«Wer seine Miete nicht selber zahlen kann, für den ist Freiheit ein leeres Wort»

«Mariechen, du hast doch eine nette Karriere gemacht. Was hält dich jetzt noch ab, den Frank zu heiraten und eine Familie zu gründen? Er hat dich doch letzte Woche gefragt, oder?»

Das hatte mein Vater Heiligabend gesagt. Das Klassentreffen und meine großartige Wiedervereinigung mit Küppi Kanak waren erst zwei Wochen her, und ich fühlte mich immer noch so beschwingt, dass ich glaubte, ein friedliches Fest bei meinen Eltern in Wiesbaden verbringen zu können.

Ich rechnete es mir hoch an, dass ich bei der Formulierung «nette Karriere» nicht sofort zeternd aus dem Zimmer gerannt war – wie ich es in meiner Jugend schätzungsweise dreimal die Woche getan hatte. Bei uns gab es selten ein Abendbrot, bei dem keiner unserer fünfköpfigen Familie den Tisch verließ. Entweder beleidigt schweigend, eine Spezialität meines Vaters, oder lauthals meckernd, mein Fachgebiet und das meiner Brüder. Oder beinahe lautlos schluchzend, die unschlagbare Taktik meiner Mutter, die uns alle immer sofort zu Reue und Rückkehr ins Esszimmer bewog.

«Jetzt lass es mal gut sein, Klaus, es ist Heiligabend», sagte meine Mutter, um Harmonie bemüht. «Du solltest stolz darauf sein, dass deine Tochter überlegt, sich als Lektorin selbständig zu machen. Mariechen kommt eben immer mehr nach deiner Schwester Rosemarie.»

«Ja, leider», brummte mein Vater. Ich überlegte, wie ich das unselige Gespräch beenden könnte. Für einen dramatischen Müdigkeitsanfall, gefolgt von sofortigem Rückzug in mein ehemaliges Kinderzimmer, war es zu früh. Der Nachtisch stand noch aus, und meine Mutter wäre zu Recht gekränkt gewesen. Meine größte Sorge war, dass sich auch noch meine Schwägerin Katrin zu dem Thema äußern würde.

Sie hat, sehr zur Freude meiner Eltern, meinem Bruder Dietmar in pädagogisch sinnvollem Abstand von 3,2 Jahren zwei Kinder geboren, Justus und Lena. Es war also absolut zu befürchten, dass sich Katrin megamäßig berufen fühlen würde, ein paar fachkundige Sätze zum Thema «Die Selbstverwirklichung der Frau im Allgemeinen und der Gebärstreik meiner Schwägerin Rosemarie im Besonderen» abzusondern.

Ihr grundschullehrerinnenhaftes Räuspern weckte in mir bereits Mordgelüste. «Ich möchte mich wirklich nicht in dein Leben einmischen, Rosemarie», begann sie ihren Vortrag. Und nur weil Heiligabend war und meine Mama am Tisch saß, unterbrach ich sie nicht auf der Stelle mit den Worten: «Dann lass es doch auch, du superspießige Arschkrampe! Frauen wie du sind genau der Grund, warum Frauen wie ich keinen Bock aufs Kinderkriegen haben! Sogar Heiligabend trägst du Kleidung, die man bestenfalls ‹praktisch› nennen kann. Schon mal gehört, dass geschnürte Halbschuhe mit rutschfester Sohle einen plumpen Fuß machen? Warum ist es dir egal, wie du aussiehst, und warum ist es dir so wichtig, wie deine Kinder aussehen? Warum nennst du meinen Bruder seit deiner ersten Schwangerschaft nicht mehr Dietmar, sondern Papabär? Warum muss ich mir die Hände desinfizieren, bevor ich deine Kinder auf den Arm nehmen darf? Und warum holst du immer erst Lena ans Telefon, wenn ich meinen Bruder sprechen will? ‹Leni, die Tante Marie ist dran. Sag mal was, mein Mausezähnchen. Ja wer ist denn da? Ist da die Tante Marie? Dadadada, ja am Telefon, du kleines Schnuppischnuppi, wer ist denn da, ja das Tantitantitanti!› Stunden meines Lebens zerrinnen, in denen ich einen Hörer an mein Ohr halten muss, aus dem nur seltsame Schmatz- und Gurgellaute und dein schrilles Geschrei kommen. Deine Tochter kann noch nicht sprechen, warum also sollte sie telefonieren? Warum schickst du mir Listen, auf denen steht, was ich Justus und Lena schenken soll und was auf keinen Fall? Nichts mit Zucker! Nichts aus Plastik! Keine Kunstfasern und nichts Gewaltverherrlichendes. Videos und DVDs: verboten! Holzspielzeug aus dem Rudolf-Steiner-Laden, das wäre schön. Toll auch dein PS: ‹Die Kinderkleidung bei Burberry und Ralph Lauren fällt in der Regel eine Nummer kleiner aus als auf dem Etikett angegeben.› Warum wirfst du meiner Mutter unterm Tannenbaum seufzende Blicke zu, die, wenn sie sprechen könnten, sagen würden: ‹Siehst du, genau das habe ich befürchtet. Die Rosemarie hat einfach keine Ahnung von kindgerechten Geschenken. Aber woher auch?› Und warum, liebe Katrin, freut sich Justus dann tausendmal mehr über meinen singenden und tanzenden Plastik-Spiderman als über das jägergrüne Baby-Strickensemble mit Lederknöpfen von meiner Mutter? Ich hoffe, dass es wenigstens ein Sonderangebot mit kleinen Mängeln war.»

