KEVIN J. ANDERSON

Der Sternenwald

Die Saga der Sieben Sonnen

Zweiter Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

A FOREST OF STARS

Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst Das Umschlagbild ist von Stephen Youll

Taschenbuchausgabe 12/06

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2003 by WordFire Inc.

Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

www.heyne.de

Printed in Germany 2006

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN-10: 3-453-52220-6

ISBN-13: 978-3-453-52220-6

Das Buch

Zu Beginn des 22. Jahrhunderts verlassen die Menschen mit Generationenschiffen ihr Sonnensystem und stoßen auf die Ildiraner. Dieses aus zahlreichen Arten bestehende Volk erlebt unter der Herrschaft eines weisen Imperators seit vielen Jahrhunderten ein Goldenes Zeitalter. Die Menschen profitieren von der Kooperationsbereitschaft der Ildiraner, übernehmen von ihnen den überlichtschnellen Sternenantrieb und können nun etliche Welten im Spiralarm der Galaxis besiedeln.

Dabei werden sie jedoch mit einer weiteren, höchst aggressiven Spezies konfrontiert, deren Lebensraum sie, ohne es zu wissen, zerstört haben – die in den Tiefen riesiger Gasplaneten lebenden Hydroger. Und mit dem Tod des Ildiranischen Imperators beginnt ein galaktischer Konflikt, der das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten könnte…

»Der Sternenwald« ist nach »Das Imperium« der zweite Roman in Kevin J. Andersons atemberaubender »Saga der Sieben Sonnen« – ein Science-Fiction-Abenteuer, das seinesgleichen sucht.

Der Autor

Kevin J. Anderson ist einer der meistgelesenen SF-Autoren unserer Zeit. Die Auflage seiner Bücher, darunter zahlreiche

»Star Wars«- und »Akte X«-Romane, beträgt weltweit über 15

Millionen Exemplare. Gemeinsam mit Brian Herbert schrieb Anderson auch die »Frühen Wüstenplanet-Chroniken« sowie die »Legenden des Wüstenplaneten«, die faszinierende Vorgeschichte zu Frank Herberts großem Epos »Der Wüstenplanet«. Weitere Informationen zum Autor und seiner

»Saga der Sieben Sonnen« finden Sie unter:

www.wordfire.com.

Für JAIME LEVINE, die »Patin« dieser Serie.

Sie hat die Saga der Sieben Sonnen unter ihre redaktionellen Fittiche genommen –

und liebt die Geschichten gleichzeitig

wie ein wahrer Fan.

DANKSAGUNG

Ich möchte insbesondere Rob Teranishi und Igor Kordey danken, zwei visuellen Genies, deren Phantasie und Anregungen bei den Graphic-Novel-Teilen des Universums der Sieben Sonnen mir dabei geholfen haben, vielen meiner eigenen Ideen Gestalt zu geben; außerdem brachten sie mich auf ganz neue Gedanken. Jeff Mariotte und John Nee von Wildstorm gebührt mein Dank, weil sie mir gestatteten, dieses Epos in eine neue Richtung zu lenken. Ich danke auch meinen Cover Artists Stephen Youll und Chris Moore, die ausgezeichnete Arbeit geleistet und es geschafft haben, auf den ersten Blick etwas zu vermitteln, für dessen Beschreibung ich Seiten brauchte.

Meine Frau Rebecca Moesta hat mir sehr geholfen, nicht nur beim großen Ganzen, sondern auch Zeile für Zeile – sie sieht den Wald und die Bäume.

Catherine Sidor tippte diesen Roman fast ebenso schnell, wie ich ihn auf Band gesprochen habe, wobei sie nicht nur Kommentare und Vorschläge hinzufügte, sondern auch Widersprüche entdeckte. Diane Jones und Brian Herbert waren frühe Leser, steuerten gute Ideen bei und halfen mir, die Geschichte in ihre beste Form zu bringen.

Meine britischen Lektoren John Jarrold und Darren Nash halfen mir mit ausgezeichneten Kommentaren. Die überaus kompetente Melissa Weatherill sorgte eine halbe Welt entfernt dafür, dass alle Produktionsdinge reibungslos liefen, während sich bei Warner Aspect Devi Pillai und Penina Sacks um genug verrückt machende Details kümmerten, sodass wir anderen uns Momente geistiger Klarheit bewahren konnten.

Meine Agenten Matt Bialer, Robert Gottlieb und Kim Whalen von der Trident Media Group haben sich von Anfang an für die Saga begeistert und sehr dabei geholfen, sie zu einem Erfolg auf dem amerikanischen Markt und in vielen anderen Ländern rund um die Welt zu machen.

WAS BISHER GESCHAH

In den Ruinen der uralten Klikiss-Zivilisation entdeckten die Archäologen Margaret und Louis Colicos eine exotische Technik, dazu imstande, Gasriesen zu zünden und in Sonnen zu verwandeln. Der erste Test der Klikiss-Fackel fand beim Gasriesen Oncier statt; zu den Beobachtern zählten Basil Wenzeslas, Vorsitzender der Terranischen Hanse, und Adar Kori’nh, militärischer Kommandeur des großen, aber stagnierenden Ildiranischen Reichs. Die humanoiden Ildiraner haben der Erde zwar dabei geholfen, den Spiralarm zu kolonisieren, aber sie sehen in den Menschen noch immer ehrgeizige Emporkömmlinge. Den Test der Klikiss-Fackel hielten sie für unnötige Überheblichkeit, denn es standen viele andere Planeten für die Kolonisierung zur Verfügung.

Die Zündung verwandelte Oncier in eine kompakte Sonne und Berichte über dieses Ereignis erreichten ohne Zeitverlust viele andere Welten in der Galaxis: Übermittelt wurden sie vom grünen Priester Beneto, einem Menschen vom Waldplaneten Theroc, der in spezieller Symbiose mit den halbintelligenten Weltbäumen lebt. Grüne Priester sind wie lebende Telegrafenstationen und können Gedanken mithilfe der untereinander verbundenen Weltbäume übertragen – es ist das einzige System der direkten, unmittelbaren Kommunikation über interstellare Distanzen hinweg.

Während des Oncier-Tests sahen die Beobachter, wie mehrere diamantartige Kugelschiffe den kollabierenden Gasriesen mit unglaublicher Geschwindigkeit verließen.

Wissenschaftler klassifizierten das Geschehen als unbekanntes Phänomen der Klikiss-Fackel. Auf der Erde zelebrierte der alte König Frederick, glamouröse Galionsfigur ohne echte Macht, eine Feier aus Anlass des erfolgreichen Tests, während Adar Kori’nh zur Hauptstadt von Ildira zurückkehrte, um dem fast allmächtigen Oberhaupt der Ildiraner, dem Weisen Imperator, Bericht zu erstatten. Der Weise Imperator war sehr beunruhigt, als er von den seltsamen Kugelschiffen erfuhr.

Unterdessen machte der erstgeborene Sohn des Weisen Imperators, Erstdesignierter Jora’h, den Menschen Reynald, Erbe des Throns von Theroc, auf Ildira mit dem großen ildiranischen Epos Die Saga der Sieben Sonnen vertraut.

Anschließend, als Zeichen der Freundschaft, bot Jora’h Reynald an, zwei grüne Priester von Theroc nach Ildira zu schicken, damit sie sich dort mit der Saga befassten. Der Weltwald sammelt Wissen durch seine menschlichen Mittler und ist immer bestrebt, mehr über die Geschichte zu erfahren.

Reynald verließ Ildira zu einem geheimen Treffen mit den Roamern, sehr auf ihre Unabhängigkeit bedachten Weltraumzigeunern, angeführt von der alten Sprecherin Jhy Okiah und ihrer schönen Nachfolgerin Cesca Peroni. Sie erörterten ein mögliches Bündnis, um ihre Freiheit vor der habgierigen, sich weiter ausdehnenden Hanse zu schützen.

Reynald schlug sogar die Möglichkeit einer zukünftigen Ehe mit Cesca vor, aber sie war bereits mit dem Himmelsminenbetreiber Ross Tamblyn verlobt.

Auf seiner Blauen Himmelsmine in den Wolken des Gasriesen Golgen traf sich Ross Tamblyn mit seinem jüngeren Bruder Jess. Die Himmelsminen der Roamer sammeln Wasserstoff und verarbeiten ihn zu Ekti, Treibstoff für den Sternenantrieb. Jess brachte Mitteilungen und Geschenke von seiner Familie, darunter auch seiner jüngeren Schwester Tasia.

Trotz der Freundschaft zwischen den beiden Brüdern war das Treffen problematisch, denn Jess und Cesca hatten sich ineinander verliebt (ohne dass Ross etwas davon ahnte). Jess verließ die Blaue Himmelsmine und machte sich auf den Weg zum verborgenen Roamer-Zentrum namens Rendezvous.

Die Roamer haben viel Geld verdient, indem sie gefährliche Nischen für ihre Geschäfte nutzen, aber wegen ihrer Geheimniskrämerei sind sie bei der Hanse nicht sonderlich beliebt. Als das Oberhaupt der Terranischen Verteidigungsflotte (TVF), General Kurt Lanyan, von einem rebellischen Roamer-Raumpiraten hörte, benutzte er die Händlerin Rlinda Kett und ihren Ex-Mann, den Piloten Branson Roberts, als Köder, um den Piraten gefangen zu nehmen und hinzurichten.

Lanyans brutale Maßnahmen erfüllten Rlinda mit Unbehagen, und sie flog nach Theroc, in der Hoffnung, mit exotischen Waren handeln zu können. Mutter Alexa und Vater Idriss (die Eltern von Reynald und Beneto) waren nicht interessiert, im Gegensatz zu ihrer ehrgeizigen ältesten Tochter Sarein, die sich auf ein Verhältnis mit dem Vorsitzenden Wenzeslas eingelassen hatte. Nachdem sie eine Vereinbarung mit Sarein getroffen hatte, erklärte sich Rlinda bereit, zwei theronische grüne Priester (die strenge alte Otema und ihre neugierige Assistentin Nira) nach Ildira zu bringen, wo sie sich mit der Saga der Sieben Sonnen beschäftigen wollten. Später, im Prismapalast des Weisen Imperators, verliebte sich der Erstdesignierte Jora’h in die junge Nira, obwohl der Weise Imperator in den beiden grünen Priestern nicht mehr sah als Objekte…

Auf der Erde sprachen der Vorsitzende Wenzeslas und andere hochrangige Repräsentanten der Hanse über die zunehmenden Fehler des alten Königs Frederick und begannen insgeheim mit der Suche nach einem Ersatz für ihn. Sie entführten einen cleveren Jungen, den sie für geeignet hielten, Raymond Aguerra, ließen dann Raymonds Wohnkomplex in Flammen aufgehen. Die Mutter und seine drei Brüder kamen ums Leben und es blieben keine Spuren zurück. Die Hanse veränderte das Aussehen des Jungen, verwandelte ihn in

»Prinz Peter« und begann mit einer Gehirnwäsche, um ihn auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Der Lehrer-Kompi (ein Roboter, »kompetenter computerisierter Helfer« genannt) vermittelte ihm Wissen.

Nach dem erfolgreichen Test der Klikiss-Fackel begannen Margaret und Louis Colicos mit Ausgrabungen auf dem Wüstenplaneten Rheindic Co, wo alte Städte der verschwundenen insektoiden Klikiss unberührt geblieben waren. Die einzigen noch funktionierenden Überbleibsel der Klikiss-Zivilisation – ihre großen, käferartigen Roboter –behaupteten, dass ihre Erinnerungen vor langer Zeit gelöscht worden waren. Drei dieser alten Roboter begleiteten das Ehepaar Colicos zur Ausgrabungsstätte und hofften, dort mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Zum Team der Archäologen gehörten auch der Kompi DD und der grüne Priester Arcas. In den Ruinen entdeckten Margaret und Louis ein seltsames leeres Steinfenster, verbunden mit inaktiven Apparaturen. Louis untersuchte die Anlagen, während Margaret versuchte, die Klikiss-Hieroglyphen zu entschlüsseln und dadurch Antworten auf ihre Fragen zu finden…

An Bord seiner Blauen Himmelsmine in der Atmosphäre von Golgen beobachtete Ross Tamblyn, wie seltsame Stürme und flackerndes Licht aus den unbekannten Tiefen des Gasriesen emporstiegen. Kurz darauf kamen riesige kristalline Schiffe aus den tiefen Wolken; sie ähnelten den Objekten, die nach dem Einsatz der Klikiss-Fackel Oncier verlassen hatten. Die gewaltigen Kugelschiffe eröffneten das Feuer auf die Blaue Himmelsmine und zerstörten sie. Ross stürzte in die Tiefen von Golgen, in den sicheren Tod…

Die Kugelschiffe erschienen auch bei Oncier und vernichteten eine Raumstation, von der aus Wissenschaftler die künstlich erzeugte Sonne beobachteten. Der fremde Gegner zerstörte weitere Himmelsminen der Roamer in der Atmosphäre mehrerer Gasriesen, forderte sie zur Kapitulation auf und zeigte keine Gnade. Die unerwarteten Angriffe verblüfften sowohl die Hanse als auch die Roamer. Basil Wenzeslas traf sich mit General Lanyan und besprach die Situation mit ihm. Der alte König Frederick bereitete das Volk auf den bevorstehenden Krieg vor und rekrutierte Freiwillige für die TVF.

Die draufgängerische Roamer Tasia Tamblyn schwor Rache für ihren Bruder Ross und ging zum Militär. Sie nahm ihren Kompi EA mit. Voller Kummer starb Jess’ und Tasias Vater an einem Schlaganfall, was für Jess bedeutete, dass er sich nun um die Geschäfte der Familie kümmern musste. Der Tod seines Bruders bedeutete zwar, dass Cesca und er sich zu ihrer Liebe bekennen durften, aber sie lehnten es ab, die Tragödie zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen.

Auf Ildira verbrachte die grüne Priesterin Nira viel Zeit mit dem Erstdesignierten Jora’h und wurde schließlich seine Geliebte. Zwar hatte Jora’h viele Partnerinnen und war dazu bestimmt, zum nächsten Oberhaupt des ildiranischen Volkes zu werden, aber er verliebte sich in Nira. Unterdessen entdeckte der ildiranische Historiker Dio’sh uralte verborgene Dokumente, aus denen hervorging, dass die gefährlichen Fremden aus den Gasriesen, Hydroger genannt, vor langer Zeit in einem Krieg aufgetaucht waren, doch eine Zensur hatte alle Hinweise auf diesen Konflikt aus der Saga der Sieben Sonnen entfernt. Dio’sh trug seine schockierende Entdeckung zum Weisen Imperator, der ihn tötete, weil er dies alles geheim halten wollte.

Auf der Erde baute die TVF neue Kriegsschiffe für den Kampf gegen die Fremden. Darüber hinaus requirierte die Terranische Verteidigungsflotte zivile Raumschiffe: Rlinda Kett musste den Aufrüstungsbestrebungen der Hanse ihre Handelsschiffe opfern, und ihr blieb nur die Unersättliche Neugier, ihr eigenes Schiff. Bei der militärischen Ausbildung tat sich Tasia Tamblyn hervor und übertraf die verzogenen und verwöhnten irdischen Rekruten. Ein anderer Rekrut namens Robb Brindle wurde zu ihrem besten Freund.

Nach den wiederholten Angriffen der Hydroger herrschte bei den Roamern großer Aufruhr. Viele Familien beschlossen, den Betrieb der Himmelsminen in den Atmosphären von Gasriesen einzustellen. Jess Tamblyn begegnete während einer Clanversammlung Cesca, was seinem Wunsch, mit ihr zusammen zu sein, verstärkte. Des Gezänks überdrüssig entschied er, auf eigene Faust einen Schlag gegen die Fremden zu führen. Mit einigen loyalen Arbeitern flog er nach Golgen, wo die Hydroger die Blaue Himmelsmine zerstört hatten. Dort veränderten sie die Umlaufbahnen einiger Kometen und ließen sie mit dem Vernichtungspotenzial von Atomsprengköpfen auf den Gasriesen hinabstürzen.

Auf der Erde lockte ein Wissenschaftler den Klikiss-Roboter Jorax in sein Laboratorium, in der Hoffnung, mehr über die Klikiss-Technik zu erfahren. Als er versuchte, den Roboter zu demontieren, tötete Jorax ihn. »Es gibt einige Dinge, die Sie nicht erfahren dürfen.« Anschließend behauptete der Roboter, der skrupellose Wissenschaftler hätte ein automatisch funktionierendes Selbsterhaltungssystem aktiviert. Jorax verlangte, alle Klikiss-Roboter wie eigenständige Lebensformen zu behandeln, und der alte König verbot weitere Demontageversuche.

Auf Beneto erging der Ruf, den alten grünen Priester Talbun auf der Kolonialwelt Corvus Landing abzulösen. Er freute sich darüber und war sofort einverstanden. Zwar handelte es sich nicht um den hohen Posten, den sich Mutter Alexa und Vater Idriss für ihren Sohn erhofft hatten, aber Beneto bestand auf seinem Beschluss. Seine ihn bewundernde jüngere Schwester Estarra – eine Range, die oft zusammen mit Beneto den Wald erforscht hatte – nahm traurig von ihm Abschied. Später, auf Corvus Landing, stellte Talbun zufrieden fest, dass Beneto gut vorbereitet war. Der alte grüne Priester zog sich in seinen Hain aus Weltbäumen zurück, gab sich dort dem Tod hin und ließ seinen Körper Teil des Weltbaum-Netzwerks werden.

Während einer Wanderung durch den Prismapalast begegnete Nira einem anderen Sohn des Weisen Imperators, dem ernsten, düsteren Dobro-Designierten Udru’h, der Nira nach ihrem telepathischen Potenzial als grüne Priesterin befragte.

Anschließend berichtete er dem Weisen Imperator von seinen geheimen Zuchtexperimenten, die Ildiraner und Menschen betreffen und auf Dobro stattfinden. Der Weise Imperator forderte seinen Sohn zur Eile auf. Die Rückkehr des alten Feindes, der Hydroger, lässt den Ildiranern nur wenig Zeit, um ein Wesen zu schaffen, das die notwendigen Eigenschaften hat, das Reich zu retten. Udru’h deutete an, dass Nira vielleicht über die notwendige DNS verfügt.

Der Kommandeur der Solaren Marine, Adar Kori’nh, ließ seine Offiziere innovative terranische Manöver durchführen.

Vielen konservativen Angehörigen des ildiranischen Militärs fiel es schwer, mit den neuen Methoden zurechtzukommen, aber Zan’nh, der erstgeborene Sohn des Erstdesignierten Jora’h, zeigte großes Talent. Kori’nh beförderte Zan’nh und degradierte den schwerfälligsten der alten Subcommander.

Nach dem Manöver flogen die Schiffe der Solaren Marine zum Gasriesen Qronha 3 – dort gab es die einzige noch von Ildiranern betriebene Himmelsmine. Als Kugelschiffe der Hydroger aus den Tiefen der Atmosphäre kamen und die Ekti-Fabrik angriffen, kam es zu einem wilden Kampf. Die Waffen der Hydroger erwiesen sich als weit überlegen, aber der degradierte ildiranische Subcommander entschloss sich zu einer selbstmörderischen Aktion und rammte mit seinem Schlachtschiff die nächste Kugel der Hydroger. Es gelang ihm, das Kugelschiff zu zerstören, und dadurch bekam die Solare Marine genug Zeit, um sich mit den von der Himmelsmine geretteten Ildiranern zurückzuziehen. Nicht ein einziges Mal während der vielen Jahrtausende der ildiranischen Geschichte, von denen die Saga der Sieben Sonnen berichtet, war es zu einer so schrecklichen, demütigenden Niederlage gekommen.

Auf der Erde ging Raymond Aguerras Ausbildung weiter, mit dem Ziel, ihn zum nächsten König zu machen. Der Kompi OX

leistete ihm Gesellschaft. Zuerst konnte Raymond sein Glück kaum fassen – das Leben auf der Straße ließ sich kaum mit dem enormen Luxus des Palastes vergleichen –, aber nach einer Weile empfand er die strenge Kontrolle immer mehr als Last. Entsetzt stellte er fest, dass die Hanse den Tod seiner Familie verursacht hatte, und daraufhin begriff er, dass er sehr vorsichtig sein musste.

Als der Vorsitzende Wenzeslas erfuhr, dass die Hydroger auch die Ildiraner angegriffen hatten, besuchte er den Weisen Imperator und schlug ihm ein Bündnis vor. An die Fremden gerichtete Verhandlungsangebote blieben ohne Antwort.

Während sich Basil Wenzeslas auf Ildira befand, erschien ein Kugelschiff über der Erde, und ein Gesandter der Hydroger verlangte ein Gespräch mit König Frederick. Der nervöse und verunsicherte alte Monarch versuchte, dem Vorsitzenden mithilfe der grünen Priester eine Nachricht zu übermitteln. Der fremde Emissär traf mit einer speziellen Druckkapsel ein und teilte dem König mit, dass der Test der Klikiss-Fackel einen Planeten der Hydroger vernichtet und Millionen von Bewohnern getötet hatte. Der erschrockene Frederick entschuldigte sich für den unbeabsichtigten Völkermord, aber der Gesandte stellte ein Ultimatum und forderte die Stilllegung aller Himmelsminen. Doch das bedeutete: kein Ekti für den ildiranischen Sternenantrieb, die einzige Möglichkeit zur interstellaren Raumfahrt. Frederick versuchte, den Gesandten umzustimmen, doch der Hydroger ließ seine Druckkapsel explodieren, tötete den König und alle Beobachter im Thronsaal.

Basil Wenzeslas kehrte rasch zur Erde zurück und wies Raymond an, sofort als »König Peter« die Nachfolge von Frederick anzutreten. Bei der Krönungszeremonie verlas Peter eine sorgfältig vorbereitete Rede, lehnte das Ultimatum der Hydroger ab und erklärte, die Menschen hätten ein Recht auf den Treibstoff, den sie für ihr Überleben brauchten. Er schickte eine neue Kampfflotte zum Jupiter, begleitet von Ekti-Sammlern. An Bord der Schlachtschiffe befanden sich auch Tasia Tamblyn und Robb Brindle. In höchster Alarmbereitschaft wachte die Flotte über die Ekti-Fabriken, und einige Tage lang ging alles gut. Doch dann kamen Kugelschiffe aus den Tiefen von Jupiters Atmosphäre und verwickelten die TVF in einen heftigen Kampf. Tasia und Robb überlebten, doch die terranische Streitmacht musste eine bittere Niederlage hinnehmen.

Noch bevor das Debakel bekannt wurde, fand auf der Erde die Krönung des neuen Königs Peter statt, inszeniert als eine großartige Schau, die Hoffnung und Zuversicht wecken sollte.

Peter bemühte sich, seinen Hass auf Basil Wenzeslas zu verbergen; mit einer Droge gewährleistete man seine Kooperation bei der Zeremonie. Basil heuchelte väterlichen Stolz und versprach dem neuen König: Wenn er sich gut benähme, würde er bald eine Königin bekommen…

Auf Ildira beschloss der Weise Imperator, die Ausführung seiner Pläne zu beschleunigen. Nira hatte festgestellt, dass sie das Kind des Erstdesignierten in sich trug, doch bevor sie Jora’h informieren konnte, beauftragt der Weise Imperator seinen Sohn mit einer diplomatischen Mission und schickte ihn nach Theroc. Während einer Schlafperiode nahmen brutale ildiranische Wächter Nira gefangen und erstachen Otema, weil sie zu alt für die Zuchtexperimente war. Nira wurde dem Dabro-Designierten übergeben, der beabsichtigte, ihr genetisches Potenzial für finstere Zwecke zu nutzen…

Der Menschheit standen schwere Zeiten bevor, wenn es ihr nicht gelang, andere Möglichkeiten zu finden, um Treibstoff für den Sternenantrieb zu produzieren. Sprecherin Jhy Okiah forderte die einfallsreichen Roamer auf, Alternativen für die Himmelsminen zu finden, legte dann ihr Amt zugunsten von Cesca Peroni nieder. Jess Tamblyn beobachtete, wie die Frau, die er liebte, zum starken, visionären neuen Oberhaupt der Roamer wurde, und er begriff, dass sie weiter voneinander entfernt waren als je zuvor.

