So ist das also, wenn man aufwacht und siebenunddreißig Jahre alt ist. Ich schaue unter die Decke. Ich bin noch da. Ich bin nicht über Nacht zu Staub zerfallen oder zu einer Dörrpflaume zusammengeschrumpelt. Schon mal erfreulich.
Ob ich mir zu meinem Geburtstag eine Brustvergrößerung schenke? Was hatte Erdal gesagt? «Zwei-, dreihundert Gramm auf jeder Seite würden schon genügen.»
Frank hätte so einen Eingriff sicherlich abgelehnt. «Ich liebe dich so, wie du bist», hätte er behauptet. Aber die Wahrheit ist, dass er es wahrscheinlich gar nicht gemerkt hätte. Ich hätte beim Sex eine Gasmaske tragen können, es wäre ihm kaum aufgefallen. Er war nie besonders aufmerksam – was unter anderem daran lag, dass ich nie besonders auf mich aufmerksam gemacht habe.
Aber jetzt muss ich mich ja wieder auf dem freien Markt behaupten, muss Männern gefallen, reizvoll sein, enge Hosen tragen und Brüste, die ein ordentliches Körbchen brauchen. Ich muss signalisieren, dass ich zwar zu haben, aber keinesfalls verzweifelt bin. Ich muss mich lässig an den Mann bringen. Muss suchen, ohne zu brauchen.
Aber ich weiß gar nicht mehr, wie das geht. Genau genommen habe ich es nie gewusst. Bin nicht so der Typ, der mit seinen weiblichen Reizen zu reizen verstünde. Ich werde es wohl lernen müssen, wenn ich post mortem auf ein Doppelgrab spekuliere. Vielleicht frage ich mal Regina. Die soll mir einen Crash-Kurs verpassen in sinnlichem Selbstmarketing. Ich habe schließlich einen zufriedenstellenden Body-Mass-Index von dreiundzwanzig. Verdammt, da wird sich doch wohl jemand finden lassen, der sich des dazugehörigen Bodys erbarmt, oder?
Wie lange werde ich wohl allein sein?
Meine Gedanken schweigen ein paar Sekunden selbstmitleidig vor sich hin. Dann fällt mir was ein. Das gibt es doch gar nicht! Wie komme ich bloß dazu? Ich bin wirklich eine Schande für meine Tante und für alle emanzipierten Frauen. Ich bin freiwillig Single, und zwar aus guten Gründen! Und mir fällt tatsächlich nichts Besseres ein, als panisch zu überlegen, wie ich so schnell wie möglich wieder einen Mann finden könnte. Wie peinlich, Rosemarie Goldhausen!
Ich wollte doch frei sein. Jetzt habe ich mich befreit. Aber frei wozu? Was will ich jetzt anfangen mit meinem Hauptgewinn?
Mir die Titten machen lassen?
Ich sollte erst mal was aus mir machen!
Ich drehe mich um. Neben mir liegt keiner. Ein ungewohnter Anblick.
Ich habe Franks Seite des Bettes abgezogen, um bei seinem Geruch nicht loszuheulen. Aber jetzt finde ich die Aussicht auf eine kahle Matratze, der nicht einmal eine unbenutzte Decke einen Hauch von Bewohntheit und Hoffnung verleiht, auch nicht erquicklich. Sieht aus wie die Eiswüsten am Nordpol.
Ich sollte mir angewöhnen, in der Mitte des Bettes zu schlafen. Die letzten acht Jahre habe ich am äußersten rechten Rand verbracht, häufig sogar gänzlich unbedeckt, da es sich bei Frank um einen raumgreifenden Schläfer mit Hang zur feindlichen Übernahme von Fremddecken handelte.
Ich rücke probehalber mal etwas nach links. Ein deutlich verbesserter Liegekomfort. Arme und Beine kann ich ausstrecken, ohne dass sie rausfallen. Ganz erstaunlich. Ich werde mich daran gewöhnen müssen, mehr Platz zu haben. Und vor allem werde ich mich daran gewöhnen müssen, mehr Platz zu beanspruchen.
Ich muss aufhören zu glauben, die besten Tische, die besten Männer, die größten Gefühle seien immer bereits für andere reserviert. Ich muss mich beschweren, wenn Salz fehlt, wenn es zieht, wenn ich zu wenig verdiene.