All das sagte ich natürlich nicht. Ich war sechsunddreißig und auch das nicht mehr lange. Ich lehnte mich zurück, zauberte ein mildes Lächeln in mein Gesicht und kam mir total erwachsen vor.

«Weißt du, Marie, Selbstverwirklichung mag ja ihre Reize haben, aber auf Dauer wirst du damit nicht zufrieden sein. Wer den eigenen Egoismus über alles stellt, wird nie wirklich glücklich sein. Es sind die Opfer, die man für seine Familie bringt, die einen erst richtig zum Menschen machen.»

Ich faltete meine Hände unter dem Tisch, damit sie nicht doch versehentlich in einem von mir unbewachten Moment nach einem Messer griffen.

«Aus welchem Abreißkalender hast du bloß diese Weisheiten, liebe Katrin? Und von welchen Opfern sprichst du in deinem Fall?»

Ich konnte einfach nicht anders, denn Katrin berührte einen wunden Punkt bei mir. Und an meine wunden Punkte lass ich nicht gerne Leute, die ich nicht leiden kann.

«Du weißt doch genau, dass ich auf meine eigene Karriere verzichtet habe, um Justus und Lena eine schöne Kindheit zu geben.»

«Du bist im ersten Berufsjahr von deinem Chef schwanger geworden. Unter einem Karriereverzicht stelle ich mir was anderes vor. Warum fängst du nicht wieder an, eigenes Geld zu verdienen und Karriere zu machen? Es hindert dich doch keiner mehr. Lena ist zwei, Justus fast sechs. Und soweit ich weiß, hast du abgestillt.»

«Marie, ich bitte dich, Katrin hat es doch überhaupt nicht nötig zu arbeiten», mischte sich jetzt mein Bruder Dietmar in die unerfreuliche Unterhaltung ein. Ich dachte, ich höre nicht richtig.

«Nicht nötig? Aber du hast es nötig zu arbeiten? Mein Beileid, Papabär.»

«Typisch», zischte Katrin, «keine Ahnung haben, aber ironische Kommentare abgeben. Kinder brauchen ein verlässliches Zuhause und fördernde Zuwendung. Ich werde das Wertvollste meines Lebens doch nicht verwahrlosen lassen, bloß um mich egozentrischen Karrierewünschen hinzugeben. Du hast doch nicht den Hauch einer Ahnung, welches Gotteswunder es für eine Frau ist, Leben zu schenken. Und so wie ich dich kenne, kann ich nur hoffen, dass du nie Kinder bekommst!»

«Noch jemand Püree?»

Ich hörte meiner Mutter ihre Verzweiflung an und versuchte mich zu beruhigen. Klappte aber nicht. Ich holte sehr tief Luft, um dieser blöden Übermutter endlich zu sagen, dass es keine Kunst ist, Opfer zu bringen, wenn man nichts zu opfern hat. Dass es keine Kunst ist, auf eine Karriere zu verzichten, wenn man einen Beruf hat, der einem nicht am Herzen liegt. Dass es keine Heldentat ist, die Pille abzusetzen, wenn man einen gut verdienenden Mann, eine Eigentumswohnung und eine engagierte Oma hat.

