14

Angst erfasste mich, und Kisten, der sie spüren konnte, atmete scharf ein, als hätte ich ihn geschlagen. Ich erstarrte und erkannte seinen zunehmenden Hunger. Also hatte ich mehr zu fürchten als die Männer, die den Landungssteg hinunterpolterten. Mit klopfendem Herzen stieg ich ins Auto.

Kisten gab mir meinen Mantel und seine Schlüssel. Meine Tür knal te zu, und während er vor seinem Auto vorbeiging, rammte ich den Schlüssel ins Zündschloss. Kisten stieg ein und startete den Wagen.

Die drei Männer hatten ihre Richtung geändert und liefen nun zu einem alten BMW. »Damit werden sie uns nie kriegen«, spottete Kisten. Er legte den Gang ein und schaltete die Scheibenwischer ein, um den Schnee herunterzuwischen. Ich stützte mich am Armaturenbrett ab, als er beschleunigte. Wir schlitterten auf die Straße und überfuhren eine gelbe Ampel. Ich schaute nicht zurück.

Kisten wurde langsamer, als der Verkehr zunahm, und mit hämmerndem Herzen rutschte ich in seinen Mantel und schnal te mich an. Er stel te die Heizung auf vol , aber sie stieß nur kalte Luft aus. Ich fühlte mich nackt ohne meine Amulette. Verdammt, ich hätte etwas mitnehmen sol en

-aber es war ja angeblich nur ein Date gewesen!

»Es tut mir leid«, sagte Kisten, während er plötzlich nach links abbog. »Du hattest recht.«

»Du Idiot!«, schrie ich, und meine Stimme klang im engen Innenraum des Autos rau. »Triff niemals meine Entscheidungen für mich, Kisten. Diese Männer hatten Knarren, und ich hatte nichts!«

Die Aufregung ließ mich heftiger reagieren als ich eigentlich wol te, und ich warf ihm einen Blick zu, plötzlich ernüchtert, weil ich mich an das Schwarz seiner Augen erinnerte, als er meine Angst gespürt hatte. Er mochte harmlos aussehen, mit seinem italienischen Anzug und seinen nach hinten gekämmten Haaren - aber das war er nicht. In einer Zehntelsekunde konnte seine Stimmung kippen. Gott, was tat ich hier?

»Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut«, betonte Kisten wieder. Er wandte seinen Blick nicht von der Straße ab, während erleuchtete, durch den Schneefal verschwommene Gebäude an uns vorbeiglitten. In seiner Stimme lag mehr als nur ein Hauch von Ärger, und mir schien es sicherer, ihn nicht mehr anzuschreien, auch wenn ich immer noch wütend und zittrig war. Außerdem kroch er nicht vor mir und bettelte um meine Vergebung, und tatsächlich war die selbstbewusste Art, mit der er seinen Fehler einräumte, zur Abwechslung auch mal ganz nett.

»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte ich säuerlich, noch nicht bereit, ihm zu vergeben, aber auch nicht mehr in der Stimmung, darüber zu reden.

»Scheiße.« Sein Kiefer verspannte sich, als er in den Rückspiegel schaute. »Sie folgen uns immer noch.«

Ich zuckte zusammen, aber es gelang mir, mich nicht umzudrehen und nachzusehen. Ich gab mich damit zufrieden, den Seitenspiegel zu benutzen. Kisten bog scharf nach rechts ab, und meine Lippen öffneten sich ungläubig.

Die Straße vor uns war leer und verglichen mit den Lichtern und der Geschäftigkeit hinter uns ein dunkler, öder Tunnel.

»Was tust du?«, fragte ich mit einem Hauch von Furcht in der Stimme.

Seine Augen waren immer noch auf die Straße hinter uns gerichtet, als vor uns plötzlich ein dunkler Cadil ac auftauchte, sich querstel te und die Straße versperrte.

»Kisten!« Brül end stützte ich meine Hände gegen das Armaturenbrett. Mir entfuhr ein weiterer Schrei, als er fluchte und das Lenkrad herumriss. Mein Kopf schlug gegen das Fenster, und ich unterdrückte einen Schmerzensschrei. Mit angehaltenem Atem fühlte ich, wie unsere Räder die Bodenhaftung verloren und wir auf dem Eis ins Rutschen gerieten. Immer noch fluchend reagierte Kisten mit seinen Vamp-Reflexen und kämpfte mit dem Auto. Die kleine Corvette bewegte sich noch ein Stück, bis sie gegen den Randstein schlug und zum Stehen kam.

»Bleib im Auto.« Er griff nach der Tür. "Vier Männer in dunklen Anzügen stiegen aus dem Cadil ac vor uns. Drei waren in dem BMW hinter uns. Wahrscheinlich al es Hexen, und ich saß hier und hatte nur ein paar Eitelkeitszauber dabei. Das wird in der Todesanzeige wirklich gut aussehen.

»Kisten, warte!«

Mit einer Hand an der Tür drehte er sich um. Meine Brust wurde eng, als ich die Schwärze seiner Augen sah. Oh Gott, er war vol kommen vampirisch.

»Es wird al es gut gehen«, sagte er, und seine Stimme war ein dunkles, reiches Rumpeln wie schwarze Erde, das direkt zu meinem Inneren vordrang und mein Herz ergriff.

»Woher weißt du das?«, flüsterte ich.

Eine blonde Augenbraue hob sich so geringfügig, dass ich mir nicht mal sicher war, ob sie sich überhaupt bewegt hatte.

»Weil ich, wenn sie mich töten, zurückkommen und sie jagen würde. Sie wol en - reden. Bleib im Auto.«

Er stieg aus und schloss die Tür. Der Motor lief noch, und mit dem leisen Brummen verkrampften sich meine Muskeln einer nach dem anderen. Pudriger Schnee fiel auf die Windschutzscheibe, nur um dort zu schmelzen, und ich schaltete die Scheibenwischer aus. »Bleib im Auto«, murmelte ich vor mich hin und zappelte herum. Ich warf einen Blick hinter mich und sah, wie die drei Kerle aus dem BMW näher kamen. Kisten war deutlich zu sehen, als er vor seinen Scheinwerfern vorbeiging und sich den vier Männern mit ausgestreckten Handflächen näherte. Er wirkte vol kommen lässig, aber ich wusste, dass das nur aufgesetzt war. »Zum Teufel mit im Auto bleiben«, beschloss ich, packte den Türgriff und schob mich in die Kälte.

Kisten drehte sich um. »Ich habe dir doch gesagt, du sol st im Wagen bleiben«, zischte er, und als ich die Härte in seinem Gesicht sah, musste ich einen Anfal von Furcht unterdrücken.

»Ja, hast du«, schoss ich zurück und zwang meine Arme nach unten. Es war kalt und ich zitterte.

Er zögerte; es war deutlich, dass er hin und her gerissen war. Die sich nähernden Männer verteilten sich, bis wir umzingelt waren. Ihre Gesichter waren selbstsicher. Al es, was sie jetzt noch brauchten, war ein Schläger oder eine Brechstange, um sie gegen ihre Handfläche klatschen zu lassen, und das Bild wäre perfekt. Aber sie waren Hexen. Ihre Kraft lag in ihrer Magie.

Mein Atem ging langsam, und ich setzte mich in Bewegung. Ich fühlte, wie das Adrenalin sich in mir regte, als ich vorwärtsging, in das Scheinwerferlicht trat und mich mit dem Rücken zu Kisten stel te.

Der schwarze Hunger in seinen Augen schien einen Moment zu verschwinden. »Rachel, bitte warte im Auto«, wiederholte er, und seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Das wird nicht lange dauern, und ich wil nicht, dass dir kalt wird.«

Er wil nicht, dass mir kalt wird?, dachte ich und beobachtete, wie die drei Kerle aus dem BMW sich so verteilten, dass sie einen lebenden Zaun bildeten. »Hier sind sieben Hexen«, sagte ich leise. »Es braucht nur drei, um ein Netz zu wirken und eine, um das Netz zu halten, sobald es errichtet ist.«

»Das ist wahr, aber ich brauche nur drei Sekunden, um einen Mann fertigzumachen.«

Die Männer in meinem Sichtfeld zögerten. Es gab einen Grund, warum die I.S. nie Hexen einsetzte, um Vampire zu verhaften. Sieben gegen einen würde viel eicht funktionieren, aber nicht ohne dass jemand ernsthaft verletzt wurde.

Ich riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass die vier Kerle aus dem Cadil ac den Mann im langen Mantel anstarrten, der aus dem BMW gestiegen war. Anführer, dachte ich. Ich fand, er war zu selbstsicher, als er seinen Mantel zurechtrückte und den Männern um uns herum mit dem Kopf ein Zeichen gab. Zwei vor Kisten traten vor, während die anderen drei sich zurückfal en ließen. Ihre Lippen und Hände bewegten sich. Meine Nackenhaare stel te sich auf, als plötzlich die Kraft um uns herum zunahm.

Mindestens drei Kraftlinienhexen, vermutete ich und erstarrte, als einer der sich nähernden Männer eine Pistole zog. Mist. Kisten konnte viel eicht von den Toten auferstehen, aber ich nicht.

Kisten bewegte sich, und ich zuckte zusammen. Im einen Moment war er neben mir, im nächsten zwischen den Männern. Ich hörte das Geräusch eines Schusses. Hastig duckte ich mich, womit ich mich selbst durch die Scheinwerfer der Corvette blendete. Zusammengekauert konnte ich gerade noch sehen, dass ein Mann auf dem Boden lag, aber es war nicht der mit der Knarre.

Die Kraftlinienhexen umkreisten uns und gestikulierten, fast unsichtbar in der Hel igkeit. Ihr Netz verstärkte sich, als sie einen Schritt näher traten. Meine Haut kribbelte, als das Gespinst über uns fiel.

Kisten bewegte sich zu schnel , um ihm mit den Augen folgen zu können, und schnappte sich das Handgelenk des Mannes mit der Pistole. Das Knacken von Knochen war in der kalten, trockenen Luft klar zu hören. Mein Magen hob sich, als der Mann aufstöhnte und auf die Knie fiel. Kisten ließ noch einen heftigen Schlag auf seinen Kopf folgen. Jemand schrie. Die Pistole fiel, und Kisten fing sie auf, bevor sie den Boden berührte.

Ohne mich anzusehen warf Kisten mir die Pistole zu, und das schwere Metal landete in meiner Hand.

Überraschenderweise war es heiß. Es folgte ein zweiter Schuss, und ich erschrak. Die Pistole fiel in den Schnee.

»Schnappt euch die Waffe!«, rief der Mann in dem langen Mantel vom Rand aus.

Ich warf einen kurzen Blick über die Motorhaube der Corvette und sah, dass auch er eine Pistole hatte. Meine Augen weiteten sich, als ich den großen Schatten eines Mannes auf mich zukommen kam. In seiner Hand lag eine orangefarbene Kugel aus Jenseitsenergie. Ich keuchte, als er lächelte und sie auf mich warf.

Ich knal te auf die Straße und landete unsanft auf dem schneebedeckten Eis. Das Jenseits explodierte in einer Wolke aus nach Schwefel riechenden Funken, als die Kugel auf Kistens Auto auf- und wieder abpral te. Kalter Matsch sog sich in meine Kleidung, und der Schock machte meinen Kopf klar.

Ich presste beide Handflächen gegen die Straße und schob mich hoch. Meine Kleider . . meine Kleider! Meine seidengefütterten Hosen waren über und über bedeckt mit reckigem grauem Schnee.

»Seht, wozu ihr mich gebracht habt!«, schrie ich wutentbrannt, als ich den kalten Schlick abschüttelte.

»Du Hurensohn!«, brül te Kisten plötzlich, und ich wirbelte herum, um zu sehen, dass drei der Hexen in einem Kreis um ihn herumlagen. Der eine, der die Jenseitskugel geworfen hatte, machte eine schmerzerfül te Bewegung, und Kisten trat wild auf ihn ein. Wie war er da so schnel hingekommen?

»Du hast meinen Lack verbrannt, du Arsch!«

Während ich hinsah, veränderte sich von jetzt auf gleich Kistens gesamtes Auftreten. Überirdisch schnel sprang er die am nächsten stehende Kraftlinienhexe an. Die Augen des Mannes weiteten sich, aber zu mehr hatte er keine Zeit mehr.

Kisten rammte ihm die Faust ins Gesicht, sodass es ihm den Kopf nach hinten riss. Ein ekelhaftes, knirschendes Geräusch ertönte, und die Hexe fiel in sich zusammen. Mit hängenden Armen fiel er einfach nach hinten um und rutschte dann mit Schwung in die Scheinwerfer des Cadil acs.

Kisten flog herum, bevor seine Faust zum Stil stand gekommen war, und landete vor dem Nächsten. Seine edlen Schuhe rammten sich in die Knie der überraschten Hexe. Der Mann schrie auf, als seine Beine wegknickten. Das Gebrül endete abrupt, als Kisten ihm den El bogen gegen die Kehle rammte. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Knacken von Knorpel und dem Gurgeln des Mannes.

Die dritte Hexe wandte sich zur Flucht. Fehler. Richtig böser Fehler.