«Du hast dich immer mit viel zu wenig zufriedengegeben», hat Regina gestern Abend gesagt, als wir in der «Dual Bar» in meinen Geburtstag hinein- und aus meiner Beziehung herausfeierten und auf meine neue Funktion als stolzeste Patentante der Welt anstießen.
Ja, ich erwarte zu wenig, weil ich denke, ich hätte nicht viel verdient. Es ist ganz einfach: Wer wenig will, bekommt auch wenig.
«Was willst du anders machen beim nächsten Mann? Oder hattest du mit Frank einfach nur den falschen Mann?»
«Kann sein, aber den habe ich mir ja auch ausgesucht. Man ist doch selbst schuld an dem Mann, den man hat.»
«Oder an den Männern», sagte Regina.
«Ich finde, es wird Zeit, erwachsen zu werden», sagte ich, für meine Verhältnisse ungewöhnlich entschlossen.
«Das sagst ausgerechnet du, Marie, die Erwachsenste von allen! Du bist doch immer so wahnsinnig vernünftig.»
«Aber erwachsen sein heißt doch nicht automatisch vernünftig sein. Erwachsen ist das, was man freiwillig ist. Und ich bin nicht freiwillig vernünftig, sondern weil ich mich nichts anderes zu sein traue. Weißt du noch, als wir auf der Moritz-von-Uslar-Lesung waren? Meine Güte, kam ich mir da alt vor, bloß weil ich eine Hose anhatte, mit der ich mich nicht auf den Fußboden setzen wollte. Und dann diese jungen Dinger, mit denen der Boden gepflastert war: unsicher und arrogant, verletzt und verletzend, uncool bemüht, cool zu sein, immer auf der Suche und gleichzeitig in Sorge, irgendwo anzukommen, wo man möglicherweise bleiben sollte. Nennen sich selbst immer noch Mädchen, obschon sie längst erwachsen sind. Oder es zumindest sein sollten. Genauso wie ich! Ich unterscheide mich nicht von denen, außer dass meine Knochen knacken, wenn ich mich auf den Boden setze, und dass meine sexuellen Phantasien einem gewissen Wandel der Zeit unterworfen sind. Bitte sag es niemandem weiter, aber ich habe festgestellt, dass ich anfange, Claus Kleber attraktiv zu finden.»
«Gibt es eigentlich nichts, was du an dir gut findest?»
«Doch. Meine Haare.»
Die Mitte meines Bettes beginnt mir immer besser zu gefallen. Vielleicht ist das Alleinsein gar nicht so schlecht, zumindest eine Zeitlang. Ich verbringe den Vormittag meines siebenunddreißigsten Geburtstages – ein Sonntag, aber heute stört mich das nicht – so, wie ich schon immer gerne einen Sonntagvormittag verbracht hätte: im Bett.
Frank hatte großen Wert auf ein Frühstück mit frischen Brötchen und der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» gelegt. Und Zeitungen und alles, was krümelt, waren bei uns im Bett verboten gewesen. Diese Regel habe ich als Alleinlebende persönlich und mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Ab sofort erlaubt ist bei mir auch: fernsehen im Schlafzimmer. Unterwäsche auf dem Balkon trocknen. Das Abendessen direkt aus dem Topf zu sich nehmen und dabei telefonieren. «Deutschland sucht den Superstar» gucken. Das ganze Wochenende die Wohnung nicht verlassen, obschon draußen die Sonne scheint.
Meine Güte, was gibt man nicht alles auf, der Liebe zuliebe!
Es ist zwei Uhr nachmittags, ich bin immer noch im Nachthemd, habe etliche Glückwunsch-Anrufe entgegengenommen und beschließe, endlich mal auszuprobieren, wie belastbar unsere Nachbarn sind.
Es ist völlig klar, dass es für eine Frau in meiner Situation nur ein einziges Lieblingslied geben kann. Ich singe es in einer Lautstärke und einem guten Gewissen mit, die mir bisher fremd waren.
Die große Freiheit ruft wieder an,
Du musst entscheiden: Gehst du dran?
Die große Freiheit funktioniert nur allein,
Du musst entscheiden:
Wie frei willst du sein?
