«Muttermund tut Wahrheit kund»

«Nimm die Hände von meinem Arsch!»

«Liebes, das wird dir guttun.»

«Ich will das aber nicht!»

«Aber alle anderen machen es doch auch.»

«Alle anderen sind ja auch bescheuert!»

Nun, da musste ich Leonie wirklich recht geben, auch wenn es durchaus unpassend war, ihre Meinung hier so laut hinauszutröten. Wir gehörten sowieso schon zu den unbeliebteren Mitgliedern der Gruppe.

Ich darf getrost sagen, dass dieser Geburtsvorbereitungskurs zu den Grenzerfahrungen meines bisherigen Lebens gehört.

In diesem Moment stehen zwölf hochschwangere Frauen vornübergebeugt an der Wand, rufen beim Ausatmen so laut wie möglich Aaaaaaaah!, während ihnen gleichzeitig ihre Partner mit beiden Händen kräftig an beiden Pobacken rütteln. Und das ist kein mieser Scherz, sondern die Wehenübung «Apfelschütteln».

Leonie, die dreizehnte schwangere Teilnehmerin, verweigert aus mir verständlichen Gründen die Mitarbeit: «Da ist mir ein Kaiserschnitt ohne Narkose lieber als so was!»

Leonie ist in den letzten Tagen etwas gereizt, was ich gut verstehen kann. Sie hat seit geraumer Zeit ihre Füße nicht mehr gesehen, und wenn sie etwas fallen lässt, überlegt sie sich sehr gut, ob sie es aufhebt oder ob es bis nach der Niederkunft liegen bleiben kann.

Zu den körperlichen Einschränkungen kommt bei Leonie die typische Schwangerschaftsdemenz. Eine hormonbedingte Tüdeligkeit, die dazu führte, dass Leonie vergangene Woche ein halbe Stunde mit der Mülltüte in der Hand spazieren ging, die sie eigentlich hatte entsorgen wollen. Außerdem hatte sich Leonie kaltes Badewasser einlaufen lassen, das Altglas in den Schmutzwäschekorb geworfen und versucht, sich mit der Fernbedienung des DVD-Recorders ein Taxi zu rufen. Dann hatte sie am EC-Automaten ihre Pin-Nummer rückwärts eingegeben, aber geglaubt, die Bank hätte die Zahlenkombination mutwillig geändert, und sich beim Filialleiter bitter beschwert.

Als ich Erdal und Leonie zum Geburtsvorbereitungskurs abholte, standen die beiden trotz strömenden Regens bereits vor der Tür. Aus den geöffneten Fenstern wehten nach verschmortem Plastik stinkende Rauchschwaden.

«Was ist passiert, Erdal?», fragte ich aufs höchste alarmiert.

«Nichts. Leonie wollte schon mal ein paar Schnuller abkochen, hat aber den Topf auf dem Herd vergessen. Kann ja mal vorkommen. So was ist ja gar nichts gegen meine Ohnmacht von gestern Abend. Da hat mir ein Mitarbeiter beim späten Bierchen anvertraut: ‹Das Geräusch beim Dammschnitt werde ich niemals vergessen.›»

Mir persönlich ist dieses ganze Kinderkriegen ja irgendwie viel zu archaisch. Warum, frage ich mich, sollen ausgerechnet Geburten unbedingt «natürlich» verlaufen – wo in unserem Frauenleben doch sonst auch nichts mehr natürlich ist, außer vielleicht das Make-up und die bernsteinfarbenen Strähnchen im Haar. Nein, so viel Natur bin ich einfach nicht gewohnt.

Nehmen wir zum Beispiel die Geburtszange. Ein Anblick, den ich mir und besonders Erdal gerne erspart hätte. Warum muss in Zeiten, wo jede Saftpresse von hochbezahlten italienischen Designern entworfen wird, medizinisches Gerät aussehen, als habe sich seit dem frühen Mittelalter keiner mehr um eine Weiterentwicklung bemüht? Das gilt übrigens ganz genauso für die Saugglocke, die die Hebamme als Anschauungsmaterial herumgehen ließ und deren Anblick Erdal nur mit geschlossenen Augen überstanden hatte.

«Pro Stunde öffnet sich der Muttermund etwa einen Zentimeter», belehrt uns Helga, die Kursleiterin, und hält eine Schautafel hoch, die mich an die eindeutig unangenehmeren Stunden meines Biologieunterrichts erinnert. Jemand sagt: «Muttermund tut Wahrheit kund.» Bei dem Spaßvogel handelte es sich leider um Erdal. Ich denke, die neu erlernten Begriffe «Milchstau», «Kindspech» und «Käseschmiere» vernebeln ihm den Verstand.

«Und jetzt», sagt Helga, «mache ich euch mal vor, wie Wehen klingen, damit die Männer wissen, was geräuschemäßig auf sie zukommt.»

Sie schließt die Augen, um sich voll auf ihre erste Wehe zu konzentrieren.

Was soll ich sagen? Nach der Darbietung – mindestens so gekonnt wie der vorgespielte Orgasmus in «Harry und Sally» – sitze ich da wie vom Donner gerührt und, ungelogen, den Tränen nahe. «Ich hätte dann doch gerne einen Kaiserschnitt», sage ich erschüttert in die Stille, die nach den letzten gellenden Schreien der Hebamme eingetreten war.