Kisten legte die drei Meter zwischen ihnen in einem halben Herzschlag zurück. Er schnappte sich die fliehende Hexe und riss ihn im Halbkreis herum, ohne dabei den Arm des Mannes loszulassen. Das Geräusch, als das Schultergelenk ausgerenkt wurde, traf mich wie eine Ohrfeige. Ich legte eine Hand auf meinen Bauch; mir war übel. Es hatte nur einen Moment gebraucht, nicht mehr.

Kisten blieb in aggressiver Haltung ungefähr zwei Meter vor der letzten Hexe stehen, die noch auf den Beinen stand.

Mich schauderte, und ich musste daran denken, wie Ivy mich einmal so angesehen hatte. Er hatte eine Pistole, aber ich glaubte nicht, dass ihm das helfen würde.

»Wil st du mich erschießen?«, knurrte Kisten.

Der Mann lächelte. Ich fühlte, wie er eine Linie anzapfte, und wol te einen warnenden Schrei ausstoßen.

Kisten schoss nach vorne und umfasste die Kehle der Hexe. Die Augen des Mannes traten hervor, als er um Luft rang. Die Pistole fiel zu Boden, und seine Arme hingen hilflos nach unten. Kistens Schultern spannten sich an, und die Aggression, die er ausstrahlte, war fast greifbar. Ich konnte seine Augen nicht sehen, aber der Mann vor ihm konnte es, und er war panisch.

»Kisten!«, rief ich, hatte aber zu viel Angst, um einzugreifen. Oh Gott. Bitte nicht. Ich wil das nicht sehen.

Kisten zögerte, und ich fragte mich, ob er wohl meinen rasenden Puls hören konnte. Langsam, als ob er gegen sich selbst ankämpfen musste, zog Kisten den Mann näher an sich heran. Die Hexe keuchte und kämpfte um Luft. Das Licht der Scheinwerfer glitzerte auf dem Schaum in seinen Mundwinkeln, und sein Gesicht war knal rot.

»Sag Saladan, dass wir uns noch sprechen werden«, knurrte Kisten.

Ich zuckte zusammen, als er den Arm ausstreckte und die Hexe davonfliegen ließ. Der Mann landete an einem kaputten Lampenmast, und der Aufpral ließ den Mast erzittern, sodass plötzlich das Licht anging. Ich hatte Angst mich zu bewegen, als Kisten sich umdrehte. Er sah mich im Scheinwerferlicht des Autos stehen und zögerte. Seine Augen waren immer noch schrecklich schwarz, als er ein wenig Schnee von seinem Mantel wischte.

Angespannt wandte ich den Blick von ihm ab, um gleichzeitig mit ihm das Gemetzel um uns herum in mich aufzunehmen, das von drei Paar Scheinwerfern und einer Straßenlampe hel erleuchtet wurde. Überal lagen Männer.

Der mit der ausgerenkten Schulter hatte sich übergeben und versuchte, zu einem Auto zu kommen. Ein Stück weit die Straße runter bel te ein Hund, und ein Vorhang bewegte sich an einem erleuchteten Fenster.

Ich legte mir wieder eine Hand an den Bauch; die Übelkeit ließ einfach nicht nach. Ich war erstarrt. Oh Gott, ich war erstarrt und unfähig gewesen, etwas zu tun. Ich hatte mich vor die Hunde gehen lassen, seitdem ich keine Todesdrohungen mehr bekam. Aber ich würde immer ein Angriffsziel sein, wegen dem, was ich tat. s Kisten setzte sich in Bewegung. Das Blau um seine Augen war nur ein dünner Rand. »Ich hatte dir gesagt, du sol st im Auto bleiben«, knurrte er, und ich versteifte mich, als er meinen El bogen nahm und mich zu seiner Corvette führte.

Ich wiedersetzte mich nicht, weil ich mich taub fühlte. Er war nicht auf mich wütend, und ich wol te ihn nicht noch mehr auf mein rasendes Herz und meine unterschwel ige Angst aufmerksam machen. Aber ein warnendes Kribbeln stoppte mich. Ich befreite mich aus Kistens Griff, drehte mich um und suchte mit weit offenen Augen.

Von seinem Platz unter der Laterne aus sah mich der übel zugerichtete Mann mit schmerzverzerrtem, hässlichem Gesicht an. »Du verlierst, Miststück«, sagte er und sprach dann ein fremdartiges Wort auf Latein aus.

»Pass auf!«, schrie ich und schubste Kisten von mir weg.

Er stolperte nach hinten und fing sich mit vampirischer Eleganz. Ich fiel um, als meine Stiefel wegrutschten. Ein roher Schrei erschütterte mich. Mit rasendem Herzen kam ich wieder auf die Beine und sah zuerst Kisten an. Er war in Ordnung. Es war die Hexe.

Meine Hand fuhr zu meinem Mund. Ich war entsetzt, als ich sah, wie sich der mit Jenseitsenergie verschmierte Körper auf dem schneebedeckten Gehsteig wand. Angst durchzog mich, als der aufgewirbelte Schnee plötzlich eine rötliche Färbung annahm. Der Mann blutete aus al en Körperporen.

»Gott rette ihn«, flüsterte ich tonlos.

Er kreischte, und das rohe Geräusch brachte in mir eine Urangst zum Klingen. Kisten hastete auf ihn zu. Ich konnte ihn nicht aufhalten; die Hexe blutete und schrie vor Schmerz und Angst. Ich drehte mich weg und stützte mich mit zitternder Hand auf der warmen Motorhaube der Corvette ab. Ich würde mich übergeben. Ich wusste es.

Überrascht hob ich den Kopf, als der Terror und die Schmerzen des Mannes in einem trockenen Knacken ein Ende fanden.

Kisten erhob sich aus der Hocke, und ein schrecklicher, wütender Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Der Hund bel te wieder und erfül te die kalte Nacht mit seiner Warnung. Ein paar Würfel rol ten aus der Hand des Mannes, und Kisten sammelte sie auf.

Ich konnte nicht mehr denken. Kisten war plötzlich neben mir, seine Hand an meinem El bogen und drängte mich zum Auto. Ich ließ ihn mich schieben und war froh, dass er seinen vampirischen Instinkten nicht nachgegeben hatte, während ich mich gleichzeitig fragte, warum nicht. Stattdessen war seine Furcht einflößende Aura fast völ ig verschwunden, seine Augen waren normal und seine Reaktionen nur ein wenig erhöht.

»Er ist nicht tot«, sagte er und gab mir die Würfel. »Keiner von ihnen ist tot. Ich habe niemanden getötet, Rachel.«

Es wunderte mich, dass er sich darum kümmerte, was ich dachte. Ich nahm die Plastikteile entgegen und packte sie so fest, dass meine Finger wehtaten.

»Hol die Pistole«, flüsterte ich. »Meine Fingerabdrücke sind drauf.«

Er zeigte nicht, ob er mich gehört hatte, schob meinen Mantel ins Auto und schloss die Tür.

Der scharfe Geruch von Blut zog meine Aufmerksamkeit nach unten, und ich zwang mich die gebal te Hand zu öffnen.

Die Würfel waren klebrig. Meine Eingeweide verkrampften sich, und ich hielt eine winterkalte Faust vor meinen Mund.

Das war das Paar, das ich im Casino benutzt hatte. Al e hatten gesehen, wie ich sie geküsst hatte; er hatte versucht, sie als Fokusobjekt zu verwenden. Aber ich hatte keine Verbindung zu ihnen aufgebaut, und so war der schwarze Zauber stattdessen zu seinem Macher zurückgekehrt.

Ich starrte aus dem Fenster und versuchte nicht zu hyperventilieren. Das, was da draußen mit verkrampften Gliedmaßen in einem Fleck aus blutigem Schnee lag, sol te eigentlich ich sein. Ich war ein Joker in Saladans Spiel gewesen, und er war bereit gewesen, mich umzubringen, um seinen Männern wieder bessere Chancen zu geben. Und ich hatte überhaupt nichts getan außer zu erstarren, so geschockt wegen meiner fehlenden Amulette, dass ich nicht mal einen Schutzkreis errichtet hatte.

Kisten trat vor die Scheinwerfer des Autos und beugte sich vor, um die Waffe aufzuheben. Unsere Blicke trafen sich -

müde und matt -, bis eine leise Bewegung hinter ihm ihn herumwirbeln ließ. Irgendwer versuchte abzuhauen.

Ich stöhnte leise, als Kisten unglaublich lange, schnel e Schritte machte und ihn sich schnappte. Er riss ihn hoch, bis seine Füße in der Luft hingen. Der Mann gab ein Wimmern von sich, das mich bis ins Innerste traf, und bettelte um sein Leben. Ich sagte mir, dass Mitleid dumm war, dass sie Schlimmeres für mich und Kisten geplant hatten. Aber al es, was Kisten tat, war, mit ihm zu reden. Ihre Gesichter berührten sich fast, als Kisten ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Dann warf er ihn auf die Motorhaube des Cadil ac und wischte mit dem Mantelsaum der Hexe die Waffe ab. Als er fertig war, ließ er die Pistole fal en und wandte sich ab.

Kistens Rücken war gekrümmt, als er zum Auto zurückstampfte. Seine Haltung strahlte eine Mischung aus Wut und Sorge aus. Ich sagte nichts, als er einstieg und die Scheibenwischer anschaltete. Immer noch schweigend schob er den Schalthebel nach vorne und hinten, um uns aus der Zange zu manövrieren, in die die zwei anderen Autos uns genommen hatten.

Ich hielt mich am Türgriff fest und blieb weiterhin stumm, während wir vorwärts-, zurück- und dann wieder vorwärtsfuhren. Schließlich war nur noch offene Straße vor uns, und Kisten trat das Gaspedal durch. Meine Augen wurden groß, als wir auf dem Eis nach links drifteten, doch dann fanden unsere Reifen Halt, und wir schössen vorwärts.

Wir fuhren denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, nur begleitet von dem aufheulenden Motor.

Ich blieb stumm, während Kisten mit abrupten Bewegungen dahinfuhr. Plötzlich wurden die Lichter um uns herum wieder hel er und fielen auf sein Gesicht, wodurch sichtbar wurde, wie angespannt er war. Mein Magen war verkrampft, und mein Rücken tat weh. Er wusste, dass ich damit beschäftigt war, mir zu überlegen, wie ich reagieren sol te.

Ihn zu beobachten war gleichzeitig aufregend und höl isch Angst einflößend gewesen. Das Leben mit Ivy hatte mir beigebracht, dass Vamps so wankelmütig waren wie ein Serienkil er, im einen Moment unterhaltsam und fesselnd, im nächsten Moment aggressiv und gefährlich. Ich wusste das eigentlich, aber es zu sehen, hatte mich auf schockierende Weise noch einmal daran erinnert.

Ich schluckte hart und sah an mir herunter, nur um zu erkennen, dass ich verkrampfter war als ein Eichhörnchen auf Speed. Sofort zwang ich meine zusammengepressten Hände auseinander und meine Schultern nach unten. Ich starrte abwesend auf die blutigen Würfel in meiner Hand, als Kisten murmelte: »Ich würde dir das nie antun, Rachel. Niemals.«

Der Rhythmus der Scheibenwischer war langsam und regelmäßig. Vielleicht hätte ich wirklich im Auto bleiben sol en.

»Im Handschuhfach sind Feuchttücher.«

Seine Stimme hatte die Sanftheit einer Entschuldigung. Ich beugte mich vor, bevor er meinen Blick einfangen konnte, öffnete das Handschuhfach und fand ein paar Papiertücher.

Meine Finger zitterten, als ich die Würfel einwickelte und sie

- nach einem kurzen Zögern - in meine Tasche fal en ließ.

Ich grub tiefer und fand die feuchten Tücher. Unglücklich reichte ich Kisten das erste und wischte mit dem zweiten meine Hände ab. Kisten fuhr sicher durch die schneebedeckten, belebten Straßen und säuberte gleichzeitig seine Nagelhäutchen. Als er fertig war, streckte er die Hand nach meinem benutzten Tuch aus, und ich gab es ihm. Hinter meinem Sitz hing eine kleine Mül tüte.

Mühelos streckte er den Arm nach hinten und warf die Tücher weg. Seine Hände waren so ruhig wie die eines Chirurgen, während ich meine Finger unter die Handflächen rol en musste, um ihr Zittern zu verstecken.

Kisten setzte sich wieder normal hin, und ich konnte fast sehen, wie er durch tiefes Atmen die Anspannung aus seinem Körper zwang. Wir waren halb durch die Hol ows durch, und die Lichter von Cincinnati leuchteten vor uns.

»Knal , Zisch, Pop«, sagte er plötzlich fröhlich.

Verwirrt schaute ich ihn an. »Wie bitte?« Erleichtert stel te ich fest, dass wenigstens meine Stimme ruhig war. Okay, ich hatte ihm dabei zugesehen, wie er einen Zirkel von schwarzen Hexen mit der mühelosen Eleganz eines Raubtiers erledigt hatte, aber wenn er jetzt mit mir über Frühstücksflocken reden wol te, würde ich mitmachen.