Lass alles fallen, stehen und liegen,
Lass sie sich weiter selbst betrügen,
Raus aus der Reihe, Schluss mit dem Warten,
Wer nur ansteht, kann nicht starten.
Goodbye, goodbye, goodbye.
Ab heut bist du frei!
Schon vor der dritten Strophe klingelt es an der Tür. Das gibt es ja wohl gar nicht, diese Nachbarn sind wirklich keinen Kummer gewohnt! Wahrscheinlich dachten sie sogar, die Wohnung über ihnen sei gar nicht bewohnt. Aber diese Zeiten sind nun vorbei. Ich mache Lärm, und ich brauche Platz. Widerwillig öffne ich die Tür. Meine Nachbarn sehen definitiv anders aus.
«Frau Rosemarie Goldhausen?»
«Ja.»
«Ich bin Bote der Kanzlei Liek und Partner. Würden Sie den Erhalt des Umschlags bitte hier quittieren?»
Mir wird schwummrig. Das gibt es doch nicht, diese fiesen Kröten haben tatsächlich Ernst gemacht!
Wort- und fassungslos unterschreibe ich die Empfangsbestätigung und schmeiße den Umschlag auf den Küchentisch. Ich brauche ihn nicht zu öffnen. Ich weiß auch so, was drinnen ist: Zwischen dem Taschenvibrator, den mir Regina gestern geschenkt hat, und dem Schokoladenkuchen meiner Mutter, auf den längst nicht so viele Kerzen draufpassen wie drauf müssten, liegt meine Kündigung.
«Ich fasse nochmal zusammen», hatte Dr. Stegele vor zwei Tagen mit mühsamer Beherrschung gesagt, «Conradi bleibt verschwunden und liefert das Buch nicht wie vereinbart zum Herbst. Und wir können ihn deswegen noch nicht mal verklagen, weil er seinen Vertrag noch gar nicht unterschrieben hat. Wie ist das bitte zu erklären?»
«Herr Conradi hat einen Horror vor juristischem Kram. Solche Sachen lässt er monatelang rumliegen.»
Die Wahrheit war, dass Conradi seinen Vertrag meinetwegen noch nicht unterzeichnet hatte. Er wollte abwarten, ob ich mich selbständig machen würde.
«Und wie ich von Frau Kern höre, haben Sie am Montag auch noch unentschuldigt gefehlt.»
«Da habe ich doch meinen Patensohn zur Welt gebracht.»
«Frei gibt es nur, wenn man selbst gebiert. Ich werde zeitnah entscheiden, welche Konsequenzen Ihr Verhalten haben wird.»
Goodbye, goodbye, goodbye.
Ab heut bist du frei!
Ja, das kann man wohl sagen.
Partnerlos. Arbeitslos. Und demnächst auch wohnungslos.
Frei ist gar kein Ausdruck, komplett gescheitert trifft es wohl eher. Mein jetziger Zustand entspricht in keiner Weise auch nur annähernd dem, den ich mir für meine zweite Lebenshälfte vorgestellt hatte. Wo ist die Wäscheleine, an der im seichten Abendwind meine Still-BHs, die Neugeborenen-Erstausstattung und die Boxershorts meines Ernährers trocknen? Wo das Reihenendhaus mit kugeligen Buchsbäumchen rechts und links der Eingangstür? Wo das Zimmer mit Blick über Paris, für das es sich zumindest gelohnt hätte, auf die kugeligen Buchsbäumchen und den Ernährer zu verzichten?
Mutterpass oder Lohnsteuerkarte? Diese luxuriöse Frage stellte sich für mich nicht mehr. Ich kann demnächst im Fitnessstudio die Sonderkonditionen für Arbeitslose in Anspruch nehmen. Und vielleicht gewährt mir das «Hamburger Abendblatt» ja Mengenrabatt, weil ich gleichzeitig in den Rubriken «Stellenangebote», «Partnersuche» und «Wohnungssuche» werde inserieren müssen.
Ich blättere niedergeschlagen in der Zeitung vom Samstag.