«Ich will mich ja nicht in dein Leben einmischen, liebe Katrin», begann ich spöttisch – als es an der Tür klingelte.

Wir schauten uns alle irritiert an. In meinem Elternhaus hat es abends nach zehn noch nie an der Tür geklingelt. Und Heiligabend schon mal gar nicht. «Papabär, geh du», hauchte Katrin erbleichend, «und nimm das Tranchiermesser mit.»

Dietmar öffnete die Tür. Und es begann das schönste und seltsamste Weihnachten meines Lebens. Und, was ich nicht wissen konnte, das letzte mit meiner Tante Rosemarie.

 

Sie trug eine rote Weihnachtsmannmütze mit blinkenden Sternchen und einem weißen Plüschbommel. Sie brachte drei Flaschen Champagner mit und einen Mann, den ich noch nie gesehen hatte.

«Darf ich vorstellen, das ist Joachim.» Wir waren verblüfft, als hätten Maria und Josef persönlich unser Esszimmer betreten. «Und ehe ihr euch hinter meinem Rücken über sein Alter empört, sage ich lieber gleich, dass er dreiundsechzig ist und damit fünfzehn Jahre jünger als ich. Er wird meine letzte große Liebe sein. Da bin ich mir diesmal absolut sicher. Seid also bitte nett zu ihm. Und jetzt macht den Champagner auf. Den Wein aus der Schnäppchen-Ecke könnt ihr ja morgen Abend weitertrinken.»

«Es hat halt nicht jeder eine Million auf dem Konto wie du», sagte meine Mutter beleidigt. Die Gradlinigkeit ihrer Schwägerin lag ihr gar nicht.

«Ach, Hildchen, auch wenn du zehn Millionen hättest, würdest du immer noch am liebsten Sonderangebote kaufen. Du hast gerne Geld, ich gebe es gerne aus. Und apropos Geld ausgeben: Morgen in aller Frühe fliegen Joachim und ich nach Südafrika und werden bis Silvestermorgen in der schönsten Lodge wohnen, die man sich vorstellen kann. Ringsum Savanne und am Horizont riesige Berge. Anschließend chartern wir in Kapstadt ein Flugzeug und fliegen ein bisschen rum.»

«Rumfliegen?»

Ich hatte endlich meine Sprache wiedergefunden.

«Joachim hat den Pilotenschein für zweimotorige Propellermaschinen. Und das Geld wird uns ja dank Heinz-Peter nicht so schnell ausgehen.»

Meine Mutter war mal wieder vollkommen überfordert. Sie mag es nicht, wenn’s anders kommt. Sie liebt noch nicht einmal schöne Überraschungen. «Der Puter ist schon aufgegessen», sagte sie hilflos, «aber der Nachtisch müsste für alle reichen.»

«Keine Panik, Hildchen. Wir essen nichts, wir trinken nur. Ist besser für die Figur und die Stimmung. Wir wollten schon früher hier sein, aber auf der Fahrt gab es einen ‹Personenschaden›, wie der Zugbegleiter feinfühlig sagte. Da hat sich jemand auf die Gleise geworfen und damit den ganzen Verkehr lahmgelegt. Ich habe ja nichts gegen den Freitod, aber dass man so viele andere Leute mit den eigenen Problemen behelligt, finde ich rücksichtslos. Und dann auch noch diese Schmierage, die irgendwelche armen Menschen wegmachen müssen.»

«Ich kümmere mich dann mal um die Nachspeise», sagte meine Mutter und floh in die Küche. Sie hat einen empfindlichen Magen. Katrin und mein Vater versprachen spontan ihre Hilfe, und Dietmar beschloss, mal kurz nach den Kindern zu sehen.

«Warum hast du mir von alldem nichts erzählt?»

Ich war zunehmend beleidigt, dass Rosemarie mich nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Dabei wusste ich genau, dass sie zu blitzschnellen Entschlüssen neigte. Ihre Trekking-Tour in Vietnam, die Hochzeit mit Heinz-Peter, der erste Joint am Vorabend ihres siebzigsten Geburtstages: All das hatte ich erst kurz vorher oder lange nachher erfahren.

