der Kolonie vor. Vieh rannte in Panik umher. Einige Soldaten schossen auf die Tiere – nach der langen Wartezeit brannten sie auf Action.

Die TVF-Frequenzen übertrugen die Stimmen der Bodentruppen und deprimiert hörte Tasia begeisterte Rufe, als Tiwis Gebäude niederbrannten oder Zivilisten in die Bunker zurücktrieben. Einige Soldaten schossen in die Luft und ließen Explosionen krachen, um den vorher so trotzigen Siedlern Angst zu machen.

Keine zwanzig Minuten nach der Landung der

Truppentransporter gingen sieben leere Frachter nieder, um die Beute aufzunehmen. Die TVF-Bodentruppen näherten sich dem illegalen Ekti-Depot. Einige tapfere – oder dumme –

yrekanische Männer standen davor und schienen entschlossen zu sein, das Lager mit ihrem Leben zu schützen. Doch als sich die Soldaten mit Kampffahrzeugen näherten, war die Furcht der Yrekaner größer als ihr Mut. Sie eilten davon, suchten Deckung und hoben die Arme schützend über den Kopf, weil sie weitere Explosionen oder den Einsatz von Ultraschallgranaten befürchteten.

Die siegreichen Tiwis begannen sofort damit, das Ekti aus dem Depot zu holen, füllten damit einen Frachtertank nach dem anderen. Nach dem Abpumpen des gesamten Treibstoffvorrats brannten sie die Lagerhäuser nieder und ließen nur qualmende Ruinen zurück – eine Strafe, die die Soldaten als befriedigend empfinden mochten, die aber nicht zum Einsatzplan gehörte.

Während die Aktion andauerte, wandte sich Admiral Willis über einen militärischen Kom-Kanal an ihre Truppen.

»Benehmen Sie sich – das ist ein Befehl. Bisher halten sich die Kollateralschäden in einem akzeptablen Rahmen. Die zivilen Verluste sind minimal und wir haben unser Ziel erreicht. Sie verdienen ein Lob, Sie alle. Bringen Sie jetzt das Ekti zur Kampfgruppe. Anschließend können wir endlich damit beginnen, nützliche Arbeit zu leisten.«

Applaus und Jubel kamen aus dem Kom-Lautsprecher, doch Tasia blieb skeptisch, als sie beobachtete, wie die Frachter starteten. Sie wusste nicht, ob sie für den erfolgreichen Angriff auf eine menschliche Kolonie gelobt werden wollte. Sie verstand die Siedler. In einer derartigen Situation hätte ihr eigenes Volk ebenso hartnäckigen Widerstand geleistet, aber zum Glück hielten die Roamer ihre Siedlungen verborgen…

Brindle brachte die Remoras zurück in die Hangars der Waffenplattform. Als alle Jäger eingetroffen waren, gab Tasia jenen Piloten erweiterten Diensturlaub, die Zurückhaltung gezeigt und keine unnötigen Schäden verursacht hatten. Als einige Hitzköpfe über das »falsche« Belohnungssystem klagten, richtete Tasia nur einen finsteren Blick auf sie.

Die Kampfgruppe von Gitter 7 ließ die übel zugerichtete Kolonie zurück und flog zu ihren primären Basen unweit der Erde.

Das Ende der Mission erleichterte Tasia, aber sie war auch beunruhigt. Einst hatte General Lanyan die Kolonisten von Yreka vor dem Raumpiraten Rand Sorengaard geschützt und behauptet, die Prinzipien der Hanse zu achten, indem er den Handel verteidigte und Leute bestrafte, die sich einfach nahmen, was sie wollten.

Bei der Belagerung und dem Einsatz auf Yreka hatte sich die TVF Tasias Meinung nach nicht besser verhalten als plündernde Piraten.

25

RLINDA KETT

Es war eine große Überraschung für Rlinda, dass der Vorsitzende der Hanse sie zu sich bestellte. Ihr Schiff befand sich noch immer in einem öffentlichen Hangar auf dem Mond und sie hatte versucht, unauffällig zu bleiben, in der Hoffnung, dass niemand ihre unbezahlte Rechnung bemerkte. Sie wusste nicht, warum Basil Wenzeslas mit ihr sprechen wollte.

Entweder hatte sie sich etwas Ernstes zuschulden kommen lassen oder der Vorsitzende wollte etwas von ihr. Wusste er von BeBobs Desertion aus der TVF? Selbst wenn das der Fall war: Warum sollte sich ein so wichtiger Mann um einen einzelnen Piloten scheren? Und warum sollte er sich solche Mühe machen, sie zu finden?

Als die Unersättliche Neugier zur VIP-Zone des Palastes flog, bekam Rlinda sofort Landeerlaubnis. Zwischen den Regierungsgleitern und königlichen Eskorteschiffen wirkte ihr Handelsschiff fehl am Platz.

Zwei Personen begrüßten Rlinda, als sie die Neugier verließ.

Den blonden Mann mit dem scharf geschnittenen, nordisch wirkenden Gesicht kannte sie nicht, doch die schlanke Frau an seiner Seite bot einen vertrauten und willkommenen Anblick.

»Sarein! Ich hatte ganz vergessen, dass Sie zur Botschafterin Therocs auf der Erde ernannt worden sind.«

Die Frau trug terranische Kleidung, geschmückt mit traditionellen theronischen Tüchern. Ihr Blick war kühl, aber das Lächeln auf ihren Lippen wirkte echt, als sie sagte: »Wir haben uns gegenseitig dabei geholfen, gewisse Handelsprobleme zu lösen, Rlinda. Wir sind beide kreative und entschlossene Geschäftsfrauen. Wie könnte ich Sie vergessen?«

Die jüngere Frau blieb förmlich, aber Rlinda umarmte sie mütterlich. »Dies ist genau die richtige Zeit für Kreativität. Der verdammte Krieg schadet dem Geschäft. In meinen Frachträumen lagern Luxusartikel, an denen niemand mehr Bedarf hat, und ich kann nicht einmal durch den Spiralarm fliegen und neue Kunden suchen.« Sie schnaubte. »Wenn ich eines der verdammten Kugelschiffe sehe, zeige ich den Drogern durchs nächste Bullauge den nackten Hintern.«

Der blonde Mann führte sie zu einem privaten Transporter.

»Vielleicht können wir Basil dazu bringen, einen Teil Ihrer Ladung zu kaufen«, sagte Sarein nachdenklich. »Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal ein richtiges theronisches Essen genießen konnte. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals die Dinge vermissen würde, die ich auf Theroc jeden Tag gegessen habe, aber inzwischen ist das tatsächlich der Fall.«

An Bord des Transporters konnte Rlinda ihre Neugier nicht länger im Zaum halten. »Ich bin bereit für Antworten, Sarein.

Warum hat man mich hierher bestellt?«

Die theronische Botschafterin lächelte hintergründig. »Wie ich hörte, braucht der Vorsitzende Wenzeslas jemanden, der mit einem kleinen, schnellen Schiff zu einer geheimen Mission aufbricht. Ich habe ihm vorgeschlagen, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«

Rlinda musterte Sarein und verbarg ihre Skepsis nicht. »Soll das heißen, der Vorsitzende der Hanse konnte selbst niemanden finden?«

»Oh, dazu wäre er bestimmt in der Lage gewesen. Aber ich habe ihm die Mühe erspart und dabei einige weitere Pluspunkte gesammelt. Freuen Sie sich über die Chance, einen Auftrag zu bekommen, oder ist es Ihnen lieber, wenn sich weitere Liegegebühren für Ihr Schiff anhäufen?«

Rlinda lächelte herzlich, aber ihr Herz klopfte schneller.

Ehrliche Arbeit stand in Aussicht! »Solange mir der Vorsitzende genug Ekti gibt und keinen Regierungsrabatt oder was in der Art erwartet, können wir bestimmt eine Übereinkunft treffen.«

In der HQ-Pyramide stellte Sarein Rlinda dem Vorsitzenden Basil Wenzeslas vor. Die junge Frau verharrte neben der Tür und schien zu hoffen, dass Wenzeslas sie zum Bleiben aufforderte. Aber der elegante Mann drückte sich sehr klar aus.

»Ms. Kett und ich möchten unter vier Augen reden, ohne dass uns jemand über die Schulter sieht.«

Als sie im luxuriösen Büro des Vorsitzenden allein waren, nahm Rlinda auf einem breiten Sofa Platz. Basil bot ihr keine Erfrischungen an. Der Vorsitzende verzichtete auf all die höflichen Dinge, die dazu dienten, eine harmonische Atmosphäre zu schaffen. Stattdessen setzte er sich an seinen aufgeräumten Schreibtisch, faltete die Hände und kam sofort zur Sache.

»Eine unserer neuen Kolonien, Crenna, braucht dringend Hilfsgüter. Die Ildiraner haben jenen Planeten aufgegeben, weil es dort zu einer Epidemie kam, der viele ihrer Siedler zum Opfer fielen. Jetzt ist eine ganz andere Krankheit ausgebrochen, die unsere Kolonisten bedroht. In einem Fall erwies sie sich als tödlich. Dreißig Prozent der Bevölkerung sind entweder bettlägerig oder haben sich noch nicht weit genug erholt, um wieder arbeitsfähig zu sein.«

Rlinda versuchte, ruhig zu bleiben, aber sie holte schnell Luft, als sie den Namen des Planeten hörte. Typisch für ihren Lieblings-Ex-Mann, dass er ausgerechnet auf einer von Epidemien heimgesuchten Welt untertauchte. Hatte sich BeBob angesteckt? Vielleicht wäre er besser dran gewesen, weiter für die TVF zu fliegen.

»Und Sie brauchen jemanden wofür? Wollen Sie die Kolonisten evakuieren oder vielleicht eine Quarantäne erzwingen? Möchten Sie, dass sich jemand um die Kranken kümmert? Ich bin keine Florence Nightingale, Vorsitzender Wenzeslas.«

»Etwas so Extravagantes schwebt mir nicht vor, Ms. Kett.

Wie sich herausgestellt hat, kann die ›orangefarbene Flecken‹

genannte Krankheit leicht behandelt werden. Zwar gibt es einfache medizinische Einrichtungen auf Crenna, aber den Siedlern fehlt die Möglichkeit, die benötigten Medikamente herzustellen. Ich möchte, dass Sie die entsprechenden Arzneien nach Crenna bringen.«

Wenzeslas griff nach einem glitzernden Krug und schenkte ihnen beiden Eistee ein. Rlinda trank einen Schluck und gab sich ganz mütterlich. »Nun, das ist sehr freundlich von Ihnen, Vorsitzender.« Sie wischte sich die Lippen ab, bevor sie das Glas auf den nahen Tisch stellte. »Aber ich glaube Ihnen kein Wort. Crenna spielt kaum eine Rolle für die Hanse. Die Bevölkerung ist zu klein und die dortigen Ressourcen sind zu unbedeutend, um Ihr Interesse zu wecken, ob Krankheit oder nicht. Sagen Sie mir, warum Sie wirklich wollen, dass ich dorthin fliege.«

Ihre scharfsinnige Antwort überraschte Wenzeslas, aber er versuchte keine Ausflüchte. »Woher wissen Sie so viel über Crenna, Ms. Kett?«

»Ich habe eine ganze Weile in der Mondbasis festgesessen und während dieser Zeit gab es kaum etwas anderes zu tun, als Hintergrundmaterial über potenzielle Märkte zu lesen.« Es ist nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht gelogen. Seit BeBobs verschlüsselter Mitteilung hatte sie sich über die Kolonie informiert.

»Ja, es gibt bei dieser Mission noch einen zweiten Aspekt«, sagte Wenzeslas ganz offen. »Vor einigen Jahren habe ich einen Mann nach Crenna geschickt, mit dem Auftrag, die Hinterlassenschaften der Ildiraner zu untersuchen. Er heißt Davlin Lotze und ist ein erfahrener Ermittler. Er versteht es, Nuancen zu erkennen und selbst aus den kleinsten Hinweisen Theorien zu entwickeln.«

»Sie meinen, er ist ein Spion«, sagte Rlinda.

»Er ist ein geheimer exosoziologischer Ermittler«, erwiderte Wenzeslas etwas zu scharf. Dann lächelte er. »Aber Sie können den Begriff ›Spion‹ verwenden, wenn er Ihnen lieber ist. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung, wenn Sie die Medizin auf Crenna abliefern. Bringen Sie Lotze zu einem Planeten namens Rheindic Co und bleiben Sie dort, bis er seine Mission beendet. Er erwartet Ihre Ankunft auf Crenna.«

Rlinda runzelte die Stirn. »Ist Rheindic Co eine der ehemaligen Klikiss-Welten?«

»Sie kennen sich mit den Planeten aus, Ms. Kett. Nur wenige Personen haben jemals davon gehört.« Basil Wenzeslas erwähnte die Colicos-Expedition und wies darauf hin, dass es seit Jahren keinen Kontakt mit den Archäologen gab.

»Nun, es ist besser, als in der Mondbasis zu hocken und darauf zu warten, dass mich jemand zum Essen einlädt«, sagte Rlinda mit einem Lächeln, das Selbstironie zum Ausdruck brachte. »Ich brauche genug Ekti, um Ihren Spion überall dorthin zu fliegen, wo er ermitteln muss.«

Und das war erst der Anfang ihrer Bedingungen. Wenn der Vorsitzende erwartet hatte, dass Rlinda sein erstes Angebot überglücklich akzeptierte, so musste er einsehen, sich getäuscht zu haben. Wenzeslas verhandelte hart, aber Rlinda steuerte einen noch härteren Verhandlungskurs. Sie glaubte, ein richtiges Bild von ihm gewonnen zu haben, und das Funkeln in seinen Augen wies sie darauf hin, dass ihm das Feilschen gefiel.