Er lächelte mit geschlossenen Lippen, und in seinen blauen Augen stand die Andeutung einer Entschuldigung oder viel eicht Schuld. »Knal , Zisch, Pop«, widerholte er. »Sie zu besiegen hat sich angehört wie eine Schüssel vol er Frühstücksflocken.«

Meine Augenbrauen hoben sich, und ein trockenes Lächeln verzog mein Gesicht. Ich bewegte mich ein wenig und schob meine Füße näher an den Heizungsschacht im Fußraum. Wenn ich nicht lachte, würde ich heulen. Und ich wol te nicht heulen.

»Ich habe mich heute Abend nicht gerade mit Ruhm bekleckert, oder?«, fragte er, ohne die Augen von der Straße abzuwenden.

Ich sagte nichts, weil ich nicht wusste, was ich fühlte.

»Rachel«, begann er sanft. »Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest.«

»Ich wil nicht darüber reden«, sagte ich abwehrend und musste wieder an die panischen, schmerzerfül ten Schreie des Mannes denken. Ich hatte gewusst, dass Kisten schlimme Dinge tat, einmal wegen dem, was er war, und zum Zweiten wegen dem, für den er arbeitete. Aber es wirklich zu sehen hatte mich gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Ich war ein Runner; Gewalt war ein Teil meines Lebens. Ich konnte das, was geschehen war, nicht einfach als böse verurteilen, ohne meinen eigenen Beruf zu verdammen.

Obwohl seine Augen schwarz gewesen waren und seine Instinkte scharf, hatte er schnel und entschlossen gehandelt, und das mit eleganten und präzisen Bewegungen, die ich bewunderte.

Ich war erstarrt, und er hatte mich beschützt.

Kisten fuhr geschmeidig über die Kreuzung, als die Ampel auf Grün schaltete. Er seufzte und hatte offensichtlich keine Ahnung, was ich dachte, als er in Richtung Kirche abbog. Die Leuchtuhr auf dem Armaturenbrett zeigte drei Uhr dreißig.

Auszugehen klang nicht mehr wirklich einladend, aber ich zitterte immer noch, und wenn er mir nichts zu essen spendierte, würde es damit enden, dass ich Käsecracker und übrig gebliebenen Reis zum Abendessen hatte. Bäh.

»Mickey-ds?«, fragte ich. Es ist nur ein Date, um Himmels wil en. Ein platonisches. . Date.

Kisten riss den Kopf hoch. Seine Lippen öffneten sich verwundert, und er rammte fast das Auto vor uns. Im letzten Moment trat er auf die Bremse. Da ich an Ivys Fahrstil gewöhnt war, stützte ich mich einfach ab und ließ mich durchschütteln.

»Du wil st immer noch mit mir essen gehen?«, fragte er überrascht, während der Kerl vor uns unhörbare Beleidigungen in den Rückspiegel schrie.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich war mit dreckigem Schnee überzogen, meine Frisur löste sich auf und fiel mir über die Ohren, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt - wenn ich nichts in den Bauch bekam, würde ich bösartig. Oder mir würde schlecht. Oder beides.

Kisten lehnte sich mit nachdenklicher Miene zurück, die ein wenig die Spannung aus seinem Gesicht vertrieb. Ein Hauch seines normalen, frechen Selbst kehrte zurück. »Fast Food ist auch al es, was ich mir leisten kann - jetzt«, brummelte er scherzhaft, aber ich konnte sehen, dass er erleichtert war, dass er mich nicht nach Hause bringen musste. »Ich hatte eigentlich vor, dich mit einem Teil der Gewinne auf dem Carew Tower zu einem Sonnenaufgangsdinner einzuladen.«

»Die Waisen brauchen das Geld dringender als ich ein überteuertes Essen über den Dächern von Cincinnati«, behauptete ich. Darüber lachte er, und das machte es mir leichter, mein letztes, noch verbliebenes Stückchen Vorsicht zu unterdrücken. Er hatte mich am Leben erhalten, als ich erstarrt war. Das würde nicht noch mal passieren. Niemals.

»Hey, äh, siehst du irgendeine Chance, Ivy nichts. . davon. .

zu erzählen?«, fragte er zögernd.

Ich lächelte bei dem Unbehagen, das in seiner Stimme mitschwang. »Das wird dich was kosten, Reißzahn.«

Er gab ein leises Geräusch von sich drehte sich in gespielter Sorge zu mir um. »Ich bin in der Lage, Ihnen für Ihr Schweigen einen extragroßen Milchshake anzubieten«, schwadronierte er, und ich unterdrückte einen Schauder wegen der gespielten Drohung, die er in seine Worte legte.

Okay, haltet mich für dumm. Aber ich war am Leben, und er hatte mich beschützt.

»Wenn es Schokolade ist, haben wir einen Deal.«

Kistens Lächeln wurde breiter, und er umfasste das Lenkrad mit mehr Selbstsicherheit.

Ich lehnte mich in dem warmen Ledersitz zurück und unterdrückte einen kleinen, ach so kleinen, Anflug von Sorge.

Was? Als ob ich Ivy jemals davon erzählt hätte.

15

Kisten begleitete mich noch bis an die Haustür. Das Geräusch von Schnee und Salz unter unseren Füßen war laut.

Sein Auto stand in einer vom Schneefal diffusen Lichtpfütze am Straßenrand. Ich ging die Stufen hinauf und fragte mich, was wohl in den nächsten fünf Minuten passieren würde. Es war ein platonisches Date, aber es war ein Date. Dass er mich viel eicht küssen würde, machte mich nervös.

Als ich die Eingangstür erreichte, drehte ich mich um und lächelte. Kisten stand in seinem langen Wol mantel und seinen polierten Schuhen neben mir und sah gut aus. Der langsam herabfal ende Schnee war wunderschön, und er blieb sogar auf Kistens Schultern liegen. Aber die schrecklichen Ereignisse des Abends drangen immer wieder in meine Gedanken ein. »Ich hatte viel Spaß«, sagte ich, weil ich diesen Teil vergessen wol te. »Mickey-ds war lustig.«

Kisten senkte den Kopf, und ich hörte ihn leise lachen. »Ich habe vorher noch nie so getan, als wäre ich ein Gesundheitsinspektor, um umsonst an ein Essen zu kommen.

Woher wusstest du, was du machen musst?«

Ich zog eine Grimasse. »Ich. . ahm. . habe während der Highschool Burger gebraten, bis mir ein Amulett in die Friteuse gefal en ist.« Seine Augenbrauen hoben sich, und ich fügte hinzu: »Ich wurde gefeuert. Ich weiß heute noch nicht, warum es so schlimm war. Es wurde niemand verletzt, und die Frau sah mit glatten Haaren viel besser aus.«

Er lachte, verwandelte es dann aber in ein Husten. »Du hast einen Zauber in die Friteuse fal en lassen?«

»Es war ein Unfal . Der Manager musste der Frau einen Tag in einer Schönheitsklinik bezahlen, und ich wurde vom Besenstiel geschubst. Al es, was es gebraucht hätte, wäre ein Salzbad gewesen. . das hätte den Zauber gebrochen. Aber sie wol te klagen.«

»Ich kann mir gar nicht vorstel en, warum. .« Kisten wippte mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor und zurück und starrte konzentriert zum Schnee auf dem Turmdach hinauf. »Es freut mich, dass du dich amüsiert hast. Ich übrigens auch.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich komme irgendwann morgen vorbei und hole meinen Mantel.«

»Hey. . ahm, Kisten?«, hielt ich ihn auf und wusste nicht, warum. »Wil st du noch 'ne Tasse Kaffee?«

Er blieb stehen, mit einem Fuß schon auf der Stufe nach unten. Dann drehte er sich um und lächelte erfreut. »Nur, wenn ich ihn machen darf.«

»Abgemacht.« Mein Puls ging ein wenig schnel er, als ich die Tür öffnete und vorausging. Aus dem Wohnzimmer war langsamer Jazz zu hören. Ivy war zu Hause, und ich konnte nur hoffen, dass sie bereits aus gewesen war, um sich ihre zweimal wöchentlich anstehende Blutration zu holen. Ein seelenvol gesungenes »Lilac Wine« sorgte für angenehme Stimmung, die von der Dunkelheit im Altarraum noch verstärkt wurde.

Ich zog Kistens Mantel aus, und das seidene Innenfutter erzeugte ein leises, nach Luxus klingendes Geräusch, als er von meinen Schultern glitt. Der Altarraum war dunkel und ruhig. Die Pixies lagen offenbar noch in meinem Schreibtisch, auch wenn sie um die Zeit eigentlich schon wach sein sol ten.

Da ich die Stimmung erhalten wol te, zog ich meine Stiefel aus, während Kisten seinen Mantel aufhängte.

»Komm nach hinten«, flüsterte ich, weil ich die Pixies nicht wecken wol te. Kisten lächelte sanft und folgte mir in die Küche. Wir waren vorsichtig, aber ich wusste, dass Ivy uns gehört hatte, als die Musik ein wenig leiser wurde.

Gewohnheitsmäßig warf ich meine Handtasche auf meine Seite des Tisches. Ich fühlte mich nicht wie ich selbst, als ich strumpfsockig zum Kühlschrank tapste, um den Kaffee zu holen. Dabei fiel mir mein Spiegelbild im Fenster ins Auge: wenn man die Schneeflecken und die sich auflösende Frisur ignorierte, sah ich gar nicht schlecht aus.

»Ich hole den Kaffee«, sagte ich überflüssigerweise und durchsuchte den Kühlschrank. Das Geräusch von fließendem Wasser überdeckte den Jazz, und als ich mich umdrehte, sah ich ihn entspannt und völ ig selbstverständlich in seinem italienischen Anzug an der Spüle stehen und die neue Kaffeekanne ausspülen. Er konzentrierte sich völ ig auf seine Aufgabe und schien völ ig vergessen zu haben, dass ich mit ihm im selben Raum war, als er den alten Kaffeesatz ausleerte und mit sicheren Bewegungen einen neuen Filter aus dem Schrank zog.

Nach fast vier Stunden mit ihm ohne einen einzigen Moment des Flirts oder irgendwelchen Anspielungen auf Sex und/oder Blut, fühlte ich mich wohl. Ich hatte nicht gewusst, dass er so sein konnte: normal. Zufrieden beobachtete ich, wie er sich bewegte, und hatte den Eindruck, dass er gerade mal an gar nichts dachte. Ich mochte, was ich sah, und fragte mich, wie es wäre, wenn es immer so sein könnte.

Kisten drehte sich um, als er meinen Blick spürte. »Was?«, fragte er lächelnd.

»Nichts.« Verlegen warf ich einen Blick in den dunklen Flur.

»Ich wil nur kurz nach Ivy schauen.«

Kistens Lippen öffneten sich und zeigten ein wenig Zahn, als sich sein Lächeln verbreiterte. »Okay.«

Ich war mir nicht sicher, warum ihm das so gefiel, darum warf ich ihm einen letzten Blick zu, bei dem meine Augenbrauen fast auf meiner Stirn klebten, und ging dann in das von Kerzen erleuchtete Wohnzimmer. Ivy lag auf ihrem bequemen Wildledersessel, ihr Kopf auf einer Lehne, die Beine über die andere gelegt. Ihre braunen Augen wandten sich mir zu, als ich eintrat, und sie begutachtete die eleganten Linien meiner Kleidung von oben bis unten.

»Du bist vol er Schnee«, sagte sie, ohne ihren Gesichtsausdruck oder ihre Position zu verändern.

»Ich. . ahm. . bin ausgerutscht«, log ich, und sie akzeptierte es, weil sie offenbar meine Nervosität als Verlegenheit deutete. »Wieso schlafen die Pixies noch?«

Sie schnaubte und setzte sich auf, um die Füße auf den Boden zu stel en. Ich ließ mich auf die passende Couch ihr gegenüber fal en. »Jenks hat sie wach gehalten, nachdem du weg warst, damit sie eben nicht wach sind, wenn du zurückkommst.«

Ein dankbares Lächeln glitt über mein Gesicht. »Erinnere mich daran, dass ich ihm einen Honigkuchen backe«, bat ich, lehnte mich zurück und kreuzte die Beine.

Ivy ließ sich in ihren Sessel zurückfal en und ahmte meine Pose nach. »Und. . wie war dein Date?«

Ich war mir der Tatsache bewusst, dass Kisten in der Küche mithörte, und zuckte mit den Schultern. Ivy benahm sich oft wie ein klammernder Exfreund, was wirklich, wirklich bizarr war. Aber jetzt wusste ich ja, dass das ihrem Bedürfnis entsprang, mein Vertrauen nicht zu verlieren, und das machte es ein bisschen verständlicher. Seltsam war es immer noch.

Sie atmete langsam ein, und ich wusste, dass sie wittern wol te, ob mich im Piscarys auch wirklich niemand gebissen hatte. Ihre Schultern entspannten sich, und ich rol te genervt mit den Augen.

»Hey, äh«, begann ich. »Es tut mir wirklich sehr leid, was ich da vorhin gesagt habe. Übers Piscarys.« Ihre Augen schossen zu meinem Gesicht, und ich fügte schnel hinzu:

»Wil st du irgendwann mal gehen? Zusammen, meine ich?

Ich glaube, wenn ich im Erdgeschoss bleibe, fal e ich nicht in Ohnmacht.« Mit zusammengekniffenen Augen fragte ich mich, warum ich das überhaupt tat. Der einzige Grund war wahrscheinlich, dass sie, wenn sie nicht bald einen Weg fand, sich mal zu entspannen, völ ig ausrasten würde. Und ich wol te nicht dabei sein, wenn das passierte. Außerdem würde ich mich einfach besser fühlen, wenn ich dabei war, um ein Auge auf sie zu haben. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie schnel er in Ohnmacht fal en würde als *ch.