Ich hatte mich mühsam daran gewöhnt, dass sie tut, was sie für richtig hält, und sagt, was sie meint. Sie verabscheut schlecht erzogene Kinder und Männer, die nicht in Würde, sondern nur in Begleitung einer zwanzigjährigen Gespielin alt werden können.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie Tante Rosemarie bei einem Ladies Lunch eine Runde reich verheirateter Damen gegen sich aufbrachte, als sie meinte: «Wer seine Miete nicht selber zahlen kann, für den ist Freiheit ein leeres Wort.» Wie auf Kommando zückten die Damen indigniert ihre Kroko-Börsen und verlangten die Rechnung. Es ist nicht so, dass Rosemarie unfreundlich sein will. Sie will bloß keine Zeit verlieren.

«Wenn du einen Großteil deines Lebens hinter dir hast, verschwendest du deine Zeit nicht mehr mit den falschen Leuten oder vertagst Probleme, deren Lösung dir unangenehm, aber bekannt ist.»

Ihr Eigensinn ist nicht immer leicht zu ertragen, und an diesem Heiligabend starrte ich grimmig auf Joachims Füße, als seien sie für alles verantwortlich.

«Ach, Liebchen, jetzt mach doch nicht so ein Gesicht. Komm, trink noch ein Glas Champagner.»

«La Grande Dame», stand auf dem Etikett der Flasche. Ich war auf einmal eifersüchtig, denn normalerweise tranken Rosemarie und ich diesen aberwitzig teuren Jahrgangschampagner nur, wenn wir uns im Januar zu unserer Jahresvorschau trafen.

«Wann haben Sie denn eigentlich meine Tante kennengelernt, Herr …», hörte ich mich mit Gouvernantenstimme fragen. Igitt, wie eklig ich sein konnte. Fehlte nur noch, dass ich ihn fragte, ob seine Absichten denn auch ehrenhaft seien.

Aber Joachim lächelte gutmütig und zog es vor, zu schweigen. So gut schien er meine Tante schon zu kennen. Sie liebt es nämlich zu antworten, ohne gefragt worden zu sein.

«Liebchen, hör auf, dich wie meine Anstandsdame zu benehmen. Ich war dreimal verheiratet, habe eine Kreuzfahrt auf der ‹MS Europa› und einen Weltkrieg überlebt. Ich kann also auf mich selbst aufpassen. Erzähl mir lieber von Franks Heiratsantrag. Ich bin übrigens wahnsinnig stolz auf dich, dass du nicht sofort Ja gesagt hast. Was ich allerdings nach wie vor nicht verstehe, ist, warum du überhaupt so dringend darauf gewartet hast.»

«Weil ich altmodisch bin, zumindest bei diesem Thema. Eine Frau will gefragt werden.»

«Unsinn! Nur dumme Frauen wollen gefragt werden. Die kluge Frau fragt selbst. Es ist in Ordnung, wenn du dir den Stuhl unter den Po schieben oder dich über die Schwelle tragen lässt. Und von mir aus kann dein Mann auch die Nabelschnur eures Kindes durchtrennen. Bei symbolischen Handlungen kann man ruhig altmodisch sein. Aber du hättest doch auch nicht acht Jahre gewartet, bis dein Chef dir freiwillig eine Gehaltserhöhung angeboten hätte. Den hast du auch selbst gefragt. Wenn es um dein Leben und deine Zukunft geht, solltest du lieber handeln als warten.»

«Wenn du so modern bist: Warum hast du dann eine Abfindung von einer Million von Heinz-Peter angenommen?»

Ich suchte Streit, aber Tante Rosemarie schenkte sich lieber «La Grande Dame» nach.

«Ach, Liebchen, das ist eine spezielle Geschichte, die du irgendwann verstehen wirst. Eine Frau und eine Million weniger – aber der Gedanke, das Ganze könnte irgendwas mit ihm zu tun haben, ist dem armen Heinzelmann immer noch nicht gekommen.»

«Aber du hast doch immer gesagt, wenn keine minderjährigen Kinder im Spiel sind, sollte es weder Unterhalt noch Abfindungen geben.»