«Schneewittchen (1,75 – 29 – 57) wartet noch immer auf ihren Prinzen. Aufgehalten worden? Schreib mir mit Bild, oder ich nehme einen von den Zwergen …»
Meine Güte, die ist noch keine dreißig, wiegt nicht mehr als eine Scheibe Knäckebrot und muss sich schon Sorgen machen, keinen ordentlichen Typen mehr abzubekommen. Sind die guten Männer denn wirklich so rar gesät? Und wenn ja, wie konnte ich den unverzeihlichen Fehler begehen, einen Mann, der mich nicht geschlagen hat, mich nicht beklaut und noch nicht mal betrogen hat, wieder in die freie Marktwirtschaft zu entlassen? Das ist ja, wie auf dem Flohmarkt eine nagelneue Gucci-Sonnenbrille für fünf Euro anzubieten. Keine zehn Sekunden, und das Ding ist weg. Da muss man doch total bescheuert sein!
Und dieses dürre Schneewittchen angelt sich jetzt womöglich meinen Exfreund, meinen Frank, an dem ja nun wirklich nicht viel auszusetzen ist. Sie wird ihr Glück kaum fassen können, dass sie so ein tadelloses Exemplar erwischt hat. Und dann werden die beiden heiraten, Kinder kriegen, und Scheiß-Schneewittchen hängt ihre Still-BHs an meine Wäscheleine!
Und was gebe ich dann für eine Annonce auf?
«Pechmarie (1,70 – 45 – 85) hat ihren Prinzen vergrault und zu viel Schokolade gegessen und wäre froh, wenigstens noch einen von den Zwergen abzubekommen. Auch Zuschriften ohne Bild werden garantiert beantwortet.»
Ich esse vor lauter Verzweiflung das vierte Stück vom Geburtstagskuchen, der so staubig schmeckt, wie ich mich fühle.
Gott sei Dank ruft Erdal an, um mich über die neuesten Fortschritte unseres eine Woche alten Babys zu informieren. Er ist überzeugt, dass Joseph ihn jetzt bereits aus zehn Metern Entfernung erkennt, und ich glaube, Leonie hat bisher noch nicht eine Windel ihres Sohnes selbst gewechselt, da sich Karsten in dieser Hinsicht als sehr geschickt und Erdal als erstaunlich ekelresistent herausgestellt hat. Ich habe die beiden jetzt schon mehrfach fachsimpelnd über das Baby gebeugt am Wickeltisch stehend angetroffen.
Ich selbst bin vollkommen erstaunt über mein ungeheucheltes Interesse an Josephs Kotkonsistenz, Schlafrhythmus und Bäuerchenfrequenz.
«Gestern waren zwei Mütter mit ihren sieben Tage alten Kindern bei uns zu Besuch», beginnt Erdal grußlos. «Ich wollte ja nichts sagen, aber ich frage mich schon, wie die mit ihren hässlichen Krötchen jemals wieder glücklich werden sollen, wo sie unseren Joseph gesehen haben.»
«Jede Mutter findet ihr eigenes Kind am schönsten. Das hat die Natur Gott sei Dank so eingerichtet. Mütter sind niemals objektiv.»
«Unsinn, ich bin doch auch objektiv. Sorgen macht mir nur, dass sein Penis in den letzten Tagen nicht mitgewachsen ist. Aber sag, wie geht es dir? Josephs Nabelschnur ist endlich abgefallen, und ich will sie heute nach Sonnenuntergang im Garten zusammen mit einem Euro und einer Haselnuss vergraben. Das bringt Reichtum und Fruchtbarkeit. Hast du nicht Lust vorbeizukommen?»
«Ich bin deprimiert.»
«Das kann ich verstehen. Als Frau in deinem Alter sind Geburtstage natürlich eher Tragödien.»
«Ich habe heute meine Kündigung bekommen.»
«Auweia. Dann ruf deinen Anwalt an. So einfach ist es nicht, jemanden rauszuschmeißen.»
«Vielleicht will ich die Kündigung gar nicht anfechten. Ich hasse diese Kern, und der einzige Autor, den ich mochte, hat sich aus dem Staub gemacht.»
«Du wolltest dich doch sowieso selbständig machen. Fang morgen damit an.»
«Ohne Geld, ohne Wohnung und ohne Autor?»
«Du musst auch das Gute an deiner Situation sehen.»
«Und das wäre?»
«Da müsste ich jetzt länger überlegen.»