Ivy legte sich wieder so hin, wie sie gelegen hatte, als ich reingekommen war. »Sicher«, sagte sie ausdruckslos, während sie an die Decke starrte und dann die Augen schloss. »Wir hatten schon lange keinen Weiberabend mehr.«

»Super.«

Ich lehnte mich in die Kissen zurück, um auf Kisten zu warten. Aus der Anlage tönte eine sanfte, sexgeladene Stimme. Der Geruch von frischem Kaffee drang in meine Nase. Ich lächelte, als Takatas neues Lied begann. Sie spielten es sogar auf den Jazzsendern. Ivy öffnete die Augen.

»Backstage-Pässe«, sagte sie lächelnd.

»So richtig backstage«, bekräftigte ich. Sie hatte schon zugestimmt, mit mir auf dem Konzert zu arbeiten, und ich wol te sie unbedingt Takata vorstel en. Dann dachte ich an Nick. Jetzt würde er auf keinen Fal mitgehen. Viel eicht konnte ich Kisten fragen, ob er uns half. Und da er ja immer noch so tat, als wäre er Piscarys Nachkomme, wäre er als Abschreckung doppelt effektiv. Ich warf einen Blick durch den Türrahmen in den dunklen Flur und überlegte, ob er wohl Ja sagen würde, wenn ich ihn fragte, und ob ich ihn überhaupt dabeihaben wol te.

»Hör zu.« Ivy hob einen Finger. »Das ist meine Lieblingsstel e. Diese tiefe Trommel geht direkt in meine Eingeweide. Hörst du den Schmerz in ihrer Stimme? Das ist bis jetzt Takatas beste CD.«

Ihre Stimme?, dachte ich. Takata war der Einzige, der sang.

»You're mine, in some smal fashion«, flüsterte Ivy mit geschlossenen Augen, und der Schmerz, der sich auf ihrem Gesicht spiegelte, machte mich nervös. »You're mine, though you know it not. You're mine, bond born of passion . .«

Meine Augen weiteten sich. Sie sang nicht das, was Takata sang. Ihre Worte verflochten sich mit seinen und bildeten eine unheimlichen Hintergrund, der bei mir eine Gänsehaut auslöste. Das war der Refrain, den er nicht hatte veröffentlichen wol en.

»You're mine, yet whol y you«, hauchte sie. »By the way of your wil . .«

»Ivy«, rief ich verstört, und sie riss die Augen auf. »Wo hast du das gehört?«

Sie sah mich ausdruckslos an, während Takata etwas von Abmachungen sang, die ohne vol es Wissen geschlossen worden waren.

»Das ist der alternative Refrain!«, erklärte ich und schob mich vor bis zur äußersten Ecke der Couch. »Er wol te das nicht veröffentlichen.«

»Alternativer Refrain?«, fragte sie, als Kisten in den Raum kam und ein Tablett mit drei Kaffeetassen neben die dicken roten Kerzen auf den Couchtisch stel te, um sich dann fast schon betont neben mich zu setzen.

»Der Text!« Ich zeigte auf die Anlage. »Du hast einen anderen Text gesungen. Den wol te er nicht veröffentlichen.

Er hat es mir gesagt, er wol te den anderen veröffentlichen.«

Ivy starrte mich an, als wäre ich wahnsinnig geworden, aber Kisten stöhnte auf und krümmte sich, sodass seine El bogen auf seinen Knien lagen und sein Kopf in seinen Händen. »Das ist der Vamp-Track«, erklärte er tonlos.

»Verdammt, ich dachte doch, es fehlt was.«

Verblüfft streckte ich meine Hand nach dem Kaffee aus. Ivy setzte sich auf und tat dasselbe. »Vamp-Track?«, fragte ich verwirrt.

Kisten hob den Kopf. Er wirkte resigniert, als er sich die blonden Haare aus der Stirn schob. »Takata unterlegt seine Lieder mit Tracks, die nur die Untoten hören können«, erläuterte er, und ich erstarrte mit der Tasse auf halbem Weg zu meinem Mund. »Ivy kann es hören, weil sie Piscarys Nachkomme ist.«

Ivys Gesicht wurde weiß. »Ihr könnt sie nicht hören?«, fragte sie. »Genau da!« Verwirrt sah sie die Stereoanlage an, als der Refrain wieder zu hören war. »Ihr könnt nicht hören, wie sie zusammen mit Takata singt?«

Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich plötzlich unwohl.

»Ich höre nur ihn.«

»Die Trommel?«, fragte sie. »Könnt ihr die hören?«

Kisten nickte, lehnte sich mit seiner Tasse in der Hand zurück und blickte trotzig drein. »Schon, aber du hörst eine verdammte Menge mehr als wir.« Frustriert stel te er seine Tasse ab. »Verdammt noch mal«, fluchte er. »Jetzt muss ich warten, bis ich tot bin, und darauf hoffen, dass ich dann noch eine alte Ausgabe finde.« Er seufzte enttäuscht. »Ist es gut, Ivy? Ihre Stimme ist das Unheimlichste, was ich je gehört habe. Sie ist auf jeder CD, aber ihr Name wird in den Credits nie genannt.« Er fiel in sich zusammen. »Ich verstehe nicht, warum sie nicht eigene Alben produziert.«

»Ihr könnt sie nicht hören?«, fragte Ivy noch einmal, und diesmal klang ihre Stimme scharf. Sie stel te ihre Tasse so heftig ab, dass der Kaffee überschwappte, und ich starrte sie überrascht an.

Kisten zog eine trockene Grimasse und schüttelte den Kopf. »Glückwunsch«, sagte er bitter. »Wil kommen im Club.

Ich wünschte, ich wäre noch Mitglied.«

Mein Puls raste, als Ivys Augen plötzlich wütend aufblitzten. »Nein!«, rief sie und stand auf.

Kisten warf ihr einen erschrockenen Blick zu; ihm ging offenbar erst jetzt auf, dass Ivy nicht glücklich war.

Ivy schüttelte immer wieder den Kopf, und ihr Körper war völ ig verkrampft. »Nein«, widerholte sie trotzig, »ich wil es nicht!«

Verständnisvol richtete ich mich auf. Dass sie es hören konnte, hieß, dass Piscarys Macht über sie zunahm. Ich schaute in dem Moment zu Kisten, als seine Miene sich in Besorgnis verwandelte. »Ivy, warte«, versuchte er sie zu beruhigen, als sich ihr Gesicht zu einer hässlichen Grimasse der Wut verzerrte.

»Nichts gehört mehr mir!«, schrie sie, und ihre Augen waren plötzlich völ ig schwarz. »Es war schön, und jetzt ist es seinetwegen hässlich. Er nimmt mir al es, Kisten! Al es!«

Kisten stand auf, und ich bewegte mich vorsichtshalber keinen Mil imeter, als er um den Tisch herumging und die Hand nach ihr ausstreckte. »Ivy. .«

»Das muss aufhören«, sagte sie heftig und schlug mit einer schnel en Bewegung seine Hand beiseite, bevor er sie berühren konnte. »Jetzt.«

Mir fiel die Kinnlade runter, als sie mit vampirischer Geschwindigkeit aus dem Raum stiefelte. Die Kerzenflammen flackerten im Luftzug und beruhigten sich dann wieder.

»Ivy?« Ich stel te meinen Kaffee ab und stand auf, aber der Raum war leer. Kisten war hinter ihr hergelaufen. Ich war al ein. »Wo gehst du hin?. .«, flüsterte ich.

Ich hörte das unterdrückte Rumpeln, als Ivys Wagen startete, den sie sich über den Winter von ihrer Mutter geliehen hatte. Einen Moment später war sie weg. Ich ging in den Flur und konnte in der Stil e deutlich hören, wie Kisten die Tür schloss und über den Holzboden in meine Richtung kam.

»Wo geht sie hin?«, fragte ich ihn, als er mich erreicht hatte.

Er legte eine Hand auf meine Schulter, ein wortloser Vorschlag, dass ich doch ins Wohnzimmer zurückgehen sol te. Strumpfsockig war mir unser Größenunterschied sehr be-wusst. »Sie wil mit Piscary reden.« *

»Piscary!« Angst ließ mich zusammenzucken. Ich befreite mich aus seinem sanften Griff und blieb mitten im Flur stehen. »Sie kann nicht al ein mit ihm reden.«

Aber Kisten warf mir nur ein freudloses Lächeln zu. »Ihr droht keine Gefahr. Es ist höchste Zeit, dass sie mit ihm redet.

Sobald sie das tut, gibt er nach. Deswegen belästigt er sie ja ständig. Es ist gut, dass sie es endlich tut.«

Ich war nicht überzeugt, ging aber trotzdem ins Wohnzimmer zurück. Ich war mir Kistens Anwesenheit hinter mir - nah genug, um ihn zu berühren - sehr bewusst. Wir waren al ein, wenn man die sechsundfünfzig Pixies in meinem Schreibtisch nicht mitzählte. »Sie ist nicht in Gefahr«, versicherte er mir leise, als er mir folgte, seine Schuhe auf dem Teppich unhörbar.

Ich wol te, dass er ging. Ich war emotional fertig, und ich wol te, dass er ging. Als ich seinen Blick auf mir fühlte, blies ich die Kerzen aus und sammelte die Kaffetassen auf dem Tablett zusammen, in der Hoffnung, dass er den Hinweis verstehen würde. Aber plötzlich ließ mich ein Gedanke erstarren.

»Glaubst du, dass Piscary sie dazu bringen kann, mich zu beißen? Er hat sie fast dazu gebracht, Quen zu beißen.«

Kisten trat auf mich zu, und seine Finger berührten meine, als er mir das Tablett abnahm. »Nein«, sagte er und wartete offensichtlich darauf, dass ich vor ihm her in die Küche ging.

»Warum nicht?« Ich tapste in den hel erleuchteten Raum hinüber.

Kisten kniff wegen der ungewohnten Hel igkeit die Augen zusammen, stel te das Tablett neben der Spüle ab und schüttete den Kaffee aus, der in dem weißen Porzel anwaschbecken braune Pfützen hinterließ. »Piscary konnte so einen Einfluss auf sie ausüben, weil er sie überrumpelt hat. Das, und weil sie kein festes Verhaltensmuster hatte, um ihn zu bekämpfen. Ihren Drang, dich zu beißen, bekämpft sie bereits, seit ihr in der l.S.

Partner wart. Nein zu sagen ist schon fast leicht geworden.

Piscary kann sie nicht dazu bringen, dich zu beißen, außer sie gibt vorher auf, und das wird sie nicht tun. Dafür respektiert sie dich zu sehr.«

Ich öffnete den Geschirrspüler, und Kisten stel te die Tassen in das obere Abteil. »Bist du sicher?«, fragte ich leise.

Ich wol te ihm glauben.

»Ja.« Sein wissendes Lächeln ließ ihn einmal mehr wie einen bösen Buben im Anzug aussehen. »Ivy ist sehr stolz auf ihre Selbstdisziplin. Ihr ist ihre Unabhängigkeit wichtiger als mir, weswegen sie ihn bekämpft. Es wäre einfacher, wenn sie aufgeben würde. Er würde dann auch aufhören, seine Herrschaft zu erzwingen. Es ist nicht erniedrigend, Piscary durch deine Augen sehen zu lassen, ihn deine Emotionen und Bedürfnisse kanalisieren zu lassen. Ich fand es erhebend.«

»Erhebend.« Ich lehnte mich ungläubig gegen den Tresen.

»Dass Piscary Einfluss auf sie ausübt und sie zu Sachen zwingt, die sie nicht tun wil , ist also >erhebend<?«

»Nicht, wenn du es so ausdrückst.« Er öffnete den Schrank unter der Spüle und zog das Spülmittel heraus. Ich fragte mich kurz, woher er wusste, dass es dort stand. »Aber Piscary ist nur so lästig, weil sie sich ihm widersetzt. Er mag es, dass sie gegen in ankämpft.«

Ich nahm ihm die Flasche ab und fül te den kleinen Behälter in der Tür des Geschirrspülers.

»Ich sage ihr immer wieder, dass Piscarys Nachkomme zu sein sie nicht weniger sein lässt, sondern mehr«, fuhr er fort.

»Sie verliert kein Stück von sich selbst, sondern gewinnt so viel dazu. Wie den Vamp-Track, oder dass sie fast die Stärke eines Untoten hat, ohne die damit verbundenen Nachteile.«

»Wie eine Seele, die dir sagt, dass es falsch ist, Menschen als wandelnde Schokoriegel zu sehen«, ätzte ich und knal te die Maschine zu.