Auf dem fernen Planeten Rheindic Co fanden die beiden Colicos-Archäologen heraus, dass es sich bei dem Steinfenster um ein Transportsystem handelte, ein dimensionales Tor, verbunden mit alten Klikiss-Maschinen. Zwar behaupteten die Klikiss-Roboter, sich an nichts Nützliches zu erinnern, aber Margaret gelang es, alte Aufzeichnungen zu übersetzen.

Offenbar trugen die Klikiss-Roboter Mitverantwortung für das Verschwinden des Volkes, das sie geschaffen hatten, und außerdem waren sie vor langer Zeit in einen Krieg verwickelt gewesen, zusammen mit den Hydrogern und Ildiranern. Voller Aufregung über diese Entdeckung kehrten Margaret und Louis zum Lager zurück – und mussten dort feststellen, dass der grüne Priester Arcas ermordet worden war. Außerdem hatte jemand die jungen Weltbäume zerfetzt, was die Kommunikation über interstellare Distanzen hinweg unmöglich machte. Von den Klikiss-Robotern fehlte jede Spur.

Margaret und Louis verbarrikadierten sich zusammen mit ihrem treuen Kompi DD in der archäologischen Fundstätte, doch die Klikiss-Roboter brachen durch. DD versuchte zwar, seine menschlichen Herren zu verteidigen, aber die Klikiss-Roboter nahmen ihn gefangen und achteten darauf, ihn nicht zu beschädigen – sie sahen so etwas wie einen Artgenossen in ihm. Im letzten Moment gelang es Louis, das Steinfenster zu aktivieren und dadurch ein Tor zu einer unbekannten fernen Welt zu öffnen. Er drängte Margaret, das Tor zu passieren, aber bevor er ihr folgen konnte, schloss es sich wieder. Und dann waren die Roboter heran. Der alte Archäologe kannte zu vieler ihrer Geheimnisse. Als Louis die Klikiss-Roboter an ihre Behauptung erinnerte, sie könnten sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern, erwiderten die Roboter schlicht: »Wir haben gelogen.«

DER STERNENWALD

1

JESS TAMBLYN

Die Gasriesen im Spiralarm enthielten Geheimnisse, Gefahren und Schätze. Anderthalb Jahrhunderte lang war das Sammeln von Wasserstoff in den Wolkenmeeren der riesigen Planeten und seine Verarbeitung zum Treibstoff für den Sternenantrieb ein lukratives Geschäft für die Roamer gewesen.

Das hatte sich vor fünf Jahren geändert.

Die Hydroger hatten allen Himmelsminen verboten, sich den Gasriesen zu nähern, die sie als ihr Territorium beanspruchten.

Das Embargo war ein schwerer Schlag für die Wirtschaft der Roamer, der Terranischen Hanse und des Ildiranischen Reichs.

Viele tapfere oder dumme Unternehmer hatten dem Ultimatum der Hydroger getrotzt und mit dem Leben dafür bezahlt.

Dutzende von Himmelsminen waren zerstört worden – die Fremden zeigten kein Erbarmen.

Doch wenn sich die Roamer mit verzweifelten Situationen konfrontiert sahen, so gaben sie nicht auf, sondern änderten ihre Taktik, überlebten – und gediehen – mithilfe von Innovation.

»Die alte Sprecherin weist immer wieder darauf hin, dass Herausforderungen die Parameter des Erfolgs neu definieren«, sagte Jess Tamblyn über die offene Kom-Verbindung und brachte sein Beobachtungsschiff über dem trügerisch friedlichen Gasriesen Welyr in Position.

»Verdammt, Jess«, ertönte Del Kellums ein wenig verärgert klingende Stimme aus dem Lautsprecher. »Wenn es mir darum ginge, verhätschelt zu werden, würde ich auf der Erde leben.«

Kellum, ein älteres Clan-Oberhaupt und ein Industrieller, der sich gern selbst um die Dinge kümmerte, übermittelte den schnellen Sammlern das vereinbarte Signal. Die Flotte aus modifizierten Himmelsminen, »Blitzminen« genannt, und unterschiedlich konfigurierten kleinen Beobachtungsschiffen hatte sich in vermeintlich sicherer Distanz von dem kupferfarbenen Gasriesen versammelt. Niemand wusste, aus welcher Entfernung die Hydroger Wasserstoffdiebe orten konnten, aber sie hatten es längst aufgegeben, auf Nummer Sicher zu gehen. Letztendlich war das Leben selbst ein Risiko, und ohne Treibstoff für den Sternenantrieb konnte die menschliche Zivilisation nicht überleben.

In den großen Sammlern erhöhte sich das energetische Niveau der Triebwerke und Tanks, als sie letzte Vorbereitungen trafen für den Sturz in die Atmosphäre des gewaltigen Planeten. Zuschlagen und weglaufen. Die Spannung wuchs, die Piloten schwitzten – es konnte losgehen.

Jess Tamblyn saß allein an Bord seines Beobachtungsschiffes und streckte die Hände nach den Kontrollen aus. »Nähern Sie sich von allen Seiten. Schneller Anflug, die Tanks füllen und dann Rückzug. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns die verdammten Droger geben.«

Die großen Sammler bestätigten und fielen wie Falken, die Beute erspäht hatten. Aus dem früheren routinemäßigen Produktionsprozess war ein Kommandounternehmen in einem Kriegsgebiet geworden.

Angesichts der Bedrohung durch die Hydroger hatten wagemutige Techniker der Roamer die traditionellen Himmelsminen verändert. In nur fünf Jahren war viel erreicht worden. Die neuen Blitzminen verfügten über besonders große Triebwerke, supereffiziente Ekti-Reaktoren und abtrennbare Tanks, die zu einer Traube angeordnet waren. Jeder Tank konnte nach dem Füllen gestartet werden und flog dann zu einem vorher programmierten Abholpunkt. Auf diese Weise wurde das produzierte Ekti nach und nach in Sicherheit gebracht, ohne den Verlust einer vollen Ladung zu riskieren, wenn die Hydroger angriffen.

»Die Große Gans hält uns für unfähige Banditen«, sendete Kellum. »Sollen die Droger den gleichen Eindruck von uns gewinnen, verdammt.«

Die Hanse – die »Große Gans« – zahlte viel Geld für jeden Tropfen Treibstoff. Jedes Jahr schrumpften die Ekti-Vorräte, und dadurch stiegen die Preise rapide, bis die Roamer das Risiko für akzeptabel hielten.

Fünf modifizierte Himmelsminen flogen dem Planeten entgegen und tauchten an verschiedenen Stellen in Welyrs Wolkenmeere, in ein Durcheinander aus Stürmen, sanften Winden und Turbulenzen. Mit weit geöffneten Aufnahmetrichtern rasten die Blitzminen durch die Atmosphäre des Gasriesen. Sie sammelten Wasserstoff, und die Ekti-Reaktoren begannen sofort mit der Verarbeitung.

Jess kam sich wie im Krähennest eines alten Piratenschiffs vor, als er die Kontrollen seines Beobachtungsschiffs bediente und Sensoren in Welyrs Gasozeane sinken ließ. Sie sollten große Schiffe entdecken, die aus den tieferen Schichten der Atmosphäre aufstiegen. Nach einer von den Sensoren übermittelten Warnung blieben den Roamern nur wenige Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Jess wusste, dass ein Kampf sinnlos war – die ildiranische Solare Marine und die TVF der Hanse hatten das oft genug gezeigt. Die Sammler waren angewiesen, Welyr beim ersten Anzeichen eines Angriffs zu verlassen, auch wenn sie nur wenig Ekti produziert hatten.

Die erste Blitzmine füllte einen Tank und stieg weit genug auf, um ihn abzuwerfen – er zog in der Atmosphäre des Gasriesen eine dünne Rauchfahne hinter sich her. Jubelnde Stimmen kamen aus dem Kom-Lautsprecher, und die Roamer forderten sich gegenseitig auf, noch mehr zu leisten. Der unbemannte Tank entfernte sich von Welyr und flog zum vorher bestimmten Sammelpunkt. Ihm drohte keine Gefahr mehr.

Früher waren die Himmelsminen der Roamer so durch die Wolkenmeere von Gasriesen geschwommen wie Wale, die sich von Plankton ernährten. Jess’ Bruder Ross war Chief der Blauen Himmelsmine von Golgen gewesen. Er hatte viele Träume gehabt, einen guten Geschäftssinn und jede Menge Hoffnung. Doch dann war seine Himmelsmine ohne jede Vorwarnung von den Hydrogern angegriffen und zerstört worden. Niemand hatte den Angriff überlebt, auch Ross nicht…

Jess sah auf die Anzeigen. Die sinkenden Sensoren orteten nichts, das auf die Präsenz von Kugelschiffen hinwies, aber er blieb wachsam. Welyr erschien ihm zu ruhig und friedlich.

Was geschah in den Tiefen des riesigen Gasplaneten?

Bei den Besatzungsmitgliedern der Sammler wuchs die Anspannung. Sie wussten, dass sie an diesem Ort nur eine Chance hatten und einige von ihnen sterben würden, wenn die Hydroger erschienen.

»Und hier ist der zweite Tank mit Ekti der besten Qualität!«

Del Kellums Sammler startete einen vollen Frachttank und die anderen vier Blitzminen schickten ebenfalls Ekti-Ladungen auf den Weg. Seit weniger als drei Stunden befanden sie sich in der Atmosphäre von Welyr und sie hatten bereits einen guten Fang gemacht.

»Eine geeignete Methode, den Drogern eine lange Nase zu machen«, fuhr Kellum fort. Seine Unruhe fand in Geschwätzigkeit Ausdruck. »Allerdings wäre es mir lieber, ein paar Kometen auf sie hinabstürzen zu lassen. So wie Sie es bei Golgen gemacht haben, Jess.«

Jess Tamblyn lächelte grimmig. Das Kometenbombardement hatte ihn bei den Roamern zu einem Helden werden lassen, und er hoffte, dass alle Hydroger auf dem Planeten ums Leben gekommen waren. Ein wirkungsvoller Schlag gegen den Feind. »Ich bin nur meinem Leitstern gefolgt.«

Inzwischen erhofften sich viele Clans Vorschläge von Jess, wie sie die Vergeltungsmaßnahmen gegen den gnadenlosen Feind fortsetzen konnten.

»Wir haben viel gemeinsam, Sie und ich«, sagte Kellum. Er hatte auf eine private Frequenz umgeschaltet, und seine Stimme gewann einen verschwörerischen Klang. »Falls Sie jemals ein neues Bombardement planen, darf ich diesen Planeten als Ziel vorschlagen?«

»Was haben Sie gegen Welyr?«, fragte Jess. Dann erinnerte er sich. »Ah, Sie wollten Shareen vom Pasternak-Clan heiraten.«

»Ja, verdammt!« Shareen Pasternak war Chief einer Himmelsmine in der Atmosphäre von Welyr gewesen. Jess erinnerte sich an ihren ausgesprochen sarkastischen Humor und ihre scharfe Zunge, aber Kellum hatte jene Frau sehr gefallen. Für sie beide wäre es die zweite Ehe gewesen, doch Shareens Himmelsmine war zu Beginn der Feindseligkeiten von Hydrogern zerstört worden.

Drei weitere Ekti-Tanks stiegen von den Blitzminen auf.

Trish Ng, Pilotin des zweiten Beobachtungsschiffs, stellte eine Verbindung mit Jess her und unterbrach dessen privates Gespräch. »Die Sensoren! Überprüfen Sie die Anzeigen, Jess!«

Tamblyn sah eine gewöhnliche Trägerwelle mit einem kleinen Impuls im Hintergrund. »Das ist nur ein Blitz. Werden Sie nicht nervös, Ng.«

»Der gleiche Blitz wiederholt sich haargenau alle einundzwanzig Sekunden.« Trish zögerte kurz. »Es ist ein künstliches Signal, Jess, kopiert, durch eine Zeitschleife geleitet und zu uns reflektiert. Vermutlich haben die Hydroger unsere Sensoren bereits zerstört. Sie versuchen es mit einer List.«

Jess beobachtete die Darstellung auf dem Display und erkannte das Muster. »Eine bessere Warnung bekommen wir nicht. An alle: Sachen zusammenpacken und weg!«

Als ob sie begriffen hätten, dass sie entdeckt worden waren, stiegen sieben riesige Kugelschiffe wie zornige Ungetüme aus den Tiefen des Wolkenmeers von Welyr auf. Die Roamer reagierten sofort und traten unverzüglich den Rückzug an.

Ein dumpfes Brummen kam von den fremden Schiffen, und blaue Energie flackerte an pyramidenförmigen Erweiterungen der kristallinen Außenhülle. Die fliehenden Roamer hatten den Einsatz jener tödlichen Waffen schon einmal beobachtet.

Kellum trennte vier leere Ekti-Tanks ab und schickte sie wie Geschosse den Hydrogern entgegen. »Erstickt daran!«

»Warten Sie nicht!«, rief Jess über die Kom-Verbindung.

»Setzen Sie sich ab.«

Kellums Ablenkungsmanöver funktionierte. Die Fremden zielten mit ihren blauen Blitzen auf die leeren Tanks, und dadurch bekamen die Sammler einige zusätzliche Sekunden Zeit für die Flucht. Die Roamer zündeten ihre großen Triebwerke, und vier der fünf modifizierten Himmelsminen verließen die Atmosphäre des Gasriesen.

Doch das fünfte Schiff blieb einen Moment zu lange zurück.

Die destruktive Energie der Hydroger riss es auseinander, ließ nur geschmolzene Schlacke übrig. Schreie kamen über die Kom-Verbindung und brachen abrupt ab.

»Los! Los!«, rief Jess. »Verteilt euch und verschwindet hier!«

Die übrig gebliebenen Sammler stoben wie Fliegen davon.

Die Tanks setzten ihren Flug zum Abholpunkt fort, wo sie später aufgenommen werden konnten, wenn keine Gefahr mehr drohte.

Die Kugelschiffe stiegen noch weiter auf, schickten blaue Blitze ins All und trafen ein zu langsames Beobachtungsschiff.

Die anderen Roamer entkamen. Eine Zeit lang verharrten die Kugeln der Hydroger wie knurrende Wölfe über der Atmosphäre und sanken dann langsam in Welyrs kupferfarbenen Wolkenozean zurück, ohne die Roamer-Schiffe zu verfolgen.

Zwar bedauerten die Roamer den Verlust einer Blitzmine und eines Beobachters, aber sie überschlugen bereits die produzierte Ekti-Menge und berechneten, wie viel ihnen der Treibstoff auf dem freien Markt einbringen würde.

Im Cockpit seines Beobachtungsschiffs schüttelte Jess Tamblyn den Kopf. »Wie weit sind wir gekommen, wenn wir schon jubeln, weil wir ›keine zu hohen Verluste‹ erlitten haben?«

2

KÖNIG PETER

Eine weitere Dringlichkeitsbesprechung fand statt, diesmal aber an einem Ort, den König Peter bestimmt hatte: im sekundären Bankettraum des Flüsterpalastes. Diesem Raum kam keine besondere Bedeutung zu – es ging dem jungen König allein darum, seine Unabhängigkeit zu demonstrieren.

Und außerdem wollte er Basil Wenzeslas ärgern.

»Sie weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig der äußere Schein für meine Herrschaft ist, Basil.« In Peters künstlichen blauen Augen blitzte es, als er dem durchdringenden Blick des Vorsitzenden begegnete. »Ist es nicht angemessen, dass ich meinen Mitarbeiterstab im Flüsterpalast empfange, anstatt mich zu Ihnen ins Hauptquartier der Hanse zu begeben?«

Peter wusste: Basil Wenzeslas verabscheute es, wenn er seine eigene Taktik gegen ihn verwendete. Der frühere Raymond Aguerra spielte seine Rolle inzwischen besser, als es die Hanse von ihm erwartet hatte.

Basils gleichgültige Miene sollte Peter daran erinnern, dass er als Vorsitzender der Terranischen Hanse Krisen bewältigt hatte, die schlimmer waren als ein gereizter junger König.

»Ihre Präsenz ist nur eine Formalität.« Er war inzwischen dazu übergegangen, den König zu siezen. »Eigentlich brauchen wir Sie gar nicht bei der Besprechung.«

Doch inzwischen konnte Peter einen Bluff als solchen erkennen. »Wenn Sie glauben, dass die Medien meine Abwesenheit bei einer Dringlichkeitsbesprechung nicht zur Kenntnis nehmen, gehe ich mit meinen Delphinen schwimmen.« Er kannte die eigene Bedeutung und nutzte seine Freiräume, soweit er konnte. Nur selten schätzte er die Grenzen, die ihm Basils Geduld setzte, falsch ein. Jeden kleinen Kampf führte er mit Finesse und subtilem Geschick.

Und er wusste, wann es aufzuhören galt.

Schließlich gab Basil vor, dass es nicht weiter wichtig wäre.

Seine primären Berater – der innere Kreis von ihm selbst ausgewählter Repräsentanten, Militärexperten und Hanse-Beamten – saßen hinter verschlossenen Türen an einem Tisch, auf den das Licht eines Kronleuchters fiel. Stille Bedienstete servierten ein leichtes Essen, brachten Buketts, Damastservietten und Silberbesteck. In drei Alkoven plätscherten Springbrunnen.

Peter hatte auf einem verzierten Stuhl am oberen Ende des Tisches Platz genommen. Der junge König kannte seine Rolle und hörte in respektvollem Schweigen zu, während der Vorsitzende die zu besprechenden Punkte nannte.

Basils eisengraues Haar war perfekt geschnitten und gekämmt. Er trug einen teuren, bequemen Anzug und trotz seiner dreiundsiebzig Jahre bewegte er sich mit würdevoller Agilität. Bisher hatte er kaum etwas gegessen und nur wenig Eiswasser und Kardamomkaffee getrunken.

»Ich benötige eine genaue Einschätzung der Situation in den Hanse-Kolonien.« Der Blick des Vorsitzenden glitt über die Gesichter der Berater, Admiräle und Gesandten der Kolonialwelten. »Fünf Jahre sind vergangen, seit die Hydroger König Frederick töteten und den Betrieb von Himmelsminen in den Atmosphären ihrer Gasriesen verboten – Zeit genug für Schlussfolgerungen und realistische Projektionen.« Er wandte sich an den Kommandeur der Terranischen

Verteidigungsflotte. Als Vorsitzende der Hanse führte er praktisch auch den Oberbefehl über die TVF. »Wie schätzen Sie die allgemeine Lage ein, General Lanyan?«

Der General schob ein Display mit statistischen Daten beiseite, das ihm ein Adjutant reichen wollte. »Die Antwort ist einfach, Vorsitzender. Wir sind in großen Schwierigkeiten, obgleich die TVF das Ekti seit Beginn der Krise streng rationiert hat. Ohne diese ausgesprochen unpopulären Maßnahmen…«

Peter unterbrach ihn. »Unruhen haben ebenso großen Schaden angerichtet wie der Mangel an Treibstoff, insbesondere in neuen Kolonien. Auf vier Kolonialwelten mussten wir bereits das Kriegsrecht ausrufen. Die Menschen leiden und hungern. Sie glauben, ich ließe sie im Stich.« Er betrachtete die Fleischscheiben und bunten Obststücke auf seinem Teller und hatte plötzlich keinen Appetit mehr, als er an die Not vieler Kolonisten dachte.

Lanyan sah den König an, ohne zu antworten, wandte sich dann an Basil. »Wie ich gerade sagen wollte, Vorsitzender: Sparmaßnahmen haben es uns gestattet, die wichtigsten Verbindungen aufrechtzuerhalten. Doch unsere Vorräte gehen immer mehr zur Neige.«

Tyra Laufendes Pferd, eine Gesandtin von den Kolonialwelten, schob ihren Teller zurück. Peter versuchte sich daran zu erinnern, welche Kolonie sie repräsentierte.

Rhejak? »Wasserstoff ist das häufigste Element im Universum.

Warum beschaffen wir uns ihn nicht aus einer anderen Quelle?«

»Konzentrierter Wasserstoff ist woanders nicht so leicht zugänglich«, sagte einer der Admiräle. »Gasriesen sind die besten Reservoirs.«

»Die Roamer produzieren noch immer ein wenig Ekti und setzen sich dabei erheblichen Gefahren aus«, sagte der Gesandte von Relleker. Mit seinem blassen Gesicht und den aristokratischen Zügen ähnelte er den klassischen Statuen an der Rückwand des kleinen Bankettraums. »Sollen sie weiterhin ihren Hals riskieren.«

»Und es gibt einfach keinen anderen Treibstoff für den Sternenantrieb«, ließ sich ein anderer Gesandter vernehmen.

»Wir haben alles versucht und müssen uns mit dem zufrieden geben, was die Roamer liefern.«

Lanyan schnitt eine finstere Miene und schüttelte den Kopf.

»Die derzeitigen Lieferungen der Roamer reichen nicht einmal für unseren dringendsten militärischen Bedarf, ganz zu schweigen vom zivilen Bereich. Vermutlich bleibt uns nichts anderes übrig, als weitere Sparmaßnahmen zu ergreifen.«

»Weitere Sparmaßnahmen?«, wiederholte der dunkelhäutige Gesandte von Ramah. »Es ist Monate her, seit meine Welt die letzte Lieferung an Versorgungsgütern erhalten hat. Wir haben keine Arzneien, keine Lebensmittel, keine Ausrüstung.

Landwirtschaft und Bergbau sind inzwischen erweitert worden, aber uns fehlt die Infrastruktur für ein Überleben in der Isolation.«

»Die meisten von uns befinden sich in der gleichen Situation«, sagte der geisterhaft blasse Repräsentant von Dremen. »Auf meiner Kolonie hat der kalte Wetterzyklus begonnen: mehr Wolken, geringere Temperaturen.

Normalerweise reduziert sich die Ernte während dieser Periode um dreißig Prozent, und das wird auch diesmal der Fall sein.

Selbst in guten Jahren braucht Dremen Hilfe, um zu überleben.

Unter den derzeitigen Bedingungen…«

Basil kam weiteren Beschwerden zuvor, indem er die Hände hob. »Darüber haben wir schon einmal gesprochen. Ergreifen Sie Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung, wenn Ihr landwirtschaftliches Potenzial nicht genügt, um die ganze Bevölkerung zu ernähren. Die gegenwärtige Krise wird nicht über Nacht enden. Beginnen Sie damit, langfristig zu denken.«

»Natürlich«, sagte Peter mit kaum verhohlenem Sarkasmus.

»Nehmen wir gesunden Männern und Frauen das Recht zu entscheiden, wie viele Kinder sie in einer Kolonie haben wollen, die von ihnen selbst aufgebaut wurde, unter Einsatz ihres Lebens. O ja, das ist eine Lösung, die den Leuten gefallen wird. Und vermutlich soll ich sie mit einem freundlichen Lächeln verkünden, wie?«

»Ja, verdammt«, erwiderte Basil. »Das ist Ihre Aufgabe.«

Die schlechten Neuigkeiten schienen allen den Appetit zu verderben. Die Bediensteten kehrten zurück, schenkten Eiswasser ein und boten mit silbernen Zangen kleine Limonen an. Basil schickte sie fort.