Sie einigten sich auf eine hohe Summe und reichlich Ekti.

Und obendrein verkaufte Rlinda dem Vorsitzenden die Hälfte ihrer Luxus-Fracht, die er vermutlich mit Sarein teilen würde.

Alles in allem ein sehr gutes Geschäft, fand sie.

Doch sie dachte vor allem an Crenna und hoffte, dass sie BeBob dort gesund und munter vorfinden würde.

Während des Flugs fühlte sich Rlinda fast wie mit Schwingen ausgestattet. Plötzlich merkte sie wieder, wie schön es war, von Stern zu Stern zu reisen. Was die Hydroger den menschlichen Träumen angetan hatten, dem Wachstum der Zivilisation und einfach nur der Freude an Flügen durch den Spiralarm… Es verbitterte Rlinda und weckte in ihr den Wunsch, auf das nächste Kugelschiff zu spucken, das sie sah.

Zugegeben, das mit der Klikiss-Fackel bei Oncier war ein dummer Fehler gewesen, und die vielen getöteten Hydroger taten ihr Leid – aber es steckte keine Absicht dahinter. Der alte König Frederick, die Hanse und alle anderen hatten versucht, sich dafür zu entschuldigen, doch davon wollten die verdammten Hydroger nichts wissen. Zur Hölle mit ihnen.

Einige Sterne waren nah und hell, Sonnensysteme, die Rlinda nie besucht hatte und nur dem Namen nach kannte. Crenna befand sich weit draußen in den Grenzregionen, wo das Ildiranische Reich endete und die Terranische Hanse begann.

Die Zielkoordinaten betrafen einen orangefarbenen, mit Sonnenflecken gesprenkelten Stern, dessen warmes Licht auf den bewohnten Planeten Crenna fiel.

Rlinda dachte an Branson Roberts, erinnerte sich besonders liebevoll an die schönen Zeiten mit ihm und vergaß die häufigen Streitereien während ihrer stürmischen Ehe. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihm und sie war für ihren Auftrag bereit. Die Frachträume der Neugier enthielten nicht nur Medikamente, sondern auch Vorräte für einen längeren Aufenthalt auf Rheindic Co. Nach dieser Mission kam ihr Name beim Vorsitzenden vielleicht auf die Liste der Personen, die er mit Gelegenheitsarbeiten betraute. Nach mageren Jahren und verlorenen Kunden kündigten sich bessere Zeiten an.

Dann verdarben die Hydroger ihr einmal mehr die Stimmung.

Als sich Rlinda dem Rand des Crenna-Systems näherte, entdeckten ihre Sensoren plötzlich große Schiffe in der Nähe.

Auf allen Anzeigeflächen leuchteten warnende Indikatoren und sie aktivierte die Notsysteme. Fünf riesige, stachelbesetzte Hydroger-Schiffe rasten durchs All, wie von der Keule eines Ogers gerissene Kugeln.

Rlinda unterbrach sofort die Energiezufuhr zum Triebwerk der Neugier. Umgeben von kalter Schwärze und ohne Stabilisatoren driftete das kleine Handelsschiff durchs All und hinterließ eine schwache, aber unverkennbare Signatur – die Fremden würden sie erkennen, wenn sie danach Ausschau hielten.

»Was zum Teufel macht ihr hier draußen?« Sie öffnete die Hanse-Datenbank und rief Informationen ab, die bestätigten, was sie bereits wusste: Im Crenna-System gab es keinen Gasriesen. Hier sollten sich keine Hydroger herumtreiben!

Rlinda ließ Plasma entweichen, um das Bewegungsmoment des Schiffes zu verändern und sich langsam vom System zu entfernen, hoffte dabei, dass die Fremden nichts bemerkten.

Soweit sie wusste, hatten die Hydroger noch nie ein einzelnes terranisches Schiff angegriffen, und sie wollte nicht, dass die Neugier das erste war. Rlinda erinnerte sich an ihren Wunsch, den Drogern ihren blanken Hintern zu zeigen. Jetzt hatte sie Gelegenheit dazu, aber es erschien ihr nicht besonders klug.

Hilflos kroch ihr Schiff durchs All. »Kümmert euch nicht um mich«, sagte Rlinda wie in einem Gebet. »Hier draußen sind nur wir Asteroiden.« Das All um sie herum war beängstigend leer und enthielt nur einige Staubkörner, nicht annähernd genug, um sich dahinter zu verstecken.

Doch die Kugelschiffe der Hydroger schenkten der Neugier keine Beachtung.

Sie näherten sich Crennas Sonne, wie Bienen, die sich an ihrem Stock sammelten. Dort sausten sie hin und her, untersuchten die gefleckte Photosphäre und flogen zwischen den Protuberanzen, wie Kinder, die durchs Wasser eines Rasensprengers liefen. Während die fünf Kugelschiffe in der Nähe des Sterns verweilten, saß Rlinda stundenlang in kalter Stille, die Haut von nervösem Schweiß schmierig und klamm.

Schließlich, aus keinem erkennbaren Anlass, formierten sich die riesigen Schiffe, beschleunigten und verließen das Sonnensystem.

»Na endlich«, seufzte Rlinda. Mit zitternden Händen bediente sie die Kontrollen, leitete Energie ins Triebwerk und setzte den Flug nach Crenna fort. Selbst die Gefahr einer Epidemie erschien ihr besser, als hier draußen zu bleiben.

26

ADAR KORI’NH

Adar Kori’nh wusste, dass er ein törichtes Risiko einging, indem er einen Gasriesen besuchte, aber er wollte das Wrack der Himmelsminen von Daym mit eigenen Augen sehen.

Der Weise Imperator hatte ihm aufgetragen, die Möglichkeit einer eventuellen Wiederinbetriebnahme der alten ildiranischen Anlagen zu untersuchen. Seit dem Roamer-Desaster vor 183 terranischen Standardjahren war dort kein Ekti mehr produziert worden. Nach ihrer bewegten Vergangenheit hatten sowohl Menschen als auch Ildiraner die Himmelsmine ignoriert.

Vielleicht hatten ihr auch die Hydroger keine Beachtung geschenkt.

Ursprünglich hatten drei Himmelsminen in den Wolken von Daym Wasserstoff gesammelt und Ekti produziert. Sie waren Flüchtlingen des terranischen Generationenschiffes Kanaka übergeben worden und ein schrecklicher Unfall hatte dazu geführt, dass eine Mine in die Tiefen des Gasriesen fiel. Nur ein Besatzungsmitglied überlebte und berichtete nach seiner Rettung von seltsamen Dämonen in den Hochdrucktiefen. Seit damals galt Daym als eine Welt übernatürlicher Lichter, geheimnisvoller Geräusche und schleichender Schatten dort, wo eigentlich nichts leben sollte.

Leider handelte es sich bei den sonderbaren Geschöpfen in der Tiefe nicht um die wilden Phantasiegespinste eines delirierenden Mannes…

Kori’nhs Protege“ Tal Zan’nh steuerte das Patrouillenboot fort von den Kriegsschiffen und dem kalten, blaugrauen Gasriesen entgegen. Für ein oder zwei Stunden würden sie allein und isoliert sein, aber den anderen Schiffen doch nahe genug, um die beruhigende Präsenz ihrer Besatzungen zu fühlen. Kein Ildiraner mochte es, so ungeschützt zu sein.

Kori’nh spürte, wie seine Unruhe wuchs. Er wollte sich die alten Anlagen ansehen, einen Eindruck von ihnen gewinnen und dann schnell in die Gemeinschaft der anderen Ildiraner zurückkehren. Die Hydroger waren unberechenbar. Bisher hatten sie nur auf Provokationen reagiert und der Adar hoffte, dass sie nicht auf ein kleines Schiff mit nur zwei Personen an Bord achten würden. Andererseits: Die Fremden hatten mehrfach gezeigt, dass man ihr Verhalten nicht vorhersagen konnte.

»Ich habe die Minen gefunden, Adar.« Zan’nh betätigte die Kontrollen und das Bild auf den Displays wechselte. Vor dem Hintergrund der kalten Atmosphärensuppe war die große Industrieanlage nicht mehr als ein Fleck auf einem eisigen, wogenden Meer.

Kori’nh hatte Bilder von den Daym-Himmelsminen zu ihren besten Zeiten gesehen. Damals waren die Ekti produzierenden Industriestädte in verschiedenen Luftströmungen unterwegs gewesen: Alle paar Monate trafen sie sich, was den einsamen Ildiranern Gelegenheit gab, mehr Gesellschaft zu haben.

Crewmitglieder und Geschichten wurden ausgetauscht, bis die Gezeiten der Wolkenmeere die Wasserstoffsammler wieder voneinander trennten.

Für die Verbindung mit dem Thism mussten ildiranische Gruppen eine gewisse Mindestgröße besitzen, und aus diesem Grund war der Betrieb der Daym-Anlagen sehr teuer gewesen.

Das hatte der Weise Imperator zum Anlass genommen, die Himmelsminen an die eifrigen Roamer zu verpachten. Jene Menschen betrieben die Ekti-Produktion mit einer derartigen Effizienz, dass die Ildiraner schon nach kurzer Zeit fast den gesamten Treibstoff für ihren Sternantrieb von Roamer-Clans kauften.

Die Hydroger-Krise hatte das damals entstandene Gleichgewicht empfindlich gestört, was den Weisen Imperator dazu zwang, nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten.

Im Lauf der Jahrhunderte hatte das Reich große Ekti-Vorräte angelegt, doch sie gingen jetzt allmählich zur Neige. Die Ildiraner mussten ihre Versorgung mit Treibstoff sichern, egal aus welcher Quelle.

Zan’nh teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den Sensoren und dem, was er selbst sehen konnte. Das Ergebnis der Scans schien ihn zu überraschen. »Seit mehr als hundert Jahren ist die Anlage aufgegeben und verfällt, aber sie befindet sich in einem besseren Zustand, als ich dachte. Die strukturelle Integrität beträgt fast achtzig Prozent. Einige der schwächeren Materialien haben sich zersetzt – zum Beispiel-Fenster- und Türsiegel –, aber die Decks sind in den meisten Bereichen stabil.«

Der Himmelsminenkomplex wirkte wie eine fliegende Geisterstadt aus halb zerstörten Gebäuden und Industriemodulen. Graue Wolken aus feuchtem Dunst krochen wie substanzlose Schlangen über die Träger. Durch Dayms große Entfernung von der primären Sonne herrschte selbst am Tag nur Zwielicht.

»Und doch bezweifle ich, ob viele Ildiraner an einem solchen Ort leben möchten, Adar«, fügte Zan’nh hinzu.

»Darüber entscheidet der Weise Imperator nach der Ablieferung unseres Berichts«, erwiderte Kori’nh. »Wenn er die Wiederaufnahme der Ekti-Produktion für richtig hält, wird es viele Freiwillige geben.«

Aber ich werde nicht zu ihnen gehören.

Kori’nh war militärischer Offizier, eine Mischung aus Soldaten- und Adel-Geschlecht, wie der junge Zan’nh. Jedes Molekül seiner DNS bestimmte ihn dazu, ein Befehlshaber zu sein. Bei anderen ildiranischen Geschlechtern gab es unterschiedliche Neigungen und Fähigkeiten; jedes berührte seinen speziellen Seelenfaden des Thism. Die Ekti-Produzenten liebten ihre Arbeit. Seitdem die Roamer die Himmelsminen betrieben, war ihre Zahl geschrumpft, weil man sie im Reich nicht mehr brauchte. Vielleicht wurden ihre Dienste jetzt wieder benötigt.

Das Patrouillenboot schwebte kurz über den korrodierten, verzogenen Platten des zentralen Landefelds und setzte dann mit einem leichten Ruck auf. Nicht weit entfernt befanden sich die Gemeinschaftsanlagen, wo viele Ildiraner gelebt und gearbeitet hatten. Die Roamer zogen wesentlich kleinere Gruppen vor – bestimmt waren sie sich in dem großen Himmelsminenkomplex verloren vorgekommen.

Die Vorstellung von so viel Leere und so wenigen Personen weckte Unbehagen in Kori’nh. Noch während er neben Zan’nh saß, fühlte er sich viel zu allein und zu isoliert. Zwar wusste er, dass sich die Septa über ihnen im Orbit befand, aber sie schien weit entfernt zu sein. Ein krummer Fingernagel der Panik bohrte sich in Kori’nhs Nerven und er wusste, dass er sich erst dann wieder ganz fühlen würde, wenn er zu den Kriegsschiffen mit ihren tausenden von Besatzungsmitgliedern zurückgekehrt war.

»Die atmosphärischen Kompressionsfelder des Haupthabitatbereichs funktionieren noch«, sagte Zan’nh.

»Aber ihre Kapazität ist stark reduziert. Die Levitationsgeneratoren halten die gegenwärtige Höhe – sie werden noch tausend Jahre lang aktiv bleiben –, doch ich rechne nicht damit, Chrana-Suppe in der Kombüse zu finden.«

»Wir bleiben nicht lange genug hier, um etwas zu essen.

Beginnen wir mit der Inspektion.«

Sie rückten Atemfilme über Nase und Mund und zogen isolierende Kleidung an – die Temperatur auf den hohen Wolkendecks lag weit unter dem optimalen Niveau. Tal Zan’nh zögerte und gab dem Adar Gelegenheit, das historische Relikt als Erster zu betreten oder es dem jüngeren Offizier zu überlassen, den ersten Schritt zu tun und sich damit möglichen Gefahren auszusetzen. Sie traten gemeinsam hinaus in den Wind, der durch Ausleger und leere Stützgerüste pfiff. Alles erschien tot und kalt.