Er seufzte schwer, und der feine Stoff seines Anzugs wölbte sich an den Schultern, als er mir das Spülmittel wieder abnahm und es auf den Tresen stel te. »So ist es nicht«, protestierte er. »Schafe werden behandelt wie Schafe, Ausnutzer werden benutzt, und die, die mehr verdienen, kriegen al es.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen erwiderte ich: »Und wer bist du, um diese Entscheidung zu treffen?«

»Rachel.« Er klang müde, als er meine El bogen mit den Händen umfasste. »Sie treffen diese Entscheidung selbst.«

»Das glaube ich nicht.« Aber ich trat nicht zurück, und ich schob auch seine Hände nicht weg. »Und selbst wenn es so ist, ihr nutzt es aus.«

Kistens Blick wirkte auf einmal abwesend, als er sanft meine Arme in eine weniger aggressive Haltung zog. »Die meisten Leute«, sagte er, »brauchen es, dass man sie braucht.

Und wenn sie sich selbst nicht mögen oder glauben, dass sie einfach keine Liebe verdienen, befriedigen einige so ihren Drang danach, sich auf die schlimmstmögliche Art zu bestrafen. Das sind die Abhängigen, die Schatten, ob nun gebunden oder nicht. Sie werden weitergegeben wie die kriecherischen Schafe, in die sie sich auf der Suche nach ein wenig Selbstwert verwandelt haben. Sie wissen, dass es falsch ist, und betteln trotzdem darum. Ja, es ist scheußlich.

Und ja, wir nutzen die aus, die uns lassen. Aber was ist schlimmer: von jemandem nehmen, der es wil , und innerlich wissen, dass man ein Monster ist; oder von jemandem nehmen, der es nicht wil , und es beweisen?«

Mein Herz pochte. Ich wol te mit ihm diskutieren, aber ich stimmte al em, was er gesagt hatte, zu.

»Und dann gibt es die, die die Macht genießen, die sie über uns haben.« Kistens Lippen wurden schmal, als er offenbar an alte Wunden dachte, und seine Hände fielen von mir ab. »Die Cleveren, die wissen, dass unser Drang nach Akzeptanz und Vertrauen so stark ist, dass er uns verkrüppeln kann. Die, die genau damit spielen, weil sie wissen, dass du fast al es für die Einladung tun würdest, das Blut zu nehmen, nach dem es uns so dringend verlangt.

Diejenigen, die sich an der unterschwel igen Herrschaft ergötzen, die ein Liebhaber ausüben kann, weil sie das Gefühl haben, es würde sie gottgleich machen. Das sind die, die so sein wol en wie wir, weil sie glauben, dass sie dadurch mächtig würden. Und wir benutzen auch sie und schieben sie mit weniger Bedauern zur Seite als die Schafe, bis wir wirklich anfangen, sie zu hassen. Und dann verwandeln wir sie in grausamer Rückerstattung in einen der Unseren.«

Er umfasste mein Kinn mit seiner Hand. Sie war warm, und ich zog mich nicht zurück. »Und dann gibt es die seltenen, die die Liebe kennen und verstehen. Die freiwil ig einen Teil von sich geben und nur eine Erwiderung dieser Liebe, dieses Vertrauens erwarten.« Er sah mich mit seinen makel osen Augen eindringlich an, und mir stockte der Atem. »Es kann wunderschön sein, Rachel, wenn es auf Liebe und Vertrauen beruht. Keiner wird gebunden. Keiner verliert seinen Wil en.

Keiner wird weniger. Beide werden zu mehr, als sie al ein sein können. Aber es ist so selten, und deswegen wunderschön, wenn das passiert.«

Ich erschauerte und fragte mich, ob er mich wohl anlog.

Die sanfte Berührung seiner Hand, die meinen Hals entlangglitt, als er mich losließ, brachte mein Blut zum Kochen. Aber er bemerkte es nicht, weil seine Aufmerksamkeit auf den heraufdämmernden Sonnenaufgang vor dem Fenster gerichtet war. »Ivy tut mir leid«, flüsterte er. »Sie wil nicht akzeptieren, dass sie das Bedürfnis hat, irgendwo hinzugehören, selbst wenn jede ihrer Bewegungen davon bestimmt wird. Sie wil diese perfekte Liebe, aber sie glaubt, dass sie sie nicht verdient.«

»Sie liebt Piscary nicht«, widersprach ich leise. »Du hast gesagt, dass es ohne Liebe und Vertrauen keine Schönheit gibt.«

Kistens Augen versenkten sich in meine. »Ich habe nicht von Piscary gesprochen.«

Er sah auf die Uhr über der Spüle, und als er einen Schritt zurücktrat wusste ich, dass er gehen wol te. »Es wird spät«, sagte er distanziert, woran ich erkannte, dass er in Gedanken schon weg war. »Ich habe unser Date genossen«, fuhr er dann sanfter fort. »Aber nächstes Mal wird es keine Obergrenze geben, wie viel ich ausgeben darf.«

»Du gehst davon aus, dass es ein nächstes Mal geben wird«, sagte ich zweifelnd, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.

Er erwiderte mein Lächeln, und die frischen Bartstoppeln auf seinem Kinn glitzerten. »Viel eicht.«

Kisten machte sich auf den Weg zur Eingangstür, und automatisch folgte ich ihm, um ihn rauszulassen. In den Strümpfen waren meine Schritte auf dem Holzboden genauso lautlos wie seine. Der Altarraum war ruhig, und aus meinem Schreibtisch kam kein Laut. Immer noch ohne etwas gesagt zu haben, zog Kisten sich seinen Wol mantel an.

»Danke«, sagte ich, als ich ihm den langen Ledermantel gab, den ich getragen hatte.

Seine Zähne schimmerten in dem dunklen Foyer. »War mir ein Vergnügen.«

»Für die Nacht, nicht für den Mantel«, stel te ich klar und fühlte, wie meine Nylonstrümpfe von dem geschmolzenen Schnee durchnässt wurden. »Na ja, auch danke, dass ich deinen Mantel benutzen durfte«, ergänzte ich.

Er lehnte sich zu mir. »Und auch das war mir ein Vergnügen«, sagte er, und das diffuse Licht spiegelte sich in seinen Augen. Ich starrte ihn an, um herauszufinden, ob seine Augen aus Begierde oder nur von Schatten schwarz waren. »Ich werde dich küssen«, sagte er mit rauer Stimme, und meine Muskeln verspannten sich. »Kein Kneifen.«

»Kein Beißen«, erwiderte ich todernst. Vorfreude breitete sich in mir aus, aber sie kam wirklich von mir, nicht von meiner Dämonennarbe, und das zu akzeptieren war gleichzeitig erlösend und Furcht einflößend - ich konnte mir nicht vormachen, dass al es nur von der Narbe kam. Diesmal nicht.

Seine Hände umfassten gleichzeitig fest und sanft mein Kinn. Ich atmete tief ein, als er näher trat und langsam die Augen schloss. Der vertraute Geruch von Leder und Seide umgab mich. Eine Andeutung von etwas Tieferem, Ursprünglicherem berührte meine Instinkte und ließ mich unsicher werden, was ich fühlen sol te. Mit geöffneten Augen beobachtete ich ihn, wie er sich zu mir lehnte, und mein Herz klopfte in der freudigen Erwartung von seinen Lippen auf meinen.

Seine Daumen verschoben sich und folgten der Kurve meines Kiefers. Meine Lippen öffneten sich. Aber der Winkel war völ ig falsch für einen richtigen Kuss, und meine Schultern entspannten sich, als mir klar wurde, dass er meinen Mundwinkel küssen würde.

Ich lehnte mich ein wenig vor, um ihm entgegenzukommen, nur um fast in Panik zu verfal en, als seine Hände weiter nach hinten glitten und sich in meinen Haaren vergruben. Adrenalin schoss in meine Adern und wirkte wie eine kalte Dusche, als ich verstand, dass er überhaupt nicht meinen Mund küssen wol te.

Er wil meinen Hals küssen!

Aber er stoppte kurz vorher und atmete leise aus, als seine Lippen die sanfte Wölbung zwischen meinem Ohr und meinem Kiefer fanden. Erleichterung mischte sich mit Angst und machte mich völ ig bewegungsunfähig. Die Reste von Adrenalin, die mich durchschwemmten, ließen meinen Puls rasen. Seine Lippen waren sanft, aber die Hände, die mein Gesicht hielten, waren vol er unterdrücktem Verlangen.

Eine kühle Wärme trat an die Stel e seiner Lippen, als er sich zurückzog, aber trotzdem noch dicht über meiner Haut schwebte. Mein Herz klopfte wie wild, und ich wusste, dass er es fast so deutlich spüren konnte wie sein eigenes. Er atmete langsam aus, und ich tat dasselbe.

Mit dem raschelnden Geräusch von Wol e trat Kisten zurück. Er sah mich lächelnd an, und ich realisierte, dass meine Hände sich von selbst gehoben hatten und um seine Hüfte lagen. Ich ließ ihn widerwil ig los und schluckte schwer.

Obwohl er meine Lippen oder meinen Hals nicht berührt hatte, war es einer der berauschendsten Küsse gewesen, die ich je erlebt hatte. Der Nervenkitzel, nicht zu wissen, was er tun würde, hatte mich auf eine Art und Weise erregt, wie es einem normalen Kuss nie gelungen wäre.

»Das ist absolut verflixt«, sagte er leise und sah dabei verwirrt aus.

»Was?«, fragte ich atemlos, weil ich das Gefühl noch nicht ganz verdaut hatte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dich überhaupt nicht riechen. Das ist irgendwie erregend.«

Ich blinzelte und war unfähig, etwas zu sagen.

»Nacht, Rachel.« Ein seltsames Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er einen Schritt zurücktrat.

»Gute Nacht«, flüsterte ich.

Er drehte sich um und öffnete die Tür. Die kalte Luft riss mich aus meiner Betäubung. Meine Dämonennarbe hatte nicht ein einziges Kribbeln von sich gegeben. Das, dachte ich, war beängstigend. Dass er mich so beeinflussen kann, ohne meine Narbe zur Hilfe nehmen zu müssen. Was zur Höl e stimmt nicht mit mir?

Kisten warf mir von der Türschwel e aus noch ein letztes Lächeln zu, umrahmt von der schönen Kulisse der schneeerfül ten Nacht. Dann drehte er sich um und ging die vereisten Stufen hinunter. Seine Schritte knirschten auf dem Salz.

Verwirrt schloss ich die Tür hinter ihm und fragte mich, was eigentlich geschehen war. Mit einem unwirklichen Gefühl schob ich den Balken vor, nur um ihn wieder zu öffnen, als mir einfiel, dass Ivy ja noch unterwegs war.

Ich steuerte verunsichert mein Schlafzimmer an. Meine Gedanken kreisten um das, was Kisten mir erzählt hatte, wie Leute ihr eigenes Schicksal bestimmten, wenn sie sich von einem Vampir binden ließen. Dass man für die Ekstase von Vampirleidenschaft mit verschiedenen Leveln der Abhängigkeit zahlen konnte: von Essen bis zu Gleichberechtigung. Was, wenn er lügt?, dachte ich. Lügt, um mich dazu zu bringen, mich von ihm binden zu lassen? Aber dann ließ mich ein noch viel erschreckenderer Gedanke innehalten. Was, wenn er die Wahrheit sagte?

16

Mit klappernden Stiefeln folgte ich Ivy zur Eingangstür.

Ihre schlanke Gestalt bewegte sich mit gedankenverlorener Eleganz und sah in ihrer Lederhose wie immer raubtierhaft aus. Sie konnte ja viel eicht mit Sonnenwendshopping in Leder durchkommen, aber ich hatte mich für Jeans und einen roten Pul i entschieden. Aber auch so sahen wir gut aus. Mit Ivy shoppen gehen war lustigi Sie spendierte uns immer Cookies, und den diversen Date-Angeboten auszuweichen verlieh dem Ganzen irgendwann ein herrliches Gefühl von Gefahr, weil sie wirklich al e Arten von Leuten anzog.

»Ich muss um elf zurück sein«, sagte sie, als wir den Altarraum betraten, und warf ihre langen Haare nach hinten.

»Ich habe heute Abend einen Auftrag. Die minderjährige Tochter von irgendjemandem wurde in ein Bluthaus gelockt, und ich werde sie da rausholen.«

»Wil st du Hilfe?«, fragte ich, knöpfte meinen Mantel zu und zog meine Umhängetasche höher auf die Schulter.

Pixies drängten sich vor den Buntglasfenstern, schwebten vor den hel eren Farben und kreischten über etwas, das draußen vorging. Ivys Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln. »Nein. Es wird nicht lange dauern.«

Die harte Vorfreude auf ihrem bleichen Gesicht beunruhigte mich. Sie war von ihrem Besuch bei Piscary mit sehr schlechter Laune zurückgekommen. Offenbar war es nicht gut gelaufen, und ich hatte so ein Gefühl, dass sie ihre Laune an demjenigen auslassen würde, der dieses Mädchen entführt hatte. Ivy ging nicht gerade zart mit Vampiren um, die Minderjährige jagten. Jemand würde seine Feiertage im Streckverband verbringen.

Das Telefon klingelte. Ivy und ich schauten uns gegenseitig an.

»Ich geh dran«, gab ich schließlich nach. »Aber wenn es kein Auftrag ist, kann der Anrufbeantworter übernehmen.«

Sie nickte und ging mit ihrer Tasche bewaffnet aus der Tür.

»Ich wärme schon mal das Auto an.«

Ich joggte schnel in den hinteren Teil der Kirche. Beim dritten Klingeln ging der Anrufbeantworter dran. Die Nachricht spulte sich ab, und mein Gesicht verhärtete sich.