Er klopfte mit den Fingern auf den Tisch, zeigte damit für ihn untypische Ungeduld. »Wir müssen den Bürgern deutlicher zeigen, wie ernst die Lage ist. Wir haben nur wenig Treibstoff für den Sternenantrieb, und unsere interstellare Kommunikation ist sehr begrenzt, was wir dem andauernden Mangel an grünen Priestern verdanken – leider bleiben unsere Freunde auf Theroc kurzsichtig. Die Leistungsfähigkeit unserer schnellen Postdrohnen ist beschränkt. Heute könnten wir mehr als jemals zuvor weitere grüne Priester gebrauchen, um Kontakte zwischen isolierten Kolonialwelten zu ermöglichen. Auf vielen Planeten gibt es nicht einmal einen einzigen grünen Priester.«

Basil Wenzeslas sah zu Sarein, der dunkelhäutigen Botschafterin von Theroc. Sie war schlank und drahtig, hatte schmale Schultern, kleine Brüste, hohe Wangenknochen und ein spitzes Kinn.

»Ich gebe mir alle Mühe, Basil. Wie du weißt, neigen die Theronen dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.«

Sie lächelte und wählte die nächsten Worte mit großer Sorgfalt. »Andererseits hat Theroc seit Beginn der Krise weder routinemäßiges Versorgungsmaterial noch Technik oder medizinische Unterstützung bekommen. Ich kann mein Volk kaum um mehr grüne Priester bitten, solange die Hanse unsere eigenen Bedürfnisse ignoriert.«

Peter beobachtete Basil und die schöne Theronin. Seit den ersten Tagen seiner Herrschaft wusste er, dass der Vorsitzende und die Botschafterin sich zueinander hingezogen fühlten.

Bevor Basil eine Antwort geben konnte, straffte Peter die Schultern und schlug den Tonfall an, in dem er seine Ansprachen hielt. »Botschafterin, angesichts der Not, mit der es viele Kolonisten der Hanse zu tun haben, müssen wir unsere Ressourcen sorgfältig einteilen und dabei unseren eigenen Kolonien Priorität einräumen. Als unabhängige Welt ist Theroc schon so besser dran als viele andere Planeten.«

Diese verbale Ohrfeige weckte Zorn in Sarein, doch Basil nickte Peter anerkennend und erleichtert zu. »Der König hat Recht, Sarein. Bis sich die Situation ändert, muss Theroc allein zurechtkommen. Es sei denn natürlich, Theroc möchte sich der Hanse anschließen…?«

Sarein errötete und schüttelte andeutungsweise den Kopf.

General Lanyans Blick strich wie eine Sense durch den Raum. »Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir extreme Maßnahmen ergreifen, Vorsitzender. Je länger wir warten, desto extremer werden die Maßnahmen sein.«

Basil seufzte und schien gewusst zu haben, dass er schließlich diese Entscheidung treffen musste. »Die Hanse erlaubt Ihnen, alles Notwendige in die Wege zu leiten, General.« Seine Augen schienen Peter zu durchbohren.

»Natürlich im Namen des Königs.«

3

ESTARRA

»Ich habe viele faszinierende Welten gesehen«, sagte Estarras ältester Bruder, als ihr Gleitfloß über den dicht bewaldeten Kontinent flog. »Ich bin im Flüsterpalast auf der Erde gewesen und habe unter den sieben Sonnen von Ildira gestanden.« Ein Lächeln erschien in Reynalds sonnengebräuntem Gesicht.

»Aber Theroc ist meine Heimat, und ich bin lieber hier als woanders.«

Estarra schmunzelte und blickte auf die unbekannte und doch vertraute Landschaft aus Weltbäumen hinab. »Ich bin noch nie bei den Spiegelseen gewesen, Reynald. Es freut mich sehr, dass du mich mitgenommen hast.«

Als Kind war sie oft vor dem Sonnenaufgang zu Entdeckungsreisen durch den Wald aufgebrochen und hatte sich dabei von ihrer Neugier leiten lassen. Zum Glück gab es viele Dinge, die ihr Interesse weckten: Natur, Wissenschaft, Kultur, Geschichte. Sie hatte sich sogar mit den Aufzeichnungen des Generationenschiffs Caille befasst, mit der Geschichte der Besiedlung von Theroc und dem Ursprung der grünen Priester. Nicht weil sie musste, sondern weil sie sich dafür interessierte.

»Wen sollte ich sonst mitnehmen?« Mit den Fingerknöcheln strich Reynald verspielt über die Haarknäuel seiner Schwester.

Er hatte breite Schultern, muskulöse Arme und langes Haar, zu Zöpfen geflochten. Zwar zeigte sich ein dünner Schweißfilm auf seiner Haut, aber er schien sich in der Wärme des Waldes recht wohl zu fühlen. »Sarein weilt als Botschafterin auf der Erde. Beneto ist als grüner Priester auf Corvus Landing, und Celli…«

»Selbst mit sechzehn ist sie noch ein Kind«, sagte Estarra.

Vor Jahren war Reynald durch den Spiralarm gereist, um andere Kulturen kennen zu lernen – das gehörte zu seinen Vorbereitungen darauf, der nächste Vater von Theroc zu werden. Bei jener Gelegenheit hatte sich zum ersten Mal ein theronisches Oberhaupt eingehend mit anderen Gesellschaften beschäftigt. Inzwischen war es durch die Verknappung des Treibstoffs für den Sternenantrieb zu Reisebeschränkungen und interplanetaren Spannungen gekommen, und Reynald nahm die neue Situation zum Anlass, die wichtigsten Städte seiner Heimatwelt zu besuchen. Seine Eltern hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm noch in diesem Jahr den Thron überlassen wollten. Er musste bereit sein.

Das Gleitfloß flog über die Baumwipfel hinweg, von einer Siedlung zur nächsten. Lachende Theronen folgten ihm und gaben vor, Teil der Prozession zu sein: Mit Flüglern sausten sie hin und her, kleinen Vehikeln aus umgebauten Triebwerken und den Flügeln einheimischer Kondorfliegen. Ausgelassene junge Männer kreisten über und hinter dem Gleitfloß, zeigten gewagte Flugmanöver. Einige flirteten mit Estarra, die inzwischen das heiratsfähige Alter erreicht hatte.

Weiter vorn bemerkte sie eine Lücke im dichten Blätterdach und das Glitzern von blauem Wasser.

»Das sind die Spiegelseen, alle tief und vollkommen rund«, sagte Reynald und deutete in die entsprechende Richtung.

»Wir übernachten im Dorf.«

Am ersten wunderschönen See trugen die Weltbäume fünf Wurmkokons, die leeren Nester großer wirbelloser Tiere. Als Reynald das Gleitfloß am Ufer des Sees landete, seilten sich Menschen ab, sprangen, kletterten nach unten und schwangen an Ästen hin und her, um die Besucher zu begrüßen. Vier grüne Priester erschienen voller Anmut – photosynthetische Algen gaben ihrer Haut einen smaragdfarbenen Ton.

Die Priester waren zu einer Kommunikation fähig, die weit über das hinausging, was die modernste Technik der Hanse und der Ildiraner zu leisten vermochte. Über Generationen hinweg hatten Wissenschaftler an diesem Problem gearbeitet, ohne dass ihnen die grünen Priester helfen konnten. Es ging ihnen nicht etwa darum, irgendwelche Geheimnisse zu hüten –die Priester konnten keine Hilfe leisten, weil sie selbst nicht wussten, wie ihre besondere Kommunikation funktionierte.

Andere Welten versuchten immer wieder, grüne Priester wegen des Telkontakts in ihre Dienste zu nehmen, aber die unabhängigen Theronen interessierten sich kaum für die Angebote der Hanse. Der Weltwald selbst schien Zurückhaltung zu üben.

Aber die Repräsentanten der Hanse konnten auch sehr beharrlich und überzeugend sein.

Es war die schwere Aufgabe eines jeden Oberhaupts, diese Dinge gegeneinander abzuwägen. Als Estarra beobachtete, wie sich ihr Bruder den grünen Priestern und fröhlichen Kokonbewohnern gegenüber verhielt, sah sie deutlich, dass er ein guter Nachfolger von Vater Idriss sein würde.

Nach dem aus frischem Fisch, Flusskraut und dicken, in ihren Schalen gebackenen Wasserkäfern bestehenden Abendessen stiegen sie zu Plattformen weit oben in den Bäumen am See empor. Reynald und Estarra sahen sich die Vorstellung einiger geschickter Baumtänzer an: Die geschmeidigen Akrobaten liefen, tanzten und sprangen über die flexiblen Äste, benutzten gewölbte Zweige und Blattwedel wie Sprungbretter und flogen durch die Luft. Sie drehten sich um die eigene Achse und machten Saltos, streckten die Hände nach dünnen Ästen aus und schwangen dort in einer gut einstudierten Choreographie hin und her. Ein gleichzeitiger Sprung aller Tänzer beendete die Darbietung. In einem weiten Bogen fielen sie dem Spiegelsee entgegen und tauchten kopfüber hinein.

Nach dem Tanz führte Reynald Gespräche mit den Kokonbewohnern, und Estarra nahm die Einladung an, zusammen mit einigen Mädchen im See zu planschen. Sie schwamm sehr gern – leider bekam sie nur wenige Male im Jahr Gelegenheit dazu.

Während Estarra im Spiegelsee Wasser trat und das Gefühl des Schwebens genoss, blickte sie zum offenen Himmel hoch.

Im Bereich ihrer eigenen Siedlung war das Blätterdach dicht und lückenlos; man musste zu den Wipfeln hinaufklettern, um des Nachts die Sterne zu sehen. Als sie nun schwamm, empfand sie den Anblick des Himmels als überwältigend.

Zahllose Lichter zeigten sich dort in der Unendlichkeit des Alls, Welten voller Menschen und Möglichkeiten.

Als sie nass und erfrischt zu den hell erleuchteten Wurmkokons zurückkehrte, sah sie ihren Bruder dort im Gespräch mit einer jungen Priesterin namens Almari. Ihre Augen zeigten Intelligenz und Neugier. Als Akolyth hatte Almari Jahre damit verbracht, den Bäumen vorzusingen und der Datenbank des Weltwaldes weiteres musikalisches Wissen hinzuzufügen. Wie alle grünen Priester war sie haarlos und die Tätowierungen in ihrem Gesicht wiesen auf ihre Leistungen hin.

Reynald war freundlich und liebenswürdig, hielt sich alle Möglichkeiten offen. »Du bist schön und klug, Almari. Das kann niemand bestreiten. Zweifellos wärst du eine gute Ehefrau.«

Estarra kannte das Gespräch – sie hatte es während dieser Rundreise schon mehrmals gehört.

Almari unterbrach Reynald und sprach schnell, bevor er ihr Angebot zurückweisen konnte. »Wäre es in Anbetracht dieser schweren Zeiten nicht angemessen, dass eine grüne Priesterin zur nächsten Mutter von Theroc wird?«

Reynald berührte die weiche grüne Haut an Almaris Handgelenk. »Dem kann ich kaum widersprechen, aber ich möchte nichts übereilen.«

Almari bemerkte Estarra, stand auf und ging davon, wirkte dabei ein wenig verlegen.

Estarra lächelte schelmisch und versetzte ihrem Bruder einen spielerischen Schlag an die Schulter. »Sie ist hübsch.«

»Und sie war die dritte junge Frau heute Abend.«

»Besser eine zu große Auswahl als gar keine«, sagte Estarra.

Reynald stöhnte. »Vielleicht sollte ich bald eine Entscheidung treffen – dann habe ich es wenigstens hinter mir.«

»Armer, armer Reynald.«

Er gab seiner Schwester seinerseits einen spielerischen Klaps.

»Zum Glück bin ich nicht der ildiranische Erstdesignierte. Er muss tausende von Frauen lieben und so viele Kinder wie möglich zeugen.«

»Oh, die schreckliche Verantwortung, die man als Oberhaupt eines Volkes tragen muss.« Estarra schüttelte das nasse Haar, um ihren Bruder zu bespritzen. »Ich bin nur das vierte Kind, deshalb besteht meine einzige Sorge darin, wann ich wieder schwimmen kann. Wie wär’s mit jetzt?«

Sie lachte und lief fort. Reynald sah ihr neidisch nach.

4

ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Als ältester adliger Sohn des Weisen Imperators verbrachte der Erstdesignierte Jora’h seine Tage damit, der Pflicht zu genügen. Fruchtbare Frauen aus allen ildiranischen Geschlechtern bewarben sich um das Paarungsprivileg, so viele, dass Jora’h sie unmöglich alle empfangen konnte.

Die nächste Partnerin des Erstdesignierten hieß Sai’f. Die gertenschlanke und aufgeweckte Ildiranerin stammte aus dem Wissenschaftler-Geschlecht, galt als Expertin für Biologie und Genetik. Sie interessierte sich für Botanik und entwickelte neue Getreidearten für mehrere Splitter-Kolonien.

Sie besuchte Jora’h in seiner Kontemplationskammer im Prismapalast, wo permanentes Tageslicht durch bunte Kristallflächen fiel. Ihre Stirn war hoch, der Kopf groß, der Blick ihrer Augen aufmerksam – sie schien sich jedes Detail für eine spätere Untersuchung einzuprägen.

Jora’h stand vor ihr, hoch gewachsen und attraktiv, sein Gesicht das ildiranische Ideal der Schönheit. Goldenes Haar formte eine Art Halo um sein Haupt und war zu zehntausend dünnen Zöpfen geflochten. »Danke dafür, dass du darum gebeten hast, meine Partnerin zu sein, Sai’f«, sagte er und meinte es ernst, wie immer. »Möge unser heutiges gemeinsames Geschenk ein Geschenk für das ganze Ildiranische Reich hervorbringen.«

In ihren Händen hielt Sai’f einen Keramiktopf mit einer wie verdreht wirkenden Pflanze, die einen hölzernen Stängel aufwies. Die dornenbesetzten Zweige krümmten sich nach innen und bildeten in ihrer Gesamtheit eine ungewöhnliche Form. Scheu hob sie den Topf. »Für dich, Erstdesignierter.«

»Wie ergreifend und faszinierend.« Jora’h nahm den Topf entgegen und betrachtete das labyrinthene Durcheinander aus Zweigen und Blättern. »Du scheinst Webarbeiten an einer lebenden Pflanze vorgenommen zu haben.«

»Ich erforsche das Potenzial unserer Spindelbäume, Erstdesignierter. Es ist eine bei den Menschen gebräuchliche Technik namens Bonsai. Man bringt die Pflanze dazu, ihre biologischen Anstrengungen nach innen zu richten, und gleichzeitig verstärkt man ihre Schönheit. Ich habe vor einem Jahr damit begonnen, diesen Bonsai wachsen zu lassen, als ich mich um die Partnerschaft bewarb. Es war viel Arbeit nötig, aber ich bin mit dem Ergebnis zufrieden.«

Jora’hs Freude war echt. »Ich besitze nichts dergleichen und werde diese Pflanze an einem besonderen Ort aufbewahren.

Aber du musst mir erklären, was es bei der Pflege zu beachten gilt.«

Sai’f lächelte und nahm die Freude des Erstdesignierten mit Erleichterung zur Kenntnis. Jora’h stellte den Spindelbaum-Bonsai auf ein durchsichtiges Regal an der Wand, trat dann vor, öffnete den Umhang und zeigte seine breite Brust. »Bitte erlaub mir, auch dir ein Geschenk zu geben, Sai’f.«

Sie war untersucht worden, bevor sie den Prismapalast betreten hatte. Alle Frauen, die den Erstdesignierten besuchten, waren fruchtbar und empfängnisbereit. Solche Untersuchungen garantierten nicht, dass er jede von ihnen schwängern konnte, aber die Chancen standen gut.

Langsam streifte Sai’f ihre Kleidung ab, und Jora’h bewunderte sie. Jedes ildiranische Geschlecht zeichnete sich durch eine andere Körperstruktur aus. Manche waren schlank und ätherisch, andere gedrungen und muskulös, hager und sehnig, oder mollig und weich. Doch der Erstdesignierte sah Schönheit in allen Geschlechtern. Einige fand er hübscher als andere, aber er zeigte nie Vorlieben und vermied in jedem Fall, seine Partnerinnen zu kränken oder Enttäuschung zu zeigen.

Sai’f reagierte so auf seine Zärtlichkeiten, als folgte sie einem Programm oder einer empfohlenen Prozedur. Vermutlich hatte sie alle Sex-Variationen wissenschaftlich studiert, mit der Absicht, zu einer Expertin auf diesem Gebiet zu werden und sich bei der Begegnung mit ihm hervorzutun. Derzeit hatte Jora’h das Gefühl, sich ihr gegenüber ebenso zu verhalten und einem Programm zu folgen, eine vertraute Aufgabe wahrzunehmen.

Als er an den faszinierenden Bonsai dachte, den Sai’f mitgebracht hatte, fiel ihm Nira ein. Alte Trauer um die schöne grüne Priesterin regte sich in ihm. Vor fünf Jahren hatte er sie zum letzten Mal gesehen.

Niras Unschuld und ihre exotische Schönheit hatten einen größeren Reiz auf ihn ausgeübt als alle bisherigen ildiranischen Frauen. Ihr Staunen in Mijistra, über Architektur und Fontänen, in den Museen, hatte es Jora’h ermöglicht, seine eigene Stadt mit neuen Augen zu sehen. Ihre unschuldige Erregung angesichts der ildiranischen Leistungen hatte ihn mit mehr Stolz auf sein Erbe erfüllt als die bewegendsten Passagen der Saga der Sieben Sonnen.

Im Lauf der Monate waren sie sich immer näher gekommen, und schließlich hatten sie sich zum ersten Mal geliebt – eine ganz und gar natürliche Entwicklung. Die warme Vertrautheit, die zu einem festen Band zwischen Nira und dem Erstdesignierten wurde, stellte für Jora’h etwas dar, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Beziehung zur grünen Priestern unterschied sich völlig von den kurzen, dem Schwängern dienenden Partnerschaften, die seine Assistenten für ihn arrangierten. Jora’h und Nira hatten viele angenehme Nachmittage miteinander verbracht und jeden von ihnen genossen, obwohl ihnen beiden klar gewesen war, dass ihre Beziehung irgendwann enden musste. Und der Erstdesignierte hatte sie immer wieder zu sich gerufen.

Doch zu Beginn der Hydroger-Krise, als sich Jora’h auf den Weg gemacht hatte, um Prinz Reynald auf Theroc zu besuchen, waren Nira und die alte grüne Priesterin Otema bei einem Feuer im Gewächshaus mit den theronischen Weltbäumen ums Leben gekommen. Nach dem Bericht des Weisen Imperators hatten die beiden grünen Priesterinnen versucht, die jungen Weltbäume zu retten, und dabei waren sie auf tragische Weise den Flammen zum Opfer gefallen.

Vor langer Zeit war Nira mit Schösslingen zum Prismapalast gekommen. Jetzt, Jahre nach ihrem Tod, hatte Sai’f Jora’h einen Bonsai mitgebracht und dadurch erwachten die Erinnerungen.

Der Erstdesignierte konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Wissenschaftlerin. Er wollte ihr seine Unruhe nicht zeigen und sie zufrieden stellen, liebte sie mit einer Intensität, die zumindest für eine Weile den Schmerz der Erinnerungen zurückhielt.

Jora’h bat um eine Audienz bei seinem Vater. Die hellen Augen des Weisen Imperators verschwanden fast zwischen Fettwülsten und die dicken Lippen formten ein Lächeln, als er seinen Sohn sah. Bron’n, der finster wirkende persönliche Leibwächter, stand neben der Tür des privaten Zimmers. Das Oberhaupt des ildiranischen Volkes und sein Sohn konnten ungestört miteinander sprechen.

»Ich möchte eine weitere Mitteilung nach Theroc schicken, Vater.«

Der Weise Imperator Cyroc’h runzelte die Stirn und lehnte sich so im Chrysalissessel zurück, als entspannte er sich in der telepathischen Verbindung des Thism. »Ich spüre, dass du wieder an die menschliche Frau denkst. Du solltest ihr nicht gestatten, ein solches Feuer der Besessenheit in dir zu entfachen, denn es stört dich bei der Wahrnehmung deiner wichtigeren Pflichten. Sie ist seit langer Zeit tot.«

Jora’h wusste, dass sein Vater Recht hatte, aber er konnte Niras Lächeln und die Freude, die sie ihm geschenkt hatte, einfach nicht vergessen. Bevor er hierher gekommen war, hatte er das Arboretum der Himmelssphäre aufgesucht – in einem jener Räume waren die jungen Weltbäume von Theron untergebracht gewesen. Inzwischen wuchsen dort rosarote Comptor-Lilien und bunte Blumen von verschiedenen Splitter-Kolonien. Ein herrlicher Duft ging von ihnen aus. Vor fünf Jahren, nach seiner Rückkehr von Theroc, hatte Jora’h voller Entsetzen auf die Narben des unerklärlichen Feuers gestarrt.

Es waren keine Leichen übrig geblieben, die nach Theroc geschickt werden konnten. Die Weltbäume hatten bereits gebrannt, als Nira und Otema eintrafen; sie waren also nicht imstande gewesen, per Telkontakt eine letzte Nachricht zu übermitteln. In einem speziellen Kommunique, überbracht von einem Schiff der Solaren Marine, hatte der kummervolle Jora’h seinem Freund Reynald von der Tragödie berichtet.

Die Asche und Rußflecken existierten längst nicht mehr, aber die traurigen Erinnerungen blieben. Tief in seinem Herzen hatte sich Jora’h nie mit Niras Tod abgefunden. Wenn er doch nur zur Stelle gewesen wäre… Er hätte nicht zugelassen, dass ihr irgendetwas zustieß.

Durch das Netz des Thism fühlte Cyroc’h die Trauer seines Sohns. Er nickte ernst. »Du wirst viele Bürden tragen, wenn du meinen Platz einnimmst. Mein Sohn, es ist dein Schicksal, den Schmerz des ganzen ildiranischen Volkes zu spüren.«

Jora’hs dünne goldene Zöpfe bewegten sich wie Rauchfäden.

»Trotzdem möchte ich Reynald eine Nachricht übermitteln, in Gedenken an die beiden grünen Priesterinnen. Wir haben weder Asche noch Gebeine zurückgeschickt.« Er breitete die Arme aus. »Es ist nur eine kleine Sache.«

Der Weise Imperator lächelte nachsichtig. »Du weißt, dass ich dir nichts abschlagen kann.« Der vom Kopf ausgehende seilartige Zopf glitt über den vorgewölbten Bauch und zuckte so, als ärgerte sich Cyroc’h über etwas.

Erleichtert hob Jora’h eine geätzte Diamantfilm-Plakette.

»Ich habe Reynald einen weiteren Brief geschrieben, auf dass er bei den grünen Priestern auf Theroc verlesen wird. Ich möchte ihn einem unserer Handelsschiffe mitgeben.«

Der Weise Imperator streckte die Hand aus und nahm die Plakette entgegen. »Es könnte eine Weile dauern. Theroc ist keine häufig besuchte Welt.«

»Ich weiß, Vater, aber ich möchte nicht völlig tatenlos bleiben. Auf diese Weise kann ich mit Theroc in Kontakt bleiben.«

Cyroc’h hielt die schimmernde Plakette in der Hand. »Hör auf, an die menschliche Frau zu denken.«

»Ich danke dir dafür, dass du mir diesen Gefallen erweist.«

Jora’h wich zurück, verließ den Raum und ging beschwingt fort.

Als sein Sohn gegangen war, winkte der Weise Imperator den Leibwächter heran. »Nehmen Sie dies und zerstören Sie es.