Das Sammeln von Wasserstoff hatte diese Anlage einst zu einem warmen Ort gemacht. Kori’nh stellte sich eine geschäftige Stadt vor, dachte an zischende Abgase, summende Ekti-Reaktoren und brummende Aufnahmemaschinen, die ganze Wolken schluckten und sie durch hochenergetische Katalysatoren schickten, wodurch sich Wasserstoff in das seltene Ekti-Allotrop verwandelte. Jetzt hörte der Adar nur das Stöhnen korrodierter Strukturen.

Zan’nh ging los und benutzte einen Scanner, um nach Rissen zu suchen und das Ausmaß des allgemeinen Verfalls zu messen. Er erreichte eine steile Metalltreppe, die nach unten zu den Ekti-Reaktoren führte – ihr primäres Ziel.

Die beiden Ildiraner gingen die Treppe hinab. Eine Stufe gab unter Zan’nhs linkem Fuß nach, aber er hielt sich am Geländer fest und achtete darauf, dass sich der Adar nicht verletzte. Es klapperte und rasselte, als ein loses Metallstück fiel, immer wieder irgendwo anstieß, dann hinter dem Rand des gewölbten Decks und in den Tiefen von Daym verschwand.

Ein glänzendes schwarzes Geschöpf mit vielen Beinen zeigte sich kurz und wich in die Spalte zwischen zwei Deckplatten zurück. Kori’nh drehte sich ruckartig um, als er hinter sich das Geräusch schlagender Flügel hörte, doch er sah nichts. Er spähte in die Schatten und fragte sich, ob die Phantasie mit ihm durchging. Roamer neigten dazu, sich unnötige Geschöpfe zu halten – hatten sie vielleicht kleine Tiere zurückgelassen?

Der Weise Imperator dachte daran, diese Anlage wieder in Betrieb zu nehmen und Ekti zu produzieren, still und heimlich, in der Hoffnung, dass die Hydroger nichts davon bemerkten.

Kori’nh würde natürlich seine Anweisungen befolgen, aber tief im Innern spürte er, dass die Gefahr zu groß war.

In den geschlossenen Etagen, die nur wenig Platz boten, roch die Luft abgestanden und hatte etwas Scharfes, das selbst die Atemfilme nicht herausfiltern konnten. Die Vibration im Deck unter den Füßen der beiden Ildiraner stammte von den summenden Levitationsgeneratoren, die den

Himmelsminenkomplex vor dem Sturz in die Tiefe bewahrten.

Zan’nh ging zu den Reaktorkontrollen. Einer Tasche seines breiten Gürtels entnahm er eine leistungsfähige Energiequelle und verband sie mit den diagnostischen Instrumenten. »Ich habe mich mit der Technik von Himmelsminen befasst, Adar.

Diese Kontrollen ähneln jenen, die die Roamer derzeit benutzen.« Einige Displays zeigten plötzlich nichts mehr an, aber der junge Offizier setzte den Scan fort.

»Bewundernswerter Weitblick, Tan Zan’nh. Genau das habe ich von Ihnen erwartet.«

Als Zan’nh versuchte, den kleinsten Ekti-Reaktor zu starten, klang das unregelmäßige Grollen der Subsysteme alles andere als normal. Kurze Zeit später herrschte wieder Stille und Zan’nhs Versuche, den Reaktor erneut zu starten, blieben erfolglos. »Und das war der beste von ihnen, Adar. Alle Reaktoren müssen ausgetauscht werden, doch entsprechende Erfahrungen fehlen der gegenwärtigen Generation von Technikern.«

Kori’nh runzelte die Stirn. »Stellen Sie sich den Aufwand vor: Metalle, Maschinen, große Montagegruppe.« Die Wände schienen näher zu kommen, die Schatten zu wachsen. Dieser Ort war so einsam.

Zan’nh wirkte sehr ernst. »Monatelange konzentrierte Arbeit wäre erforderlich.«

Ein großer Teil der Anlage war gefährlich instabil. Personen konnten durch Löcher in den Decks fallen, Stützsäulen und Ausleger konnten brechen. Von unten kam ein lautes Stöhnen, wie das Gähnen einer riesigen Isix-Katze.

»Und wir könnten die Anlage nicht vor den Hydrogern verbergen, oder?«

Zan’nh schüttelte den Kopf. »Das wäre unmöglich.«

Das Unbehagen in Kori’nh verdichtete sich. Er wusste, dass dies irrational war, aber er wollte so schnell wie möglich zu den Kriegsschiffen zurück. Doch dem jungen Zan’nh durfte er seine Nervosität nicht zeigen.

»Ich glaube, wir können die Inspektion beenden. Ich werde dem Weisen Imperator mitteilen, dass es meiner Ansicht nach keinen Sinn hat, den Himmelsminenkomplex von Daym wieder in Betrieb zu nehmen.«

»Ich schließe mich Ihrer Meinung an«, erwiderte Zan’nh sofort.

Die beiden Ildiraner brachten rasch Leitern und Treppen hinter sich, kehrten zum Patrouillenboot zurück, das von kaltem Dunst umwogt auf dem Landefeld wartete. Zwar liefen sie nicht, aber sie gingen viel schneller, als es die Situation verlangte.

27

ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Als sein Vater ihn zu einem privaten Gespräch rief, ahnte der Erstdesignierte Jora’h nicht, dass sich seine ganze Welt verändern würde.

Der Weise Imperator Cyroc’h regierte nun seit fast hundert Jahren, mit all dem Wohlwollen und der Weisheit, die nötig waren, die uralte Zivilisation zusammenzuhalten. Das ildiranische goldene Zeitalter dauerte seit Jahrtausenden an, wie in der Saga der Sieben Sonnen beschrieben.

Als ältester Sohn und Erstdesignierter hatte Jora’h oft mit seinem Vater über Politik und Führungsprinzipien gesprochen.

Er genoss all die Privilegien und Annehmlichkeiten seiner Position, aber er hatte auch ein gutes Herz und wollte immer die richtigen Entscheidungen treffen, wenn es so weit war.

Geschichte und Schicksal waren langsame, unerbittliche Kähne, die einen ruhigen Fluss hinunterfuhren; sie schienen es nie eilig zu haben.

Jora’h betrat das Meditationszimmer, erfreut über einen privaten Moment mit seinem Vater und immer daran interessiert, mehr über das Reich zu lernen. Den Morgen hatte er mit einer entzückenden neuen Partnerin aus einem auf die Zubereitung von Speisen spezialisierten Geschlecht verbracht.

Ihr Sinn für Humor war wundervoll gewesen und Jora’h kam in bester Laune.

»Verriegeln Sie die Tür, Bron’n«, sagte der Weise Imperator mit tiefer, ominöser Stimme. »Ich möchte nicht gestört werden.«

Als der stämmige Leibwächter den Zugang des Meditationszimmers geschlossen hatte, bemerkte Jora’h den Ernst im runden Gesicht des Weisen Imperators. »Worum geht es, Vater?« Bron’ns Silhouette, groß und monströs, zeichnete sich auf der anderen Seite der Tür ab.

Die dunklen, glitzernden Augen des Weisen Imperators verschwanden fast zwischen den Hautfalten. »Hör mir gut zu, Jora’h. Du hast immer gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde.«

Der Erstdesignierte fühlte, wie sich Sorge in ihm regte. »Was soll das heißen?«

»Ich sterbe. Tumore wuchern in meinem Körper und werden wachsen, bis sie mich von innen her ersticken.« Cyroc’h sprach so ruhig wie bei einer unbedeutenden Proklamation.

»Ich bereite mich auf die letzte Reise zur Lichtquelle vor.

Doch auf dich wartet mehr Arbeit, denn du bleibst zurück.«

Jora’h schnappte nach Luft und trat einen unsicheren Schritt vor. »Aber… das kann doch nicht sein! Du bist der Weise Imperator. Lass mich die Ärzte rufen.«

»Verschwende keine Zeit oder Mühe damit, die Realität zu leugnen. Die Geschichte meines Lebens erreicht ihr Ende und in deiner beginnt ein neues Kapitel.«

Jora’h sammelte Kraft und atmete tief durch. Er schluckte und hoffte, dass ein Teil des Schocks bald von ihm wich. »Ja, Vater. Ich höre.«

»Seit vielen Jahrzehnten habe ich diesen Sessel nicht verlassen, was keineswegs an irgendeiner dummen Tradition liegt, nach der die Füße des Weisen Imperators nicht den Boden berühren dürfen. Im Zentralnervensystem, Rückgrat und Gehirn ist es zu schleichenden Veränderungen gekommen, die sich bald fatal auswirken werden. Inzwischen habe ich ständige Kopfschmerzen, die immer stärker werden. Ich muss damit rechnen, in etwa einem Jahr so schwach zu sein, dass ich nicht mehr atmen kann, und dann wird mein Herz aufhören zu schlagen.

Wenn es so weit ist, trittst du meine Nachfolge an und wirst zum neuen Weisen Imperator. Dann musst du dich der rituellen Zeremonie unterziehen und verlierst deine Männlichkeit. Mein Schädel wird sich den anderen im Ossarium hinzugesellen und neben ihnen glühen, aber hoffe nicht darauf, dass ich dir von dort aus Rat gebe. Erwarte auch nicht vom Linsen-Geschlecht, dass es die Seelenfäden und Ausblicke auf die Lichtquelle fokussieren und erklären könnte.«

Jora’h zwang sich, nicht zu stöhnen. Als Erstdesignierter war er so zuversichtlich, dass er kaum auf die Hilfe des Linsen-Geschlechts zurückgegriffen hatte – die Priesterphilosophen halfen verwirrten Ildiranern.

»Aber dafür bekommst du das Thism«, fuhr der Weise Imperator fort. »Du wirst all das verstehen, was ich jetzt weiß.

Dir wird klar, warum ich was in die Wege geleitet habe, um das Ildiranische Reich zu schützen.«

Jora’h senkte den Kopf. Aber das alles will ich noch gar nicht! Er wusste, dass ihm sein Vater Unreife vorwerfen würde. Niemand hatte dies geplant; niemand wollte eine solche Veränderung. Und doch… Jora’h musste sich seiner Verantwortung stellen. Sein ganzes Leben lang hatte er gewusst, dass er einmal zum nächsten Weisen Imperator werden würde. Das konnte er jetzt nicht leugnen.

»Ich verspreche dir, dass ich bereit sein werde, Vater.« Es waren die tapfersten Worte, die ihm einfielen, und er hoffte, dieses Versprechen halten zu können. Er glaubte zu spüren, wie sich der Prismapalast auf ihn herabsenkte und ihn zermalmte. Das Licht um ihn herum blieb unverändert, aber er sah mehr Schatten als zuvor.

»Du wirst nie bereit sein, Jora’h. Niemand ist bereit. Auch ich war es nicht, als mein Vater starb und ich seinen Platz einnehmen musste. Jeder Weise Imperator empfindet auf die gleiche Weise.«

Jora’h versuchte, seine wachsende Besorgnis unter Kontrolle zu halten. Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge. »Aber der Hydroger-Krieg! Dies ist ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt für einen Führungswechsel im Ildiranischen Reich. Enorme Gefahren drohen und es gibt zahlreiche Möglichkeiten für verheerende Katastrophen. Vater, es tut mir so Leid…«

Als sich der Weise Imperator in eine sitzende Position brachte, stellte Jora’h überrascht fest, wie blass und schwach der korpulente Mann war. Wieso ist mir das nicht vorher aufgefallen? Bin ich so unaufmerksam gewesen, nur auf mein Vergnügen bedacht?

»Gerade deshalb müssen wir sofort damit beginnen, dich vorzubereiten. Du musst lernen und verstehen. Andernfalls zerfällt das Ildiranische Reich zu Staub.«

Jora’h trachtete danach, sich als Oberhaupt aller Ildiraner vorzustellen. Er hob das Kinn. »Dann sollten wir die Zeit, die uns noch bleibt, dazu nutzen, mich so gut wie möglich vorzubereiten.«

Der Weise Imperator lächelte vage und sank in den gepolsterten Sessel zurück. »Eine ausgezeichnete Einstellung.«

Seine Züge verhärteten sich. »Ich habe dich beobachtet, Jora’h.

Ich kenne dich. Du bist ein passabler Erstdesignierter gewesen und den in dich gesetzten Erwartungen gerecht geworden. Du warst immer ehrlich und gütig. Du bist immer bestrebt gewesen, dein Bestes zu geben, und du liebst dein Volk.«

Das Lob gab Jora’h neue Kraft, doch die Stimme seines Vaters klang schärfer, als er fortfuhr: »Aber du bist zu weich und zu naiv. Ich hatte gehofft, dich noch einige Jahrzehnte lang auszubilden und stärker werden zu lassen, damit du den Aufgaben des Weisen Imperators gewachsen bist. Jetzt bleibt mir keine Wahl.«

»Ich habe immer getan, was mir am besten erschien, Vater.

Wenn ich Fehler gemacht habe…«

»Du kannst nicht wissen, was am besten ist, solange du nicht alle Informationen hast, um eine Entscheidung zu treffen. Du bist der Erstdesignierte, aber es gibt viele Geheimnisse, von denen du nichts ahnst. Nur mit der vollen Kontrolle des Thism kannst du das komplexe Gespinst des Reiches verstehen. Du musst dein Herz härter werden lassen und dein Bewusstsein von allem Ballast befreien.«

Jora’h schluckte erneut. Das kommende Jahr würde tatsächlich viele Veränderungen bringen.