Nick hatte sie für mich gesprochen - ich hatte es für schick gehalten, dass es so klang, als hätten wir eine männliche Sekretärin. Obwohl es jetzt, wo wir mit Professionel en einer anderen Sorte im Telefonbuch standen, wahrscheinlich nur zur al gemeinen Verwirrung beitrug.

Die Falten auf meiner Stirn vertieften sich, als die Nachricht endete, aber Nicks Stimme weitersprach. »Hey, Rachel«, meldete er sich zögernd. »Bist du da? Nimm ab. Ich. . Ich hatte gehofft, du wärst zu Hause. Es ist. . na ja, ungefähr sechs Uhr hier?«

Ich zwang meine Hand dazu, den Hörer abzunehmen. Er war in einer anderen Zeitzone? »Hi, Nick.«

»Rachel.« Die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich zu hören und bildete einen heftigen Kontrast zu meiner Ausdruckslosigkeit. »Gut. Ich bin froh, dass ich dich erwischt habe.«

Erwischt. Yeah. »Wie geht es dir?«, fragte ich und bemühte mich, den Sarkasmus aus meiner Stimme herauszuhalten. Es tat immer noch weh, und ich war immer noch verwirrt.

Er atmete tief ein. Ich konnte im Hintergrund Wasser hören und ein Zischen, das klang, als würde etwas kochen. Das sanfte Klicken von Gläsern und das unterschwel ige Geräusch von Unterhaltungen lag noch darunter.

»Ganz okay«, sagte er. »Gut eigentlich. Ich habe letzte Nacht wirklich gut geschlafen.«

»Das ist tol .« Warum zur Höl e hast du mir nicht gesagt, dass meine Kraftlinienübungen dich aufwecken? Du hättest auch hier gut schlafen können.

»Und wie geht es dir?«

Mein Kiefer schmerzte, und ich zwang meine Zähne auseinander. Ich bin verwirrt, ich bin verletzt, ich weiß nicht, was du wil st.

»Gut«, log ich und dachte an Kisten. Er wusste zumindest, was er wol te. »Mir geht's gut.« Meine Kehle tat weh. »Sol ich deine Post einsammeln, oder wirst du bald nach Hause kommen?«

»Ein Nachbar leert den Briefkasten. Aber danke.«

Du hast meine Frage nicht beantwortet.

»Okay. Weißt du, ob du bis zur Sonnenwende zurück sein wirst? Oder sol ich dein Ticket. . jemand anderem geben?«

Ich hatte nicht zögern wol en. Es war einfach passiert. Es war offensichtlich, dass Nick es auch gehört hatte, denn er schwieg. Im Hintergrund schrie eine Möwe. Er war an einem Strand? Er war in einer Bar an einem Strand und ich wich im Schneematsch schwarzen Zaubern aus?

»Warum nicht«, meinte er schließlich, und ich fühlte mich, als hätte mich jemand in den Magen geschlagen. »Ich weiß nicht, wie lange ich hier sein werde.«

»Sicher«, flüsterte ich.

»Ich vermisse dich, Rachel«, sagte er, und ich schloss erschöpft die Augen.

Bitte, sag es nicht, dachte ich. Bitte.

»Aber ich fühle mich schon viel besser. Ich werde bald nach Hause kommen.«

Es war genau das, was Jenks mir prophezeit hatte. Meine Kehle schnürte sich zu. »Ich vermisse dich auch«, sagte ich und fühlte mich wieder verraten und verloren. Er sagte nichts, und nach ungefähr drei Sekunden fül te ich das Schweigen: »Na ja, Ivy und ich gehen jetzt einkaufen. Sie ist schon im Auto.«

»Oh.« Der Bastard klang erleichtert. »Ich wil dich nicht aufhalten. Ahm, wir sprechen uns ein andermal.«

Lügner. »In Ordnung. Ciao.«

»Ich liebe dich, Rachel«, flüsterte noch, aber ich legte auf als hätte ich es nicht gehört. Ich wusste einfach nicht, ob ich ihm noch hätte antworten können. Unglücklich nahm ich die Hand vom Hörer. Meine roten Fingernägel leuchteten vor dem schwarzen Plastik. Meine Finger zitterten, und mein Kopf tat weh.

»Warum bist du dann weggegangen, statt mir zu sagen, was nicht stimmt?«, fragte ich den leeren Raum.

Ich atmete bewusst langsam aus, um die Spannung loszulassen. Ich würde mit Ivy shoppen gehen. Ich würde es nicht ruinieren, indem ich über Nick nachdachte. Er war weg.

Er würde nicht zurückkommen. Er fühlte sich besser, wenn er eine Zeitzone von mir entfernt war; warum sol te er zurückkommen?

Entschlossen machte ich mich auf den Weg zur Tür. Die Pixies schwebten immer noch in kleinen Gruppen vor dem Fenster. Jenks war irgendwo anders, wofür ich sehr dankbar war. Er hätte mir nur ein »Ich hab's dir ja gesagt« serviert, wenn er mein Gespräch mit Nick gehört hätte.

»Jenks! Du hast die Leitung des Schiffs!«, schrie ich, als ich die Eingangstür öffnete, und ein leises, aber ehrliches Lächeln glitt über mein Gesicht, als zur Antwort aus meinem Schreibtisch ein scharfer Pfiff ertönte.

Ivy saß schon im Auto. Mein Blick wanderte auf die andere Straßenseite zu Keasleys Haus, angezogen von Kindergeschrei und dem Bel en eines Hundes. Meine Schritte wurden langsamer. Ceri war im Vorgarten. Sie trug eine der Jeans, die ich vorbeigebracht hatte, und einen alten Mantel von Ivy. Ihre leuchtend roten Handschuhe und die passende Mütze bildeten einen lebhaften Farbfleck vor dem Schnee, als sie und ungefähr sechs Kinder zwischen zehn und achtzehn Schneebäl e machten. Ein Berg davon wuchs in einer Ecke von Keasleys kleinem Grundstück. Im Nachbargarten taten vier weitere Kinder dasselbe. Es sah so aus, als ob schon bald eine Schneebal schlacht in vol em Gange sein würde.

Ich winkte erst Ceri zu, dann Keasley - der auf seiner Terrasse stand und so intensiv zusah, dass ich wusste, er wol te auch dort unten sein. Beide winkten zurück, und ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Ich hatte etwas Gutes getan.

Ich betätigte den Türgriff an Ivys geliehenem Mercedes und schob mich hinein, nur um festzustel en, dass die Lüftung immer noch kalte Luft von sich gab. Die viertürige Limousine brauchte ewig, um warm zu werden. Ich wusste, dass Ivy sie nicht gern fuhr, aber ihre Mutter wol te ihr nichts anderes leihen und ein Motorrad in Schneematsch zu fahren hieß, mit offenen Wunden zu flirten. »Wer war es?«, fragte Ivy, als ich die Lüftungsdüse so ausrichtete, dass sie nicht auf mich zeigte, und mich anschnal te. Ivy fuhr als sei sie unsterblich, was ich persönlich ein wenig ironisch fand.

»Niemand.«

Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Nick?«

Mit zusammengepressten Lippen stel te ich mir meine Tasche auf den Schoß. »Wie ich gesagt habe: Niemand.«

Ohne hinter sich zu schauen fuhr Ivy vom Gehweg los.

»Rachel, es tut mir leid.«

Die Ehrlichkeit in ihrer Stimme ließ mich den Kopf heben.

»Ich dachte, du hasst Nick.«

»Tue ich«, bestätigte sie, ohne auch nur im Mindesten entschuldigend zu klingen. »Ich finde, er ist manipulativ und verschweigt Dinge, die dich verletzten könnten. Aber du mochtest ihn. Viel eicht. .« Sie zögerte kurz. »Viel eicht kommt er zurück. Er. . liebt dich.« Sie gab ein angewidertes Geräusch von sich. »Oh Gott, Du hast mich dazu gebracht, es zu sagen.«

Ich lachte. »Nick ist nicht so schlimm«, behauptete ich, woraufhin sie sich zu mir umdrehte. Meine Augen hafteten sich auf den Truck, den wir gleich an einer Ampel rammen würden, und ich stützte meine Hände auf dem Armaturenbrett ab.

»Ich habe gesagt, dass er dich liebt, nicht, dass er dir vertraut«, betonte sie, bremste geschmeidig ab und hielt ungefähr fünfzehn Zentimeter vor der Stoßstange des Trucks an, obwohl ihre Augen die ganze Zeit auf mich gerichtet waren.

Mein Magen verkrampfte sich. »Du glaubst nicht, dass er mir vertraut?«

»Rachel«, redete sie mir gut zu und ließ den Wagen rol en, als die Ampel umschaltete, der Truck sich aber nicht bewegte. »Er verlässt die Stadt, ohne dir etwas zu sagen?

Dann sagt er dir nicht, wann er zurückkommt? Ich glaube nicht, dass jemand zwischen euch steht. Ich glaube, dass etwas zwischen euch steht. Du hast ihn bis ins Mark verängstigt, und er ist nicht Manns genug es zuzugeben, damit umzugehen und es zu überwinden.«

Ich sagte nichts und war froh, als wir wieder fuhren. Ich hatte ihm nicht nur Angst gemacht, ich hatte ihn in Krämpfe getrieben. Es musste furchtbar gewesen sein. Super, jetzt würde ich mich den ganzen Tag lang schuldig fühlen.

Ivy riss das Lenkrad herum und wechselte die Spur.

Jemand hupte, und sie beobachtete den Fahrer im Rückspiegel. Langsam ließ sich das Auto zurückfal en, zurückgedrängt von der Stärke ihres Blicks. »Stört es dich, wenn ich kurz bei meiner Familie anhalte? Es liegt auf dem Weg.«

»Kein Problem.« Ich unterdrückte ein Keuchen, als sie den Truck schnitt, den wir gerade überholt hatten. »Ivy, du magst ja blitzschnel e Reflexe haben, aber der Kerl, der den Trück fährt, ist jetzt traumatisiert.«

Sie schnaubte und vergrößerte den Abstand zum Auto vor uns auf ganze sechzig Zentimeter.

Ivy bemühte sich sichtlich darum, die geschäftigeren Ecken der Hol ows normal zu durchfahren, und langsam entspannten sich meine völ ig verkrampften Hände. Es war das erste Mal seit ungefähr einer Woche, dass wir zusammen waren und kein Jenks anwesend war, und keiner von uns hatte einen blassen Schimmer, was wir ihm zur Sonnenwende schenken sol ten. Ivy tendierte zu der beheizbaren Hundehütte, die sie in einem Katalog gesehen hatte; was auch immer nötig war, um ihn und seine Brut aus der Kirche zu kriegen. Ich würde mich ja schon mit einem Safe zufriedengeben, über den wir einen Teppich werfen konnten und so tun, als wäre es ein Ecktisch.

Während Ivy fuhr, wurden die Vorgärten langsam größer und die Bäume höher. Die Häuser wichen von der Straße zurück, bis man hinter dem Nadelbaumbestand nur noch ihre Dächer sah. Wir waren gerade noch innerhalb der Stadtgrenzen, direkt neben dem Fluss. Dieses Viertel lag eigentlich nicht auf dem Weg zum Einkaufscenter, aber die Schnel Straße war nicht weit entfernt und dadurch der Weg in die Stadt völ ig frei.

Ivy bog ohne zu Zögern in eine Einfahrt mit Tor ab. Zwil-lingsabdrücke zogen eine schwarze Spur durch die dünne Schneeschicht, die seit dem letzten Räumgang gefal en war.

Ich lehnte mich vor, um aus dem Fenster zu schauen, weil ich das Haus ihrer Eltern noch nie gesehen hatte. Der Wagen hielt vor einem alten, romantisch aussehenden dreistöckigen Haus. Es war weiß mit grün gestrichenen Fensterläden. Vor dem Haus stand ein kleiner roter Zweisitzer, völ ig frei von Schnee.

»Hier bist du aufgewachsen?«, fragte ich ungläubig, als ich ausstieg. Die Namen auf dem Briefkasten irritierten mich, bis mir einfiel, dass Vampire ihre Namen nach der Heirat behielten, um ihre Blutlinien intakt zu halten. Ivy war eine Tamwood, ihre Schwester eine Randal.

Ivy schlug die Autotür zu und ließ die Schlüssel in ihre schwarze Tasche fal en. »Yeah.« Sie musterte die jahreszeitlichen Lichterketten, die geschmackvol und unauffäl ig angeordnet waren. Die Sonne würde in knapp einer Stunde untergehen, und ich hoffte sehr, dass wir bis dahin wieder weg waren. Ich wol te nicht unbedingt auf ihre Mutter treffen.

»Komm rein«, sagte Ivy und polterte die sauber gekehrten Treppen hinauf. Ich folgte ihr auf die überdachte Veranda. Sie öffnete die Tür und rief: »Hü Ich bin zu Hause!«

Ich lächelte, als ich vor der Tür anhielt, um mir den Schnee von den Füßen zu stampfen. Mir gefiel es, wenn ihre Stimme so entspannt klang. Ich ging hinein, schloss die Tür und atmete tief ein. Nelken und Zimt - jemand hatte gebacken.