Stellen Sie sicher, dass Jora’h keine Nachricht nach Theroc schicken kann.«

Bron’n griff mit einer Klauenhand nach der Diamantfilm-Plakette und bewies seine Kraft, indem er sie zerbrach. Die Bruchstücke wollte er im Feuer eines Reaktors beseitigen. »Ja, Herr. Ich verstehe.«

5

NIRA KHALI

Nira stand im Zuchtlager von Dobro, in dem hunderte von anderen menschlichen Testobjekten untergebracht waren, und blickte durch den dünnen Zaun. Eigentlich dienten die Zäune nur dazu, Grenzen zu markieren. Sie waren kaum mehr als eine Annehmlichkeit für die Wächter, denn eine Flucht kam für die Gefangenen ohnehin nicht infrage. Wohin hätten sie auch fliehen sollen?

Gesäumt von Bergen im Osten und grasbewachsenen Hügeln im Westen befand sich das Lager in einem zentralen Tal mit ausgetrockneten Seen und ödem Terrain. Erosionsrinnen durchzogen den Boden, vom Regen ausgewaschen. Sie erweckten den Eindruck, als wäre die Haut der Welt zu sehr gedehnt worden und dadurch gerissen.

Seit fünf Jahren war Nira Gefangene des Ildiranischen Reiches, und während dieser Zeit hatte sie es geschafft, an ihrem inneren Selbst festzuhalten und am Leben zu bleiben, trotz der schrecklichen Dinge, die sie über sich ergehen lassen musste. Weder die Wächter im Lager noch die ildiranischen Aufseher antworteten ihr auf die Frage, warum man ihr dies alles antat.

Ihr Geliebter Jora’h wusste vermutlich nichts von ihrer Situation. Mit einem einzigen Befehl hätte er Nira und alle anderen Gefangenen befreien können. An einer so horrenden Sache konnte er unmöglich teilhaben – dazu war er zu sanft und mitfühlend. Daran glaubte Nira ganz fest. Wusste Jora’h überhaupt, dass sie noch lebte?

Sie bezweifelt es. Der ahnungslose Erstdesignierte war nach Theroc geschickt worden – damit er meine Entführung nicht verhindern konnte. Bestimmt hatte der Weise Imperator alles vor seinem Sohn geheim gehalten, obgleich Nira von Jora’h schwanger gewesen war.

Der Dobro-Designierte, zweiter Sohn des Weisen Imperators, benutzte die gefangenen Menschen für genetische Experimente. Aus irgendeinem Grund hielt der Designierte Udru’h Nira für besonders viel versprechend und deshalb musste sie noch mehr leiden als die anderen.

Nach der Geburt einer gesunden, wunderschönen Mischlingstochter namens Osira’h – meine kleine Prinzessin –

hatte der Dobro-Designierte Nira im Lager festgehalten und ließ sie immer wieder schwängern, wie eine Zuchtstute…

Sie kniete nun am Rand des Lagers und lockerte mit einem einfachen Werkzeug den Boden bei einigen von ihr angepflanzten wilden Sträuchern und Blumen. Wenn sie Gelegenheit dazu fand, kümmerte sie sich um alle Pflanzen, die sie finden konnte, bewässerte sie und half ihnen, in der kargen Umgebung zu gedeihen. Selbst die kleinsten grünen Flecken erinnerten sie an den üppigen Wald von Theroc. Zwar war Nira von den Weltbäumen und dem intelligenten Wald getrennt, aber sie blieb eine grüne Priesterin und vergaß nie ihre Pflichten.

Ihre grüne Haut absorbierte das Sonnenlicht und verwandelte es in Energie, doch das Licht von Dobros Sonne fühlte sich schwach an, wie kontaminiert von der dunklen Geschichte dieses Ortes. Nira sah auf und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit ihr noch blieb, bis die nächste Arbeitsschicht in den Gräben begann.

Das Zuchtlager bestand aus Baracken, auf Geburten spezialisierten Hospitälern, Laboratorien und Wohnkomplexen. Die meisten Gefangenen kannten gar kein anderes Leben. Nira bemerkte einen hageren Mann im Gespräch mit einem anderen – er lachte, schien sich seiner Situation überhaupt nicht bewusst zu sein. Menschliche Kinder

– Nachkommen der für die Zucht verwendeten Gefangenen –spielten selbst an diesem trostlosen Ort. Der Dobro-Designierte bestand auf einer permanenten Erneuerung der reinblütigen Nachkommen, um die genetische Vielfalt des

»Zuchtmaterials« zu erhalten. Aber Nira gewann den Eindruck, dass diese Menschen im Lauf von weniger als zweihundert Jahren ihren Willen verloren hatten.

Sie behandelten Nira noch immer wie etwas Neues, obwohl sie schon seit fünf Jahren bei ihnen weilte. Man sah etwas Exzentrisches und Sonderbares in ihr, so etwas wie einen Unruhestifter. Wenigsten starrten die Leute jetzt nicht mehr auf ihre grüne Haut – so etwas hatten sie nie zuvor gesehen.

Niras Haltung blieb ihnen unverständlich. Sie begriffen einfach nicht, warum sie sich weigerte, ihre Situation zu akzeptieren und sich mit ihrem neuen Leben abzufinden.

Diese armen Menschen wussten es nicht besser.

Nira hob den Kopf, als die Aufseher eine neue Arbeitsgruppe zusammenstellten. Sie versuchte, möglichst klein und unauffällig zu bleiben, in der Hoffnung, dass die Ildiraner aus dem Beamten-Geschlecht nicht sie wählten, nicht heute. Ihr Körper war kräftig, aber der Geist geschwächt von jahrelangen schwierigen Aufgaben: dem Zuschneiden von Opalknochen, dem Pflücken von Früchten aus dornigen Büschen, dem Ausheben von Gräben.

Die Ildiraner würden ihr schließlich eine Arbeit zuweisen –früher oder später war das immer der Fall –, aber Nira lebte jeweils für den Moment. Wenn sie die Anweisungen nicht befolgte, rissen die ildiranischen Wächter ihre Pflanzen aus dem Boden. Das war schon mehrmals geschehen. Nira musste andere Möglichkeiten finden, Widerstand zu leisten. Falls es überhaupt welche gab…

Unmittelbar nach der Gefangennahme, als der Dobro-Designierte noch nichts von ihrer Schwangerschaft wusste, hatte man sie in einer dunklen Zelle untergebracht – die schlimmste Strafe für einen an ständiges Tageslicht gewöhnten Ildiraner. Die Finsternis sollte Niras Willen brechen, sie vielleicht sogar in den Wahnsinn treiben. Der Designierte brauchte nur ihre Fortpflanzungsorgane, nicht aber ihren Verstand.

Wochenlang saß sie in nasskalter Dunkelheit und das Fehlen von Sonnenlicht bescherte ihr mehr Leid, als es bei einem anderen Menschen der Fall gewesen wäre. Im kontinuierlichen Schein von Ildiras sieben Sonnen hatte ihre photosynthetische Haut ständig Energie geliefert. Die andauernde Finsternis zwang Metabolismus und Verdauungssystem zur Umstellung.

Nira musste lernen, wieder zu essen und gewöhnliche Nahrung zu verdauen. Sie wurde krank und schwach, gab aber trotzdem nicht auf und bewahrte sich die Kraft des Herzens.

Schließlich entließ der Designierte sie aus der Dunkelheit, um Untersuchungen und Analysen vorzunehmen. Sein schmales, attraktives Gesicht ähnelte dem Jora’hs, aber es fehlte jede Anteilnahme darin. Ein heißes Funkeln zeigte sich in Udru’hs Augen, und sein Interesse galt allein Niras Biologie. Die Ergebnisse der Untersuchungen veranlassten ihn, sie erst vorwurfsvoll und dann erfreut anzusehen. »Sie sind schwanger! Von Jora’h?«

Der Designierte brachte Nira nicht wie die anderen menschlichen Gefangenen in den Zuchtbaracken unter und verzichtete auch darauf, sie den Laborgruppen zuzuweisen.

Stattdessen behandelten er und die ildiranischen Ärzte sie mit besonderer Hingabe, nahmen regelmäßig Blutproben und führten einen schmerzhaften Scan nach dem anderen durch.

Sie überwachten Nira die ganze Zeit über und vergewisserten sich, dass sie gesund blieb, doch dabei hatten sie nur ihre eigenen Interessen im Sinn.

Nira versuchte, um ihrer selbst willen bei Kräften zu bleiben und nicht zu verzweifeln.

Die Geburt ihrer ersten Tochter verlief normal. Im Entbindungslabor beobachtete Nira mit müden Augen, wie der Dobro-Designierte einen begierigen Blick auf das schreiende kleine Mädchen warf – er schien bereit zu sein, das Kind seines Bruders zu sezieren. Es vereinte die Gene einer telepathischen grünen Priesterin mit denen des adligen Erstdesignierten. Den phonetischen Traditionen der ildiranischen Geschlechter gemäß nannte Udru’h das Kind Osira’h, aber für Nira war es ihre Prinzessin, eine geheime Hoffnung, genährt von all den Geschichten, die sie den neugierigen Weltbäumen laut vorgelesen hatte.

Wie bei den Gefangenen des Zuchtlagers üblich, durfte Nira ihr Kind sechs Monate lang bei sich behalten. Sie stillte es und achtete darauf, dass es stark blieb. Im Lauf der Zeit lernte sie ihre Tochter immer mehr lieben, doch dann nahm der Designierte sie ihr weg. Alle gesunden Mischlinge wurden nach sechs Monaten von ihren Müttern getrennt.

Mit Osira’h hatte der Designierte Udru’h etwas Besonderes vor. Meine Prinzessin.

Anschließend begann für Nira der eigentliche Albtraum.

Wie sehr sie sich auch zu widersetzen versuchte und betete: Der Dobro-Designierte sorgte dafür, dass sie praktisch ständig schwanger war, und er experimentierte dabei mit verschiedenen Vätern. Jede neue Schwangerschaft bedeutete eine Niederlage für Nira, aber sie weigerte sich, den Mut zu verlieren und zu sterben. Sie kam sich wie ein Grashalm im Wald vor: Füße drückten ihn zu Boden, und Regentropfen hämmerten auf ihn ein, aber er richtete sich immer wieder auf.

Sie hatte sich nie vorgestellt, jemals solche Qualen ertragen zu müssen, doch sie wurde damit fertig, indem sie ihr Selbst zu einem freundlicheren Ort schickte und es erst dann zurückkehren ließ, wenn das Schlimmste überstanden war.

Die fremden Samenspender hassten sie nicht, befolgten nur die Anweisungen des Designierten. Sie gehörten zu einem übergeordneten Plan, dessen Details ihnen allen verborgen blieben.

Jene Mischlingskinder, die Nira nach Osira’h zur Welt brachte, waren keine Früchte der Liebe. Sie verabscheute den erzwungenen Geschlechtsverkehr und versuchte, den Jungen und Mädchen, die ihr Leib gebar, mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Doch während Nira sie stillte, pflegte und in ihre kleinen Gesichter sah, konnte sie einfach nicht kalt und gefühllos bleiben. Sie sah sich außerstande, die unschuldigen Kinder zurückzuweisen, weil ihre Väter gezwungen gewesen waren, sie zu schwängern.

Ihre eigenen Kinder… und sie durfte sie nicht behalten. Jedes Mal nahm man sie ihr nach sechs Monaten weg, damit sie in der nahen ildiranischen Stadt aufwuchsen, im Rahmen ildiranischer Test- und Ausbildungsprogramme.

Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis die Ildiraner zu dem Schluss gelangten, dass sie sich lange genug erholt hatte, und dann würde man sie wieder einer Arbeitsgruppe zuteilen, um sie abzuhärten. Wenn anschließend ihre Furchtbarkeit den Höchststand erreichte, würde man sie zu den Zuchtbaracken bringen, um sie erneut schwängern zu lassen, und dann begann alles von vorn. Schon viermal hatte sie dies hinter sich…

Dobros orangefarbene Sonne neigte sich den Wolken am Horizont entgegen, als Nira sich von den Büschen in ihrem kleinen Garten abwandte und losging, um nach den anderen Sträuchern und Blumen zu sehen. Arbeitsgruppen kehrten von den Hügeln zurück und betraten das Lager. Nach Generationen der Gefangenschaft hatten die Menschen keine Träume mehr, kannten nur noch resignierte Ausdauer, Tag für Tag. Sie schienen sich nicht einmal elend zu fühlen.

Dies war das große schmutzige Geheimnis des Ildiranischen Reiches, eine Antwort darauf, was mit dem einzigen verlorenen Generationenschiff der Erde geschehen war. Die Gefangenen waren Nachkommen der Burton-Siedler. Seit fast zwei Jahrhunderten lebten sie an diesem Ort, fern vom Rest der Menschheit.

Und vor fünf Jahren hatte man Nira Khali zu ihnen gebracht.

Die Gefangenen auf Dobro hatten nie zuvor eine grüne Priesterin gesehen und noch nie von Theroc gehört. Die Frau mit der grünen Haut war eine Fremde für sie.

Abends oder auch bei der Arbeit, wenn sich eine Möglichkeit dazu bot, erzählte Nira leise von ihrer Welt, den intelligenten Bäumen und sogar der Terranischen Hanse und dabei hoffte sie, dass ihr jemand glaubte. Viele der anderen Gefangenen hielten sie für verrückt. Andere hörten mit ungläubiger Neugier zu. Aber sie hörten zu und dadurch gaben sie Nira Hoffnung.

Sie hatte unerwünschte Kinder zur Welt gebracht, eines gezeugt vom Dobro-Designierten selbst, eines von Adar Kori’nh und zwei von anderen ildiranischen Geschlechtern.

Zwar hatte sie jedes dieser Kinder über Monate hinweg gestillt und gepflegt, aber ihre Liebe galt vor allem Osira’h. Nira schloss die Hände um den Zaundraht und fühlte eine kalte Leere in der Brust. Sie sehnte sich nach ihrer Tochter, nach ihrer Prinzessin. Die anderen Gefangenen verstanden ihre Trauer nicht. Mischlingskinder gehörten den Ildiranern und wurden immer fortgebracht. Die übrigen Menschen im Lager dachten sich längst nichts mehr dabei.

Nira schickte oft Anfragen an die ildiranische Stadt in der Nähe und bat darum, Osira’h besuchen zu dürfen. Der Dobro-

Designierte lehnte immer ab und ging nie auf Niras Fragen ein.

Es steckte keine Grausamkeit dahinter – sie spielte für Osira’hs Aufwachsen einfach keine Rolle mehr. Ihr einziger Zweck bestand darin, weitere Kinder zur Welt zu bringen.

Doch der Designierte wusste um Osira’hs Potenzial und der Gedanke daran brachte ein Lächeln auf Niras Lippen. Ihre Prinzessin war mehr als nur ein interessantes genetisches Experiment. Sie ist etwas Besonderes.

6

ADAR KORI’NH

Die sieben prächtig geschmückten Schiffe der Solaren Marine kamen auf Wunsch des Dobro-Designierten. Adar Kori’nh stand im Kommando-Nukleus, als die Septa in einen Standardorbit schwenkte und ihre großen reflektierenden Segel einholte.

Im Prismapalast hatte er seine Anweisungen direkt vom Weisen Imperator Cyroc’h erhalten: Er sollte dem Ruf des Dobro-Designierten persönlich folgen und keinen Untergebenen schicken. Adar Kori’nh erinnerte sich daran, die Stirn gerunzelt zu haben. »Die Aktivitäten auf Dobro haben mir immer Unbehagen bereitet, Herr. Sie… sind nicht geeignet, in die Saga der Sieben Sonnen aufgenommen zu werden.«

»Die Saga wird nie von jener Arbeit berichten, Adar. Und doch müssen wir sie leisten.« Der tentakelartige Zopf des Weisen Imperators zuckte. »In den Experimenten auf Dobro liegt der Schlüssel für das Überleben unseres Volkes und selbst nach generationenlangen Anstrengungen sind wir noch nicht für die Herausforderung gerüstet, die auf uns wartet. Und jetzt sind die Hydroger zurückgekehrt. Die Zeit ist knapp.«

Kori’nh wusste, dass eine Million tiefer Gedanken hinter dem ruhigen Gesicht des Weisen Imperators siedeten, Ideen, die weit über seine Vorstellungskraft hinausgingen. Das Oberhaupt des ildiranischen Volkes war der Brennpunkt des Thism, in dem Seelenfäden zusammentrafen und im Licht höherer Sphären erglühten. Allein der Gedanke, die Wünsche des Weisen Imperators infrage zu stellen, beunruhigte Adar Kori’nh.

Doch als Kommandeur der Solaren Miene musste er seine Bedenken zum Ausdruck bringen. »Ist das wirklich nötig, Herr? Seit unserem Rückzug von den Gasriesen haben die Hydroger ihre Feindseligkeiten nicht eskalieren lassen.«

Der Weise Imperator schüttelte den großen Kopf. »Die Hydroger werden sich nicht damit zufrieden geben, in ihren Bollwerken zu bleiben. Früher oder später greifen sie erneut an. Und wir müssen bereit sein, alles Notwendige für das Überleben unseres Volkes zu tun.«

Kori’nh hatte die Frage pflichtbewusst zur Sprache gebracht, verneigte sich und akzeptierte den Auftrag. Ihm blieb keine andere Wahl.

Er wartete jetzt im Empfangsbereich des Kriegsschiffs, als von Dobro ein Shuttle mit dem Designierten an Bord kam. Der zweite Sohn des Weisen Imperators wollte ein privates Gespräch mit ihm führen. Kori’nh würde bald erfahren, worum es dabei ging.

Adar Kori’nh rechnete mit unangenehmen Aspekten bei dieser Mission, deshalb hatte er sich eine Aufgabe für Tal Zan’nh einfallen lassen und ihn fortgeschickt. Dem Adar blieb nichts anderes übrig, als sich bei dieser Sache die Hände schmutzig zu machen, aber sein Protegé, der Sohn des Erstdesignierten, sollte nicht daran beteiligt werden.

Der Shuttle landete und der nervös wirkende Pilot stieg aus.

Der Dobro-Designierte folgte ihm und sah sich wie ein Raubtier im leeren Hangar um. Er trug schlichte, allein auf den praktischen Nutzen ausgerichtete Kleidung ohne Verzierungen und bunte Streifen mit einem selbstaktiven Energiefilm. Er war ein Mann der Tat, mit einem Auftrag und einer Mission.

Als Udru’h sah, dass der Kommandeur auf ihn wartete, wandte er sich schroff an den Piloten. »Ich brauche Sie nicht mehr. Der Adar wird mich zu dem Ziel bringen, das ich ihm nenne.«

Der Pilot zögerte unsicher und Kori’nh gab mit einem Nicken seine Einwilligung. »Offenbar geht es um eine vertrauliche Angelegenheit. Zweifellos hat der Designierte spezielle Order für mich.«

Vor drei Jahren war er nach Dobro geschickt worden, um mit einer der menschlichen Gefangenen, einer grünhäutigen Frau von Theroc, ein Kind zu zeugen. Kori’nh wusste nicht, warum man sie bei den Nachkommen der Burton-Siedler festhielt, doch entsprechende Fragen standen ihm nicht zu. Der intime Kontakt mit jener Frau hatte ihm nicht gefallen. Er war ihm…

unehrenhaft erschienen. Doch es steckte ein indirekter Befehl des Weisen Imperators dahinter und deshalb musste er sich fügen.

Er wagte nicht daran zu denken, welche Anweisungen der Dobro-Designierte diesmal für ihn hatte.

Kori’nh nahm an den Kontrollen des Shuttles Platz und schwieg, verzichtete auf jede Konversation. Udru’h nannte ihm Koordinaten, die sie fortbrachten von den Umlaufbahnen der Planeten, zum Rand des Dobro-Systems. Dort gab es ein Durcheinander aus kleinen Monden und Asteroiden, das aussah wie unter den Teppich gekehrtes planetares Baumaterial. Die Felsbrocken waren zu weit verstreut, um einen richtigen Asteroidengürtel zu bilden, und angesichts ihrer geringen Ausmaße konnte keiner von ihnen als Planetoid klassifiziert werden.

»Wir haben es hier draußen versteckt«, sagte der Designierte.

»Ein perfekter Ort. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein.«

Kori’nh wusste noch immer nicht, worum es ging, und seine Unruhe wuchs. »Bitte nennen Sie mir Einzelheiten, Designierter. Wonach suchen wir?«

»Unsere Absicht besteht nicht darin, etwas zu suchen, sondern etwas zu verbergen, um der Geheimhaltung willen.«

Kori’nh dachte über diese Worte nach, als er den Shuttle ins kosmische Trümmerfeld steuerte. Staubpartikel und kleine Steine trafen auf die Schilde und dadurch entstand ein leises Zischen. Weiter vorn entdeckten die Scanner ein dunkles Objekt, das eindeutig künstlichen Ursprungs, aber nicht von Ildiranern konstruiert worden war.

»Wie Sie sehen, haben wir zu deutliche Spuren hinterlassen, Adar. Es besteht immer die Gefahr, dass jemand dies entdeckt.«

Es handelte sich um ein riesiges, altes Raumschiff.

Adar Kori’nh interessierte sich für die Militärgeschichte der Erde, auch dann, wenn es keinen direkten Bezug zu den Missionen gab, mit denen ihn der Weise Imperator beauftragte.

Deshalb erschienen ihm gewisse Dinge vertraut, als er das Raumschiff beobachtete, das größer war als fünf ildiranische Kriegsschiffe. Das Konstruktionsmuster wirkte verschwenderisch: Dieses Schiff verließ sich auf rohe Gewalt anstatt auf Finesse. Seine Form entsprach der eines großen Gebäudes. Ganz oben befanden sich industrielle Produktionsanlagen, Kollektoren und Raffinerien – jemand schien eine Art Fabrik aus dem Boden eines Planeten gerissen und ins All geschleudert zu haben. Dunkel hing das riesige Schiff in der Schwärze des Weltraums; Flecken und Kratzer an der Außenhülle wiesen auf gefährliche Begegnungen hin. Wie ein Geisterschiff schwebte es dort, ohne Crew.

Kori’nh wusste die Symbole am Rumpf zu deuten. Die großen Triebwerke konnten das Schiff nur auf einen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Es hätte Jahrhunderte gebraucht, um die Abgründe des Alls zu überwinden. Und doch waren tollkühne Menschen mit solchen

Generationenschiffen zu den Sternen aufgebrochen. »Bekh! Ist das… die Burton?«

Der Designierte richtete einen verächtlichen Blick auf das große Schiff. »Die Solare Marine brachte das Ding hierher.

Damals wollten wir die Menschen auf unserer Splitter-Kolonie ansiedeln – zwei Völker auf einem Planeten. Der Designierte machte sogar eine menschliche Frau, die Kommandantin der Burton, zu seiner Gattin.

Aber andere Menschen passten sich der neuen Situation nicht so gut an. Bevor man einen offiziellen Kontakt herstellen oder eine Delegation zur Erde schicken konnte, wurde die menschliche Frau ermordet und der kummervolle Designierte war gezwungen, hart durchzugreifen, um die Ordnung zu wahren.

Die Erde erfuhr nie von diesen Menschen. Mein Großvater, der Weise Imperator Yura’h, gab die Anweisung, die aufsässigen Geschöpfe in jeder nur erdenklichen Weise zu untersuchen. Als die Burton leer war, schleppte ein Kriegsschiff sie hierher zum Rand des Dobro-Systems und dort ist sie geblieben.«

Kori’nh dachte an die Anstrengungen und Hoffnungen, die man in das große Raumschiff investiert hatte. »Es ist ein wertvolles Relikt.«

Der Designierte schnaufte. »Die Menschen hätten es sicher gern zurück. Seit vielen Jahren suchen sie in der Leere zwischen den Sternen danach. Wir müssen dafür sorgen, dass sie an ihren Mythen und Mysterien festhalten, ohne jemals die Wahrheit herauszufinden.«

»Einverstanden«, sagte Kori’nh, aber aus einem anderen Grund. »Sie dürfen nie erfahren, was wir hier getan haben.«

Vorsichtig steuerte er den Shuttle an Asteroiden vorbei und bewunderte dabei die primitive Erhabenheit des Generationenschiffs.