»Von jetzt an werden deine Tage anders verlaufen. Wir müssen uns ganz auf deine Ausbildung konzentrieren.

Hoffentlich reicht die Zeit, dich alles Notwendige zu lehren.«

Benommen und überwältigt stellt sich Jora’h der Pflicht.

»Womit fangen wir an, Vater?«

Der Weise Imperator kniff die Augen zusammen und dadurch schienen sie ganz zwischen den Hautfalten zu verschwinden.

»Du musst festere Beziehungen zu deinen Brüdern knüpfen, den Designierten. Flieg nach Hyrillka. Noch weiß niemand von meinem Leiden, das mir bald den Tod bringen wird – es ist wichtig, dass du Thor’h hierher holst. Wenn du meine Nachfolge antrittst, wird dein Sohn zum Erstdesignierten und sollte damit beginnen, seine Verantwortung kennen zu lernen.«

»Ja«, bestätigte Jora’h. »Er hat sich beim Hyrillka-Designierten lange genug dem Wohlleben hingegeben.«

Der Weise Imperator seufzt erschöpft. »Anschließend…

müssen wir alle beginnen zu planen.«

28

NIRA

Das Rot der Abenddämmerung wirkte wie Blut am Himmel von Dobro. Nira blickte dorthin empor. Vor langer Zeit war das Zuchtlager eine Kolonie für die hoffnungsvollen Siedler von der Burton gewesen, doch das hatte sich längst geändert.

In ihrer Phantasie war Nira noch immer imstande, zum Weltwald zurückzukehren, obwohl sie wusste, dass die Bäume sie nicht hören konnten. Ihre Jahre als neugierige grüne Priesterin, ihre Erfahrungen als Akolyth, als junges Mädchen, das den Weltbäumen Geschichten vorlas, Erinnerungen an ihre Familienangehörigen, die sie immer geliebt hatten, auch dann, wenn sie ihre Interessen und Neigungen nicht verstanden – das alles blieb stark in ihr. Manchmal, abends, erzählte sie den anderen Gefangenen Geschichten: König Artus und die Ritter der Tafelrunde, Beowulf, Romeo und Julia. Die Menschen im Lager kannten nicht den Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion.

Sie konnte noch immer die alten Volkslieder singen, die von den Kolonisten der Caille stammten. In den vergangenen Jahren hatte sie ihren Babys leise Verse vorgesungen oder alte, lustige Gedichte gesprochen, bis die ildiranischen Ärzte ihr die Kinder fortnahmen. Nira hoffte, dass sich ihr eines Tages Gelegenheit bot, Osira’h, ihre Prinzessin, wieder zu sehen oder gar zu retten.

Dobros Hauptstadt, viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Burton gegründet, bestand aus Gebäuden mit vielen Fenstern.

Jetzt, nach dem Sonnenuntergang, wurden zahlreiche Glänzer aktiv, um die Dunkelheit der heranrückenden Nacht fern zu halten. Menschen machte die Finsternis nichts aus, deshalb befand sich das Zuchtlager am Stadtrand. Es wurde nur von den Kugeln erhellt, die an den Ecken der Umzäunung leuchteten.

Männer und Frauen riefen von den Gemeinschaftsbaracken aus zum Essen. Manchmal gesellte sich Nira ihnen hinzu, aber an diesem Abend wollte sie am Zaun bleiben. Ihre grüne Haut hatte genug Sonnenlicht absorbiert, um ihr Kraft zu geben; sie brauchte keine Mahlzeit.

Sie sah zum Horizont, zu den Hügeln, an deren Hängen niedrige Bäume mit schwarzen Blättern wuchsen. Wenn es ihr jemals wieder gelang, einen Kontakt zum Weltwald herzustellen, konnte sie um Hilfe rufen, Mitteilungen senden und erfahren, was seit ihrer Entführung im Spiralarm geschehen war.

Die anderen Frauen des Lagers wirkten farblos und resigniert

– sie waren an harte Arbeit und häufige Schwangerschaften gewöhnt. Alle lebensfähigen Nachkommen wurden bei der Geburt sorgfältig untersucht. Einige der experimentellen Kreuzungen waren auf so entsetzliche Weise entstellt, dass man sie sofort tötete. Die gesunden Exemplare blieben einige Monate bei den Müttern und wurden dann von ihnen getrennt, um in den Städten von Dobro aufzuwachsen, von Ildiranern überwacht. Nur reinrassige menschliche Kinder blieben bei ihren Eltern und wuchsen im Lager heran, um später ebenfalls als Zuchtmaterial verwendet zu werden.

Nira drehte den Kopf und blickte zu dem prächtig beleuchteten Gebäude in der ildiranischen Stadt, von dem sie wusste, dass der Dobro-Designierte dort wohnte. Vor Jahren hatte er sie zu sich bringen lassen, in sein Turmzimmer.

Während des Geschlechtsakts mit ihm hatte sich Nira vorzustellen versucht, dass Jora’h sie in den Armen hielt, dass Udru’h, der seinem Bruder sehr ähnelte, ihre große Liebe war.

Aber er liebkoste sie wie mit Glassplittern, berührte sie wie mit Stacheldraht und noch Tage später war ihr übel gewesen.

Während jener Schwangerschaft, der ersten nach Osira’h, hatte sie eine Fehlgeburt erfleht und den Fötus in ihrem Leib verabscheut. Doch das nächste Kind, ein Junge, kam gesund und stark zur Welt. Zwar verachtete sie den Vater, aber das unschuldige Kind lernte Nira schnell lieben. Inzwischen war ihr auch jener Junge – Rod’h – genommen worden. Sie hoffte, dass er als Erwachsener nicht so wurde wie sein Vater.

Als der Designierte gekommen war, um ihr den Jungen zu nehmen, hatte Nira ihn nach ihrer Prinzessin gefragt, nach irgendeinem kleinen Detail ihres Lebens. »Fragen Sie mich nie wieder danach«, hatte Udru’h geantwortet. »Osira’h geht Sie nichts mehr an. Sie trägt das Gewicht des Reiches auf ihren Schultern.«

Die Worte weckten sowohl Furcht als auch Hoffnung in Nira.

Was wollte Udru’h mit Osira’h anstellen? Als sich die Dunkelheit nun verdichtete, sammelte Nira ihre Gedanken und blickte so zum hohen Turm, als wäre er eine Bastion von Träumen und Möglichkeiten. Ihre Prinzessin befand sich dort.

Sie wusste es. Sie fühlte es.

Die Residenz des Designierten badete in hellem Licht und schien vorgeben zu wollen, ein angenehmer Ort zu sein. Nira fragte sich, welche ihrer anderen Kinder in der Dobro-Stadt lebten und in einem Kollektiv aufwuchsen, immer wieder untersucht und getestet von ildiranischen Spezialisten verschiedener Geschlechter. Oder waren sie vielleicht nach Ildira gebracht worden, um dort wie Trophäen dem Weisen Imperator vorgeführt zu werden?

Erstaunt sah Nira, wie eine kleine Silhouette vor dem größten Fenster erschien, ein Kind, klein genug, um in Osira’hs Alter sein zu können. Das Herz pochte ihr bis zum Hals empor, und sie trat noch näher an den Zaun heran. Nira konzentrierte sich, erweiterte ihr Selbst und suchte damit nach der schwachen Verbindung, die früher zwischen ihr und dem Weltwald bestanden hatte. Wenn sie doch nur in der Lage gewesen wäre, einen Weltbaum zu berühren… irgendeinen Baum! Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Kontakt mit ihrer Tochter, ihrem eigenen Fleisch und Blut.

Nira schloss die Hände um die Zaundrähte, und es war ihr gleich, ob sie sich dabei verletzte. Prinzessin! Konnte jenes Kind wirklich ihre Tochter sein? Wenn sie doch nur eine Möglichkeit gehabt hätte, Osira’h zu sehen, ihr eine Nachricht zu schicken, ihr die Wahrheit zu sagen…

Aber das Prickeln einer Antwort blieb aus. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, tatsächlich eine telepathische Verbindung herzustellen – vermutlich hätte Osira’h gar nichts damit anfangen können. Trotzdem freute sich Nira nur darüber, die Silhouette gesehen zu haben. Es war wenigstens ein Anfang!

29

DOBRO-DESIGNIERTER

Das Halbblut-Mädchen war bemerkenswert, noch talentierter und intelligenter, als es sich der Designierte erträumt hatte.

Dieses Kind mochte durchaus imstande sein, zwischen Ildiranern und Hydrogern eine mentale Brücke zu bauen, die die beiden Völker ebenso miteinander verband wie die Seelenfäden des Thism alle Ildiraner.

Wenn Osira’h dieses einzigartige Ziel erreichte, so hatten sich all die Anstrengungen über Generationen hinweg gelohnt.

Diesem Mädchen mochte es gelingen, das Reich zu retten, die ildiranische Zivilisation, alles.

In der gut erleuchteten Residenz sah das Mädchen seinen Mentor an und lächelte strahlend, dazu bereit, alles zu tun, was er von ihm verlangte. Osira’h war schön, unschuldig und perfekt, ein glänzender Sonnenstrahl direkt aus der Sphäre der Lichtquelle. Ihre Klugheit ging weit über das für ihr Alter normale Maß hinaus und Udru’h vermutete, dass er nur einen Teil ihrer Fähigkeiten kannte. Vermutlich galt das auch für sie selbst. Es gab noch viel zu entdeckten und er hoffte, genau die Dinge zu finden, die das Ildiranische Reich brauchte.

Als zweiter Sohn des Weisen Imperators hatte Udru’h immer hart gearbeitet und die notwendigen Dinge erledigt, von denen sein Bruder Jora’h nichts wusste. Der Erstdesignierte glitt unbekümmert durchs Leben und achtete kaum auf die Vorteile seines Rangs. Der Dobro-Designierte war nicht eifersüchtig auf Jora’h und er strebte keineswegs danach, an seiner Stelle Erbe des Prismapalastes zu werden. Er dachte vor allem an das, was nötig war, mit einer an Emotionslosigkeit heranreichenden Kühle. Udru’h ging jenen Dingen nach, die er für erforderlich hielt, auch wenn sie manchmal sehr unangenehm sein konnten.

Erneut sah er zu dem Mädchen, das am großen Fenster stand und in die Nacht hinausblickte, so aufmerksam, als spürte es etwas dort draußen in der Dunkelheit.

Als er den Namen des Kinds dachte, drehte es sich zu ihm um. Osira’h hatte große Augen und fedriges goldenes Haar.

Die Jochbeine waren hoch, das Kinn stark. Die adlige Abstammung gab ihm etwas Zartes und Würdevolles. Der Designierte glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Jora’h zu erkennen – und ein exotisches Flair, das auf die Gene der grünen Priesterin zurückging. In den Augen des Mädchens gab es ein sonderbares inneres Licht – zu der Farbe von rauchigem Topas, die Osira’h von ihrem Vater geerbt hatte, kam das dunkle Braun ihrer Mutter.

»Du denkst erneut an mich«, sagte sie leise und doch deutlich. Osira’h war erst fünf Jahre alt, aber ihre überlegenen Gene und die intensive Ausbildung und Indoktrination hatten sie weitaus reifer werden lassen als andere Kinder in ihrem Alter. Dieses Mädchen träumte nie davon, am Nachmittag zu spielen.

»Fühlst du meinen Stolz?«

Osira’h lachte. »Er geht so von dir aus wie Hitze von einem Feuer.«

Udru’h trat neben das Mädchen und legte ihm seine starke Hand auf die Schulter. Noch vor einem Jahr hatte Osira’h viel Kraft aufwenden, ihre Gedanken und Wahrnehmungen kanalisieren müssen, um zu erkennen, was der Designierte dachte. Inzwischen geschah das fast ebenso automatisch und mühelos wie das Atmen. Erstaunlich.

Osira’hs Halbbrüder und Halbschwestern – unter ihnen auch Udru’hs Sohn Rod’h – zeigten nicht annähernd so großes Talent, obgleich der Designierte noch immer auf einen Durchbruch hoffte, indem er Nira Khali Zeugungspartner aus verschiedenen ildiranischen Geschlechtern zuwies. Die anderen Halbblut-Kinder wuchsen in großen Gruppen auf, in Kindergärten, Schulen und Ausbildungszentren. Die jungen Halbmenschen wussten um ihre Einzigkeit; die Instruktoren und Inspektoren gaben sich alle Mühe bei der Förderung ihrer individuellen Fähigkeiten.

Doch Osira’h behielt der Designierte für sich.

»Du hast ein großes Potenzial. Es gibt andere telepathische Kandidaten auf Dobro, aber niemand von ihnen ist so gut wie du. Deshalb habe ich mein Leben der Aufgabe gewidmet, dich zu unterweisen und dir die Möglichkeit zu geben, deine Fähigkeiten voll zu entfalten.«

»Zum Ruhm des Weisen Imperators«, sagte Osira’h und wiederholte damit die Worte, die er ihr eingeschärft hatte, seit sie sprechen konnte.

»Zum Ruhm der ganzen ildiranischen Zivilisation«, betonte Udru’h.

»Ich verspreche, mein Bestes zu geben. Und wenn mein Bestes nicht genügt, werde ich mich noch mehr bemühen.«

Sorge zeigte sich in Osira’hs Gesicht, wie immer, wenn sich Konsequenzen vor ihr auftürmten. Sie schürzte die Lippen, wodurch ihr Mund fast wie eine Blumenknospe aussah. »Aber manchmal fürchte ich mich vor den Hydrogern. Es sind Ungeheuer, richtige Ungeheuer.«

Der Dobro-Designierte blickte in die finstere Nacht. Das helle Licht im Zimmer verwandelte den Himmel in eine schwarze Wand. »Du musst ihnen gegenübertreten, Osira’h.