Der große Eingangsbereich war in altem Holz und dezenten Schattierungen von Weiß und Creme gehalten. Er war so nüchtern und elegant wie unser Wohnzimmer warm und zwanglos war. Ein Handlauf aus Zedernholz wand sich stilvol das Geländer der nahen Treppe empor. Es war warm, also knöpfte ich meinen Mantel auf und stopfte meine Handschuhe in die Taschen.

»Das ist Ericas Auto draußen. Sie ist wahrscheinlich in der Küche«, erklärte Ivy und ließ ihre Tasche auf einen kleinen Tisch neben der Tür fal en, der so stark poliert war, dass er aussah wie schwarzes Plastik.

Sie nahm ihren Mantel ab, warf ihn sich über den Arm und steuerte auf einen großen Durchgang auf der linken Seite zu, nur um anzuhalten, als auf der Treppe das Geräusch von Schritten erklang. Ivy sah hoch, und ihre ruhige Miene veränderte sich. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie glücklich war. Mein Blick folgte dem ihren zu einer jungen Frau, die gerade die Treppe-herunterkam.

Sie sah aus, als wäre sie um die siebzehn und trug ein dünnes Gothicoberteil, das ihren Bauch freiließ, schwarze Fingernägel und schwarzen Lippenstift. Silberne Ketten und Armreife schwangen überal an ihrem Körper, während sie von Stufe zu Stufe hüpfte, und ließen mich an die eingemerkte Seite in dem Buch denken. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten und stand in wilden, sorgfältig gestylten Stacheln von ihrem Kopf ab. Sie war noch nicht ganz entwickelt und noch nicht an den richtigen Stel en ausgefül t, aber ich konnte bereits sehen, dass sie einmal genauso aussehen würde wie ihre Schwester: schlank, elegant, raubtierartig und mit gerade genug orientalischem Einschlag, um sie exotisch aussehen zu lassen. Schön zu wissen, dass es in der Familie lag. Natürlich sah sie im Moment einfach nur aus wie ein Vamp-Teenager außer Kontrol e.

»Hi, Erica«, sagte Ivy, drehte um und wartete am Fuß der Treppe auf sie.

»Mein Gott, Ivy«, rief Erica, und ihre hel e Stimme war überladen mit einem aufgesetzten kalifornischen Akzent.

»Du musst mit Daddy reden. Er ist so absolut Big Brother!

Also ob ich nicht den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Brimstone kennen würde! Wenn man ihm zuhört, könnte man denken, ich wäre erst zwei und würde noch in Windeln rumkriechen und versuchen, den Hund zu beißen.

Gott! Er ist in der Küche«, fuhr sie nahtlos fort und musterte mich von oben bis unten, ohne ihren Redeschwal zu unterbrechen, »und macht Mum ihre organisch gewachsene, umweltfreundliche, politisch korrekte Dreckstasse Tee, während ich nicht mit meinen Freunden ausgehen darf. Das ist so unfair! Bleibst du? Sie wird bald durchs Haus toben.«

»Nein.« Ivy zog sich zurück. »Ich bin hier, um mit Dad zu reden. Er ist also in der Küche?«

»Jetzt Kel er«, korrigierte Erica. Endlich stand ihr Mund einmal stil . Sie ließ ihren Blick noch einmal prüfend über mich wandern, während ich noch dastand und mich darüber wunderte, wie schnel sie reden konnte. »Wer ist deine Freundin?«, fragte sie schließlich.

Ein leises Lächeln zog Ivys Mundwinkeln nach oben. »Erica, das ist Rachel.«

»Oh!« Ericas braune Augen, die fast völ ig hinter einer Schicht Mascara verborgen waren, öffneten sich weit. Sie trat vor und schnappte sich meine Hand, um sie mit klimpernden Armreifen enthusiastisch zu schütteln. »Ich hätt's wissen müssen! Hey, ich habe dich bei Piscarys gesehen«, sagte sie begeistert und schlug mir so fest auf die Schulter, dass ich einen Schritt nach vorne katapultiert wurde. »Hey, du warst aber richtig trunken. Hast den kurzen Bus genommen, bist mit dem Geist gewandert. Ich habe dich nicht erkannt.« Ihre Augen wanderten über meine Jeans und den Wintermantel.

»Du hattest ein Date mit Kisten? Hat er dich gebissen?«

Ich blinzelte, und Ivy lachte nervös. »Kaum. Rachel lässt sich von niemandem beißen.« Sie ging einen Schritt auf ihre Schwester zu und umarmte sie. Ich fühlte mich gut, als die jüngere Frau die Umarmung sorglos erwiderte, weil sie offenbar nicht wusste, wie selten Ivy andere berührte. Die zwei ließen sich wieder los, und Ivys Miene erstarrte. Sie atmete tief ein, und ihre Nasenflügel weiteten sich.

Erica grinste wie die Katze, die gerade den Kanarienvogel gefressen hat. »Rat mal, wen ich vom Flughafen abgeholt habe?«

Ivy richtete sich auf. »Skimmer ist hier.«

Es war fast ein Flüstern, und Erica tänzelte einen Schritt zurück. »Heute morgen eingeflogen«, sagte sie, so stolz als hätte sie das Flugzeug selbst gelandet. s Meine Augen weiteten sich. Ivy war völ ig verspannt. Ihr stockte der Atem, und sie wirbelte herum, als das Geräusch einer sich schließenden Tür zu hören war. »Erica? Ist das mein Taxi?«

»Skimmer!« Ivy ging einen Schritt auf die Tür zu, nur um dann wieder zurückzuweichen. Sie sah mich an und wirkte dabei lebendiger als ich sie seit langer Zeit gesehen hatte.

Ein leises Scharren im Türrahmen lenkte ihre Aufmerksamkeit von mir ab. Widersprüchliche Emotionen glitten über ihr Gesicht, und was letztendlich blieb war Glück. Das sagte mir, dass Skimmer eine der wenigen Personen war, in deren Nähe Ivy sich sicher genug fühlte, um sie selbst zu sein.

Also gibt es zwei von uns, dachte ich und drehte mich zu der jungen Frau um, die auf der Türschwel e stand. Ich fühlte, wie sich meine Brauen hoben, als ich mir anguckte, was wohl Skimmer sein musste. Sie trug ausgebleichte Jeans und eine schlichte weiße Bluse, was zusammen einen schönen Look von ungezwungener Raffinesse ergab. Unauffäl ige schwarze Stiefel ließen sie ungefähr auf meine Größe kommen. Die blonde Frau war schlank und gut gebaut und hielt sich mit der selbstbewussten Eleganz, die typisch war für lebende Vampire.

Sie trug eine einzelne Silberkette um den Hals, und ihr langes Haar war in einem einfachen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Das betonte ein fein geschnittenes Gesicht, für das Models wahrscheinlich ein Vermögen an Schönheitschirurgen zahlen würden. Ich starrte in ihre Augen und fragte mich, ob sie wirklich so blau waren oder ob sie nur wegen ihrer unglaublich langen Wimpern so wirkten.

Ihre Nase war klein und am Ende ein wenig nach oben gebogen, was ihrem Lächeln ein scheues Selbstbewusstsein verlieh.

»Was machst du hier?«, fragte Ivy, und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie zu ihr ging, um sie zu begrüßen. Die zwei Frauen umarmten sich lange. Meine Lippen öffneten sich, und ich erstarrte, als ich den langsamen Kuss beobachtete, den sie sich gaben, bevor sie auseinandertraten. Okay. .

Ivy warf mir einen Seitenblick zu, aber sie lächelte, als sie sich wieder Skimmer zuwandte und ihre Hand auf deren El bogen legte. Ein nicht enden wol endes Lächeln. »Ich kann nicht glauben, dass du hier bist!«

Auch Skimmer warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich auf Ivy konzentrierte. Sie sah aus, als hätte sie genügend Selbstvertrauen und Hirn, um Pferde zuzureiten, Aborigine-Kinder zu unterrichten und in einem Fünf-Sterne-Lokal zu essen, und das al es am selben Tag. Und sie und Ivy haben sich geküsst? Nicht nur ein Schmatzer, sondern ein richtiger. .

Kuss?

»Ich bin geschäftlich hier«, erklärte sie. »Langfristige Geschäfte«, fügte sie hinzu, ihre angenehme Stimme vol er Freude. »Ein Jahr, nehme ich an.«

»Ein Jahr! Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte dich abgeholt!«

Die Frau trat einen Schritt zurück, und Ivys Hand fiel von ihr ab. »Ich wol te dich überraschen«, sagte sie, und ihr Lächeln war aufrichtig. »Außerdem, ich war mir nicht sicher, wie deine Situation jetzt ist. Es ist so lange her«, schloss sie sanft.

Sie sah vielsagend auf mich, und mir wurde plötzlich heiß.

Ach, Mist auf Toast. Wie lange lebte ich jetzt mit Ivy zusammen? Wie hatte ich das nicht wissen können? War ich blind, oder einfach nur blöd?

»Verdammt«, fluchte Ivy, offensichtlich immer noch aufgeregt. »Es ist tol , dich zu sehen. Warum bist du hier?

Brauchst du eine Bleibe?«

Mein Puls erhöhte sich, und ich versuchte, meine Sorge nicht zu zeigen. Zwei von ihnen, zusammen, in der Kirche.

Nicht gut. Noch verstörender war, dass Skimmer sich bei Ivys Angebot zu entspannen schien, jedes Interesse an mir verlor und sich völ ig auf Ivy konzentrierte.

Erica stand neben mir und grinste verschmitzt. »Skimmer ist hier, um für Piscary zu arbeiten«, sagte sie, offensichtlich scharf drauf, zu erzählen, was sie für gute Neuigkeiten hielt.

Mein Gesicht wurde kalt. »Es ist al es arrangiert. Sie gehört jetzt zu ihm.« Sie spielte mit ihren Halsketten und strahlte.

»Genau, wie ich immer gedacht habe, dass es sein sol te.«

Ivy holte tief Luft. Erstaunen glitt über ihr Gesicht, und sie streckte eine Hand aus, um Skimmer an der Schulter zu berühren, als ob sie nicht glauben könnte, dass diese wirklich da war. »Du gehörst zu Piscary?«, hauchte sie, und ich fragte mich, was das wohl zu bedeuten hatte. »Wen oder was hat er für dich gegeben?«

Skimmer zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt nichts. Ich versuche schon seit sechs Jahren, mich in sein Gefolge einzuschleichen, und wenn ich diesmal meine Karten richtig ausspiele, wird es dauerhaft.« Sie ließ kurz den Kopf sinken, und als sie ihn wieder hob, waren ihre Augen vol von Freude und Eifer. »Ich wohne in der Zwischenzeit in Piscarys Wohnung«, erklärte sie, »aber danke für das Angebot, bei dir unterzukommen.«

Piscary, dachte ich, und meine Sorge nahm zu. Dort wohnte Kisten. Das wurde immer besser und besser. Auch Ivy schien darüber nachdenken zu müssen. »Du hast deine Stel e bei Natalie verlassen, um Piscarys Restaurant zu führen?«, fragte sie verständnislos, und Skimmer lachte. Es war ein angenehmes Lachen, aber al die Worte, die nicht ausgesprochen wurden, machten mich unruhig.

»Nein. Den Job kann Kist haben«, sagte sie beiläufig. »Ich bin hier, um Piscary aus dem Gefängnis zu holen. Meine permanente Aufnahme in Piscarys Gefolge hängt davon ab.

Wenn ich den Fal gewinne, bleibe ich. Wenn ich verliere, gehe ich zurück nach Hause.«

Ich erstarrte. Oh mein Gott. Sie war Piscarys Anwältin.

Skimmer zögerte, als Ivy nicht reagierte. Ivy drehte sich mit einem panischen Gesichtsausdruck zu mir um. Ich sah, wie ihre Mauer wieder runterkam und al es hinter sich verschloss. Ihr Glück, ihre Freude, ihre Begeisterung über das Wiedersehen mit einer alten Freundin; es war al es weg.

Etwas glitt zwischen uns, und ich fühlte, wie meine Brust sich verengte. Ericas Armreifen klapperten, als dem jungen Vamp aufging, dass etwas nicht stimmte, sie aber nicht verstand, was. Zur Höl e, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich verstand.

Plötzlich wachsam blickte Skimmer zwischen Ivy und mir hin und her. »Also, wer ist deine Freundin?«, fragte sie in das unangenehme Schweigen hinein.

Ivy leckte sich über die Lippen und drehte sich so um, dass sie mehr zu mir stand. Ich trat ein Stück nach vor, wusste aber nicht wirklich, wie ich reagieren sol te. »Rachel«, sagte Ivy, »ich möchte dir Skimmer vorstel en. Wir haben in den letzten zwei Jahren auf der Highschool an der Westküste zusammengewohnt. Skimmer, das ist Rachel, meine Partnerin.«

Ich atmete tief ein und versuchte mich zu entscheiden, wie ich mit der Situation umgehen sol te. Schließlich streckte ich die Hand aus, um ihre zu schütteln, aber Skimmer ging daran vorbei und umarmte mich fest.

Ich versuchte, mich nicht zu versteifen und mit dem Strom zu schwimmen, bis ich eine Gelegenheit fand, mit Ivy darüber zu reden, wie wir mit der Sache weiter umgehen sol ten. Piscary konnte nicht aus dem Gefängnis freikommen; ich würde nie wieder ein Auge zutun. Meine Arme umschlangen Skimmer in einer akzeptablen Umarmung.