»Es gibt keinen Grund mehr, das Schiff hier zu behalten«, meinte der Designierte. »Eine eventuelle Entdeckung könnte uns in große Verlegenheit bringen.«

»Warum wurde es überhaupt an diesem Ort versteckt? Hatte jemand vor, es… zu benutzen?«

»Gute Frage«, erwiderte der Dobro-Designierte. »Ich glaube, mein Großvater war damals ein wenig… zerstreut. Weder im Konstruktionsmuster noch in den Triebwerken der Burton haben wir etwas gefunden, das dem Reich nutzen könnte.

Unter dem Druck des Konflikts mit den Hydrogern entwickelte die Terranische Hanse neue Waffen, um ihre militärische Stärke zu erhöhen. Die Menschen sind immer aggressiv gewesen, gründen ständig neue Kolonien und übernehmen sogar Siedlungen, die wir aufgegeben haben…«

»Zum Beispiel Crenna«, warf Kori’nh ein.

Der Dobro-Designierte verzog das Gesicht. »Mein Vater ist der Ansicht, dass die Gefahr einer zufälligen Entdeckung viel größer ist als die Vorteile, die sich daraus ergeben, das Schiff weiterhin hier zu behalten. Ich schließe mich dieser Einschätzung an.«

Kori’nh wich kleinen Fels- und Eisbrocken aus, steuerte den Shuttle noch einmal am Rumpf der Burton entlang und sah sich das alte Generationenschiff aus der Nähe an. Er erweiterte die Bugglänzer und ihr Licht glitt über die Außenhülle.

»Warum haben Sie mich hierher bestellt, Designierter?«

Udru’h sah den Adar so an, als läge die Antwort auf der Hand. »Ich möchte, dass Sie die Burton zerstören. Es darf nichts von ihr übrig bleiben.«

7

CESCA PERONI

Hitze, unglaubliche Hitze – genug, um Felsgestein weich werden zu lassen, leichte Elemente zu verdampfen und menschliches Fleisch innerhalb von Sekundenbruchteilen zu verbrennen.

Isperos war ein schrecklicher Ort unter einer lodernden Sonne, voller Gefahren. Aber die Roamer sahen in der Hitze eine Ressource. Die mit großem Aufwand geschützte Kolonie produzierte so viele reine Metalle und seltene Isotope, dass sich das Risiko lohnte, dort zu leben und zu arbeiten.

Als Sprecherin der Clans war Cesca Peroni gekommen, um Kotto Okiah zu seinem Einfallsreichtum bei der Gründung einer Kolonie am Rand der Hölle zu gratulieren. »Niemand hätte so etwas für möglich gehalten – andere waren zu blind, das zu sehen, was Sie hier erkannt haben. Der Erfolg dieser Kolonie ist eine weitere Stütze für unsere in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft.«

Sie befanden sich im unterirdischen Bunker und der exzentrische Ingenieur nahm das Lob verlegen entgegen. Kotto mochte ein Genie sein, aber er hatte nie gelernt, Komplimente würdevoll entgegenzunehmen.

Im Bestreben, die Besucherin zu beeindrucken, führte er Cesca durch tiefe Tunnel und wischte sich Schweiß von den rötlichen Wangen. »Nach Ebene zwei wird es kühler.« Er klopfte an die Wand und es klang hohl. »Drei Schichten keramische Wabenstruktur, mit einer zusätzlichen Schicht Isolierungsfasern. Ein Vakuum verhindert den thermischen Transfer.«

»Niemand sonst könnte mit der Energie einer ganzen Sonne fertig werden. Ein perfektes Beispiel für die Genialität der Roamer.« Cescas Lob war ernst gemeint.

Kotto lächelte scheu. »Nun, der gewaltige solare Strom liefert genug Energie für die Generatoren, atmosphärischen Prozessoren und Kühlsysteme.« Er deutete auf einige von Raureif bedeckte Rohrleitungen, die wie Adern an der Wand des Tunnels entlangführten. »Ich habe ein neues, unorthodoxes thermisches Flusssystem entwickelt, das überschüssige Energie an die Oberfläche leitet. Große Kühlrippen geben dort Wärme ab – eine weitere meiner Erfindungen.«

Vor einigen Jahren, nach Beginn der Hydroger-Krise, hatte Cesca die Clans aufgefordert, nach innovativen Möglichkeiten für die Gewinnung von Wasserstoff im Spiralarm Ausschau zu halten. Kotto steckte voller Ideen. Während die Station auf Isperos entstand, Tunnel gegraben und Schmelzer gebaut wurden, fand er Gelegenheit, die Funktionsweise der Ekti-Reaktoren zu verbessern. Er hatte auch die Blitzminen entwickelt, die derzeit in den Atmosphären von Gasriesen zum Einsatz kamen.

Irgendwie gelang es den Roamern immer wieder, Unmögliches zu leisten. Cesca atmete tief durch, zufrieden darüber, was sie erreicht hatten. Ja, wir leisten Unmögliches.

Unmöglich war auch die Beziehung mit Jess gewesen. Aber Cesca hatte eine Möglichkeit gefunden, nach langer Zeit die Kluft zu dem Mann zu überwinden, den sie liebte…

Vor Jahren, während sie noch mit Ross Tamblyn verlobt gewesen war, hatte sie sich in seinen jüngeren Bruder verliebt.

Ross kam bei einem Angriff der Hydroger ums Leben und nach seinem Tod hätte es für Cesca und Jess eigentlich möglich sein sollen, miteinander glücklich zu werden. Doch Cesca war zur neuen Sprecherin ernannt worden und Jess musste sich um die Wassergeschäfte seiner Familie kümmern; deshalb hatten sie ihre Gefühle zurückgestellt. Sie vertraten beide den Standpunkt, dass die Sprecherin stark sein und sich ganz ihren Aufgaben widmen musste, zumindest bis zum Ende der Hydroger-Krise.

Es schien eine vernünftige Entscheidung gewesen zu sein.

Kaum ein Jahr später waren sie zu einem heimlichen Liebespaar geworden und inzwischen hatten sie beschlossen, ihre Heiratspläne in sechs Monaten bekannt zu geben. Sechs lange Monate… Aber wenigstens war das Ende in Sicht. Es blieb Cesca nichts anderes übrig, als sich hier und dort mit kleinen Häppchen Glück zu begnügen.

In der Zwischenzeit musste sie sich auf ihre Pflichten als Sprecherin konzentrieren.

Kotto führte sie in einen abgeschirmten Kontrollbunker, dessen Wände mit keramischen Fliesen verkleidet waren. »Wir nennen dies unseren ›Luxussalon‹.« Acht Roamer saßen an Konsolen, beobachteten das externe Geschehen mithilfe von Bildschirmen und überwachten die Arbeitsgruppen in den Schatten auf der Nachtseite.

Isperos badete in der gleißenden Korona der instabilen Sonne, wie ein Stein in einem Schmelzofen. Riesige mobile Abbaumaschinen und Oberflächenschmelzer waren auf der dunklen Seite des Planeten aktiv, dort, wo die Kruste vor kurzer Zeit dem heißen Schein der Sonne ausgesetzt gewesen war. Die Maschinen trugen die Oberflächenschicht ab, gewannen Metalle daraus und separierten die nützlichen Isotope mit kurzer Halbwertzeit, die im Regen der kosmischen Strahlung entstanden.

»Unsere Clans haben es immer gut verstanden, Rohstoffe aus Asteroiden in fernen Umlaufbahnen zu gewinnen«, sagte Kotto. »Aber jene Felsbrocken enthalten vor allem leichte Elemente, Eis und Gas. Hier auf Isperos sorgt die Sonne dafür, dass nur reine Schwermetalle übrig bleiben.« Er breitete die Arme aus. »Wir formen Barren daraus und schicken sie mit dem Katapult ins All. Ganz einfach.«

Cesca bezweifelte, ob auf Isperos irgendetwas »ganz einfach« war, aber sie bewunderte die technische Kühnheit.

Die Große Gans wäre nie ein solches Risiko eingegangen.

Draußen auf der schorfigen Oberfläche führten flache Straßenabschnitte fort von den Abbaustellen. Automatische Transporter brachten Paletten mit Metallbarren zu einem kilometerlangen Katapult, einem mit Elektrizität betriebenen System, das die Metalle mit einer Geschwindigkeit ins All schleuderte, die knapp über der Fluchtgeschwindigkeit von Isperos lag. In sicherer Entfernung von der lodernden Sonne sammelten Frachtschiffe der Roamer die dahintreibenden Schätze ein. Händler lieferten das Metall an Werften der Roamer oder Kolonien der Hanse, deren Industrien Schwarzmarkt-Rohstoffe brauchten und einen guten Preis dafür zahlten.

Kotto deutete auf einen Bildschirm, der einen Wald aus großen keramischen Kühlrippen zeigte: Sie glühten kirschrot und ragten dort wie Segel auf, wo bereits ein Abbau stattgefunden hatte. »Wir konstruieren weitere Wärmeradiatoren, sodass wir die Temperatur im Innern der Station um ein oder zwei Grad senken können. Aber dabei stellt sich immer die Frage, ob wir mehr Zeit in unseren Komfort investieren oder in die Produktion von zusätzlichem Metall.«

In Abständen von jeweils zwei Sekunden schickte das Katapult silberne Zylinder ins All, alle gleich groß und mit der gleichen Masse. Wie Geschosse jagten sie davon. Einmal im Monat wurde das Katapult bewegt, damit es in den langsam dahinkriechenden Schatten blieb. Manche mit Metallbarren gefüllten Zylinder gingen verloren, aufgrund falscher Berechnungen oder weil ihre Flugbahnen von Asteroiden gestört wurden. Doch die Frachtschiffe der Roamer fingen die meisten Behälter ein.

Es erfüllte Cesca mit Stolz zu sehen, was Kotto auf Isperos geschaffen hatte. Dadurch gewann sie neue Zuversicht und glaubte, dass es den Roamern tatsächlich gelingen konnte, den Hydroger-Krieg irgendwie zu überleben. Und vielleicht würden auch Jess und sie am Leben bleiben.

8

JESS TAMBLYN

Der Himmel von Plumas war gefroren und fest. Künstliche Sonnen steckten im Eis des Firmaments und ihr Licht spiegelte sich auf dem subplanetaren Ozean wider.

Transportschächte waren durch den Eispanzer gebohrt worden, schufen Zugang für Besucher und Ausrüstung.

Hydrostatischer Druck presste Wasser durch Risse in der gefrorenen Oberfläche des Mondes; an manchen Stellen spritzte es weit empor. Roamer-Schiffe konnten die Brunnen anzapfen und ihre Frachträume mit Wasser füllen.

Der Tamblyn-Clan betrieb die Wasserminen von Plumas seit Generationen, aber Jess hatte nicht viel für die Industrie übrig.

Er war durch und durch Roamer und begab sich gern auf Missionen, die ihn weit von zu Hause fort führten. Nach dem Tod seines strengen Vaters Bram hatten zum Glück dessen vier Brüder die Leitung der Geschäfte übernommen.

Auf die Frage seines Onkels Caleb, ob er bei den Entscheidungen mitwirken wollte, hatte Jess lächelnd geantwortet: »In unserer Familie gab es genug Fehden und Auseinandersetzungen. Ich möchte keinen neuen Konflikt beginnen und außerdem leistet ihr gute Arbeit. Mein Vater meinte, das Blut eines Tamblyn sollte wie Eiswasser sein. Er hielt das für eine gute Sache.«

Jess stand jetzt bei den Liftschächten und zog seine Handschuhe zurecht. Die Luft war kalt und frisch; wenn er ausatmete, bildete sich eine grauweiße Wolke vor seinem Mund. Er war auf Plumas aufgewachsen, hatte mit Ross gespielt und sich zusammen mit seinem größeren Bruder um ihre Schwester Tasia gekümmert. Doch inzwischen hatte sich zu viel verändert – dies war nicht mehr der Ort seiner Kindheit.

Als Vierzehnjähriger hatte Jess seine Mutter verloren. Sie war mit einem Wagen auf der Oberfläche unterwegs gewesen, um Brunnen, Geysire und Pumpstationen zu überprüfen, und plötzlich hatte die Kruste nachgegeben. Wasser und Schlammeis hatten Karla Tamblyn fortgespült und ihr Wagen war in einen tiefen Spalt gestürzt. Stundenlang hatten sie schwache Signale von dem Kommunikator in Karlas Schutzanzug empfangen, doch niemand war in der Lage gewesen, sie zu retten. Der Schmerz hatte Bram fast um den Verstand gebracht, während seine Frau langsam erfror. Wie ein Fossil im Eis eingebettet blieb ihre Leiche zurück.

Inzwischen war Jess’ Vater tot, ebenso wie sein Bruder, und seine Schwester hatte sich freiwillig für den Dienst in der TVF

gemeldet. Zwar blieben ihm seine Onkel und Vettern, aber trotzdem fühlte sich Jess auf Plumas allein.

Hinter ihm kamen zwei seiner Onkel aus den

Verwaltungshütten. Ein dritter Mann trat hinter dem Ausrüstungsschuppen hervor und stopfte ölverschmierte Handschuhe in isolierte Taschen. Onkel Caleb bastelte immer an irgendwelchen Apparaten herum und versuchte, die Ausrüstung zu verbessern. Jess glaubte, dass Caleb das Summen von Triebwerken mochte und gern »sauberen Schmutz« unter den Fingernägeln hatte.

Die anderen beiden Männer waren so sehr eingepackt, dass Jess sie nicht erkennen konnte. Es mussten die beiden Zwillinge Wynn und Torin sein, die jüngsten Brüder seines Vaters. Sein vierter Onkel Andrew blieb im Verwaltungstrakt, kümmerte sich dort um Buchführung und Budgets.

»Das Schiff ist bereit für den Flug nach Osquivel«, sagte einer der beiden Kapuzengestalten – Torin, der Stimme nach zu urteilen. Die Kälte hatte seine Wangen gerötet.

»Wir haben Del Kellums Order übererfüllt«, brummte Wynn, ohne die Kapuze zurückzustreichen. »Widersprich nicht, wenn er darauf besteht, mehr zu bezahlen.«

Caleb näherte sich und lächelte. »Wenn du klug bist, Jess, bringst du Kellums flotter Tochter ein Geschenk mit. Sie wäre eine gute Partie.«

»Kann eine echte Nervensäge sein«, meinte Torin. »Aber es gibt schlimmere Ehefrauen.«

Jess lachte. »Danke, aber… nein.« Die Hinweise seiner Onkel erinnerten ihn daran, wie sehr er Cesca vermisste. Er lächelte verstohlen. Noch sechs Monate.

»Wählerische junge Männer werden zu verbitterten Junggesellen«, warnte Torin.

»Und wenn schon«, erwiderte Wynn ein wenig zu schnell.

Caleb und Torin wandten sich an ihren Bruder und runzelten die Stirn. »Behaupte nur nicht, du hättest es nie bereut.«

Wynn verteidigte seinen Standpunkt. »Wenn meine biologische Uhr zu ticken beginnt, gebe ich euch Bescheid.«

Zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Lifttür und Jess trat in die Kabine, ließ seine Onkel und ihre Neckereien hinter sich zurück. »Kümmert ihr euch um die Tamblyn-Dynastie, während ich fort bin. Ich liefere das bestellte Wasser ab.« Die Transportkapsel des Lifts trug ihn durch den Eishimmel. Er konnte es gar nicht abwarten, sich mit dem Tanker auf den Weg zu machen, denn dann bekam er die Möglichkeit, einige Tage ungestört von Cesca zu träumen…

Die Roamer-Werften in den Ringen über dem Äquator des Gasriesen blieben den Hydrogern ebenso verborgen wie den Spionen der Hanse.

Jess Tamblyn traf mit seiner Wasserlieferung bei Osquivel ein. Ein glitzerndes Konglomerat aus Greifkapseln, automatischen Stationen und Ambientalmodulen umkreiste den Gasriesen zusammen mit den Fels- und Eisbrocken der Ringe. In Raumanzüge gekleidete Roamer bewegten sich wie fleißige Ameisen, brachten Fertigteile und Rohmaterial zu den Werften. Solange die Erkundungsschiffe der Großen Gans nicht zu genau Ausschau hielten, baute Kellums lukrativer Komplex ein Raumschiff nach dem anderen…

Als Jess angedockt und die Frachttanks abgetrennt hatte, kam Del Kellum zu ihm. Er hatte einen breiten Brustkorb, meliertes Haar und einen sorgfältig gepflegten Spitzbart. »Seit dem Einsatz bei Welyr haben wir uns nicht mehr gesehen! Was bringen Sie diesmal?«

Jess deutete mit dem Daumen in Richtung Andockraum.

»Genau das, was auf dem Frachtschein steht, Del. Haben Sie etwas Stärkeres als Wasser erwartet?«

»He! Ich kümmere mich um die Lieferung«, ertönte die Stimme einer jungen Frau aus dem Kom-Lautsprecher. »Hallo, Jess! Treffen wir uns, bevor du wieder losfliegst?«

Er erkannte die Stimme von Kellums Tochter, die erst achtzehn Jahre alt und bereits mit vielen Werftarbeiten vertraut war. »Ich habe nicht viel Zeit, Zhett. Ich weiß nicht, ob sich Gelegenheit zu einem Treffen ergibt.«

»Er wird sich die Zeit nehmen, Schatz«, sagte Kellum.

Zhett steuerte eine kleine Greifkapsel so, als stellte sie eine Erweiterung ihres Körpers dar, brachte die Wassertanks von Plumas damit fort, um sie zwischen den Montagegittern und Ressourcefelsen von Osquivel zu verteilen.

Mit väterlichem Stolz in den feuchten Augen sah Kellum seiner Tochter nach und hob dann die buschigen Brauen. »Sie gefallen ihr, Jess, und ihr wärt ein gutes Paar, verdammt. Sie sind einunddreißig und unverheiratet – macht man sich in Ihrem Clan nicht allmählich Sorgen?«

Zhett stammte aus Kellums erster Ehe, das einzige Mitglied seiner Familie, das ihm nach einem Kuppelbruch geblieben war, der Frau und Sohn getötet hatte. Zwar behandelte Kellum seine Tochter wie eine Prinzessin, aber sie war zu einer starken Frau herangewachsen und ganz und gar nicht verwöhnt. Jess kannte sie seit vielen Jahren.

Er sah Kellum an und rang sich ein Lächeln ab. »Ich treffe meine Wahl, wenn mir der Leitstern den Weg zeigt.«

Kellum klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn durch eine Luftschleuse in ein langsam rotierendes Wohnmodul. Er reichte Jess einen kleinen flexiblen Ballon, gefüllt mit einer starken orangefarbenen Flüssigkeit, die er selbst brannte.

Fenster in einer Wand boten einen guten Blick auf die zahllosen Geisteinsbrocken, aus denen die Ringe des Gasriesen bestanden. »Hier zu leben… Man könnte meinen, mitten in einem Schwarm hungriger Fische zu schweben«, sagte Kellum. »Man beobachtet alles, was sich bewegt, und man hält sich bereit, um gegebenenfalls auszuweichen.«

Er deutete stolz auf das Aquarium an der Innenwand, und Jess betrachtete die wie Zebras gestreiften Meerengel darin.

Del Kellum hatte die tropischen Fische für viel Geld von der Erde importiert. Er fütterte sie regelmäßig, bewunderte ihre schlanken Körper und meinte, sie erinnerten ihn an Raumschiff-Entwürfe.

»Wann auch immer Sie entscheiden, eine neue Erntegruppe zusammenzustellen, Jess…«, brummte das Clan-Oberhaupt verschwörerisch. »Meine Werften können zehn oder mehr weitere Blitzminen bauen. Es ist schon alles vorbereitet.«

Jess wusste nicht recht, ob er Hoffnung oder Sorge in der Stimme des älteren Mannes hörte. »Derzeit möchte ich nicht riskieren, noch mehr Leute und Material zu verlieren, nur um der Großen Gans ein paar Tropfen Ekti zu verkaufen.

Außerdem sollten wir uns auf andere Methoden besinnen.«

Kellum hob die zur Faust geballte Hand. »Wir müssen den Drogern zeigen, dass wir stark sind, verdammt. Es ist keine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung.«

Während das Wohnmodul rotierte, veränderte sich der Ausblick durch die Fenster. Sterne leuchteten, eingebettet in Schwärze und dann geriet der an Wasserstoff reiche, aber verbotene Gasriese in Sicht. Jess seufzte. »Unsere Erntemethoden werden ständig modifiziert und verbessert. Es muss noch andere, weniger gefährliche Möglichkeiten geben, Wasserstoff zu gewinnen.«

»O ja, die gibt es bestimmt – aber sie sind nicht annähernd so effizient.«

In den Werften von Osquivel produzierten riesige Schmelzer und schwebende Raumdocks gigantische Kollektoren aus metallischen Polymeren. Sie waren nur wenige Moleküle dick und jede von ihnen groß genug, um einen ganzen Mond zu verdunkeln. Die zusammengefalteten hauchdünnen Kollektoren wurden mit Kapseln weit hinaus ins interstellare Gasmeer gebracht, wo sie sich öffnen und Wasserstoff sammeln sollten. Andere Anlagen hoch über Osquivel waren dazu bestimmt, Wasserstoff aus Kometeneis zu gewinnen.

»Es dauert einfach zu lange, Ekti auf andere Weise zu produzieren«, brummte Kellum.

Der private Kommunikator summte und Zhetts Stimme ertönte. »Ich wollte nur kurz Bescheid geben, Vater. Alle Lieferungen haben ihren Bestimmungsort erreicht. Ist Jess noch da?«

»Ja, das ist er, Schatz.«

»Wie wär’s mit einem Greifkapselflug, Jess? Wir könnten uns die Ringe ansehen…«

»Ich kann nicht lange bleiben, Zhett – Clan-Pflichten rufen.«

»Dein Pech.« Zhett klang verärgert. »Du wirst es noch bereuen.«

Zhett unterbrach die Verbindung, und Jess sah ihren Vater an.

»Das werde ich wahrscheinlich.«

9

TASIA TAMBLYN

Die TVF-Kampfgruppe glitt durchs All und wirkte eindrucksvoll genug, um die aufsässigen Kolonisten von Yreka einzuschüchtern. Jedes Einzelne der drei verbesserten Moloch-Schlachtschiffe hätte genügt, aber Admiral Sheila Willis hatte der Streitmacht auch noch fünf Waffenplattformen der Thunderhead-Klasse, zehn mittelgroße Manta-Kreuzer und sechzehn volle Staffeln aus Remora-Angriffsjägern hinzugefügt.

Die Gitter-7-Flotte ließ drohend ihre Muskeln spielen.

Platcom Tasia Tamblyn hielt es für weit übertrieben, eine so große Streitmacht gegen eine Hand voll ungehorsamer Siedler in den Einsatz zu schicken, von der Verschwendung des kostbaren Treibstoffs für den Sternenantrieb ganz zu schweigen. Sollte die TVF nicht besser gegen den wahren Feind antreten?

Tasia betrat den privaten Salon der Waffenplattform, der direkt neben dem Thunderhead-Brückendeck lag. Bilder von Admiral Willis und allen früheren Schiffskommandanten erwarteten sie dort – eine Lagebesprechung stand an. Das Flaggschiff der Admiralin trug den Namen Jupiter, nach dem König der römischen Götter und auch in Gedenken an die erste große Niederlage im Kampf gegen die Hydroger.