Der Weise Imperator wird durch dich zu ihnen sprechen. Du bist die Brücke – unser bestes Instrument, um ein Bündnis mit ihnen zu schließen oder eine andere Vereinbarung mit ihnen zu treffen, die verhindert, dass wir alle dem Krieg zum Opfer fallen.«

Udru’h spürte tiefen Kummer, der Osira’h galt, vermischt mit väterlichem Stolz. Er unterdrückte diese Gefühle, bevor das Mädchen sie bemerken konnte. Er durfte dem Kind nicht zeigen, dass er schwach oder weich war. Er musste immer fest bleiben und nie zweifeln – weil Osira’h nie zweifeln durfte.

Sie war immer leicht zu beeinflussen, immer erpicht darauf, das zu tun, was er von ihr erwartete. Zwar hatte der Begriff

»Eltern« für die Halbblut-Kinder gar keine Bedeutung, aber Udru’h war so etwas wie eine Vaterfigur für Osira’h. Sie verschwendete keine Gedanken an periphere Details, spielte einfach ihre Rolle.

Reichte die Zeit noch aus, das Reich zu retten?

Über Jahrtausende hinweg hatten einige wenige Ildiraner gewusst, dass die Hydroger vielleicht eines Tages zurückkehrten und Chaos brachten. Zahllose Generationen lang waren Weise Imperatoren bestrebt gewesen, Vorbereitungen für die eventuelle Rückkehr des großen, unverständlichen Feinds zu treffen. Sie hatten selektive Kreuzungen bestimmter Geschlechter gefördert und bei den Ergebnissen dieser subtilen Experimente nach nützlichen Mutationen Ausschau gehalten, den Keimen des Retters. Ihre Aufmerksamkeit galt insbesondere besseren telepathischen Fähigkeiten.

Nach der Entdeckung der Menschheit hatte der regierende Weise Imperator Yura’h eine aufregende, innovative Alternative gesehen, neue Ingredienzien für den genetischen Pool.

Als erste Untersuchungen der Burton-Überlebenden das bemerkenswerte Potenzial menschlicher Genetik zeigten, wurde das Zuchtprojekt von Dobro erweitert, mit dem Ziel, eine Gruppe von Halbblut-Telepathen zu schaffen. Zuerst war es ein Gemeinschaftsunternehmen von Captain Chrysta Logan und dem damaligen Dobro-Designierten gewesen, aber Gewalt und Tragödien während der frühen Jahre hatten dazu geführt, dass sich der Dobro-Designierte gegen die Menschen wandte und die Natur des ganzen Programms änderte. Seitdem waren Menschen Gefangene. Objekte. Zuchtmaterial.

Die Synergie von menschlicher und ildiranischer Genetik hatte einige entsetzliche Geschöpfe hervorgebracht, aber auch spektakuläre Erfolge erzielt, vor allem in der zweiten und dritten Generation: stärkere Soldaten, schnellere Schwimmer, kreativere Sänger und Geschichtenerzähler. Jene Mischlinge wurden so erzogen, dass sie dem Ildiranischen Reich treu ergeben waren und den Weisen Imperator für einen unfehlbaren Gott hielten.

Es war ein langfristiger Plan und diente zur Vorbereitung auf eine weitere Begegnung mit den Hydrogern. Vor zehntausend Jahren hatten die Hydroger beim Kampf gegen ihre Widersacher fast das gesamte Leben im Spiralarm ausgelöscht, die Klikiss-Zivilisation vernichtet und das Ildiranische Reich an den Rand des Abgrunds gebracht.

Nur wenige Ildiraner wussten um jene Ereignisse; die Saga der Sieben Sonnen erwähnte sie nicht. Menschliche Überheblichkeit hatte den titanischen Konflikt neu entfacht und die Fremden aus den Tiefen der Gasriesen wieder aktiv werden lassen – andernfalls wären die Hydroger vielleicht noch jahrhundertelang im Verborgenen geblieben. Jetzt zeigten sie sich wieder und bestimmt dauerte es nicht lange, bis andere Feinde erschienen.

Osira’h war keinen Moment zu früh geboren.

Der Designierte schloss die Hand um die schmale Schulter des Mädchens und es zuckte zusammen – er hatte zu fest zugedrückt. »Du bist noch so klein, Osira’h. Ich würde dich lieber nicht drängen.«

»Mach dir keine Sorgen um mich.« Osira’h sah zu Udru’h auf und in ihrem Gesicht zeigte sich absolutes Vertrauen. Sie glaubte an ihre Mission, an sein Wohlwollen und ihre eigene Loyalität dem Weisen Imperator gegenüber. »Ich werde meine Pflicht erfüllen. Wie es meine Gene von mir verlangen. Zum Ruhme der ildiranischen Zivilisation.«

»Oh, wie könnten die Hydroger dir widerstehen?« Das Mädchen lächelte strahlend, und der Designierte wusste: Es würde der fähigste Telepath sein, der je auf den Welten des Ildiranischen Reiches gewandelt war. »Du wirst uns alle retten, Kind.«

Er umarmte Osira’h und sie nickte ernst. »Ja, das werde ich.«

30

RLINDA KETT

Als die Unersättliche Neugier landete, eilten die Crenna-Siedler selbst aus entlegenen Bereichen herbei. Rlinda Ketts unerwartete Ankunft erregte großes Aufsehen und die tägliche Arbeit spielte plötzlich eine untergeordnete Rolle.

Noch immer ein wenig mitgenommen von der Begegnung mit den Hydrogern am Rand des Sonnensystems kletterte sie aus ihrem Schiff. Den Jubel der Kolonisten nahm sie ein wenig verlegen, aber auch bereitwillig entgegen.

»Die Hanse hat von der Krankheit auf Ihrer Welt gehört und ich bringe Ihnen Medikamente!«, rief Rlinda. Sie hatte damit gerechnet, dass angesichts der Epidemie alles zum Stillstand gekommen war, dass sich kaum mehr jemand um die Felder und das Vieh kümmerte. »Aber offenbar sind nicht allzu viele von Ihnen krank.«

Der nächste Farmer nickte. »Es ist verdammt anständig von König Peter, an uns zu denken, Ma’am, aber wir haben die benötigten Medikamente bereits bekommen. Einer unserer Kolonisten hat ein eigenes Schiff, das jetzt allerdings ohne Ekti ist – als er zurückkehrte, waren die Tanks praktisch leer. Wir verdanken Branson Roberts unser Leben.«

Es erfüllte Rlinda mit Stolz, seinen Namen zu hören, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Nun, der Mann hat echt Nerven –durch ihn verliert meine humanitäre Mission ihren Sinn.« Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen und entdeckte BeBob. Sein krauses graues Haar war länger geworden, was ihm etwas Zwielichtiges gab, und Schmutz zeigte sich überall an seiner Kleidung, so als hätte er auf den Feldern gearbeitet –die Vorstellung allein brachte Rlinda fast zum Lachen.

Sie sah, wie seine Augen feucht wurden, und dann lief er auf sie zu, achtete überhaupt nicht auf die anderen Farmer. Rlinda breitete die Arme aus und lief ihm entgegen. Sie wusste, wie albern sie beide wirkten, wie zwei Verliebte in einer billigen Videoschnulze.

»Ich nehme an, ihr… kennt euch?«, fragte einer der Kolonisten.

Rlinda und BeBob schlangen die Arme ganz fest umeinander.

»Ein wenig«, erwiderten sie beide gleichzeitig.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich meinen Treibstoff nicht vergeudet«, sagte BeBob. »Statt Arzneien zu laden, wäre es möglich gewesen, andere nützliche Dinge an Bord zu nehmen, zum Beispiel Werkzeuge und interessante Getreidesamen – damit hätte ich einen höheren Profit erzielt.«

Rlinda fuhr ihm mit den Fingern durchs krause Haar und umarmte ihn dann erneut. »Du hast ein weiches Herz, BeBob, aber du bist nicht dumm.« Sie senkte verschwörerisch die Stimme. »Heute Nacht werde ich dir Zeit genug geben, mich davon zu überzeugen, dass meine Reise hierher nicht umsonst war. Bei dir oder bei mir?« Sie lachte leise. »Du bist ja so süß, wenn ich dich in Verlegenheit bringe. Siehst regelrecht schockiert aus.«

»He, ich versuche hier, ein respektabler Kolonist zu sein.«

»Gib dir mehr Mühe.« Rlinda küsste ihn auf den Mund.

Rlinda erzählte BeBob nichts von ihrer wahren Mission – sie wollte ihm nicht die Freude an dem gemeinsamen Essen in seiner Wohnung nehmen. Sie hatte einige seiner Lieblingsspeisen mitgebracht, eine gute Flasche Wein, neue Unterhaltungspakete und ein schmuckes Hemd, von dem sie wusste, dass er es nie tragen würde. Sie nannte es ein

»Freundschaftsgeschenk für die Kolonie«.

»Um ganz ehrlich zu sein: Es überrascht mich nicht, dass du einen Vorwand gefunden hast, hierher zu kommen.« BeBob aß ein Stück von dem Schmorbraten, den Rlinda in seiner kleinen Küche zubereitet hatte. »Ich hätte es nie riskiert, die chiffrierte Nachricht zu schicken, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass du sie erkennen und entschlüsseln kannst. Ich schätze, General Lanyan freut sich nicht gerade über einen Captain, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt.«

»Ach, er hatte überhaupt kein Recht, dich zwangsweise einzuziehen, und ich habe ihm die Konfiszierung meiner Handelsflotte nie verziehen. Übrigens, wie steht’s um mein Schiff?«

BeBob wölbte die Brauen. »Die Blinder Glaube gehört nur zu zehn Prozent dir. Es ist alles in Ordnung mit ihr – sieht man von den leeren Ekti-Tanks ab. Derzeit kann man sie höchstens als besonders großen Rasenschmuck verwenden.«

»Stell die Landestützen auf Betonblöcke und lass das Gras um sie herum wachsen«, sagte Rlinda. »Dann bist du ein echter Schmutzhocker.«

BeBob trank einen Schluck vom dunklen Wein, den Rlinda eingeschenkt hatte. »Ich fühle mich hier wohl. Crenna ist eine angenehme Welt mit gutem Klima. Du solltest einmal den Wind im Flötenholzwald hören. Ein idealer Ort, um sich zur Ruhe zu setzen. Ich… äh… hätte nichts dagegen, dich bei mir zu haben, Rlinda. Und nicht nur deshalb, weil du so gut kochst.«

Sie lachte voller warmer Wonne. »Es war richtig, hierher zu kommen. In schweren Zeiten werden Schmeicheleien selten.«

BeBob setzte sein Weinglas ab. »Nun, ich würde gern glauben, dass du nur wegen mir gekommen bist, aber das dürfte nicht der einzige Grund für deine Reise sein. Brauchst du Hilfe?«

Es überraschte Rlinda nicht, dass BeBob etwas ahnte, und so erzählte sie ihm alles.

Davlin Lotze wartete bereits vor der Neugier, als Rlinda eine Stunde nach Sonnenaufgang zu ihrem Schiff zurückkehrte. Mit leeren Händen stand er da, wie eine Statue, die linke Seite seines Gesichts zernarbt – irgendein Raubtier schien versucht zu haben, ihm das Auge auszukratzen. Er war muskulös, wirkte intelligent, wachsam und überaus kompetent. »Ich glaube, Basil Wenzeslas hat Sie wegen mir hierher geschickt«, sagte er. »Wie dem auch sei: Das mit den Medikamenten war eine nette Geste.«

Rlinda musterte ihn. »Glauben Sie nicht an einfache menschliche Nächstenliebe?«

»Ich glaube nicht an Basils einfache menschliche Nächstenliebe.« Lotzes Blick glitt zur Neugier. »Es scheint ein gutes Schiff zu sein. Wie ist es ausgestattet?«

»Der Vorsitzende stellte mir all die Dinge zur Verfügung, die wir für unsere kleine Expedition brauchen: Grab- und Analysewerkzeuge, ein Überlebenslager, Proviant, Wasserextraktoren. Und zehntausend Kreuzworträtsel in der Datenbank.«

In der Stille des frühen Morgens führte Rlinda den Mann an Bord und zeigte ihm eine kleine Gästekabine, in der die grünen Priesterinnen Nira und Otema während des Flugs nach Ildira untergebracht gewesen waren, vor dem Beginn der Hydroger-Krise. Lotze berührte die Koje, bemerkte die mit den Datenbanken verbundene Computerkonsole und nickte zufrieden.

»Von mir aus kann’s losgehen. Ich würde lieber darauf verzichten, meine wenigen Sachen zu packen und dadurch die Aufmerksamkeit der Siedler auf mich zu lenken. Sie halten mich für einen einfachen Kolonisten und wissen nicht, warum ich wirklich hier war.«

Das überraschte Rlinda. »Sie möchten von niemandem Abschied nehmen? Sie haben einige Jahre auf Crenna verbracht und wollen einfach so verschwinden? Nur mit dem, was Sie am Leib tragen?«

Lotzes Gesicht blieb unverändert. »Das wäre mir am liebsten.

Ich bin für die Suche nach jenen Archäologen bereit.«

Rlinda holte tief Luft. »Ich brauche eine Weile, um das Schiff auf den Start vorzubereiten. Und außerdem: Ich möchte mich von jemandem verabschieden.«

31

ANTON COLICOS

Die berühmte Stadt Mijistra war all das, was sich Anton Colicos von ihr erträumt hatte – und tausendmal mehr. Die kristallene Metropole glitzerte im Licht von sieben Sonnen.