Erdal hatte den Raum bereits fluchtartig verlassen, als Helga zum ersten Mal gebrüllt hatte: «Auaaaaaa! Mamaaaa! Ich kann nicht meeeeeehr!»

«Man muss das als Geschenk der Natur sehen, an dem wir innerlich wachsen», sagt Caroline, die Schwangere neben mir.

Natur! Mir reicht es langsam mit Natur. Ich kann die Natur nicht leiden. Ich gehe ja noch nicht mal besonders gern spazieren. Und Caroline hat mich ohnehin von Anfang an verunsichert mit ihren ständigen Stretchübungen, bei denen sie ihre Füße hinter ihre Ohren steckt. Das kann ich nicht mal ohne Achtmonatebauch. Caroline will eine Hausgeburt in einem eigens angemieteten Planschbecken machen und außer Himbeerblättertee nichts Schmerzlinderndes zu sich nehmen.

Wohingegen ich mir den Zugang für das Schmerzmittel ja am liebsten sicherheitshalber schon weit vor der Zeugung zwischen die Rückenwirbel legen und sämtliche Anästhesisten des Krankenhauses mit Delikatesskörben bestechen würde.

«Das war doch bloß vorgespielt», versucht Leonie mich zu beruhigen. Komisch, bei «Germany’s next Topmodel» weint sie Sturzbäche, aber diese Horrorvorstellung hat sie absolut kaltgelassen. Versteh einer die Schwangeren.

Und was heißt denn hier «nur vorgespielt»? Der Tod von Winnetou, das Siechtum des englischen Patienten, der Abschied von E. T. und die schlimme Lungenkrankheit von Sissi waren ja schließlich auch «nur vorgespielt». Aber als leidlich phantasiebegabter Mensch geht einem das natürlich trotzdem und auch über Jahre hinweg sehr nahe.

Geburtsvorbereitungskurse, so mein Fazit, sind definitiv nur was für Schwangere. Ohne eine Extraportion Hormone im Blut lässt sich das Ganze nicht ertragen.

 

«Und ich dachte schon, Sie finden mich nie!»

Ich stand auf dem Pont Alexandre, und es war fast schon Nacht. Ich hatte ihn nicht kommen sehen.

Den ganzen Tag hatte ich all die Orte abgeklappert, von denen ich ihm vorgeschwärmt hatte, und war immer unsicherer geworden. Was bildete ich mir eigentlich ein? Michael Conradi konnte auch auf Bora Bora oder am Ballermann sein. Was für eine Anmaßung. Was für eine peinliche Selbstüberschätzung. Sonst doch eigentlich gar nicht meine Art.

Würde ich ohne ihn oder ein paar Seiten seines Manuskripts zurückkehren, dann konnte ich meine Karriere bei Kellermann & Stegele vergessen. Dann steht meiner Mutterschaft ja nichts mehr im Wege, dachte ich verbittert.

Was wohl aus der Wohnung geworden war? Ich hatte nicht den Mut gehabt, zur Île Saint-Louis zu gehen. Dort würde ich nur meiner Trauer um meine tote Tante begegnen und meiner Scham vor mir selbst. Ich hatte mein Versprechen nicht gehalten. Ich war nie zurückgekommen.

«Ich kann nun mal nicht aus meiner Haut», versuchte ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Aber das funktionierte nicht mehr so gut wie sonst.

Ich stellte mich mitten auf den Pont Alexandre und wartete. Zwei Stunden lang.

Michael Conradi sah verändert aus. Nicht mehr so verwöhnt und sich selbst genießend. Er war schmaler geworden, und mit den Barolo-Polstern im Gesicht war auch der leicht blasierte Ausdruck verschwunden. Er sah wund aus. Und das stand ihm gut.

Wir umarmten uns so stakelig, wie wir es immer getan hatten. Jede Körperlichkeit war uns immer irgendwie unangenehm gewesen. Wir waren uns zu nah für unverfängliche Berührungen.

Er räusperte sich. Ich hatte ihn noch niemals verlegen erlebt.

«Ich will nichts wissen. Bitte keine Nachrichten von meinem Verleger, meiner Frau oder meiner Freundin. Ich habe bereits alles entschieden. Ich reise morgen in aller Frühe ab. Wir haben also eine Nacht Zeit. Ich werde Ihnen alles über das Buch erzählen, das ich schreiben werde.»

 

Um fünf Uhr morgens verabschiedeten wir uns vor dem Hotel «Costes» in der Rue Saint-Honoré.

«Auf Wiedersehen, Marie.»

«Auf Wiedersehen.»

Weltstillstand.

Und dann ging er vorbei. Der einzig mögliche Moment. Die ewig lang währende Sekunde. Man kennt diese Wenn-dann-jetzt-oder-nie-Situationen aus dem Kino. Küssen sie sich, oder küssen sie sich nicht? Werden sie für immer ein glückliches Paar, oder dreht er sich um, weil er wahlweise sein Land oder das Universum retten muss?

In einem Film, der bereits am ersten Wochenende Millionen einspielt, hätte er mich erst geküsst und dann die Welt gerettet.

Aber das hier ist nun mal das wahre Leben.