«Das ist auch immer noch meine Meinung. Diese schrecklichen Frauen, die jammern: ‹Ich habe ihm die besten Jahre meines Lebens geschenkt, und dafür soll er jetzt zahlen.› Selber schuld! So etwas Kostbares verschenkt man doch auch nicht. Und wenn die Damen in diesen besten Jahren ihr Handicap verbessert, Business-Partys organisiert und der Putzfrau gesagt haben, wo sie nochmal nachwischen soll – meine Güte, dann können die Jahre doch auch nicht so schlecht gewesen sein. Wozu also eine finanzielle Entschädigung?»

«Und was machst du jetzt mit Heinz-Peters Million, die du doch eigentlich gar nicht haben willst?»

«Das bleibt vorerst mein Geheimnis.»

«Du willst mich also wieder mal überraschen?»

Ich lachte und nahm ihre Hand. Ich war nur noch froh, den Heiligabend mit meiner Tante Rosemarie verbringen zu können.

Heute wünschte ich, ich hätte ihr in dieser Nacht die Fragen gestellt, mit denen ich mich jetzt so alleingelassen fühle. Heute wünschte ich, ich hätte sie gebeten, zu bleiben, mir zur Seite zu stehen, mich nicht zu verlassen und schon gar nicht für immer.

Um drei Uhr morgens standen wir frierend vor der Haustür. Es hatte zu schneien begonnen, und es gab seit vielen Jahren die ersten weißen Weihnachten. Der Rest der Familie schlief schon lange. Joachim brachte die Koffer zum Taxi, und Tante Rosemarie und ich hielten uns an den Händen.

Meine schmale, zarte, energische Tante wirkte inmitten der Schneeflocken wie schwerelos. Als würde sie selbst gleich in den stillen Nachthimmel gewirbelt.

«Ich wünsche dir eine wunderbare Reise.»

«Ich glaube, es wird die schönste meines Lebens.»

Wir küssten uns auf beide Wangen. Ihre Augen glänzten. Als schwämmen sie in Tränen.

Das wird an der Kälte liegen, dachte ich, als ich ins Wohnzimmer ging, um die Kerzen am Baum zu löschen.

Ich mag ihr Grab nicht verlassen – obwohl es leer ist und das hässlichste weit und breit. Ich fühle mich hier in guter Gesellschaft. Und mir graut vor dem Leichenschmaus im engsten Familienkreis.

Meine Mutter hatte eine Ecke in einem Lokal reserviert, das Trauergesellschaften zehn Prozent Rabatt gewährte. Man würde sich gegenseitig versichern, wie sehr man Tante Rosemarie geschätzt und dass sie einen so grauenvollen Tod nicht verdient habe.

Nach der Vorspeise, das weiß ich jetzt schon, werden sie alle wieder über ihre Krankheiten, die Schulnoten der Kinder und die Spritpreise reden.

Katrin war schon vor der Trauermesse von Weinkrämpfen geschüttelt worden. Immer wieder hatte sie schluchzend erzählt, wie nah Rosemarie und sie sich gestanden hätten und wie intensiv ihre Gespräche am letzten Abend vor der tragischen Reise gewesen wären.

«Ich habe wirklich den Hauch des Todes gespürt. Ich wollte aber nichts sagen, um niemanden zu verunsichern. Es ist wirklich kein einfaches Schicksal, diese Ahnungen zu haben. Man braucht dafür eine unglaubliche Empfindsamkeit.»

Ich musste mich sehr zurückhalten, sie nicht zu erinnern, dass sie bereits eine Stunde nach Rosemaries Auftauchen zu Bett gegangen war und sich am nächsten Morgen ausführlich über unangekündigte Besuche zu später Stunde empört hatte. Und dann hatte sie noch einen Vortrag gehalten über die Taktlosigkeit, diesen Joachim anzuschleppen, einen so viel jüngeren Mann, den sie kaum kannte. «Bloß gut, dass die Kinder schon im Bett waren.»

Als wir hinter dem Sarg hergingen, hatte ich sie zu meinem Bruder sagen hören: «Ich verstehe nicht, warum wir sie hier in Berlin und nicht in Wiesbaden beerdigen. Wer bezahlt denn jetzt die Grabpflege? In Wiesbaden hätte unser Au-pair-Mädchen sich um das Grab kümmern können. Und sag mal, Papabär, was ist eigentlich mit der Million von Heinz-Peter? Sind wir da erbberechtigt? Justus wünscht sich doch so sehr ein eigenes Reitpferd.»