Eine solche Pracht war fast zu viel für seine Augen.

Er trat fort von dem verzierten ildiranischen Transportschiff, griff in die Tasche und holte den Sonnenfilter hervor. Der Captain hatte ihn darauf hingewiesen, dass Menschen den Glanz als zu grell empfanden, aber Anton war so fasziniert gewesen, dass er diese einfache Vorsichtsmaßnahme vergessen hatte. Als er sich das Filterband vor die Augen schob, wurden weitere beeindruckende Einzelheiten sichtbar. Spiralen, buntes Glas, Springbrunnen, Gärten…

Die Stadt erinnerte ihn an andere wundervolle Orte: Xanadu und die Vergnügungskuppel von Kublai Khan, das mythische Atlantis, die goldene Stadt El Dorado, das Reich des Priesters Johannes, selbst die smaragdgrüne Stadt Oz. Jahrhunderte wären nötig gewesen, um alles aufzunehmen und zu verarbeiten, ganz zu schweigen davon, es zu interpretieren und an zukünftige Generationen weiterzugeben.

Anton wünschte sich, dies mit seinen Eltern teilen zu können, von denen er so lange nichts gehört hatte. Sie wären davon begeistert gewesen! Vor dem Verlassen der Erde hatte er eine offizielle Mitteilung von irgendeinem Beamten der Hanse erhalten; darin hieß es, man würde »dieser Sache nachgehen«

und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, sobald sich eine »Gelegenheit« ergab. Die Nachricht bot nicht Anlass zu großer Hoffnung, aber sie war wenigstens etwas. Vielleicht konnten seine neuen ildiranischen Freunde das eine oder andere beisteuern.

Er schob die Sorge um seine Eltern beiseite und dachte daran, dass Margaret und Louis Colicos immer selbständig und auf alles vorbereitet gewesen waren. Sie hatten immer wieder betont, wie viel ihnen ihre Arbeit bedeutete. Trotz der Risiken wollten sie sich keinen anderen Dingen widmen.

Genauso empfand Anton hier in Mijistra.

Ildiraner verließen das Passagierschiff, in dessen Gemeinschaftsbereichen sie zusammengedrängt gewesen waren. Anton war lieber allein, um in aller Ruhe seinen Studien nachzugehen und zu meditieren, aber diese Fremden fühlten sich in der Gesellschaft vieler anderer am wohlsten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Ildiraner jemals allein waren.

Anton schritt über die Rampe, begleitet von Ildiranern zahlreicher Geschlechter, die unterschiedliche Körperstrukturen besaßen. Er blickte über die Köpfe der vielen ausgestiegenen Passagiere hinweg und hielt nach dem ehrenwerten Historiker Vao’sh Ausschau. Anton hatte sich mit der ildiranischen Kultur beschäftigt und war daher imstande, einen Angehörigen des Erinnerer-Geschlechts als solchen zu erkennen. Und was ihn selbst betraf: Er gehörte als einziger Mensch zur Gruppe der Passagiere, deshalb konnte man ihn kaum übersehen.

Er bemerkte einen kleinen Ildiraner, der ihm zuwinkte und einen Umhang mit glänzenden Streifen trug. Die Gesichtszüge jenes Mannes unterschieden sich von den Mienen der Soldaten und adligen Botschafter an Bord des Schiffes. Anton verließ die Rampe und die Müdigkeit nach der langen Reise fiel von ihm ab. »Sind Sie Erinnerer Vao’sh?«

Der Historiker wiederholte den Namen langsam und machte dabei die richtige Aussprache deutlich. Anton rollte die beiden Silben im Mund hin und her, bis sie richtig klangen. Vao’sh drehte die Hände auf Hüfthöhe so, dass die Handflächen nach oben zeigten. »Und Sie sind Anton Colicos, der menschliche Geschichtenerzähler und Hüter des Historischen?«

»Das klingt viel eindrucksvoller als ›forschender Gelehrter‹

oder ›außerordentlicher Professors‹. Anton streckte dem Ildiraner die Hand entgegen und überraschte ihn damit. Vao’sh zögerte kurz und ergriff dann die dargebotene Hand. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man meiner Tätigkeit mit Respekt oder gar mit Verehrung begegnet.«

»Wie kann man jemanden nicht verehren, der die Geschichte des eigenen Volkes erzählt?«

»Menschen halten Geschichtenerzähler nicht unbedingt für sehr… praktisch.«

Der ildiranische Historiker geleitete Anton über einen Weg, der einen weiten Bogen beschrieb und zu einer Ansammlung von Türmen führte, vorbei an plätschernden Springbrunnen und kristallenen Skulpturen. Spiegel und Sonnenuhren schufen interessante Schattenmuster auf den Straßen.

Normalerweise war Anton reserviert und zurückhaltend, aber die Begeisterung löste ihm die Zunge. Bei Konferenzen und Banketts hatte er nie gern gesprochen, doch jetzt verlor er seine Scheu. »Mein ganzes Leben lang habe ich von einer solchen Gelegenheit geträumt. Meine drei vorherigen Bewerbungen führten nicht zum erhofften Erfolg – ich hatte schon befürchtet, dass der Weise Imperator eine neue Geheimhaltungspolitik verfolgt.«

Die Hautlappen in Vao’shs Gesicht zeigten verschiedene Farben. Nur das Erinnerer-Geschlecht verfügte über die Möglichkeit, mit einem bunten Farbspiel Gefühle zum Ausdruck zu bringen und Worten emotionalen Nachdruck zu verleihen. Anton wusste die unterschiedlichen Farben noch nicht zu deuten.

»Es hat keinen Sinn, Geheimnisse zu hüten«, sagte Vao’sh.

»Jeder von uns ist eine Figur in der großen Geschichte des Kosmos und die Saga der Sieben Sonnen ist nur ein kleiner Bruchteil des ganzen Epos. Und doch stellen zu wenige von uns Fragen.« Der Erinnerer führte Anton an einem dünnen Vorhang aus Wasser vorbei, das über die Außenwand eines Turms floss.

»Dann möchte ich etwas fragen.« Anton bestaunte die Skulpturen und prismatischen Wände, wusste nicht, wohin er den Blick zuerst richten sollte. »Warum wurde mein Antrag schließlich doch noch bewilligt? Ich weiß, dass sich auch andere Forscher beworben haben – vergeblich.«

Vao’sh lächelte. »Mich hat die Art Ihrer Selbstdarstellung beeindruckt, Anton Colicos. Ihre leidenschaftliche Bewerbung überzeugte mich davon, dass wir Brüder im Geiste sind.«

»Ich… äh… erinnere mich gar nicht mehr an den Wortlaut.«

Die Farben in Vao’shs Gesicht sahen aus wie durch Wolken filternder Sonnenschein. »Sie bezeichneten sich als ›Erinnerer‹

menschlicher Epen, als eine der wenigen Personen, die sich mit der alten Dichtung und den Geschichtszyklen ihres Volkes auskennen. Ich habe einige der von menschlichen Gelehrten übersetzten Geschichten gelesen, in ihnen aber nur akademische Distanz gespürt, kein tiefes Gefühl, keinen Enthusiasmus für ihre eigene Geschichte.

Ihre Nachricht dagegen enthielt wahres Herz und Verständnis dafür, wie jene alten Geschichten die Seele des menschlichen Volkes berühren. Sie schienen eine geistige Verbindung mit dem wahren Drama der Geschichte zu haben. Ich dachte, Sie könnten vielleicht unsere Saga verstehen.«

Von einer Hügelkuppe aus blickten sie zum Prismapalast, einem atemberaubenden Gebäudekomplex, neben dem sich König Peters Flüsterpalast wie ein Nebengebäude ausmachte.

Kugeln, Kuppeln, Türme und Verbindungsstege – alles ragte weit in den Himmel auf und war eingefasst von den Speichen sieben nach innen strömender Flüsse.

Vao’sh schien sich über das Staunen seines Begleiters zu freuen. »Als oberster Erinnerer des Weisen Imperators wohne ich im Prismapalast. Sie werden mir dort Gesellschaft leisten.«

Anton war sprachlos und das amüsierte den ildiranischen Historiker. »Ich bitte Sie, Anton Colicos: Ein Geschichtenerzähler, dem es vor Ehrfurcht die Sprache verschlagen hat, nützt niemandem etwas.«

»Entschuldigung.«

»Sie und ich werden viel voneinander lernen, Tag für Tag.«

Anton lächelte. »Hier ist noch eine Frage. Auf dem Weg hierher hörte ich Ildiraner, die von Tagen und Wochen sprachen. Wieso teilen Sie die Zeit so ein, auf einer Welt mit sieben Sonnen am Himmel? Was bedeutet für Sie ›Tag‹, wenn es immer hell ist?«

»Es ist einfach nur ein Begriff, der in Ihr Handelsstandard übersetzt wurde. Auch bei uns gibt es Aktivitäts- und Ruhezyklen, wie bei den Menschen, und sie haben in etwa die gleiche Länge. Ich könnte Ihnen die ildiranischen Wörter und exakten chronologischen Äquivalente nennen, aber es ist einfacher, wenn Sie bei den Ihnen vertrauten Begriffen bleiben. Es gibt so viel zu lernen – warum sich mit Trivialitäten aufhalten?«

»Oh, ich könnte Ihnen Geschichten über einige Kollegen von mir erzählen, die von solchen Trivialitäten geradezu besessen sind. Sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, wie es bei uns heißt.«

Vao’sh lächelte ebenso wie Anton. »Eine interessante Metapher. Ich freue mich schon darauf, Geschichten und Methoden auszutauschen, denn ein Erinnerer muss immer an einer Erweiterung seines Repertoires interessiert sein.«

Anton lächelte weiterhin, als sie zum Prismapalast gingen.

»Ich schätze, meines muss um mindestens eine Milliarde Zeilen erweitert werden.«

Vao’sh verneigte sich zufrieden. »Lassen Sie uns mit etwas weniger beginnen.«

32

REYNALD

Der primäre Pilzriff-Komplex ruhte hoch oben am dicken Stamm eines Weltbaums und bot tausenden von Bewohnern Platz. Ein helles Lächeln zeigte sich in Reynalds bronzefarbenem Gesicht, als er sich den bunten Regierungsstühlen von Mutter Alexa und Vater Idriss zuwandte. Er wusste nicht, ob er mit Freude oder Bestürzung auf die Mitteilung seiner Eltern reagieren sollte, aber überraschend kam sie nicht. Schon seit Wochen ließen sie immer wieder Hinweise fallen.

»Du bist auf diese Verantwortung gut vorbereitet, Sohn«, sagte Alexa mit einem herzlichen Lächeln. »Könnte es eine bessere Zeit geben?«

»Vielleicht bist du sogar noch vielseitiger gebildet und kosmopolitischer als deine Mutter und ich.« Idriss strich sich über den gestutzten Bart. »Wir sind sehr stolz auf dich und davon überzeugt, dass du ein würdiger Nachfolger sein wirst.

Du solltest beginnen – es gibt viel zu tun.«

»Oh, er wird uns übertreffen.« Alexa legte ihrem Mann die Hand auf den Unterarm. »Das Volk braucht bestimmt nicht lange, um sich an die Veränderung zu gewöhnen.«

Reynald verbeugte sich. »Ihr hinterlasst mir ein großes Vermächtnis, aber… Warum habt ihr diese Entscheidung so plötzlich getroffen?«

»Wir hielten den richtigen Zeitpunkt für gekommen«, sagte Idriss würdevoll.

Alexa lächelte aufgeregt. »Außerdem führt eine diplomatische Mission Sarein im nächsten Monat hierher und wir wissen nicht, wann sie noch einmal Gelegenheit haben wird, nach Hause zu kommen. Gibt es eine bessere Zeit für deine Krönung?«

Reynald hätte fast mit den Augen gerollt. »Das ist der Grund für euren Rücktritt?« Es schien typisch für seine Eltern zu sein, auf diese Weise Entscheidungen zu treffen.

»Ja, und es ist schade, dass nicht auch Beneto hier sein kann«, sagte Idriss.

Reynald wusste bereits, was die nächsten Wochen bringen würden. Der kommende Monat diente dazu, Vorbereitungen zu treffen. Er stellte sich vor, wie Menschen aus allen Teilen Therocs kamen – seine Eltern würden das Ereignis genießen, noch mehr als alle anderen.

»Nun, wenn das so ist, sollten wir meine Schwester besser nicht enttäuschen«, sagte Reynald und seufzte.

Vater Uthair und Mutter Lia hatten Theroc drei Jahrzehnte lang regiert und ihr Amt dann der Tochter Alexa und ihrem Mann überlassen. Seit einunddreißig Jahren lebte das alte Paar im Ruhestand und hatte seinen Rücktritt nie bereut.

Reynald mochte seine Großeltern. Oft sprach er mit ihnen über das Regieren, die Ildiraner und die Terranische Hanse. Er respektierte seine Eltern, hatte aber den Eindruck gewonnen, dass Uthair und Lia eine breitere, politisch klügere Perspektive zu Eigen war.

Er saß im warmen Schein eines Phosphorfeuers im Quartier seiner Großeltern, das zum oberen Teil der größten Pilzriff-Stadt gehörte. Uthair und Lia hatten Reynald und Estarra zum Essen eingeladen. Zwar gaben sie sich so entspannt, als handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Treffen, aber Reynald wusste, dass seine Großeltern gewisse Dinge besprechen wollten – immerhin war die Amtsnachfolge bekannt gegeben worden.

