Um kurz nach sechs hielten Leonie und ich vor Erdals Villa, die er sich mit seiner florierenden Catering-Firma verdient hatte. «Er liebt Weihnachten über alles», sagte ich entschuldigend.
«Ach was.»
Leonie betrachtete die Villa mit einer Mischung aus Verzückung und Entsetzen. Fenster und Balkone waren mit Tannengirlanden und Lichterketten geschmückt. Im Garten weideten blinkende Rehe, und auf der Freitreppe vor der Eingangstür stand ein zwei Meter hoher Plastikelch mit roter Mütze, der seinen Kopf hin- und herbewegte.
«Erdal findet es eine Schande, dass die Adventszeit auf vier Wochen begrenzt ist, und möchte sich diese gesellschaftliche Bevormundung nicht länger gefallen lassen. Bei ihm ist vom zwanzigsten November bis zum zwanzigsten Januar Weihnachtszeit. Wir kommen also gerade noch rechtzeitig. Morgen wird alles abgebaut.»
Ich klingelte. Eine Sekunde später riss Erdal die Tür auf. Er trug einen schwarzen, mit Strasssteinen besetzten Nicki-Hausanzug, seine Füße steckten in rosa Plüschpantoffeln.
«Kommt rein, ihr lieben Täubchen! Leonie, du musst doch furchtbar erschöpft sein von der Fahrt. Möchtest du die Füße hochlegen, und ich mache dir eine Wärmflasche? Entschuldige, aber ich bin irgendwie so, so …»
«Beschwipst, wolltest du sagen. Ihr müsst entschuldigen, er hat vor Nervosität ein wenig zu viel Sekt getrunken. Hallo, ich bin Karsten.»
Leonie schmolz dahin.
«Karsten, du weißt genau, dass kohlensäurehaltiger Alkohol die Kapillargefäße weitet und so gegen stressbedingte Atembeschwerden schützt. Für mich ist Sekt Medizin, kein Laster. Sonst noch jemand ein Schlückchen? Goldi? Karstibärchen? Leonie, Schatz, du darfst ja leider nicht mehr, aber ich habe dir Schwangerschaftstee besorgt. Tässchen?»
Leonie war durch die Raummaße sichtlich eingeschüchtert.
«Wir haben hier unten fast alle Wände rausnehmen lassen, um einen Raum zu schaffen, in dem Erdal seinen drei Grundbedürfnissen nachgehen kann: essen, fernsehen, feiern», erklärte ihr Karsten.
«Habt ihr euch wie alle Paare bei der Einrichtung gestritten?»
«Wir haben eine klare Regelung: Ich bin für die Hardware zuständig, Erdal für die Software. Das heißt, ich habe den Tisch ausgesucht, er die Schwäne aus Murano-Glas darauf. Die Sofas sind von mir, die herzförmigen Kissen von ihm.»
«Dass du dich auch immer gleich von mir distanzieren musst, Karsten. Ohne mich wäre es hier so steril wie in einem Operationssaal. Wir ergänzen uns eben perfekt, Häschen.»
«Ist ja gut. Ich wollte nur nicht, dass Leonie denkt, ich sei für den Kunstrasen auf dem Kaminsims verantwortlich.»
Ich starrte Karstens Hüften und Oberschenkel mindestens genauso fasziniert an wie Erdal den winzigen Babybauch von Leonie. Herrgott, was war nur los mit mir? Hatte ich zu wenig Sex?
Nun ja, nach Jahren mit demselben Mann ist es wohl normal, dass auch der Sex alltäglicher geworden ist. Was keineswegs heißen soll, dass er täglich stattfindet oder ich seinetwegen auf die ersten Minuten vom großen Sat-1-Film verzichten würde.
Sex ist eingebettet in profane Tätigkeiten. Vorher hast du noch eine Maschine vierzig Grad Buntes eingeräumt, und nachher müssen unbedingt noch die gurgelnden Heizkörper entlüftet werden.
Und auch die Gesprächsthemen, die vor, während und nach dem Akt aufkommen, sind längst nicht mehr so erotisch aufgeladen wie in den ersten Monaten. Ich finde, wenn man sich schon etwas länger kennt, kann man im Bett nicht auf einmal so tun, als hätte man sich erst eine Stunde zuvor an einem Tresen kennengelernt und sei lüstern ins nächste Hotelzimmer gerannt. Nein, ich kann das Genital meines Freundes nicht jedes Mal so begeistert begrüßen, als begegnete ich ihm zum ersten Mal.
Immerhin hatten wir uns irgendwann mal versprochen, im Bett nicht zu telefonieren, keine Fachlektüre zu lesen und nicht über Beziehungsprobleme zu reden. Daran halten wir uns redlich, und ich bemühe mich auch, nach dem Sex eine angemessene Frist von etwa drei bis fünf Minuten vergehen zu lassen, ehe ich nachschaue, ob die Wäsche schon durchgelaufen ist.
Was ich nicht so gut unter Kontrolle habe, sind meine Gedanken während des Geschlechtsaktes. Manchmal frage ich mich währenddessen einfach nur, woran andere Frauen wohl dabei denken und ob es normal und erlaubt ist, wenn diese Gedanken nicht immer direkt mit dem Mann zu tun haben, mit dem man es gerade zu tun hat.
«Ich denke an Wladimir Putin oder Nicolas Sarkozy», hat Regina mir mal gestanden, die einen ausgeprägten Hang zu mächtigen Männern hat. «Und wenn gar nichts mehr geht, stelle ich mir vor, wie viel Fett ich gerade verbrenne und dass die Angelegenheit insofern wenigstens nicht ganz umsonst ist.»