Als Katrin wenige Minuten später ans Grab getreten war, um ihren mickrigen Blumenstrauß hineinzuwerfen, musste sie von ihrem Mann gestützt werden.

Ich schlendere noch ein wenig über den Friedhof und bin froh, dass Tante Rosemarie hier in Berlin beerdigt worden ist. Sie hätte es grauenvoll gefunden, in Wiesbaden womöglich neben ihrem ersten Mann Hans Kramer beigesetzt zu werden. «Ich weiß noch», hatte sie mir einmal amüsiert erzählt, «wie pietätlos es die Familie von Hans fand, dass ich nach seinem frühen Tod kein Doppelgrab genommen habe. Aber was gibt es Schrecklicheres, als mit Mitte fünfzig schon zu wissen, neben wem man beerdigt sein will? Und ganz besonders, wenn dieser Jemand bereits tot ist.»

Und jetzt ruht meine Tante unweit von Johannes Rau, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Helene Weigel und Ernst Litfaß, dem Erfinder der Litfaßsäule. Ja, das hätte ihr gut gefallen.

 

Ich habe das Zeitgefühl verloren. Die anderen sind bestimmt schon bei der Nachspeise.

Ich rede mir ein, dass ich unbedingt noch die Gräber von Brecht und der Weigel sehen will. Mit Brecht habe ich mich zum letzten Mal während meiner Schulzeit beschäftigt und ihn seither keine Sekunde vermisst. Aber ich will Zeit schinden, um den Leichenschmaus zu verkürzen.

Nach ein paar Minuten habe ich die beiden gefunden. Zwei graue Natursteine, auf denen nur die Namen stehen. Das einzig Ungewöhnliche an dem Doppelgrab ist die Frau, die davor kniet und kotzt.

 

«Kann ich Ihnen helfen?», frage ich befangen. Die Frau trägt einen schwarzen Mantel, und unter ihrem schwarzen Kopftuch schauen blonde Haare hervor. Ob ihr die plötzliche Erkenntnis über die Endgültigkeit des Todes von Herrn Brecht auf den Magen geschlagen ist? Man weiß es ja nie bei diesen Intellektuellen.

«Kann ich Ihnen helfen?», frage ich noch einmal etwas lauter.

Die Frau dreht sich um – und ich blicke in das grüne Gesicht meiner Cousine Leonie.

«Was ist mit dir?»

«Mir ist übel.»

«Das sieht man. Was ist denn los?»

«Ach nichts. Also eigentlich nichts. Es ist nur, weil … Ich bin schwanger und habe keine Ahnung, von wem!»

Leonie stürzt sich schluchzend auf mich. Und ehe ich etwas anderes denken kann, denke ich, dass auf meinem nachtblauen Wollmantel die Reste des Erbrochenen sicher sehr gut sichtbar sein werden. Und für diesen Gedanken schäme ich mich sogleich ungeheuerlich.

Leonie Goldhausen habe ich immer als eines der angenehmsten Mitglieder unserer Familie empfunden. Sie ist die jüngste Tochter meines Onkels Arnold, der mit einem Getränkegroßhandel ein stattliches Vermögen gemacht hat. Nach dem Abitur war sie ein Jahr auf Weltreise gegangen und hatte diverse Studiengänge ausprobiert. Zuletzt hieß es, dass sie in Goa eine Tauchschule eröffnen wollte. Mein Vater ließ sich daraufhin ausführlich über Kinder, die ihren Eltern bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf der Tasche liegen, aus. «Mein Bruder Arnold ist reich und schwach, eine sehr ungünstige Kombination. Er hat Leonie von Anfang an viel zu sehr verwöhnt. Jetzt ist sie neunundzwanzig und noch immer flatterhaft wie ein Teenager.»

Mein Vater begriff nicht, dass Onkel Arnold mit zu viel Geld und zu viel Nachsicht sein schlechtes Gewissen betäuben wollte. Er hatte sich früh von Leonies Mutter getrennt und einen Gierlappen namens Manuela geheiratet, die keiner von uns ausstehen konnte – am wenigsten Leonie.