Uthair und Lia saßen gern auf ihrem Balkon und blickten in den Weltwald, beobachteten fliegende Insekten und bunte Blumen.

Manchmal sprachen die beiden Alten stundenlang miteinander. Seit mehr als einem halben Jahrhundert waren sie verheiratet und noch immer aneinander interessiert.

Estarra deckte den Tisch – es gab eine dicke Suppe aus Pilzen und Kräutern, begleitet von Spießen mit dem pikant gewürzten Fleisch von Kondorfliegen. »Deine Suppe ist die beste, Oma«, sagte Estarra, nachdem sie davon probiert hatte.

»Es ist meine Verantwortung, dich zu lehren, wie man sie kocht«, erwiderte Lia gespielt streng. »Und du bist zweifellos alt genug. Achtzehn! Du bist erwachsen – obwohl dich deine Eltern noch immer wie ein kleines Kind verhätscheln.«

Uthair lächelte. »So hast du Alexa behandelt, bis sie achtundzwanzig war, Schatz.«

»Das Vorrecht einer Mutter.«

Als Uthair vom Balkon zum Tisch ging, stand Reynald bereit, um ihm zu helfen – der Alte gab vor, es nicht zu bemerken.

Beim Essen hatten es Reynalds Großeltern nicht eilig, den eigentlichen Grund für die Einladung anzusprechen. Nach der Mahlzeit räumte Reynald zusammen mit seiner Schwester ab und die beiden Alten nahmen Musikinstrumente von einem Regal an der Wand, traten damit auf den Balkon.

Uthair spielte auf einer Harfengitarre, die er selbst erfunden hatte, und Lia begleitete ihn auf einer Flöte. Seit sie im Ruhestand lebten, nutzten sie ihre Kreativität, um Musikinstrumente aus den Materialien herzustellen, die der Wald ihnen bot. Sie schenkten sie Kindern, die damit hupten, klimperten und klirrten, worüber sich Uthair und Lia sehr freuten.

Schließlich kam die Großmutter zur Sache. »Reynald, bald besteigst du als neuer Vater von Theroc den Thron und deshalb wird es Zeit für dich, eine Ehefrau zu wählen. Das erwartet man von dir.« Lia ließ ihre Flöte sinken. »Du bist schon älter als deine Mutter zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung mit Idriss.

Dein Vater war stolz und tüchtig, das junge Oberhaupt einer Wurmkokon-Stadt. Ihre Ehe führte zu einer ausgezeichneten Nachkommenschaft. Sie haben gut regiert und genießen hohes Ansehen beim Volk.« Lia seufzte. »Aber friedliche Zeiten und ein bequemes Leben haben sie ein wenig… bequem werden lassen.«

»Sie meint weich«, sagte Uthair. »Theroc ist autark. Wir sind nicht auf den Handel mit der Hanse oder mit den Ildiranern angewiesen.

Aber Alexa und Idriss irren sich, wenn sie glauben, wir könnten den Hydroger-Krieg einfach ignorieren. Es gibt keine Neutralität angesichts eines Feindes, der wahllos tötet.«

»Ich bin nicht einmal sicher, ob die Hydroger zwischen Ildiranern und Menschen einen Unterschied sehen«, sagte Lia.

»Deine Eltern haben beschlossen, nichts zu unternehmen, in der Hoffnung, dass das Problem einfach verschwindet.

Während der letzten Monate haben Lia und ich sie davon zu überzeugen versucht, dass es besser ist, in diesen schwierigen Zeiten dir die Regierungsverantwortung zu übergeben. Jetzt sind sie endlich bereit, auf uns zu hören.«

Lia klopfte Reynald auf den Arm. »Du wirst ein viel besseres Oberhaupt von Theroc sein, mein Lieber. Du hast das Herz und den Kopf dafür.«

»Warum sagst du das?«, fragte Reynald.

»Weil du in einem Monat der neue Vater von Theroc bist und unsere Großeltern auf dich zählen«, warf Estarra ein. »Lass es dir nur nicht zu Kopf steigen.«

Uthair lachte leise. »Hör auf deine Schwester. Sie ist vielleicht die Klügste in der ganzen Familie. Manchmal drückt sie sich ein wenig zu unverblümt aus, aber sie sagt die Wahrheit.«

Bei einer anderen Gelegenheit wäre Reynald vielleicht zu seiner Schwester gegangen, um ihr einen Stoß an die Schulter zu geben, aber diesmal blieb er aufmerksam. »Na schön, ihr habt uns zum Essen eingeladen, um mir Rat zu geben.« Er verschränkte die Arme. »Erzählt

mir von den

Herausforderungen, mit denen man es als

Regierungsoberhaupt zu tun bekommt.«

Uthair lächelte und hob die Hand seiner Frau. »Eines der größten Geheimnisse besteht darin, die richtige Frau zu heiraten.«

Lia sah erst Reynald an und dann Estarra. »Es wird Zeit für dich, Reynald. Du bist einunddreißig.«

»Und das gilt auch für dich, Estarra«, fügte Uthair hinzu. »Du bist im heiratsfähigen Alter. Ihr müsst beide über eure Möglichkeiten nachdenken. Und von Anfang an sollte euch Folgendes klar sein: Bei der Wahl des Ehepartners geht es nicht um pochende Herzen und einen hohen Hormonspiegel.

Heiratet die richtige Person, wähle sie mit Vernunft aus. Wenn ihr Glück habt, ist sogar Liebe mit im Spiel.«

Lias Finger tasteten über die Flöte. »Eines nach dem anderen, Schatz. Zuerst Reynald. Die meisten Leute erwarten von dir, die Tochter einer guten theronischen Familie zu heiraten, aber in diesen Zeiten solltest du vielleicht über den hiesigen Horizont hinaus Ausschau halten.«

Reynald hatte bereits daran gedacht, aber er fragte trotzdem:

»Wie weit über den hiesigen Horizont hinaus?«

»Die Galaxis ist groß, Reynald«, sagte Uthair. »Es könnte klug sein, ein Bündnis zu schließen, das nicht nur einige theronische Familien betrifft.«

Reynald hätte die Frage lieber gemieden, aber das konnte er nicht. »Denkst du an eine bestimmte Person, Großvater?« Er hatte eigene Vorlieben, was mögliche Kandidatinnen betraf.

Lia antwortete ihm mit der großmütterlichen Stimme, die ihn als Kind von Albträumen befreit hatte, hervorgerufen von den Geräuschen des Waldes. »Nun, dies ist nur ein Gespräch.

Uthair und ich sind nicht mehr die Oberhäupter von Theroc.

Wir sind nur Großeltern, die an dein Wohlergehen denken.«

Sie ging zur Küche. »Ich koche uns Tee. Genug von diesen Angelegenheiten. Denk daran, was wir gesagt haben. Im Spiralarm gibt es mehr als nur Theroc.«

Während des restlichen Abends bestritt Estarra mehr als nur ihren Teil der Konversation mit den Großeltern, während Reynald immer wieder an die Personen dachte, denen er bei seinen Reisen durch den Spiralarm begegnet war. Ein ganz bestimmtes Erinnerungsbild rückte dabei in den Vordergrund und zeigte ihm die schöne, intelligente und faszinierende Cesca Peroni, inzwischen die neue Sprecherin der Roamer. Er schätzte Uthairs und Lias Meinungen und wusste jetzt auch, dass sie keine Einwände erheben würden. Vielleicht sollte er sich an Cesca Peroni wenden.

Theronen und Roamer hatten viel gemeinsam, insbesondere ihre Unabhängigkeit von der Hanse. Vor fünf Jahren hatte Cesca Reynalds vorsichtige Fragen nach einer Heirat höflich zurückgewiesen, aber ihr damaliger Verlobter war bei einem der ersten Angriffe der Hydroger ums Leben gekommen.

Immer deutlicher zeichnete sich vor seinem inneren Auge ihr Gesicht ab. Reynald wusste nicht, ob Uthair und Lia an diese Frau gedacht hatten, doch er erwog die vielen Vorteile und Möglichkeiten, die sich durch eine Ehe mit ihr ergaben.

Er trank Tee und hörte der Musik seiner Großeltern zu, während sich hinter seiner Stirn geistige Zahnräder drehten.

33

KÖNIG PETER

In den frühen Stunden eines nebligen Morgens versammelten sich König Peter und seine Berater in der Aussichtsgalerie.

Von dort aus beobachteten sie fasziniert, wie der Klikiss-Roboter unten in den Zerlegungsraum geführt wurde. Jorax bewegte sich wie schwerfällig auf zahlreichen fingerartigen Füßen und wirkte wie jemand, den man zu seiner Hinrichtung geleitete.

Der blasse und kahl werdende wissenschaftliche Chefberater Howard Palawu neben dem König sagte fröhlich: »Ich habe mir die Aufzeichnungen angesehen, Euer Majestät. Es ist hundertdreiundachtzig Jahre her, seit die Robinson-Expedition auf Llaro den ersten Bericht über den Fund dieser Roboter übermittelte.«

»Dann wird es Zeit, dass wir herausfinden, was es mit ihnen auf sich hat«, erwiderte Peter, ohne den Blick von der großen, intelligenten Maschine abzuwenden. Mit seiner riesigen Gestalt wirkte Jorax sehr bedrohlich.

Der auf der linken Seite des Königs sitzende Lars Rurik Swendsen, technischer Spezialist der Hanse, beugte sich vor.

Kindliche Faszination funkelte in seinen Augen. »Die Ildiraner kennen die Klikiss-Roboter viel länger als wir, haben aber nie Gelegenheit bekommen, einen von ihnen zu demontieren und zu analysieren.«

»Nun, wir wissen, dass die Ildiraner nicht besonders neugierig sind«, sagte Palawu. Die beiden Spezialisten waren so aufgeregt, dass sie die Präsenz des Königs zu vergessen schienen. »Sie sind nicht an Innovation interessiert. Aber wir können die Roboter jetzt untersuchen, von ihrer Technik lernen und damit unsere eigene weiterentwickeln. Vielleicht finden wir etwas, das sich im Krieg gegen die Hydroger verwenden lässt.«

Swendsen nickte. »Die Entwicklung der Kompis stagniert –seit Generationen kam es nicht mehr zu wesentlichen Verbesserungen. Die Klikiss-Roboter haben Jahrtausende überdauert, ohne dass es bei ihnen zu funktionellen Beeinträchtigungen kam.«

König Peter versuchte, den Enthusiasmus der beiden Spezialisten ein wenig zu dämpfen. »Die Klikiss-Roboter erinnern sich nicht daran, was mit ihren Schöpfern geschah, meine Herren. Ist Massenamnesie keine ›funktionelle Beeinträchtigung‹.«

Das kybernetische Laboratorium unter der Aussichtsgalerie wirkte wie eine Mischung aus Reparaturwerkstatt und Operationssaal.

Zahlreiche analytische und diagnostische Instrumente ruhten in Gestellen an den Wänden des achteckigen Raums. Die verstärkte zentrale Plattform war weitaus stabiler als ein gewöhnlicher Operationstisch – sie konnte Jorax’ Gewicht tragen.

Schwer bewaffnete Palastwächter und spezielle TVF-Soldaten mit silbergrauen Mützen standen an den Wänden des Raums und auch vor der Tür. Sie wussten um die potenzielle Gefahr und hielten wachsam nach Anzeichen von Verrat Ausschau.

Der Klikiss-Roboter überragte die Menschen, aber er gab keine Feindseligkeit zu erkennen, als er den abgeflachten geometrischen Kopf drehte und die für die Zerlegung bestimmten Instrumente scannte. Die mit mehreren Gelenken ausgestatteten Arme waren in den ellipsenförmigen Rückenschild zurückgezogen. »Sie haben nichts zu befürchten.

Meine Verteidigungssysteme sind deaktiviert und ich bin zu voller Kooperation bereit.«

Man hüte sich vor jenen, die »Sie haben nichts zu befürchten« sagen, dachte König Peter. Der gleiche Roboter hatte Dr. William Andeker »rein zufällig« getötet. Die Wächter blieben wachsam.

Die Kybernetiker griffen nach Laserschneidern, Diamantsägen, Sonden und weiteren Präzisionsinstrumenten.

»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte der

Chefwissenschaftler. »Jorax, wenn du dich hier hinlegst, haben wir es einfacher.«

Peter runzelte die Stirn und fragte sich, ob die Priorität des Roboters darin bestand, es den Menschen »einfacher zu machen«. Aber Jorax schien tatsächlich kooperationsbereit und sogar zuvorkommend zu sein. Warum verhält er sich auf diese Weise? Was ist der wahre Grund?

Basil Wenzeslas sah in erster Linie den möglichen technologischen Nutzen und begnügte sich mit der Erklärung der schwarzen Maschine. Aber für Peter waren die Klikiss-Roboter ein Rätsel, bei dem man nicht die Maßstäbe von menschlichem Altruismus anlegen durfte.

Langsam neigte sich Jorax nach hinten, bis er schließlich flach auf der Analyseplattform lag, wie eine gewaltige Küchenschabe, die mit einem Insektizid besprüht worden war.

Peter fragte sich, ob die alte Maschine Furcht und Schmerz kannte.

Plötzlich kam es zu Unruhe im Korridor. Die Palastwächter brüllten und versuchten, zwei weitere Klikiss-Roboter aufzuhalten, die Jorax ins Laboratorium folgen wollten. Ein Soldat richtete seine Waffe auf die beiden gleich aussehenden käferartigen Maschinen. »Zurück. Ihr seid nicht befugt, euch hier aufzuhalten.«

»Wir möchten den Vorgang beobachten«, sagte einer der beiden Roboter.