Ich war natürlich schockiert über Regina. In erster Linie allerdings deshalb, weil ich selbst überhaupt keine glamourösen Sexualphantasien zu bieten habe. Es gelingt mir einfach nicht, mir beim Sex einen Mann vorzustellen, der sowieso nie mit mir schlafen würde, oder mir beim Sex eine Art von Sex vorzustellen, die ich mit dem Mann, der gerade mit mir schläft, sowieso nie haben würde. Dazu bin ich zu pragmatisch. Ich nutze die Zeit während des Beischlafes lieber sinnvoll.
Als ich das letzte Mal mit Frank geschlafen habe, auch schon wieder ein paar Wochen her, habe ich mich zum Beispiel gefragt, warum Barbapapas keine Beine haben und wie sie sich eigentlich fortbewegen. Eine interessante Fragestellung, die meines Wissens noch nirgends hinreichend beantwortet wurde. Immerhin war ich so taktvoll, dieses Problem mit mir selbst auszumachen und mich ein wenig über mich selbst zu wundern – allerdings nur so lange, bis mich Frank kurz nach Abschluss des Aktes als solchem unvermittelt fragte: «Sag mal, lebt Inge Meysel eigentlich noch?»
Ich war kurzzeitig verblüfft über so viel Nüchternheit beziehungsweise über die Rücksichtslosigkeit, mit der mich Frank seiner Nüchternheit selbst in so einem Moment aussetzte. Aber statt Frank mit einem gutgezielten Tritt aus dem Bett und eventuell auch aus meinem Leben zu befördern, überlegte ich eine Weile und sagte dann, dass ich mir nicht ganz sicher sei, aber ich würde das gleich im Internet nachschauen, da es mich jetzt auch interessieren würde. Zuvor müsse ich aber schnell den Reis fürs Abendessen aufsetzen.
«Ich mag doch nicht so gern Reis», sagte Frank und suchte unter meiner Decke nach seinen Boxershorts.
«Ich weiß. Deshalb gibt es bei uns ja auch fast immer Nudeln», sagte ich vorwurfsvoll und ging nackt ins Bad. Die Zeiten, in denen ich peinlich genau darauf achtete, dass Frank meine Oberschenkel nicht von hinten zu sehen bekommt, sind ja auch schon lange vorbei.
«Sie ist explodiert?»
Ich nickte.
«Und es ist nichts von ihr übrig geblieben?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Und selbst wenn etwas übrig geblieben wäre, hätten es die wilden Tiere aufgefressen. Man hat schließlich drei Tage gebraucht, um das Wrack zu finden.»
«Von wilden Tieren gefressen?»
Erdal schnappte nach Luft. Karsten reichte ihm wortlos das Asthmaspray.
«Die Behörden in Kapstadt hatten Schwierigkeiten, Rosemaries Identität festzustellen. Das Flugzeug hatte ja ihr Freund gechartert. Erst als man in seinem Hotel nachfragte, fand man ihren Namen im Gästeverzeichnis. Die Beamten sagen, die Maschine sei frontal gegen eine Bergwand geprallt und explodiert.»
«Und dieser Joachim», Erdal senkte seine Stimme, soweit es ihm möglich war, «ist er schuld?»
«Es gibt keine Erklärung für das Unglück. Laut Flugschreiber haben alle Instrumente funktioniert, und die Nacht war klar. Die Flugsicherheit in Kapstadt sagt, die Maschine sei exakt um Mitternacht von ihren Radarschirmen verschwunden.»
«Kanntest du ihren Freund?», fragte Karsten.
«Meine Tante sagte, er sei ein erfahrener Pilot, aber sie war halt sehr verliebt. So viel also zur romantischen Liebe.»
Ich merkte selbst, wie verbittert und töricht das klang, aber ich brauchte jemanden, dem ich meine Verzweiflung in die Schuhe schieben konnte.
Joachim Graf: Wenn du nicht schon tot wärst, würde ich dich umbringen!
«Es ist etwas von ihr übrig geblieben», sagte ich in die schweigende Runde und griff in meine Handtasche. Man hatte mir den Überrest meiner Tante per Expresspäckchen geschickt, mit der lächerlichen Aufschrift «FRAGILE». Als könne irgendwas, das an einer Bergwand explodiert ist, zu zerbrechlich sein, um den Postweg von Kapstadt nach Hamburg heil zu überstehen.
«Ist das ein Knochen?», hauchte Erdal.
«Nein, ein Flaschenboden.» Karsten hielt das grüne Glasstück gegen das Licht. «Hier in der Mitte ist ein Wappen eingelassen.»
«Ich weiß», sagte ich, «es ist das Wappen von ‹La Grande Dame›, dem Lieblingschampagner meiner Tante, den sie immer nur zu ganz besonderen Anlässen getrunken hat.»
«So gesehen war das ja wohl einer», sagte Erdal. Karsten räusperte sich verlegen.
«Das stimmt», sagte ich versöhnlich. Streng genommen hatte Erdal ja recht.
«Hat Rosemarie eigentlich ein Testament hinterlassen?», fragte Leonie.
«Nein. Und die Million ist auch verschwunden. Wer war bloß dieser Joachim? Warum hat sie es zugelassen, dass er sich während des Fluges mit Champagner besäuft? Es ist unerträglich, das niemals zu erfahren.»
«Ich könnte mir vorstellen», sagte Leonie, «dass Rosemaries eigener Tod ihr sehr gut gefallen hätte. Eine Explosion. Keine Leiche. Ein leerer Sarg. Und viele offene Fragen.»