Manuela hatte sich mit dem Geld ihres Mannes einen Platz in der Wiesbadener Gesellschaft erkauft, wo sie zwar als stillose Neureiche galt, was aber niemanden nachhaltig störte, weil sie Gartenpartys mit Feuerwerk veranstaltete und dem Golfclub einen Außenpool spendiert hatte. Seit ihrem Aufstieg hatte sich Manuela ausgebeten, nur noch mit Manou angesprochen zu werden, und zwar mit dieser leicht lasziven Betonung der Endsilbe, was in etwa so gut zu ihr passt, als würde man ein Rhinozeros «Fee» taufen.

Leonie hockt mit bebenden Schultern und rotfleckigem Gesicht vor mir und bringt kaum einen verständlichen Satz raus. Wir sitzen in einem Lokal in Friedhofsnähe. Sie trinkt Tee, ich habe mich in Anbetracht der Umstände für einen Grog mit doppeltem Rum entschieden. Schließlich war meine Tante unter erschreckenden Umständen gestorben und meine Cousine unter erschreckenden Umständen schwanger geworden. Das ist mehr, als ich heute ohne Alkohol ertragen kann.

«Bitte nochmal der Reihe nach. Du warst bis vor vier Wochen in Goa, um eine Tauchschule zu eröffnen, und bist schwanger. Und warum weißt du nicht, von wem?»

«Weil ich in der fraglichen Zeit mit ungefähr drei Männern geschlafen habe.»

Ich schlucke beschämt. In meinem ganzen Leben gab es noch keinen Monat, in dem ich mit «ungefähr» drei Männern geschlafen habe. Und was heißt eigentlich «ungefähr»?

«Was meinst du mit ‹ungefähr›?»

«Na ja, ich war ein paarmal ziemlich betrunken und bin mir nicht ganz sicher, ob es zum Äußersten gekommen ist. Außerdem gibt es in Goa nicht an jeder Ecke Kondomautomaten.»

«Und wer sind die drei potentiellen Väter?»

«In Goa werden nach dem Sex keine Visitenkarten ausgetauscht. Ich kann mich grad noch an die Vornamen erinnern und ob der Typ ein Tattoo hatte oder nicht.»

«Und weißt du schon, ob du das Kind bekommen willst?»

«Ich bin zu alt, um abzutreiben. Vielleicht werde ich nie wieder schwanger, und das würde ich mir mein ganzes Leben lang vorwerfen.»

«Leonie, du bist neunundzwanzig!»

«Eben.»

«Und wie soll es jetzt weitergehen?»

«Wenn ich das bloß wüsste! Ich wohne seit zwei Wochen bei meinem Vater, aber da will ich wegen Manuela auf keinen Fall bleiben. Ich kann mir gut vorstellen, dass meine morgendliche Übelkeit nicht am Baby liegt, sondern an ihr. Die Alte ist echt zum Speien.»

«Weiß sonst noch jemand, dass du schwanger bist?»

«Nein, du bist die Einzige.»

«Im wievielten Monat bist du?»

«Im vierten.»

«Dann kannst du es sowieso nicht mehr lange geheim halten. Wann ist denn der Geburtstermin?»

«Zwölfter Juli.»

«Das gibt es ja gar nicht, das ist mein Geburtstag!»

Es ist absolut lächerlich, aber ich bin plötzlich zutiefst bewegt und fühle mich mit diesem ungeborenen Wesen auf seltsame Weise verbunden. Meine mütterlichen Gefühle – für Leonie und für ihr Kind – sind noch viel, viel stärker, als ich sie für alle meine Kaninchen, meine Wellensittiche und selbst für die von mir über alles geliebte Schildkröte Isabelle empfunden habe. Ja, dieses Goldhausen-Baby muss geboren werden!

«Weißt du schon, was es wird?»

Ich habe tatsächlich einen riesenhaften Tränenkloß im Hals. Leonie schüttelt den Kopf.

«Warst du regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen?»

Leonie schüttelt wieder den Kopf.

«Spinnst du? Das muss sofort anders werden! Ich mache dir sofort einen Termin bei meinem Frauenarzt.»

«Aber du lebst doch in Hamburg.»

«Und genau da fahren wir jetzt hin. Ich habe den perfekten Vater für dein Kind. Nun ja, genau genommen sind es sogar zwei Väter.»

Das Klassentreffen mit Küppi Kanak an meiner Seite war ein wahres Fest geworden.

Wir hatten uns wiedergefunden, und das Schönste war, wir lebten beide in Hamburg.