»Ich möchte diese Mission ohne Kollateralschäden durchführen – wenn möglich.« Das Gesicht der Admiralin wirkte verhärmt, das graue Haar lag dicht am Kopf. Sie sah aus wie eine strenge alte Schullehrerin und sprach leicht gedehnt.

»Mir wäre es lieber, ganz auf den Einsatz von Waffen zu verzichten. Die Yrekaner sind nicht der Feind, nur fehlgeleitete Kolonisten.«

Tasia nickte. Sie teilte den Standpunkt der Admiralin, wusste aber, dass sie damit in der Minderheit war.

»Bei allem Respekt, Admiral«, sagte Commander Patrick Fitzpatrick III. in dem für ihn typischen überheblichen Tonfall.

»Wer den direkten Befehlen des Königs trotzt, muss als Feind gelten. In diesem Fall handelt es sich nur um eine andere Art von Feind.« Der junge Mann hatte dunkles Haar und dunkle Augen, aristokratische Züge und wie aufgemalt wirkende Brauen.

Tasia unterdrückte ein verärgertes Seufzen. Bei realistischen Kampfund Notfall-Übungen hatte sie Fitzpatrick ein- oder zweimal das Leben gerettet, aber er verachtete noch immer alle, von denen er glaubte, sie stünden sozial unter ihm. An der lunaren Militärakademie hatte ihm Tasia mehrmals mit den Fäusten gezeigt, was sie von seiner arroganten Borniertheit hielt, doch selbst ein Aufenthalt in der Krankenstation blieb ohne Wirkung auf die Haltung des Kleebs.

Allerdings beherrschte Fitzpatrick das Spiel der Politik besser als Tasia, und hinzu kam: Seine Großmutter Maureen Fitzpatrick war während der Herrschaft von König Bartholomäus Vorsitzende der Hanse gewesen – deshalb fühlte er sich privilegiert. Auch Tasia stieg durch die Ränge auf, aber aufgrund ihrer Leistungen. Fitzpatrick saß nun im Sessel des Captains an Bord eines Manta-Kreuzers und Tasia führte den Befehl über eine große Thunderhead-Plattform. Und beide waren erst Anfang zwanzig.

Admiral Willis’ holographisches Bild drehte sich, wodurch sie den Eindruck erweckte, die anderen dargestellten Offiziere zu mustern. »Wie dem auch sei: Dies ist eine wohlwollende Disziplinarmaßnahme, kein Angriff.«

»Ja«, sagte Fitzpatrick. »Geben wir ihnen väterlich was auf den Hintern.«

Soweit es Tasia betraf, konnte er seinen Kopf ins Vakuum stecken.

Sie bewunderte, was die Kolonisten auf Yreka seit der Gründung ihrer Siedlung vor vierzig Jahren geleistet hatten.

Sie waren nicht so kühn und einfallsreich wie die Roamer, aber sie hatten wirklich Rückgrat bewiesen. Yreka wäre als starker, unabhängiger Außenposten geeignet gewesen. Konnte man der charismatischen Großgouverneurin Sarhi vorwerfen, dass sie schwierige Entscheidungen traf, um das Überleben ihres Volkes zu sichern?

Namenlose, anonyme »Beobachter« der Hanse – ein anderes Wort für »Spione«, dachte Tasia – hatten die verschiedenen Kolonien infiltriert, um sie von innen her zu überwachen. In einem der von diesen Spionen an die TVF übermittelten Berichte war vom Eigensinn der Yrekaner die Rede gewesen.

General Lanyan sah in Yrekas Trotz einen persönlichen Affront. Als er die Kampfgruppe losschickte, hatte er gebrummt: »Erst vor wenigen Jahren haben die Yrekaner uns um Hilfe gegen eine Bande von Roamer-Piraten gebeten.

Offenbar ist ihr Gedächtnis lückenhaft.«

Zwar blieb sie äußerlich ruhig und gelassen, doch die Worte berührten in Tasia einen wunden Punkt. Der Pirat Rand Sorengaard war ein Außenseiter, und die meisten Roamer verabscheuten, was er getan hatte. Doch die Hanse nutzte jenen Zwischenfall noch immer, um Vorurteile zu fördern. Bei ihrer militärischen Laufbahn war Tasia immer wieder mit diesem Stigma konfrontiert worden.

Ein Navigationsoffizier sprach über das Kom-System der Jupiter und seine Stimme erklang in der Holo-Konferenz.

»Wir erreichen das Yreka-System, Admiral. Alle Schiffe nehmen die planmäßigen Positionen ein.«

»In Ordnung«, erwiderte Admiral Willis. »Die nächste Besprechung findet statt, sobald die Großgouverneurin geantwortet hat. Diese Angelegenheit könnte in einer Stunde vorbei sein. Es ist aber auch möglich, dass wir längere Zeit hier bleiben müssen.«

Tasia verließ den Salon der Waffenplattform und kehrte auf die Brücke zurück. Sie hoffte, dass es ihr irgendwie gelang, die TVF an einer Aktion gegen die Siedler von Yreka zu hindern.

Leider gehörten Sensibilität und Diplomatie nicht zu ihren vielen starken Seiten.

Yreka war eine unwichtige Kolonie am Rand des Hanse-Raums, unweit des Ildiranischen Reiches. Das Sonnensystem, neue Heimat einer Hand voll zäher Siedler, hatte keine strategische Bedeutung. Yrekas Wirtschaft war nicht autark; viele Dinge mussten importiert werden.

Tasia nahm ihren Platz auf der Brücke ein und forderte die Offiziere auf, alle Systeme zu überprüfen. Dann meldete sie der Jupiter: »Thunderhead 7-5 bereit, Admiral.«

Die Entscheidung lag bei Willis – Tasia hoffte, dass sie einen kühlen Kopf bewahrte. Eines stand fest: Gegen die Feuerkraft der TVF-Kampfgruppe konnten die Yrekaner nichts ausrichten.

Staffelführer Robb Brindle, Tasias Freund und Geliebter, meldete sich aus dem Hangar und sprach mit erzwungener Förmlichkeit. »Die Elite-Staffeln sind startbereit, Platcom.

Sollen wir aufbrechen oder warten bis die Yrekaner aktiv werden?«

»Öffnen Sie einen weiteren Kaffeeschlauch, während Sie im Cockpit warten, Staffelführer«, erwiderte Tasia. »Wenn die Yrekaner sehen, womit sie es zu tun haben, geben sie bestimmt klein bei.«

»Im Raumhafenbereich findet erhebliche Aktivität statt, Platcom«, sagte der Scanner-Ensign. »Die Kolonisten mobilisieren Schiffe… und zwar ziemlich viele.« Die Frau berührte einen Empfänger am Ohr. »Die Großgouverneurin hat eine Evakuierung angeordnet und weist alle Zivilisten an, Schutzräume aufzusuchen.« Die Offizierin sah Tasia groß an.

»Man scheint wirklich mit einem Angriff zu rechnen.«

»Shizz, sie sollten es besser wissen«, sagte Tasia. »Yreka ist eine Hanse-Kolonie und wir sind die TVF.« Aber tief in ihrem Herzen fragte sie sich, wie weit Admiral Willis gehen würde.

Die Admiralin setzte sich mit der Großgouverneurin in Verbindung und sprach in einem umgänglichen Tonfall, der jedoch nicht über den Ernst ihrer Worte hinwegtäuschte.

»Ma’am, hier spricht Admiral Sheila Willis, Kommandantin der Terranischen Verteidigungsflotte hier in Gitter 7. Meine Aufgabe besteht darin, diesen Raumsektor zu schützen, aber Sie scheinen vergessen zu haben, wer Ihnen die Butter aufs Brot streicht. Hören Sie mich?« Sie wartete auf eine Antwort.

Tasia stellte sich die Panik im Verwaltungszentrum von Yreka vor.

»Ich habe einige meiner Schiffe mitgebracht, um Sie daran zu erinnern, dass Ihre Welt die Charta der Hanse unterschrieben hat«, fuhr Willis fort. »Sehen Sie sich den Text noch einmal an. Sie haben dem König Treue geschworen.«

Ihre Stimme veränderte sich ein wenig und nun klang sie wie eine enttäuschte Großmutter. »Allem Anschein nach horten Sie auf dem Schwarzmarkt erworbenes Ekti. Sie sollten sich schämen. Die Hanse sieht sich einer ernsten Krise gegenüber und König Peter hat alle seine Untertanen bei der Zentralisierung von Ressourcen um Hilfe gebeten. Warum verweigern Sie Ihre Teilnahme an diesen Bemühungen? Sie müssen Ihr Ekti der TVF übergeben, damit wir es zum Wohle aller und zum Schutz der Menschheit verwenden.«

Die Worte sollten versöhnlich sein, aber es mangelte ihnen nicht an Strenge. »Nun, wir wollen keine Ressentiments, aber Gesetz ist Gesetz. Der König ist bereit, Ihnen zu verzeihen, wenn Sie Ihren Verpflichtungen unverzüglich nachkommen.

Seien Sie vernünftig.«

Nach dem Ende ihrer Mitteilung erschien ein verschwommenes Hologramm, dessen geringe Auflösung darauf hinwies, wie veraltet das yrekanische Kom-System war.

Es zeigte die Großgouverneurin, eine hoch gewachsene, schlanke Frau indischer Abstammung. Sie hatte dunkle Haut, fast schwarze Augen und dichtes, blauschwarzes Haar, das in langen Zöpfen bis zu den Hüften reichte. Volle Lippen wölbten sich unter einer krummen Nase.

»Admiral Willis, ich fürchte, wir können Ihren Aufforderungen nicht nachkommen. Unser eigenes Überleben diktiert meine Entscheidung. Es entsetzt mich, dass die TVF

eine loyale Kolonie der Hanse bedroht. Yreka hat für die Kriegsanstrengungen bereits viel geopfert. Wir haben alles gegeben, was wir konnten. Das Ekti benötigen wir für unser Überleben.«

Die Großgouverneurin winkte und herzergreifende Bilder erschienen: unterernährte Kinder und Getreidefelder, auf denen kaum mehr etwas wuchs, weil Dünger und Mittel gegen Pflanzenkrankheiten fehlten. »Wenn wir Ihnen unsere Treibstoffvorräte überlassen, sterben die Siedler. Dann geht Yreka zugrunde und wird innerhalb eines Jahrzehnts zu einem Geisterplaneten.«

Tasia begriff, dass der Großgouverneurin eigentlich gar keine Wahl blieb. In ihrer Verzweiflung sendete sie auf einer offenen Frequenz, obgleich Admiral Willis einen direkten Kanal zum Verwaltungszentrum des Planeten benutzt hatte – alle Soldaten der TVF-Kampfgruppe sollten sie hören.

»Warum nehmen Sie uns nicht die Luft, die wir atmen? Oder das Wasser unserer Flüsse? Warum blockieren Sie nicht das Sonnenlicht, das unser Korn wachsen lässt? Wir haben einen hohen Preis für unser Ekti bezahlt und können es uns nicht leisten, den Treibstoff zu verlieren.«

»Nun, das ist alles sehr melodramatisch…«, begann Admiral Willis.

»Bitte richten Sie dem König unser Bedauern aus. Danke.«

Die Großgouverneurin wartete keine Antwort ab, deutete eine Verbeugung an und unterbrach die Verbindung – sie schien Wert darauf zu legen, das letzte Wort zu behalten.

Die Offiziere auf Tasias Brücke staunten über die törichte Reaktion des yrekanischen Regierungsoberhaupts. Jemand kicherte ungläubig. »Hier gibt es nichts zu lachen«, sagte Tasia scharf.

Die Gitter-7-Kampfgruppe wartete auf die nächsten Anweisungen der Admiralin. Mit ruhiger, aber auch enttäuscht klingender Stimme wandte sie sich an die Kommandanten.

»Hiermit ordne ich die Blockade des Planeten an. Kein Schiff verlässt ihn, keins landet auf ihm. Von jetzt an erreichen Yreka weder Lieferungen noch Nachrichten. Wir bleiben so lange hier, wie es nötig ist.«

Tasia lehnte sich zurück, erleichtert darüber, dass die Admiralin keinen Angriff befohlen hatte. »Ich hoffe, niemand von Ihnen hat Pläne fürs Wochenende«, sagte sie zu ihren Offizieren.

10

KÖNIG PETER

Der König kleidete sich an, bevor er seine Gemächer verließ.

An diesem Morgen hatten die Bediensteten bunte, verzierte und unbequeme Gewänder bereitgelegt, die zweifellos von einem Komitee entworfen und ausgewählt waren. Peter schenkte ihnen keine Beachtung, wählte seine eigenen Sachen und schickte die Lakaien fort, die ihm bei Knöpfen und Kragen helfen wollten. Raymond Aguerras Mutter hatte ihn gelehrt, sich selbst anzuziehen.

»Basil will gar keinen Herrscher«, wandte er sich wie beiläufig an den Lehrer-Kompi. Jahrelang hatte OX ihm von den Nuancen der Macht und Rhetorik erzählt und inzwischen sah er in dem Kompi mehr als nur eine Datenbank oder eine Sammlung historischer Dateien. Er zog an einer Manschette.

»Er will einen Schauspieler.«

Peter hatte schon früh beschlossen, sich alle Mühe zu geben, ein guter König zu sein. Spielerisch zunächst hatte er damit begonnen, hier und dort kleine Veränderungen vorzunehmen, deren Bedeutung sich darauf beschränkte, seine Unabhängigkeit zu zeigen. Statt der protzigen, mit Schmuck überladenen Umhänge König Fredericks trug er eine schlichte Uniform, grau, blau und schwarz. Der Vorsitzende war damit einverstanden und glaubte, dass der preußische Stil besser zu einem Volk im Krieg passte.

»Sie sollten besser beides sein, König Peter«, erwiderte OX, der ebenso wie Basil Wenzeslas dazu übergegangen war, den König zu siezen. Der freundlich aussehende Lehrer-Kompi hatte die Siedler begleitet, die mit dem ersten Generationenschiff von der Erde aufgebrochen waren. Jetzt stand er in den Diensten der Terranischen Hanse und half bei der Ausbildung der Großen Könige. »Aber es verbirgt sich noch mehr hinter Ihrer Rolle. Die Menschen müssen an Sie glauben.«

Peter lächelte. »Also gut. Gehen wir und zeigen wir uns beim Weg zum Situationsraum.«

Als Raymond war er in einer eng miteinander verbundenen, aber sehr armen Familie aufgewachsen. Er hatte mit Gelegenheitsarbeiten Geld verdienen müssen und dabei die gewöhnlichen Leute kennen gelernt, die nie Aufsehen erregten.

Jene Menschen waren die tatsächlichen Untertanen des Königs, aber Basil ließ sie bei seinen großen Plänen außer Acht. Der Vorsitzende verstand sich ausgezeichnet darauf zu erkennen, wie die einzelnen Teile eines Puzzles zusammenpassten, aber der kleinere Maßstab des Lebens blieb ihm fremd. Er kannte keine echten Menschen, nur politische Projektionen und allgemeine ökonomische Konzepte. Das machte ihn zu einem guten Geschäftsmann, aber nicht zu einem Oberhaupt, das Loyalitätsgefühle weckte.

Mit OX an seiner Seite schritt Peter durch den breiten Flur.

Er lächelte einer hispanischen Frau in mittleren Jahren zu, die eine Alabasterbüste von König Bartholomäus putzte. »Hallo, Anita.« Er betrachtete das perfekte Gesicht der Statue.

»Glauben Sie, der alte Bartholomäus hat wirklich so ausgesehen? Oder handelt es sich vielleicht um eine idealisierte Darstellung?«

Die Frau freute sich darüber, dass er ihr Aufmerksamkeit schenkte. »Ich… ich vermute, so sah er für das Auge des Bildhauers aus, Euer Majestät.«

»Da haben Sie sicher Recht.«

Zusammen mit OX setzte Peter den Weg zu der früheren Bibliothek fort, die man inzwischen in einen Situationsraum verwandelt hatte. Einst war sie voller Bücher gewesen, viele von ihnen so alt und fragil, dass man sie gar nicht mehr lesen konnte. Jetzt füllten flache Displays die Regale.

Taktische Offiziere und Berater fanden sich hier regelmäßig ein, um einen Eindruck von der Lage auf den Hanse-Kolonien zu gewinnen und festzustellen, wo in den zehn Raum-Gittern sich Schiffe der Ildiraner und der TVF befanden. Zwar lud man Peter nie offiziell ein, aber trotzdem kam er einmal in der Woche hierher. Keiner der Experten schickte ihn fort – dazu wäre eine Anweisung des Vorsitzenden nötig gewesen. Doch Basil machte nie eine Szene. Als der König und OX eintraten, saß Wenzeslas in einem gepolsterten Ledersessel und nickte nur.

Nahton, der grüne Priester des Flüsterpalastes, war ebenfalls zugegen und saß neben einem jungen Weltbaum, dessen goldener Stamm spindeldürr wirkte – er hielt sich für den Empfang von Telkontakt-Berichten bereit. Nachrichten trafen auch mit Postdrohnen ein, die große Strecken zurücklegten und nur wenig Ekti verbrauchten. Solche Drohnen brachten nicht nur Mitteilungen und Transportdaten der Hanse-Welten, sondern auch Bilder von Städten für die Kolonie-Datenbank.

»Wir haben noch immer nichts von der Dasra-

Erkundungsflotte gehört, Vorsitzender«, sagte Admiral Lev Stromo. »Sie ist jetzt eine Woche überfällig.«

Eine Gruppe von TVF-Schiffen war zu einem Gasriesen geschickt worden, um dort einen weiteren Versuch zu unternehmen, mit den Hydrogern zu verhandeln. Es war in erster Linie eine Public-Relations-Geste, und niemand erwartete einen greifbaren Erfolg. Bisher hatten die Fremden alle Friedensangebote ignoriert.

»Wir hätten der Flotte einen grünen Priester für die unmittelbare Kommunikation mitgeben sollen«, brummte Basil. »Leider konnten wir keinen erübrigen.«

Nahton blieb ungerührt und schenkte der indirekten Kritik keine Beachtung.

Militärberater und Koloniespezialisten sahen sich Updates an und entwarfen ein komplexes Muster der Zivilisation. Derzeit gab es neunundsechzig Planeten, die die Charta der Hanse unterzeichnet hatten. Hinzu kam eine Hand voll Satellitenkolonien und nicht verzeichneter Lager. Strategen besprachen bekannte Veränderungen beim Schiffseinsatz und anschließend modifizierten Techniker die Bilder, um einen möglichst präzisen Eindruck von der Lage im Spiralarm zu vermitteln.

Peter betrachtete die Details und versuchte, eigene Schlüsse zu ziehen.

Nahton krümmte die Finger um den dünnen Stamm des Schösslings und verband sein Bewusstsein mit dem Weltwald.

Von überall im Spiralarm übermittelten grüne Priester dem Wald Berichte, und auf diese Informationen griff Nahton zu.

Falten bildeten sich in seiner Stirn und die dunklen Tätowierungslinien in seinem Gesicht strebten aufeinander zu.

Schließlich sah Nahton besorgt auf. »Ich habe Berichte von sechs verschiedenen grünen Priestern bekommen, vier auf Kolonialwelten und zwei an Bord von diplomatischen Schiffen.«

Basil bemerkte Nahtons Besorgnis und beugte sich vor.

»Worum geht es?«

»Mehrere Kugelschiffe wurden beim Flug durch unbewohnte Sonnensysteme gesichtet. Sie haben keinen Kontakt hergestellt, sich aber mehreren Planeten genähert und offenbar Sondierungen vorgenommen.«

Peter deutete auf die Sternkarte. »Kennzeichnen Sie die Stellen, wo man die Kugelschiffe gesichtet hat. Vielleicht lässt sich ein Muster erkennen.«

»Nur sechs meiner Kollegen sahen die Hydroger.« Der grüne Priester nannte die Namen weit entfernter Sonnensysteme und rote Punkte erschienen im Mosaik. »Usk. Cotopaxi. Boone’s Crossing. Palisade. Hijonda. Paris Drei.«

OX trat einen Schritt vor, obgleich seine visuellen Sensoren leistungsfähig genug waren, um alle Einzelheiten selbst aus größerer Entfernung zu erkennen. »Das scheint keine einfache Verteidigungsstellung zu sein. Nun, nicht auf allen Kolonialwelten befinden sich grüne Priester. Viele andere Kugelschiffe der Hydroger könnten unentdeckt geblieben sein.«

Basil runzelte die Stirn. »Untersuchen Sie alle von Postdrohnen übermittelten Dateien. Stellen Sie fest, ob es Droger-Bilder gibt.«

»Nach den Berichten haben die Kugelschiffe keine Anzeichen von Feindseligkeit gezeigt«, sagte Nahton. »Es scheinen Scouts zu sein, die von einem Sonnensystem zum nächsten fliegen.«

»Die Hydroger verlassen ihre Gasriesen nicht, nur um ein bisschen herumzuschnüffeln«, sagte Admiral Stromo. Er hatte das Kommando über die Gitter-0-Flotte geführt, die beim Jupiter von den Fremden besiegt worden war. »Bisher kamen sie immer nur, um anzugreifen.«

Dieser Hinweis gab König Peter zu denken. Er beobachtete die roten Punkte der Kugelschiff-Sichtungen, die kein erkennbares Muster formten. »Bis jetzt.«

11

RLINDA KETT

Wenn sie jemand anders gewesen wäre, hätte Rlinda Kett vielleicht über ihr Pech geklagt. Aber mit solchen Dingen verlor sie keine Zeit. Stattdessen verschränkte sie die fleischigen Arme auf der großen Brust und schätzte ihre Situation ein. Überschwänglicher Optimismus mochte realistischere Leute verärgern, doch Rlinda hatte darin oft eine Hilfe gesehen.

Sie ging zu den Frachträumen und sah sich die Vorräte an.

Eigentlich war es darum gar nicht so schlecht bestellt.

Wenigstens gehörte die Unersättliche Neugier noch immer ihr

– vor fünf Jahren hatte der Requirierungsbefehl des Königs sie gezwungen, ihre vier anderen Handelsschiffe der TVF für den Kampf gegen die Hydroger zu »schenken«.

Seit einem Monat befand sich die Neugier in einem öffentlichen Hangar auf dem irdischen Mond. Es war billiger, im niedrigen Gravitationsschacht des Mondes zu landen anstatt auf der Erde.

Doch Rlinda hatte gerade eine zweite Mitteilung von der Mondbasisverwaltung bekommen, in der man sie mit nicht unerheblichem Nachdruck aufforderte, überfällige Liegegebühren zu bezahlen. »Was soll ich da machen?« Rlinda seufzte verärgert.

Das Militär hatte den Treibstoff für den Sternenantrieb so sehr rationiert, dass interstellare Flüge mit dem einen ihr noch verbliebenen Schiff praktisch unmöglich wurden. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verlangte man jetzt exorbitante Gebühren dafür, dass die Unersättliche Neugier in einem Hangar stand. Warum ließ man sie nicht endlich in Frieden?

Der Verzehr der Delikatessen in ihrer Speisekammer bot ein wenig Trost in dem Durcheinander aus Problemen.

Im Lauf der Jahre hatte Rlinda ihre meisten Aktiva liquidiert und Handelsware erworben. Doch während des Krieges fiel es ihr schwer, Käufer für die exklusiven, exotischen Spezialitäten an Bord der Neugier zu finden. Vielleicht fand sie einen Beamten der Mondbasis, der sich auf eine Art Tauschhandel einließ. Bestimmt gab es jemanden, der Frau oder Freundin mit besonderen Leckerbissen erfreuen wollte. Rlinda konnte sogar den einen oder anderen Tipp geben – was die Zubereitung anging und die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Romantik zu punkten.