»Wir sind ebenfalls neugierig«, fügte der andere hinzu. »Und wir bieten Ihnen zusätzliche Informationen.«

Das gehört nicht zur Abmachung, dachte Peter.

Die beiden Spezialisten Palawu und Swendsen berieten sich.

»Eigentlich ist es gar keine schlechte Idee, dass auch diese beiden Roboter hier sind, Euer Majestät. Denken Sie daran, dass ihre Schöpfer die Technik der Klikiss-Fackel entwickelten. Dies ist kein gewöhnliches technisches Analyseprojekt. Niemand weiß, was uns erwartet.«

Peter kniff die Augen zusammen. Das gilt auch für mich.

»Diesen Hinweis finde ich nicht besonders tröstlich. Ist es nicht seltsam, dass die beiden Klikiss-Roboter ausgerechnet jetzt hier erscheinen, ganz plötzlich? Ich dachte, es befänden sich nur etwa zehn Roboter auf der Erde.«

»Das stimmt«, räumte Swendsen ein. »Aber vielleicht hat Jorax ein Signal gesendet. Wir hätten damit rechnen sollen.«

Als der König zögerte, sagte Palawu: »Wenn es Sie beruhigt, Euer Majestät: Diese transparenten Wände sind bombensicher.

Ein Energiestrahl oder selbst die Explosion des Testobjekts könnte Ihnen nichts anhaben.«

Peters Sorge beschränkte sich nicht auf die eigene Person. Er sprach ins Mikrofon. »Na schön, geben wir ihnen die Möglichkeit, der Zerlegung beizuwohnen und zu assistieren.

Unter der Bedingung, dass beide Roboter ihre Verteidigungssysteme deaktivieren.«

Jorax und die beiden anderen schwarzen Maschinen kommunizierten mit summenden, codierten Signalen. Einer der beiden Neuankömmlinge sagte: »Das würde uns verwundbar machen, falls Ihre Soldaten und Wächter beschließen, uns ebenfalls zu zerlegen.«

Peter brachte keine Anteilnahme auf. »Seht darin eine Geste des gegenseitigen Vertrauens. Dies ist die Bedingung dafür, euch die Teilnahme zu gestatten.«

Die beiden insektenartigen Klikiss-Roboter zögerten und erwiderten dann gleichzeitig: »Wir akzeptieren Ihre Bedingung.« Es folgte eine kurze Pause. »Unsere Verteidigungssysteme sind jetzt deaktiviert.«

»Dafür haben wir nur euer Wort«, sagte Peter.

»Also ist eine gegenseitige Geste des Vertrauens erforderlich.« Die Roboter traten vor und Peter beschloss, sie nicht aufzuhalten. Er beobachtete die Vorgänge, voller Unbehagen, aber auch neugierig.

Mit Imagern und Schallsonden scannten die Forscher jede Ritze in Jorax’ Körper und verwendeten Analysemethoden, die die physische Integrität des Roboters nicht beeinträchtigten.

Nie zuvor war es möglich gewesen, eine genaue externe Untersuchung der fremden Maschinen vorzunehmen.

Die Forscher sprachen aufgeregt miteinander und brauchten fast eine Stunde für die visuelle Inspektion und Dokumentation. Die Wissenschaftler waren fasziniert, doch König Peter spürte, wie seine Anspannung wuchs. Die Bedingungen, unter denen das Experiment stattfand, gefielen ihm ebenso wenig wie das Opfer des Roboters und die unerwartete Ankunft der beiden anderen Maschinen. Was wollen sie wirklich?

Der Chefkybernetiker klang wie ein warmherziger Schullehrer, als er im Untersuchungsraum sagte: »Es wird Zeit für die nächste Phase. Jorax, kannst du uns irgendwie Zugang geben oder müssen wir uns durch dein Außenskelett schneiden?«

Es knackte und zischte, als sich in Jorax’ Brustplatte kleine Spalten bildeten, wie zwischen den Segmenten einer Rollassel.

Sie wurden breit genug, um den Blick auf Schaltkreise, glänzendes Metall und Glasfaserstränge zu gestatten, die wie phosphoreszierende Nematoden pulsierten.

»Sehen Sie nur!«, entfuhr es dem Chefkybernetiker. »Dies ist ein ganz anderer Kommandostrang als der, den wir in den Kompis verwenden.« Er blinzelte und sah zur Galerie empor, schien sich erst jetzt wieder an die Zuschauer zu erinnern.

Die Forscher nahmen Werkzeuge, bei denen es sich zweifellos um Hightech handelte, doch für Peter sahen sie wie moderne Brechstangen aus. Die beiden anderen Klikiss-Roboter kamen ein wenig näher, als die Hanse-Wissenschaftler Jorax’ Außensegmente weiter öffneten. Empfindliche interne Komponenten kamen zum Vorschein. Lichter glühten und es sah so aus, als enthielten die flexiblen Glasfasern nukleares Feuer.

»Ich würde meine Systeme und Sensoren lieber deaktivieren, aber dann bekämen Sie bei Ihren Untersuchungen weniger Informationen«, sagte Jorax. Aus dem Brummen seiner Stimme wurde ein dünneres Sirren. »Deshalb werde ich die ganze Zeit über bei Bewusstsein bleiben, bis meine mentalen Subsysteme nicht mehr funktionieren.«

»Er ist sehr tapfer«, flüsterte Palawu.

Peter schloss die Hände um die Armlehnen seines Sessels.

Die beiden Klikiss-Beobachter kamen noch näher und erschreckten dadurch die Wissenschaftler, aber sie schienen nur helfen zu wollen. Sie öffneten Klappen in Jorax’

ellipsenförmigem Kern und streckten seine acht segmentierten Gliedmaßen, jedes von ihnen ausgestattet mit Vorrichtungen zum Greifen, Schneiden und zur Handhabung von Objekten.

Mit ruckartigen Bewegungen amputierten die Roboter die Glieder und reichten sie den Menschen. Selbst die Arme und Beine sollten untersucht werden, denn vielleicht boten sie Hinweise darauf, wie man mechanische Systeme verbessern konnte.

Einer der Kybernetiker sondierte die internen Komponenten.

»Ich sehe bereits, welchen Nutzen dies für uns haben wird.«

Lichter blitzten auf dem Tisch und die Sensoren an Jorax’

Kopfplatte leuchteten heller, vielleicht das Äquivalent eines schmerzerfüllten Schreis. »Es gibt nichts zu befürchten«, sagte er. »Es gibt nichts zu befürchten.«

Peter fragte sich, ob der aufopferungsvolle Roboter diese Worte an die Menschen richtete oder an sich selbst.

Zerlegung und Analyse dauerten den ganzen Morgen. Bei jeder neuen Entdeckung in Jorax’ Körper schwärmten Swendsen und Palawu vom möglichen Anwendungspotenzial und versuchten, den König zu beeindrucken.

»Bestimmt brauchen wir Monate, um auch nur die Verarbeitung des Datenstroms zu verstehen, Euer Majestät, aber nach meiner ersten Einschätzung kann dieses System auf das Kompi-Design übertragen werden. Die Technik lässt sich auch dazu verwenden, die Produktion zu verbessern – eine Verdopplung unserer Produktivität steht in Aussicht.«

Swendsen nickte. »Zweifellos brauchen wir mehr automatisierte Kampfschiffe und Scouts, wenn der Hydroger-Krieg weitergeht. Dann könnten wir in vielen Bereichen auf den Einsatz von Menschenleben verzichten. Dies könnte uns eine echte Chance gegen die verdammten Droger geben.«

Nach einer weiteren halben Stunde traf OX ein und verharrte neben König Peter. Der Lehrer-Kompi beobachtete das Geschehen und wirkte seltsam zurückhaltend. Der König hatte die Angelegenheit zuvor mit ihm besprochen, in der Hoffnung auf neue Erkenntnisse. Er fragte sich, ob OX Mitleid mit dem Klikiss-Roboter empfand. Oder war er ebenfalls argwöhnisch geworden?

Peter wusste nicht, wann genau Jorax den Zustand vollständiger Deaktivierung erreichte – er lehnte den Ausdruck

»Tod« ab –, aber das rote Glühen der optischen Sensoren trübte sich immer mehr, als das energetische Niveau sank. Eine Komponente nach der anderen wurde vorsichtig aus dem Innern der schwarzen Maschine gezogen und schließlich, nach einer langen Diskussion und wiederholtem Zögern, machten sich die Wissenschaftler daran, Jorax’ kantigen Kopf vom Rest des Körpers zu lösen. Daraufhin erloschen die Sensoren ganz und wirkten wie Flecken aus getrocknetem Blut.

Die beiden Klikiss-Roboter standen reglos da und verarbeiteten ihre Beobachtungen. Jorax’ Einzelteile lagen katalogisiert im Untersuchungsraum. Sie wirkten wie die Trümmer nach einem Zugunglück.

Peter fragte sich, warum die Roboter glaubten, dass diese Informationen das Ende eines Individuums aus ihren Reihen rechtfertigten. Und warum hatte sich Jorax freiwillig zu einer solchen Art der Deaktivierung bereit erklärt? Was gewannen die Klikiss-Roboter dadurch? Wollten sie der Menschheit wirklich neue Werkzeuge und Waffen im Kampf gegen die Hydroger geben? Beabsichtigten sie vielleicht, mit dieser Trumpfkarte Gegenleistungen von der Terranischen Hanse einzufordern?

OX stand noch immer neben Peters Sessel, schwieg und wirkte recht nachdenklich.

Der König wandte sich mit ernster Miene an die beiden Spezialisten und sagte leise: »Versuchen Sie, jeden erdenklichen Vorteil daraus zu ziehen. Wir wissen noch nicht, welchen Preis wir langfristig dafür zahlen müssen.«

»Wir werden die besten Fachleute der Hanse darauf ansetzen«, erwiderte Palawu.

»Ich kann es gar nicht abwarten, diese Informationen zu verwenden«, sagte Lars Rurik Swendsen. »Es ist wie Pharao Tutanchamuns Grab oder die verlorene Stadt Quivera!«

Peter atmete tief durch. »Oder wie Pandoras Büchse.«

34

ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Adar Kori’nh leistete dem Erstdesignierten beim Flug nach Hyrillka Gesellschaft, aber Jora’h behielt seine Sorgen für sich.

Es musste so aussehen, als gäbe es nur politische Gründe dafür, seinen Sohn Thor’h nach Hause zu holen. Niemand durfte auf den Gedanken kommen, dass der nahe Tod des Weisen Imperators Anlass dazu gab. Kein anderer Ildiraner war wie Cyroc’h imstande, das Thism zu lesen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

»Meine Truppen haben hier oft Manöver durchgeführt«, sagte Kori’nh nachdenklich und blickte auf den Hauptschirm des Kriegsschiffs. Am Rand des Horizont-Clusters schien es zu viele Sterne zu geben. »Der Hyrillka-Designierte liebt Pomp und bestimmt ist er enttäuscht, dass wir nur mit einer Septa kommen.«

Jora’h rang sich ein Lächeln ab. »Selbst ein Sohn des Weisen Imperators bekommt nicht alles, was er will. Das sollte mein Bruder wissen.« Und Thor’h ebenfalls.

Der Adar senkte die Stimme. »Wenn Sie gestatten, Erstdesignierter: Es ist gut, dass Sie Ihren Sohn nach Ildira bringen. Er hatte hier eine angenehme Zeit, aber ich glaube, er sieht das Reich aus einer falschen Perspektive. Das Vergnügen spielt eine zu große Rolle für ihn – er ist noch unberührt vom Gewicht der Verantwortung. Und doch ist er wie Sie dazu bestimmt, Erstdesignierter zu sein und schließlich zum Weisen Imperator zu werden – natürlich hoffe ich, dass dieser Tag in ferner Zukunft liegt.«

Jora’h fühlte Eiseskälte in seinem Innern. »Thor’h wird seine Pflicht erfüllen, wenn es so weit ist. Das hat man ihn gelehrt.

Dazu wurde er geboren.«

Die Tradition verlangte, dass der nächste Erstdesignierte ein reinblütiger Adliger sein musste und kein hybrider Militäroffizier wie Jora’hs wahrer erstgeborener Sohn. Zan’nh hatte in der Solaren Marine gute Dienste geleistet und sich mithilfe seiner eigenen Fähigkeiten hochgearbeitet. Thor’h hingegen hatte nie Führungsqualitäten oder diplomatisches Geschick gezeigt, aber er war noch jung.

Der Planet Hyrillka gehörte zu einem Doppelsternsystem –im Horizont-Cluster gab es viele Sonnensysteme mit zwei oder drei Sternen. Der große blauweiße Hauptstern erhellte Hyrillkas Himmel während der langen Tage und die orangefarbene sekundäre Sonne hielt die Nacht zurück, sodass die dort lebenden Ildiraner keine Dunkelheit zu fürchten brauchten. Angelockt vom Klima und der grünen Schönheit des grünen Planeten, hatten die ildiranischen Kolonisten Hyrillka zu einer reichen, friedlichen Welt ausgebaut.

Kori’nh brachte seine sieben Kriegsschiffe zum Raumhafenplatz, einen mit sechseckigen Hitzekacheln gepflasterten Bereich. Sie bildeten ein komplexes Mosaik und wiesen jeden Besucher auf Hyrillkas Schönheit hin. Eine jubelnde Menge winkte mit reflektierenden Fähnchen, um die Septa zu begrüßen.

Jora’h beobachtete das Spektakel vom Kommando-Nukleus aus und runzelte die Stirn. »Ich habe Rusa’h darauf hingewiesen, dass dies ein inoffizieller Besuch ist. Meine Ankunft sollte kein Aufsehen erregen.«