«Das gibt es doch gar nicht!», hatte Küppi geschrien, als wir herausfanden, dass wir sogar im selben Stadtteil wohnen. «Goldi, mein Hase, ich habe mich so oft gefragt, was aus dir wohl geworden ist. Du warst meine einzige Freundin, weißt du das? Ich war dick, du warst hässlich – so was schweißt zusammen.»

«Stimmt es eigentlich, dass du damals in die fiese Fricke verknallt warst?»

«Aber Schätzchen, im Inneren wusste ich schon damals, dass ich schwul bin. Meine geheime Flamme war Werner. Und ich muss dir ehrlich sagen, wenn er nicht so einen indiskutablen Arsch bekommen hätte, hätte ich heute Abend für nichts garantiert.»

«Du bist Single?»

«Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?»

«Ach, mein Küppi Kanak, ich freue mich auf die Zeit mit dir in Hamburg.»

«Du bist wirklich die Einzige, die mich noch Küppi Kanak nennen darf.»

«Entschuldige, aber ich habe komplett vergessen, wie du wirklich heißt.»

«Darf ich mich vorstellen? Ich bin dein alter, neuer Freund Erdal Küppers.»

Als zu fortgeschrittener Stunde die Turnhalle zur Achtzigerjahre-Disco wurde, gab es für Erdal kein Halten mehr.

Er zog mich auf die Tanzfläche und rotierte wie ein außer Kontrolle geratenes Kinderspielzeug durch die Halle, während ich mich mit zögerlichen Schrittchen kaum von der Stelle bewegte. Die eine Hand im Nacken, die andere auf dem Bauch wie John Travolta zu «You’re the one that I want», betanzte er Elsbeth Strecker, als wolle er sie hier und jetzt begatten. Elsbeth zierte sich zunächst etwas.

Das war aus meiner Sicht verständlich, hatte sie doch noch kurz zuvor mit ihrer Lebensleistung angegeben, die sie als Mutter von vier Kindern erbracht hatte.

«Die hast du alle vier persönlich ausgetragen und gestillt?», hatte Erdal gefragt. «Grundgütiger, Elsbeth, da möchte ich lieber nicht wissen, wie deine Brüste aussehen.»

Aber Erdal war offensichtlich nicht der Typ, dem man lange etwas übelnehmen konnte. Was sicherlich auch daran lag, dass er sich selber überhaupt gar nichts übelnahm und tatsächlich keine seiner herzlichen Beleidigungen böse meinte.

Alle liebten ihn an diesem Abend, und er sich selbst am meisten. Sogar Flittchen-Fricke tanzte nach einer Weile wie absichtslos in Erdals Nähe und war glücklich, als er sie zweimal drehte und dann sehr plötzlich bei «I want your sex» von George Michael losließ, um auf unseren erschrockenen und gleichzeitig geschmeichelten Physiklehrer Müllges loszuwirbeln, immer wieder fröhlich rufend: «I love this man!»

Erdal spielte Luftgitarre zu Bryan Adams, Luftschlagzeug zu Deep Purple und Luftklavier zu Elton John. Er sang jedes Lied mit, und das teilweise doch recht falsch. Er war dabei aber so von sich und der Richtigkeit seiner Version überzeugt, dass man geneigt war, zu vermuten, der Interpret habe sich bei seinem eigenen Text vertan.

Seine erstaunlich feinen Hände legte er dabei auf jedes Hinterteil, das ihm in die Quere kam, und beim Engtanz zu «How deep ist your love?» von den Bee Gees drückte er unsere ehemalige Religionslehrerin so innig, dass ich um die Gesundheit ihrer betagten und womöglich künstlichen Hüften fürchtete.

Es war ein großartiger Abend. Gegen vier Uhr morgens stand ich müde und glücklich vor meiner ehemaligen Schule und wartete auf ein Taxi. Jemand legte mir den Arm um die Schulter und nuschelte in mein Ohr: «Wolln wir uns ’n Taxi teiln?»

«Musst du denn in meine Richtung?»

«Nee, würd ich aber gern.»

«Ach, lass mal.» Ich stieg ins Taxi ein, winkte Werner Degenhardt mitsamt seinem Tränen-Arsch freundlich zu und ließ meine Vergangenheit einfach stehen.