Im Frachtbereich schob sie sich durch die schmalen Lücken zwischen den Behältern, wobei ihr die geringe lunare Schwerkraft und Übung halfen. Ihr Zeigefinger strich über eine beeindruckende Inventarliste.

Sie hatte einige Ballen theronischer Fasern für sich behalten wollen, aber jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sie zu verkaufen. Sie hätte sich gern eine ganze Garderobe aus jenem schimmernden Material zugelegt, doch das Geld war wichtiger. Ihr blieben noch sechs Büchsen mit Salzteich-Kaviar von Dremen und konservierten Insektensteaks von Theroc (einfach köstlich, obwohl es Rlinda schwer fiel, Möchtegern-Gourmets dazu zu bringen, Insektenfleisch zu probieren). Hinzu kamen Behälter mit eingelegten Fischblumen, marinierten Krustentieren, frisch verpuppten Süßwürmern – die bald schlüpfen würden, trotz der kühlen Lagerung –, außerdem noch Unklassifiziertes und Obst und Gemüse von unterschiedlichen Welten.

Rlinda spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Sie war eine ausgezeichnete Köchin und hatte sich mit den Küchen zahlreicher Kulturen befasst. Angesichts ihrer Vorliebe für gutes Essen war es kein Wunder, dass sie so viel wog – sie hielt ihre Körperfülle für einen guten Hinweis auf die Qualität ihrer Waren.

Leider neigten die Leute dazu, in Zeiten ökonomischer Engpässe auf Luxus zu verzichten, und deshalb ließen sich Waren, wie Rlinda sie anbot, schwerer verkaufen. Dumme Prioritäten. Es war viel problematischer geworden, teure

»nutzlose« Dinge zu verkaufen, aber die Gläubiger verlangten trotzdem pünktliche Bezahlung von ihr.

Rlinda kehrte ins Cockpit zurück, nahm im extra großen Sessel des Captains Platz und sah sich noch einmal die Rechnung an. Zugegeben, sie war mit den Liegegebühren ein wenig in Verzug geraten, aber der ausstehende Betrag rechtfertigte keinen so strengen Ton. Sie dachte daran, eine Flasche Wein mit dem Erbsenzähler zu trinken, eine Tafel ihrer besonderen schwarzen Schokolade zu öffnen und den Mann mit süßer Zunge dazu zu bringen, ihr einen Zahlungsaufschub zu gewähren. Ihr Blick fiel auf die Unterschrift: B. Robert Brandt – der Name sagte ihr nichts.

Vermutlich ein Buchhalter, der kürzlich von der Erde hierher versetzt worden war.

Und dann lachte sie plötzlich, als sie begriff, dass die Zahlen der Arbeitsnummer des Mannes genau dem Datum ihres letzten Hochzeitstages entsprachen. »Du bist immer ein schlauer Fuchs gewesen, BeBob.«

In ihren dunklen Augen funkelte es. Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr freute: von ihm zu hören oder zu wissen, dass die Mahnung nur ein Vorwand war, um ihr eine verschlüsselte Nachricht zu übermitteln.

Branson Roberts – der beste ihrer zahlreichen Ex-Ehemänner

– hatte eines der von der TVF übernommenen Handelsschiffe geflogen und war praktisch gezwungen gewesen, für General Lanyan militärische Erkundungsmissionen durchzuführen.

BeBobs Methoden als Händler waren nicht immer legal gewesen, aber er hatte hohe Gewinne gemacht und sie mit Rlinda geteilt.

Sie entschlüsselte den Text mit dem privaten Code, den sie vor langer Zeit entwickelt hatten. Wegen der Verschlüsselung musste die Textnachricht recht kurz sein. Rlinda wäre ein holographisches Bild BeBobs lieber gewesen, am besten eines, das ihn im Adamskostüm zeigte, aber er hatte es nie fertig gebracht, sich nackt zu scannen. Als sie seine Worte las, wurde ihr klar, warum er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte.

»Hab genug vom Militär – kein Wunder! Höre nach siebzehn selbstmörderischen Missionen auf. Der General will mich immer wieder an die Front werfen, bis ich umkomme. Schluss damit! Habe beschlossen, meine Haut und – was noch wichtiger ist – die Blinder Glaube zu retten. Nehme mir nicht genehmigten Urlaub. Hoffe, dass die TVF weder den Schneid noch die Möglichkeit hat, mich ausfindig zu machen.

Wenn du irgendwann mal einen vollen Tank hast und mich besuchen willst – komm nach Crenna. Eine abgelegene Kolonie. Dort kann ich untertauchen und den Siedlern Schwarzmarktwaren besorgen. Du fehlst mir. BeBob.«

Rlinda lehnte sich im Sessel zurück, das Gesicht heiß, die Augen feucht. BeBob war immer stur und impulsiv gewesen, jemand, mit dem man einfach nicht zusammenleben konnte –aber auch ein verdammt guter Mann. Für den Militärdienst eignete er sich nicht, das hätte Rlinda dem General gleich sagen können, und es war ein Verbrechen, seine besonderen Fähigkeiten auf jene Weise zu missbrauchen.

Oh, sie hatte ihn geliebt… Warum sonst war ihr das Ende der Ehe vor fünf Jahren so nahe gegangen? Rlinda und BeBob hatten sich genug Respekt – und ja, auch Leidenschaft –bewahrt, um Geschäftspartner zu bleiben. Wenn sie damals gewusst hätte, welche Probleme in der Zukunft auf sie warteten… Dann wäre sie vielleicht bereit gewesen, dem Ehemann BeBob mit mehr Toleranz zu begegnen. Das Leben war zu kurz und zu schwer, die guten Zeiten viel zu selten.

Mit der entschlüsselten Nachricht kehrte Rlinda zum Frachtbereich zurück und sah sich die Vorräte mit neuen Augen an. Sie nahm eine Flasche Portwein von New Portugal und eine Büchse Salzteich-Kaviar. Der Markt für derart exklusive Waren mochte derzeit sehr schwierig sein, aber wenigstens konnte sie die Köstlichkeiten selbst genießen.

Einen besseren Kunden gab es gar nicht.

Rlinda beabsichtigte nicht, ihre letzten Tropfen Ekti zu vergeuden, indem sie nach Crenna flog, aber vielleicht bot sich ihr eines Tages Gelegenheit, BeBob zu besuchen. Es freute sie zu wissen, dass er lebte und in Sicherheit war. Quietschend und mit einem dumpfen Knall löste sich der Korken aus dem Flaschenhals. Rlinda hatte eine gute Nachricht erhalten, fühlte sich dadurch genau in der richtigen Stimmung für eine private Feier.

Sie schenkte sich ein wenig ein – für den Anfang – und hob das Glas. »Auf dich, BeBob. Bleib in Sicherheit, bis wir uns Wiedersehen.«

12

BASIL WENZESLAS

Aus einem Funken wurde eine Flamme, die sich zu einem großen Brand entwickelte und einen ganzen Planeten verschlang. Es war nur der wissenschaftliche Test wiederentdeckter fremder Technik gewesen.

Verdammt, wir hatten nie vor, einen Krieg zu beginnen!

In seinem Penthousebüro im obersten Stock des Hanse-Gebäudes sah sich Basil Wenzeslas Aufzeichnungen des ersten Tests der Klikiss-Fackel an. Die archivierten Aufnahmen zeigten ihm, wie die Wolken von Oncier heller wurden, glühten und dann brannten. Wer hatte ahnen können, dass in den Tiefen des Gasriesen intelligente Wesen lebten?

Als Vergeltung hatten die Fremden eine wissenschaftliche Beobachtungsplattform, alle vier Monde von Oncier und zahlreiche Himmelsminen der Roamer zerstört. Sie waren siegreich gewesen beim Kampf gegen eine Flotte der Solaren Marine und die TVF, hatten die Ekti-Produktion in den Wolkenmeeren ihrer Welten verboten und den alten König Frederick auf hinterhältige Weise umgebracht. Genügte das nicht?

Seit fast sechs Jahren analysierten Experten die Aufzeichnungen von Oncier, Sekunde um Sekunde. Basil rechnete nicht mit neuen Erkenntnissen, aber es faszinierte ihn noch immer, die völlige Vernichtung eines Hydroger-Planeten zu beobachten. Er fühlte dabei weder Reue noch Anteilnahme.

Die Fremden nahmen keine Entschuldigungen entgegen und lehnten Verhandlungen ab. Basil setzte keine Hoffnungen in die jüngste Erkundungsmission bei Dasra – die Schiffe waren überfällig und vermutlich verloren –, aber wenigstens hatte er es versucht. Was sollte er sonst unternehmen? Eine magische Lösung des Problems war nirgends in Sicht. Wenn doch nur…

Die Klikiss-Fackel schien ein unerwarteter Segen gewesen zu sein, eine Möglichkeit, zuvor unbewohnbare Monde kolonisierbar zu machen. Zwei Xeno-Archäologen hatten die fremde Technik bei der Untersuchung alter, geheimnisvoller Klikiss-Ruinen entdeckt. Die insektoide Zivilisation hatte einst ein großes interplanetares Reich gebildet, aber vor zehntausend Jahren hatten sie ihre Städte aufgegeben und sie leer zurückgelassen.

Basil lächelte sehnsüchtig. Vielleicht entdeckten Margaret und Louis Colicos ein weiteres Wunder, noch einen Klikiss-Apparat, den die Hanse nutzen konnte, um Druck auf die Droger auszuüben und sie zu Friedensverhandlungen zu zwingen…

Doch seit Jahren hatte er nichts mehr von den Archäologen gehört. Er erinnerte sich daran, dass sie mit einem kleinen Team nach Rheindic Co geflogen waren – zu ihren Begleitern gehörte auch ein grüner Priester. Das Colicos-Ehepaar war nicht extravagant und der Vorsitzende hatte Anweisungen hinterlassen, alle im Rahmen bleibenden Anträge zu genehmigen. Es war nicht nötig gewesen, sie im Auge zu behalten.

Wieder glitten die Bilder des implodierenden Planeten Oncier übers Display, schneller diesmal. Stellares Feuer erfasste den Gasriesen.

Neugierig geworden übermittelte Basil dem Terminal eine Informationsanfrage und fragte nach den letzten Berichten über die Tätigkeit von Margaret und Louis Colicos. Er hatte kürzlich einen Brief von ihrem Sohn Anton erhalten, in dem er nach ihrem Aufenthaltsort fragte. Die Nachricht hatte sich im Durcheinander der bürokratischen Kanäle verfangen und ihn daher nicht sofort erreicht. Anton Colicos war nur ein außerordentlicher Universitätsprofessor, niemand mit politischem Einfluss oder Bedeutung. Offenbar hatte der junge Mann nicht zum ersten Mal eine solche Anfrage geschickt…

Es erstaunte Basil zu erfahren, dass kurz nach dem Ultimatum der Hydroger alle Kontakte zum Colicos-Team abgebrochen waren. Rheindic Co befand sich nicht in der Nähe der Versorgungsrouten und ohne einen dringenden Hilferuf hätte kein Versorgungsschiff um eine Ausnahmegenehmigung ersucht. Den Xeno-Archäologen stand ein grüner Priester für die unmittelbare Kommunikation zur Verfügung, wenn es zu einem Notfall kommen sollte. Kein Wunder, dass dem Vorsitzenden nichts zu Ohren gekommen war.

Und doch… Fünf Jahre Stille? Kein Wunder, dass ihr Sohn begonnen hatte, sich Sorgen zu machen. Basil fühlte sich von sonderbarer Kühle erfasst, als er überlegte, was auf Rheindic Co geschehen sein mochte. Warum hatte der grüne Priester keine Nachricht übermittelt? Waren die Archäologen auf einer öden Welt verhungert, weil man sie schlicht und einfach vergessen hatte? Der Vorsitzende verabscheute es, wenn man Details nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkte.

Basil rief die letzten offiziellen Berichte des Archäologen-Teams ab. Er las Margarets Zusammenfassungen und spürte dabei die Zunahme ihrer Begeisterung, als sich ihr immer mehr von den Klikiss-Geheimnissen offenbarte. Seine eigene Aufregung wuchs. Vielleicht gab es etwas Wichtiges auf Rheindic Co. Hatte er eine einzigartige Gelegenheit verpasst?

Margaret Colicos hatte eine alte Verbindung zwischen den verschwundenen Klikiss und den Hydrogern entdeckt – allein das war schon bemerkenswert. In ihren Berichten erwähnte sie die Entdeckung einer weiteren erstaunlichen Klikiss-Technik, nannte aber keine Einzelheiten.

Und dann waren keine Berichte mehr übermittelt worden.

Basil beschloss, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Er verließ das Gebäude der Hanse und schritt durch die unterirdischen Korridore, die ihn durchs große Arboretum und unter dem Statuettengarten hinweg in den Flüsterpalast führten.

Unterwegs begegnete er der ehrgeizigen und schönen Sarein.

»Ich muss mit dir reden, Basil. Könnten wir ein privates Dinner in meinem Quartier arrangieren?«

»Jetzt nicht.« Er sah sie an. Die junge Theronin hätte viele attraktive Männer haben können, die ihr jeden Wunsch von den Lippen ablasen, aber sie fühlte sich von Basils Reichtum und seiner politischen Macht angezogen. »Wo ist ein grüner Priester? Ich möchte eine Nachricht schicken.«

Sarein runzelte die Stirn. »Eben habe ich Nahton gesehen – er wollte zum Schattengarten.«

Basil ging schneller und Sarein schloss sich ihm an, ohne dass er sie dazu aufforderte.

Blumen und Büsche säumten den kurvenreichen Weg durchs Grün. Nahton machte gern Spaziergänge durch die gut gepflegten Farngärten im Parkbereich des Flüsterpalastes. Als Basil und Sarein zu ihm aufschlossen, kniete er an einem Teich im Schatten von goldenen Weidenblättern.

»Ich brauche Ihre Dienste, Nahton«, sagte Basil. »Lassen Sie uns zum nächsten Schössling gehen.«

»Kommen Sie, Vorsitzender.« Im großen Palast gab es insgesamt fünfzehn junge Weltbäume und ihre Töpfe standen meistens in Regierungsräumen, wo die Kommunikation eine besonders wichtige Rolle spielte.

»Vor einigen Jahren flog ein Archäologenteam zu einem Planeten namens Rheindic Co«, sagte Basil, während sie rasch weitergingen. »Ein grüner Priester begleitete die Gruppe und pflanzte mehrere Weltbäume für die direkte Kommunikation.

Ich muss einen Kontakt mit den Archäologen herstellen. Seit Jahren haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«

»Was ist so dringend, Basil?«, fragte Sarein mit einem verschwörerischen Glanz in den Augen.

»Ich möchte nur nicht zu spät zur Party kommen.«

Kurze Zeit später ging Nahton neben einem Schössling in die Hocke, griff nach dem schuppigen Stamm, begann mit dem Telkontakt, verband sein Bewusstsein mit dem Weltwald und suchte in einer Million Gedankenlinien.

»Sein Name lautete Arcas«, sagte Nahton. »Er pflanzte seine Bäume auf dem Planeten.« Falten bildeten sich in der Stirn des grünen Priesters. »Alle Schösslinge auf Rheindic Co sind tot.

Der Kontakt ist unterbrochen.« Er blinzelte und wirkte zutiefst beunruhigt. »Die Bäume sind tot. Warum… warum hat uns der Weltwald nicht darauf hingewiesen?«

Basil verarbeitete diese Information. Faszination und Neugier verwandelten sich in Sorge, als er die unerwartete Reaktion des grünen Priesters sah. Nahton schloss beide Hände um den Stamm des Schösslings und vertiefte sich erneut in den Telkontakt, vielleicht mit der Absicht, dem Netzwerk des Weltwaldes dringende Anfragen zu übermitteln.

Basil drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zu seinem Büro. Sarein schloss sich ihm erneut an. »Was ist los, Basil? Kannst du es mir sagen?«

»Bitte lass mich nachdenken. Dies ist eine neue Information.

Ich weiß noch nicht, was sie bedeutet. Aber sie könnte sehr wichtig sein.« Er ging schneller und ließ Sarein hinter sich zurück. Er konnte die Sache mit ihr später gerade biegen –wahrscheinlich kam sie zu ihm und fand eine Möglichkeit, sich zu entschuldigen.

Nach den letzten Mitteilungen zu urteilen waren die beiden Archäologen auf eine wichtige Sache gestoßen, aber leider fehlte ein vollständiger, detaillierter Bericht über ihre Entdeckung. Basil bedauerte sehr, dass diese Angelegenheit erst jetzt seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Vor dem inneren Auge sah er noch einmal die Beunruhigung im Gesicht des grünen Priesters Nahton – etwas sehr Ungewöhnliches musste geschehen sein.

Angesichts der vielen Krisen in der Hanse wäre so etwas normalerweise nicht über dem Horizont seines persönlichen Radars aufgetaucht. Doch weckte diese Angelegenheit Argwohn und Hoffnung in ihm. Vielleicht hatten die beiden Archäologen wirklich ein weiteres technisches Wunder entdeckt, noch besser als die Klikiss-Fackel. Margaret und Louis Colicos war so etwas durchaus zuzutrauen.

Basil mochte keine unerledigten Dinge. Er dachte daran, die notwendige Menge Ekti zu investieren und ein kleines Schiff zu finden, das derzeit nicht gebraucht wurde.

Er strich sich mit dem Zeigefinger übers Kinn und überlegte.

Plötzlich fiel ihm der Xeno-Soziologe und Spion Davlin Lotze ein, der zur aufgegebenen ildiranischen Kolonie Crenna geschickt worden war. Dort gab er sich als gewöhnlicher Siedler aus, schnüffelte heimlich herum, hielt nach subtilen Hinweisen auf die ildiranische Zivilisation Ausschau.

Inzwischen hatte er genug Zeit gehabt, um seinen Aufgaben auf Crenna gerecht zu werden.

Ja, Lotze war genau der richtige Mann für diesen Job. Basil beschloss, ihn nach Rheindic Co zu schicken; dort sollte er feststellen, was mit den Archäologen geschehen war.

13

DAVLIN LOTZE

Eine Versammlung der Kolonie fand statt. Davlin Lotze hörte den Siedlern zu, die von Crenna fliehen wollten. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor wir alle an der Epidemie sterben! Es ist die ildiranische Krankheit!«

Davlin wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass sich die gleiche Infektion auch auf die menschliche DNS auswirkte, aber er durfte nicht zeigen, wie viel er von Genetik verstand.

Immerhin war er nur ein einfacher Farmer und Bauingenieur.

Davlin lebte allein in einer aufgegebenen ildiranischen Wohnung, die er für sich beansprucht hatte. Er war groß, dunkelhäutig und muskulös, sprach mit sanfter Stimme. Auf der linken Wange zeigten sich Narben, die auf einen Zwischenfall mit einer explodierten Glasflasche zurückgingen.

Sie fielen mehr auf, als ihm lieb war, aber er hatte gelernt, unauffällig zu bleiben. Ein Spion durfte keine Aufmerksamkeit erregen.

Er hatte den anderen Siedlern dabei geholfen, Wasserwerke, Abwasserkanäle und Wetterstationen zu konstruieren. Auch das Verlegen von elektrischen Leitungen gehörte zu dem Bemühen, die beschädigte Infrastruktur der Kolonie wiederherzustellen. Die Ildiraner waren aufgrund einer Epidemie gezwungen gewesen, Crenna zu verlassen, doch vor der Aufgabe ihrer Kolonie hatten sie Gebäude niedergebrannt, Generatoren und Substationen zerstört. Voller Panik waren sie von dem Planeten geflohen.

Und jetzt, fünf Jahre später, breitete sich eine neue mysteriöse Krankheit beängstigend schnell unter den menschlichen Siedlern aus. Die Betroffenen litten an einer schwächenden Infektion des Atmungssystems und hinzu kam Hautausschlag in Form von orangefarbenen Ringen an Beinen und Schultern. Als ein Alter an den »Orangefarbenen Flecken«

starb, erreichte die Sorge in der Kolonie einen neuen Höhepunkt.

Bei der Versammlung stand eine Ärztin auf, eine kleine Frau mit großen, eulenartigen Augen. Ihr Gesicht war grau vor Erschöpfung, aber auf den Lippen lag ein Lächeln, das fehl am Platz wirkte. »Ich glaube, ich habe gute Neuigkeiten.« Die Zuhörer schnappten nach Luft, aber das schien die Ärztin gar nicht zu bemerken. »Meine Kollegen und ich haben Blut- und Gewebeproben von fünfzehn Erkrankten untersucht und dabei ist es uns gelungen, den Erreger zu isolieren. Ich kann voller Freude darauf hinweisen, dass er nichts mit dem Virus zu tun hat, das die Ildiraner erblinden ließ.«

Auf einem mobilen Projektionsschirm zeigte sie mehrere elektronenmikroskopische Aufnahmen – seltsame Flecken und sonderbare Strukturen wurden sichtbar. Davlin erkannte menschliche Blutzellen und große, unbekannte Massen. »Die Krankheit wird von einem amöboiden Einzeller hervorgerufen, der nicht so widerstandsfähig ist wie ein Virus oder ein Bakterium. Bei Menschen befällt er vor allem Haut und Lungen. Vermutlich befindet er sich im Wasser oder in etwas, das wir anbauen, als natürlicher Teil des Ökosystems von Crenna.«

»Wird er uns alle töten?«, fragte jemand.

»Nein, aber vielleicht müssen wir uns an die orangefarbenen Flecken gewöhnen.« Das Lächeln der Ärztin wuchs ein wenig in die Breite. »Dabei handelt es sich um eine Entzündung der Haut und eine Melanin-Verfärbung. Möglicherweise permanent, aber nicht gefährlich.«

»Mein Arkady ist tot«, klagte eine Alte.

»Arkady hatte schon vor der Infektion vernarbtes Lungengewebe und war daher besonders anfällig. Die orangefarbenen Flecken sind etwa so gefährlich wie eine Lungenentzündung. Aber man kann die Krankheit behandeln, mit einem Mittel gegen Amöben. Ich habe einen kleinen Vorrat, aber nicht genug, um alle Siedler zu behandeln.«

»Nun, wir können nicht einfach mit einem Rezept zur nächsten Apotheke gehen und das Medikament abholen«, brummte ein Kolonist.

Ein Mann namens Branson Roberts – eines der neuesten Koloniemitglieder – stand auf. »Ich bin dazu imstande.« Er war schlank und hoch aufgeschossen, hatte helle Haut, große, schwielige Hände und einen pusteblumenartigen Schopf aus grauweißem Haar.

Der Mann war mit einem kleinen Handelsschiff gekommen –neue Rumpfplatten wiesen auf eine Änderung des Namens und der Seriennummer hin. Entweder hatte Roberts das Raumschiff gestohlen oder er versteckte sich vor etwas. Doch die Crenna-Kolonisten hießen jeden mit einem privaten Schiff willkommen, der heimliche Flüge unternehmen und Schwarzmarktwaren beschaffen konnte.

»Mein Schiff hat noch genug Treibstoff für zwei weitere Flüge, vorausgesetzt die Reisen sind nicht zu weit.« Er schob die Hände in die Taschen des Overalls und sein Lächeln wirkte ansteckend. »Ich habe gute Beziehungen innerhalb der Hanse.«

Davlin nickte unmerklich. Kann ich mir denken.

Zwei Tage später hatten die Ärzte von Crenna die schlimmsten Fälle der orangefarbenen Flecken behandelt und geheilt.

Davlin arbeitete am Filtrationssystem der Wasserversorgung und fügte weitere Komponenten hinzu, um die Amöbe aus dem Trinkwasser fern zu halten. Die rasche Rekonvaleszenz der Erkrankten beruhigte die übrigen Siedler.

Branson Roberts wanderte in der Kolonie umher und stellte eine »Einkaufsliste« zusammen – er wollte mit vollen Frachträumen und nicht nur mit dem Medikament gegen die Amöbe zurückkehren. Wenn er schon wertvollen Treibstoff für den Sternenantrieb verbrauchen musste, um dringend benötigte Arzneien zu holen, so sollte sich der Flug wenigstens lohnen.

Die nächste Hanse-Welt war ein beliebtes Ziel reicher Touristen. »Auf Relleker möchte man vermeiden, dass die verwöhnten Touristen auch nur an Kopfschmerzen leiden«, hatte Roberts gesagt. »Dort gibt es alle nur erdenklichen Medikamente.«

Davlin traf ihn am kleinen Raumhafen und gab dem Mann eine Liste von Teilen, die er für die Pump- und Filtrationsstationen brauchte. Eigentlich hätte er die Gelegenheit nutzen sollen, dem Vorsitzenden Wenzeslas einen Bericht zu schicken, aber ihm lag nichts daran, die Hanse an ihn zu erinnern. Es gefiel ihm auf Crenna, und inzwischen glaubte er fast selbst daran, ein einfacher Siedler zu sein. Aus den Augen, aus dem Sinn – so hoffte er jedenfalls.

Die Ildiraner hatten Crenna »eine Welt der Geräusche«

genannt. Kristallklares Wasser blubberte aus Quellen und plätscherte über Felsen. Samengras klapperte wie natürliche Rasseln im Wind. Insekten summten und surrten, am Tag ebenso wie in der Nacht, leisteten ihren Beitrag zu einem angenehmen, musikalischen Hintergrundgeräusch. An den Hängen der niedrigen Hügel wuchsen dornige

Flötenholzbäume. Einheimische Käfer fraßen Löcher hinein und der ständige Wind wirkte wie der Atem eines Musikanten.

Es war ein angenehmer Ort, viel besser als die anderen Welten, auf denen er tätig gewesen war.

Bevor Roberts nun an Bord seines Schiffes kletterte, deutete ein Annäherungsalarm darauf hin, dass ein anderes Raumschiff in Crennas Atmosphäre eingedrungen war. Roberts wirkte besorgt. »Wer könnte hierher kommen?«

Einer der beider Männer im Kontrollturm rief aufgeregt: »Es ist eine Postdrohne!« Und noch lauter: »Post!«

Eine Drohne war ein kleines, schnelles Schiff mit automatischen Systemen, kaum mehr als ein interstellarer Satellit. Während des Embargos boten solche Drohnen die einzige Möglichkeit, Informationen zu Planeten zu bringen, auf denen es keine grünen Priester für die Telkontakt-Kommunikation gab. Darüber hinaus machten sie detaillierte Aufnahmen von Hanse-Siedlungen.

Roberts zog Davlin die Teileliste aus der Hand und kletterte hastig an Bord seines Schiffes. »Lesen Sie Ihre Post«, sagte er schnell. »Ich kehre zurück, sobald ich mit dem Einkaufen fertig bin. Falls es bis dahin mit der Krankheit schlimmer werden sollte… Hühnersuppe soll Wunder wirken, habe ich gehört.«

Roberts startete, ohne vorher die Bordsysteme zu überprüfen

– und bevor die Drohne ihn entdecken konnte. Das Handelsschiff sauste empor und verschwand jenseits der Wolken, kurz bevor die Postdrohne eintraf. Sie begann sofort damit, dem Datenbank-Netzwerk von Crenna Dateien und Mitteilungen zu übermitteln: Briefe von Familienangehörigen, Geschäftsberichte, Nachrichtendateien, Kopien von Unterhaltungsvideos und digitalisierte Romane.

Ganz gleich, wie sehr sich die Siedler über den Kontakt mit Zuhause freuten – Davlin fand es seltsam, dass die Hanse eine solche Drohne zum abgelegenen, unwichtigen Planeten Crenna schickte. Er wusste, dass Basil Wenzeslas für alle seine Entscheidungen einen guten Grund hatte – für gewöhnlich sogar mehr als nur einen. Und er fragte sich auch, warum Branson Roberts im Verborgenen bleiben wollte.

Zwar hatte Davlin weder eine Familie noch enge Freunde, aber es überraschte ihn nicht, dass sich unter der übermittelten Post auch eine Nachricht für ihn befand. Die Mitteilung von seinem »Bruder« Saul klang nach einem ganz normalen Brief: die Heirat einer Nichte, der Tod eines alten Verwandten, Familienangelegenheiten. Aber als Davlin sie in seiner Wohnung entschlüsselte, las er von der neuen Mission, mit der Basil Wenzeslas ihn betraute.

Das Herz wurde ihm schwer, aber er hatte gewusst, dass die friedliche Zeit auf Crenna irgendwann zu Ende gehen würde.

Einmal mehr musste er zu einem offiziellen Ermittler werden und seine exosoziologischen Kenntnisse nutzen, um ein Rätsel zu lösen. Auf einer alten Klikiss-Welt sollte er herausfinden, was mit einem verschwundenen Archäologen-Team geschehen war.

Die Kolonisten von Crenna würden ihn nie Wiedersehen.

14

ANTON COLICOS

Zweifellos würde es die größte Geschichte sein, die jemals erzählt worden war. Anton Colicos wollte sich beim Schreiben der Biografie seiner berühmten Eltern alle Mühe geben und dabei auf zu viele Ausschmückungen verzichten.

Margaret und Louis Colicos gingen Mysterien auf den Grund und gruben im Staub vergangener Zivilisationen – ikonenhafte Helden, die Jahrhunderte überdauern konnten. Allerdings würden Antons Eltern auf historischer Genauigkeit bestehen, selbst wenn sich dadurch eine weniger interessante Geschichte ergab.

Goldener Sonnenschein glänzte durch die Jalousie am Fenster von Antons Universitätsbüro auf der Erde und fiel auf die Dinge, die er zusammengetragen hatte: Fotodateien, Bilder aus seiner Kindheit, Kopien und Belegseiten von Artikeln in diversen Fachzeitschriften.

Zu Beginn ihrer Karriere hatten Antons Eltern mit ildiranischen Scannern eine uralte Stadt unter dem Sand der Sahara entdeckt. Auf dem Mars hatten sie die Pyramiden von Labyrinthus Noctis untersucht und waren dabei zu dem Schluss gelangt, dass es sich nicht um Artefakte einer untergegangenen Zivilisation handelte, sehr zum Kummer vieler fantasievoller Theoretiker. Aber die Wahrheit war eben die Wahrheit.

Später widmete das Colicos-Paar seine Aufmerksamkeit den Klikiss-Ruinen. Llaro, Pym, Corribus. Nach dem erfolgreichen Test der Klikiss-Fackel waren sie nach Rheindic Co geflogen –

und inzwischen hatte Anton seit einigen Jahren nichts mehr von ihnen gehört.

Zuerst war er nicht besorgt gewesen. Mit vierunddreißig Jahren war er längst über das Alter hinaus, das einen engen Kontakt mit den Eltern erforderte. Margaret und Louis kamen gut allein zurecht und manchmal nahmen sie Ausgrabungen auf so abgelegenen Planeten vor, dass ihre Nachrichten Monate oder gar Jahre brauchten, um die Erde zu erreichen. Es war alles andere als unüblich, dass er nichts von ihnen hörte, trotz der Transport- und Kommunikationsbeschränkungen durch den Hydroger-Krieg.

Doch fünf Jahre… Das war zu lang. Und diesmal leistete ihnen sogar ein grüner Priester Gesellschaft…

Anton hatte sich mit mehreren Anfragen an Hanse-Repräsentanten gewandt, aber er war nur ein Forscher in einer unbedeutenden Universitätsabteilung, und deshalb schenkte man seinen Briefen keine Beachtung.

Er trat zum Fenster, öffnete die Jalousie und blickte über den funkelnden Ozean hinweg. Zwar gab es ambientale Kontrollen im Universitätsgebäude, aber Anton ließ das Fenster offen, damit er den kühlen Meereswind riechen konnte, der über den parkartigen Distrikt von Santa Barbara hinwegwehte.

Studenten hatten die fünf sonderbaren Gebäude der Fakultät für ildiranische Studien entworfen. Sie zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Geometrie aus, sollten mit viel Glas und facettierten Flächen an Mijistra erinnern, die Hauptstadt von Ildira. Rotierende Photonenmühlen projizierten Regenbogenfarben auf die Bürgersteige. Der Sonnenschein von Südkalifornien leistete einen eigenen Beitrag zu der ildiranischen Illusion, obwohl selbst der wärmste und heiterste Tag nicht an den Glanz von sieben Sonnen herankam.

Teilweise unter Ausnutzung seines legendären Namens hatte Anton einen respektierten Posten in der Abteilung für epische Studien bekommen. Früher hatte er seine Eltern zu ihren archäologischen Ausgrabungsstätten begleitet und war dabei von einem Lehrer-Kompi unterrichtet worden. Manchmal behandelten Margaret und Louis ihr einziges Kind mehr wie einen Kollegen als einen Sohn.

Anton war dürr und hielt nichts von Mode und dergleichen.

Er zog an, was sich gerade in Reichweite befand, ob es zu ihm passte oder nicht. Das Haar trug er kurz, damit es möglichst wenig Mühe machte. Ständiges Lesen hatte zwei Retina-Operationen nötig gemacht; aus reiner Angewohnheit kniff er noch immer ein wenig die Augen zusammen.

Jahrelang hatte es so ausgesehen, als würde Anton in die Fußstapfen seiner Eltern treten. Zwar liebte er alte Rätsel, aber sein eigentliches Interesse galt Legenden und nicht so sehr historischen Fakten. Anton hatte zwei Doktortitel erworben, in den Fakultäten für tote Sprachen und komparative kulturelle Mythologie. Er tat sich insbesondere beim Studium jener Teile der Saga der Sieben Sonnen hervor, die die Ildiraner der Erde überlassen hatten.

Anton kannte viele Volkssagen der Erde auswendig, die meisten von ihnen in ihren ursprünglichen Sprachen: isländische Sagen, Homers Epos, das japanische Heike Monogatari, die komplette Artus-Sage in allen ihren Variationen, das sumerische Gilgamesch-Epos und andere Geschichten, die nie mit der notwendigen Sorgfalt übersetzt worden waren.

Wenn er doch nur in der Lage gewesen wäre, mit ildiranischen Erinnerern zusammenzuarbeiten…

Viermal hatte er sich in Mijistra beworben, seine Briefe unter anderem an den Weisen Imperator und den Erstdesignierten gerichtet. Sie wiesen auf sein Interesse an epischen Geschichtszyklen und den Wunsch hin, nach Ildira zu kommen und sich dort mit der Saga zu befassen – Antons Kenntnisse der irdischen Mythologien mochte den Ildiranern neue Einblicke in ihre Saga der Sieben Sonnen ermöglichen. Und die ildiranischen Historiker interessierten sich doch bestimmt für die Legenden der Menschheit, oder? Beide Völker würden von einer derartigen Kooperation profitieren.

Doch Antons Bewerbungen waren zweimal unbeachtet geblieben. Die dritte hatte man abgelehnt und die vierte, vor einem Jahr übermittelt, war im Hydroger-Durcheinander verschwunden. Ebenso wie die Anfragen in Hinsicht auf seine Eltern. Gab es dort draußen im Spiralarm niemanden mehr, der zuhörte?

Also hatte er beschlossen, stattdessen einen eigenen Mythos zu schaffen, indem er die Biografie seiner Eltern schrieb. Er ordnete die Notizen, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, sortierte sie nach Themen, von trockenen biografischen Daten bis zu Forschungserfolgen, von der routinemäßigen und doch bemerkenswerten archäologischen Arbeit auf der Erde bis zu den Ausgrabungen auf anderen Planeten.

Aber eine Geschichte brauchte einen Abschluss. Ohne Informationen darüber, was auf Rheindic Co geschehen war, fühlte sich Anton nicht imstande, die biografische Arbeit zu beenden.

Er hörte das Klingeln des Türsignals, drehte den Kopf und sah einen messingverkleideten Kompi in der Tür seines Büros.

Die Roboter waren allgegenwärtig in der Universität, lieferten Dinge und kümmerten sich um die Wartung. Viele von ihnen verfügten über eine Freundlich-Programmierung, was sie zu gewandten Unterhaltern machte.

»Anton Colicos, bitte verifizieren Sie Ihre Identität.«

»Ich bin’s und niemand anders. Was willst du?«

Der Kompi hob ein verziertes Päckchen: eine Plakette, von schimmerndem Papier umhüllt, auf dem sich ungewöhnliche Muster zeigten – Anton erkannte sofort ihren ildiranischen Ursprung. »Dies wurde von einem Kurier gebracht. Der Rektor ist fasziniert. Wir empfangen nur selten Mitteilungen direkt vom Prismapalast.«

Anton nahm das Päckchen entgegen. »Ich bin mir der Ehre bewusst. Danke.«

»Soll ich den Rektor um einen Gesprächstermin bitten?«

Anton hielt das unerwartete Päckchen in der Hand. »Ja.

Bestimmt erwartet er eine Erklärung von mir, auch wenn sich dies als unbedeutend erweist.«

Der Kompi drehte sich um und ging. Anton blickte auf das glänzende Papier hinab, löste es vorsichtig und wickelte einen geätzten Diamantfilm aus. Die Nachricht stammte von einem der wichtigsten ildiranischen Historiker, Erinnerer Vao’sh.

Im Gegensatz zu den Anfragen in Bezug auf seine Eltern waren Antons an Ildira gerichtete Bewerbungen also nicht unbemerkt geblieben. Der Erinnerer wusste sogar, dass Anton die ildiranische Schriftsprache verstand.

Vao’sh lud ihn ein, nach Mijistra zu kommen, um

»Geschichten zu teilen und Legenden zu interpretieren.« In Antons Augen funkelte es. Er konnte es kaum glauben. Der Flug war bereits arrangiert.

Mit klopfendem Herzen blickte er zu den auf dem Schreibtisch verstreut liegenden Notizen. Er musste die Arbeit an der Biografie seiner Eltern erneut verschieben. Mijistra wartete!

15

ADAR KORI’NH

Nachdem er die Personen ausgewählt hatte, die sich am besten für diese Aufgabe eigneten, machte sich Adar Kori’nh mit siebzig Soldaten, Arbeitern und Technikern seiner Kriegsschiffe auf den Weg zur Burton.

Zwar hatte er dem Dobro-Designierten gegenüber keine Einwände erhoben, aber Kori’nh bezweifelte, dass die Zerstörung des terranischen Generationenschiffes unbedingt nötig war. Seit vielen Jahren befand sich das Schiff am Rand dieses Sonnensystems, kalt und still. Durch genaue Analysen der Burton hätten sich vielleicht Innovationen für die ildiranischen Schiffe ergeben.

Doch seit Generationen widerstand das Ildiranische Reich Veränderungen. Der Weise Imperator interessierte sich nicht für Verbesserungen, denn das hätte den Anschein erwecken können, dass sich die ildiranische Zivilisation nicht schon auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung befand. Deshalb schwebte die Burton seit langer Zeit unbeachtet in der Leere – und jetzt war Kori’nh angewiesen worden, das Schiff zu vernichten. Er fand das sehr schade.

Shuttles glitten vorsichtig an den Fels- und Eisbrocken vorbei, die das terranische Generationenschiff wie einen Rauchvorhang umgaben. Als sich die Gruppe der Burton näherte, bemerkte der Adar Einzelheiten, die ihm beim ersten Flug nicht aufgefallen waren. Um ihn herum richteten muskulöse Soldaten und aufmerksame Techniker interessierte Blicke auf den Rumpf des riesigen Schiffes.

Es war ein Denkmal für verlorene Träume, eine verlassene Stadt, einst gefüllt mit hunderten von hoffnungsvollen menschlichen Kolonisten. Vor langer Zeit hatten verwegene Pioniere ihre Heimatwelt verlassen, um durch die unbekannte Leere zu fliegen, in der vagen Hoffnung, einen bewohnbaren Planeten zu finden. Welch eine fabelhafte Torheit! Wie lange war es her, seit die Ildiraner zum letzten Mal eine solche Leidenschaft gezeigt hatten, einen derartigen Mut zum Risiko?

Kori’nh konnte es gar nicht abwarten, an Bord der Burton zu gelangen.

Die ildiranischen Shuttles verharrten neben dem Generationenschiff und der Adar schickte ein erstes Team aus Spezialisten. Die Ildiraner aus dem Techniker-Geschlecht arbeiteten im Vakuum des Alls und versuchten, die Schleusen der Burton zu öffnen. Sie lösten Platten, untersuchten die Schaltkreise darunter und stellten neue Verbindungen her.

»Bekh!« Kori’nh rang mit seiner Ungeduld, während er die Arbeiten beobachtete. »Langsam. Keine Fehler.« Schließlich gelang es den Technikern, ein großes Außenschott zu öffnen, und dahinter kam ein Hangar zum Vorschein, groß genug, um die ildiranischen Shuttles aufzunehmen. »Sobald unsere Schiffe im Innern sind, sollen sich drei Systemspezialisten mit Schutzanzügen auf den Weg machen und versuchen, die Burton wieder mit einer atembaren Atmosphäre zu füllen.«

Eine Stunde später leuchteten gelbe Lichter im Hangar des Generationenschiffes. »Der Sauerstoffgehalt der Luft steigt, Adar«, meldete einer der Techniker. »Offenbar ist es uns gelungen, die atmosphärischen Systeme zu reaktivieren. Sollen wir sie überall an Bord in Betrieb setzen? Die Luft muss zirkulieren und gefiltert werden. Bestimmt gibt es auf der Burton genug Reserven.«

Kori’nh hob das Kinn. »Gehen wir gründlich vor. Wir tragen zunächst Gesichtsfilme, aber ich möchte, dass alle Bordsysteme der Burton mit Energie versorgt werden. Bereiten Sie das Schiff auf seine letzte Reise vor.«

Die Techniker eilten durch leere Korridore, in denen einst Generationen optimistischer menschlicher Kolonisten gelebt hatten. Das Geräusch ihrer Schritte hallte laut genug durch die kalte, leere Luft, um alle Geister zu wecken, die eventuell an Bord des aufgegebenen Schiffes zurückgeblieben waren.

Kori’nh hatte gelesen, dass die Menschen nicht an die Lichtquelle und eine höhere Ebene der Illumination nach dem Tod glaubten, sondern an Geister und wandernde Seelen.

Im Maschinenraum der Burton enträtselten neugierige Ingenieure das archaische Triebwerk. Durch die Kontakte mit der Terranischen Hanse waren ihnen die elementaren Prinzipien von Menschen gebauter Raumschiffe vertraut und der Antrieb des Generationenschiffes erwies sich als so unkompliziert, dass seine Funktionen wiederhergestellt werden konnten.

Adar Kori’nh trug isolierende Kleidung und einen Gesichtsfilm, als er mit einer Inspektionstour begann. Ohne Begleitung schritt er durch den Passagierbereich, kletterte von einem Deck zum nächsten. Selbst wenn er allein war, spürte er die angenehme Präsenz der anderen Ildiraner durchs Thism.

Aber er fühlte auch die Präsenz der Menschen, als hätten ihre Träume greifbare Spuren hinterlassen. Welch ein törichter Ehrgeiz, welch naiver Optimismus der Jungen und Unerfahrenen, die ihre Heimat verließen und sich in den Spiralarm wagten! So ambitioniert, so tollkühn.

Kori’nh sah sich die Kabinen an, die Lager, Gemeinschaftsräume, Unterhaltungszentren und Bibliotheken.

Viele Räume waren leer. Im Zugang eines großen Speisesaals blieb er stehen und sah Anzeichen von Unruhe: umgestürzte Stühle, verstreut liegende Dinge. Eine Meuterei? Oder vielleicht eine Feier? Ging dies auf jene Ildiraner zurück, die vor Jahrhunderten die ahnungslosen Kolonisten der Burton gefangen genommen hatten?

So viel zu sehen und herauszufinden… Und all das ging unwiederbringlich verloren, wenn er seinen Befehl ausführte und das Schiff zerstörte.

Er kannte das Ausmaß des Skandals, dem sich das Reich gegenübersehen würde, wenn die Menschen herausfanden, was ihre vermeintlichen Verbündeten auf Dobro angestellt hatten.

Die Ildiraner waren als angebliche Retter und mit dem Versprechen gekommen, die Siedler zu einer eigenen Kolonie zu bringen. Stattdessen hatte man die Menschen als Zuchtmaterial verwendet.

Tiefer Kummer erfasste Kori’nh. Ihm erschien das alles sehr unehrenhaft.

Der Adar setzte den Weg ehrfurchtsvoll fort und dachte dabei an Kinder, die einst an diesem Ort gespielt hatten, an Generationen, die fern der Heimat geboren und gestorben waren, ohne jemals den Boden eines Planeten betreten zu haben. Aufs Geratewohl öffnete er die Türen privater Quartiere und versuchte sich vorstellen, welche Familien einst in ihnen gewohnt hatten. Dabei fürchtete er fast, auf die mumifizierten Reste eines vergessenen Kolonisten zu stoßen…

Kori’nh sah alte Bilder, die Helden oder geliebte Personen zeigten, vergilbte Kleidung, seltsames Spielzeug, Andenken von der Erde. Für die Menschen, die hier gewohnt hatten, besaß jeder Gegenstand eine besondere Bedeutung. Die Objekte verkörperten Geschichten, von den Eltern an die Kinder weitergegeben.

Diese Kolonisten hatten auf einer neuen Welt eine zweite Erde schaffen wollen. Doch den Zuchtobjekten auf Dobro war die Vergangenheit genommen worden – sie wussten nichts von ihrer Herkunft. Alles verloren…

Schließlich erreichte Kori’nh den Kommando-Nukleus der Burton – die Menschen sprachen in diesem Zusammenhang vom »Pilotendeck«. Allein stand er dort, betrachtete dunkle Kontrollstationen und stellte sich vor, wie von primitiven Scannern und Sensoren ermittelte Daten auf Displays erschienen. Eine Folge von Kommandanten hatte hier gelebt und gearbeitet, gute und schlechte Entscheidungen getroffen.

Jeder von ihnen war alt geworden und hatte sein Amt schließlich einem Nachfolger übergeben. Erinnerte sich niemand mehr an sie? Lagen ihre Leben begraben im Staub der Geschichte? Bei den Menschen gab es kein Äquivalent der Saga der Sieben Sonnen.

Durch den Gesichtsfilm atmete der Adar tief durch, sah zum leeren Kommandosessel und bemerkte Raureif in den Schatten zwischen Konsolen. Seit zu langer Zeit war dieses riesige Raumschiff leer. Die Stille hing wie eine Gewitterwolke über ihm. Gelegentlich knackte und knarrte es leise, als wärmer werdende Luft und die Anwesenheit von Lebewesen das Schiff aus einem langen Schlaf weckten. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Systeme der Burton ganz erwacht waren.

Und anschließend musste das Schiff sterben.

Zwar hatte er keinen entsprechenden Befehl erhalten, aber der Adar wies seine Soldaten an, jeden Raum zu untersuchen und alle Objekte sicherzustellen, die in technischer oder kultureller Hinsicht wertvoll sein mochten. Jene Details sollten nicht für immer verloren gehen. Vielleicht konnten einige Erinnerer einen Sinn in den Gegenständen erkennen und ihre Hinweise für ein besseres Verständnis der Terraner nutzen.

Es wäre ein Verbrechen gewesen, einfach alles zu vernichten

– doch genau das verlangte der Dobro-Designierte.