Aber ich erstarrte, als die Frau ihre Lippen unter mein Ohr legte und flüsterte: »Schön, dich kennenzulernen.«

Plötzlich wurde meine Dämonennarbe aktiv und schickte heiße Wel en durch meinen Körper. Schockiert stieß ich Skimmer weg und nahm eine Verteidigungshaltung ein. Der lebende Vampir taumelte, und die Überraschung ließ ihre blauen Augen riesig aussehen. Erst nach eineinhalb Metern fing sie sich wieder. Erica keuchte, und Ivy war nur noch ein schwarzer Schatten, so schnel trat sie zwischen uns.

»Skimmer!«, schrie sie, und in ihrer Stimme lag fast Panik.

Sie stand mit dem Rücken zu mir.

Mein Herz raste, und mir brach der Schweiß aus. Das brennende Versprechen an meinem Hals tat weh, so stark war es, und ich legte eine Hand darauf und fühlte mich verraten und erschüttert.

»Sie ist mein Geschäftspartner!«, rief Ivy. »Nicht mein Blutpartner!«

Die schlanke Frau starrte uns an, und ihr Gesicht verfärbte sich peinlich berührt. »Oh Gott«, stammelte sie und kauerte sich in einer fast unterwürfigen Körperhaltung zusammen.

»Es tut mir leid.« Sie legte eine Hand über den Mund. »Es tut mir wirklich sehr leid.« Sie sah Ivy an, die sich langsam wieder entspannte. »Ivy, ich dachte, du hättest dir einen Schatten genommen. Sie riecht nach dir. Ich wol te nur höflich sein.« Skimmers Blick glitt zu mir, während ich versuchte, meinen Herzschlag wieder zur beruhigen. »Du hast mich gefragt, ob ich bei dir schlafen wil . Ich dachte. .

Gott, es tut mir leid. Ich dachte, sie wäre dein Schatten. Ich wusste nicht, dass sie deine. . Freundin ist.«

»Ist schon gut«, log ich und zwang mich in eine aufrechte Haltung. Mir gefiel die Art und Weise nicht, wie sie Freundin«

gesagt hatte. Es unterstel te mehr als wir waren. Aber momentan war ich nicht fähig, Ivys alter Mitbewohnerin zu erklären, dass wir weder Bett noch Blut teilten. Ivy war auch keine große Hilfe, sondern stand nur da wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Und ich hatte dieses seltsame Gefühl, dass ich irgendetwas verpasst hatte. Gott, wie bin ich nur hierher gekommen?

Erica stand mit weit aufgerissenen Augen am Fuß der Treppe. Skimmer sah gequält aus, als sie versuchte, ihren Fehler zu überspielen, indem sie ihre Hosen glatt strich und an ihren Haaren herumspielte. Sie holte tief Luft. Immer noch rot im Gesicht, streckte sie mir in einer offensichtlichen Absichtserklärung die Hand entgegen und trat vor. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal förmlich, als sie vor mir anhielt. »Mein Name ist Dorothy Claymor. Sie können mich auch so nennen, wenn Sie wol en. Wahrscheinlich verdiene ich es.«

Es gelang mir, ein gestelztes Lächeln aufzusetzen. »Rachel Morgan«, erwiderte ich und schüttelte ihre Hand.

Die Frau erstarrte, und ich zog mich zurück. Sie sah Ivy fragend an, und in ihrem Kopf setzte sich offensichtlich das Puzzle zusammen.

»Die, die Piscary ins Gefängnis gebracht hat«, fügte ich hinzu, nur damit sie auch wirklich wusste, wo ich stand.

Ein kränkliches Lächeln erschien auf Ivys Gesicht. Skimmer trat einen Schritt zurück und schaute irritiert zwischen uns hin und her. Verwirrung ließ ihre Wangen rot leuchten. Es war ein schrecklicher Schlamassel. Ein stinkender, klebriger, mistiger Schlamassel, und es wurde immer schlimmer.

Skimmer schluckte schwer. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Zögernd fügte sie hinzu »Junge, ist das schwierig.«

Ich fühlte, wie sich bei ihrem Eingeständnis meine Schultern entspannten. Sie würde tun, was sie tun musste, und ich würde tun, was ich tun musste. Und Ivy? Ivy würde verrückt werden.

Erica trat mit lautem Schmuckgebimmel vor. »Hey, ahm, wil viel eicht irgendwer ein Cookie oder irgendwas?«

Oh yeah. Ein Cookie. Das würde sicher al es besser machen.

Vielleicht in einen Tequila gestippt? Oder noch besser, einfach nur die Flasche Tequila? Yeah, das sol te funktionieren.

Skimmer zwang sich zu einem Lächeln. Ihr forsches Auftreten ließ deutlich nach, aber sie hielt sich ganz gut, wenn man bedachte, dass sie ihr Zuhause und ihren Meister verlassen hatte, um eine Beziehung mit einer alten Highschool-Freundin wieder aufzuwärmen, die mit der Frau zusammenwohnte, die ihren neuen Boss hinter Gitter gebracht hatte. Schalten sie auch nächste Woche wieder ein bei Tage der Untoten, wenn Rachel erfährt, dass ihr lang verloren geglaubter Bruder in Wirklichkeit ein außerirdischer Kronprinz ist. Mein Leben war so verbockt.

Skimmer sah auf ihre Uhr - ich konnte nicht anders, als zu bemerken, das anstel e von Zahlen Diamanten auf dem Ziffernblatt waren. »Ich muss gehen. Ich habe in ungefähr einer Stunde ein Meeting mit. . jemandem.«

Sie würde in einer Stunde jemanden treffen. Direkt nach Sonnenuntergang. Warum sagte sie nicht einfach, dass es Piscary war?

»Sol en wir dich mitnehmen?«, fragte Ivy. Sie klang fast schwermütig. Als ob sie jemals zulassen würde, dass ausgerechnet von ihr so ein Gefühl kam.

Skimmer schaute wieder von Ivy zu mir und dann wieder zurück zu Ivy. In ihren Augen flackerten kurz Enttäuschung und Schmerz auf. »Ich habe ein Taxi bestel t.« Sie schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Und ich glaube, es ist jetzt da.«

Ich hörte nichts, aber ich hatte auch nicht das Gehör eines Vampirs.

Skimmer schob sich umständlich nach vorne. »Es war schön, Sie zu kennenzulernen«, sagte sie zu mir, dann drehte sie sich zu Ivy um: »Wir reden später, Süße.« Sie schloss die Augen, als sie Ivy fest und lange umarmte.

Ivy war immer noch in schockierter Unentschlossenheit erstarrt und erwiderte die Umarmung wie betäubt.

»Skimmer«, sagte ich vorsichtig, als sie sich voneinander trennten und die erschütterte Frau eine dünne Jacke aus dem Garderobenschrank nahm und sie anzog. »Es ist nicht das, was Sie denken.«

Sie hielt mit der Hand auf der Türklinke inne und blickte Ivy einen Moment lang mit tiefem Bedauern an. »Es ist nicht wichtig, was ich denke«, sagte sie, als sie die Tür öffnete.

»Sondern, was Ivy wil .«

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie hatte schon leise die Tür hinter sich geschlossen.

17

Skimmers Abgang hinterließ ein unangenehmes Schweigen. Als das Taxi die Einfahrt hinunterfuhr, beobachtete ich Ivy, die verloren in dem sterilen weißen Flur mit seinen kalten, eleganten Dekorationen stand. Sie sah unglaublich schuldbewusst aus. Ich wusste warum. Sie war daran erinnert worden, dass sie immer noch glaubte, dass ich eines Tages ihr Nachkomme sein würde - offensichtlich mit noch ein paar Extras. Und meiner Meinung nach war Skimmer hierher gezogen, um diese Position auszufül en.

Als ich mich ihr zuwandte, wusste ich immer noch nicht so recht, was ich fühlen sol te. »Warum hast du sie in dem Glauben gelassen, dass wir Liebhaber sind?«, fragte ich verstört. »Gott, Ivy. Wir teilen nicht mal Blut, und sie glaubt, wir wären Geliebte.«

Ivys Gesicht wurde ausdruckslos, und nur eine leichte Anspannung im Kiefer verriet ihre Gefühle. »Das glaubt sie überhaupt nicht.« Sie stampfte aus dem Raum. »Wil st du ein Glas Saft?«, rief sie über die Schulter.

»Nein«, sagte ich leise, als ich ihr tiefer ins Haus folgte. Ich war mir bewusst, dass sie sich nur noch mehr sperren würde, wenn ich das Thema jetzt weiterverfolgte. Dieses Gespräch war noch nicht vorbei, aber es vor Erica zu führen, war keine gute Idee. Mein Kopf tat weh. Viel eicht konnte ich sie beim Einkaufen bei Käsekuchen und Kaffee zum Reden bringen.

Viel eicht sol te ich auch einfach nach Timbuktu ziehen, oder in die Berge von Tennessee, oder an irgendeinen anderen Ort, an dem es keine Vampire gab. (Fragen Sie nicht. Es ist seltsam, sogar für Inderlander - und das heißt eine Menge.) Erica folgte mir auf den Fersen. Ihr gedankenloses Geplapper war ein deutlich erkennbarer Versuch, die Fragen, die Skimmer aufgeworfen hatte, vergessen zu machen. Ihre fröhliche Stimme erfül te das sterile Haus mit Leben, als sie uns durch düstere, zugige Räume vol er dunkler Holzmöbel folgte. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, Erica und Jenks niemals in denselben Raum zu bringen. Kein Wunder, dass Ivy kein Problem mit Jenks hatte. Ihre Schwester war genauso.

Ivy beendete ihren Marsch, als wir einen dunkelblauen, formalen Empfangsraum verließen und eine hel erleuchtete, großzügige Küche betraten. Ich blinzelte. Ivy sah meinen erstaunten Blick und zuckte die Schultern. Ich wusste, dass Ivy die Küche der Kirche kurz vor meinem Einzug neu eingerichtet hatte. Als ich mich umsah, wurde mir klar, dass sie den Raum an die Küche angepasst hatte, in der sie aufgewachsen war.

Sie war fast genauso groß wie unsere, und dieselbe Arbeitsinsel stand in der der Mitte. Statt meiner Keramiklöffel und kupfernen Zauberkessel hingen schmiedeeiserne Töpfe und metal ene Utensilien darüber, aber letztendlich bildete sie dasselbe gemütliche Zentrum wie bei uns. Es gab einen schweren antiken Tisch - der Zwil ingsbruder von unserem -

an der nächstliegenden Wand, genau da, wo ich ihn erwartet hätte. Sogar die Schränke waren im selben Stil gehalten, und die Arbeitsflächen hatten dieselbe Farbe. Nur der Boden war gefliest und nicht mit Linoleum beklebt.

Über der Spüle, wo ich ein einzelnes Fester hatte, das den Friedhof überblickte, gab es eine ganze Reihe Fenster, die den Blick auf ein großes Schneefeld freigaben, das sich bis zu dem grauen Band zog, das der Ohio war. Ivys Eltern besaßen eine Menge Land. Hier konnte man ganze Kuhherden grasen lassen.

Auf dem Herd kochte ein Wasserkessel, und während Ivy ihn vom Feuer nahm, ließ ich meine Tasche auf den Tisch fal en, dort, wo zu Hause mein Stuhl stand. »Das ist nett«, sagte ich trocken.

Ivy warf mir einen vorsichtigen Blick zu und war anscheinend sehr erleichtert, dass ich die ausstehende Diskussion über Skimmer erst einmal fal en gelassen hatte.

»Es war bil iger, beide Küchen gleichzeitig machen zu lassen«, erklärte sie, und ich nickte. Es war warm, also drapierte ich meinen Mantel über der Stuhl ehne. s Erica stand auf einem Bein und streckte sich angestrengt nach einem Glas, das halbvol war mit etwas, das aussah wie Zuckercookies. Gegen den Tresen gelehnt aß sie eines und bot Ivy eines an, mir aber nicht. Ich hatte so ein Gefühl, dass es keine Zuckercookies waren, sondern diese schrecklichen, nach Pappe schmeckenden Teile, die Ivy mir letztes Jahr immer wieder in den Hals gestopft hatte, als ich mich von einem schweren Blutverlust erholen musste. Eine Art Vampir-Hausmittel, das ihnen dabei half ihren, ahm, Lebensstil aufrechtzuerhalten.

Ein gedämpftes Klopfen ertönte, und ich drehte mich zu etwas um, was ich bis jetzt für die Tür einer Abstel kammer gehalten hatte. Sie öffnete sich und gab den Blick frei auf eine Treppe, die nach unten führte. Ein großer, ausgezehrter Mann kam die Treppe hoch und trat aus den Schatten.

»Hi, Dad«, sagte Ivy, und ich richtete mich unwil kürlich auf.

Bei der Sanftheit in ihrer Stimme musste ich einfach lächeln.

»Ivy. .« Der Mann strahlte, als er ein Tablett mit zwei winzigen, leeren Tassen auf dem Tisch abstel te. Seine Stimme war heiser und passte zu seiner Haut: rau und unebenmäßig. Ich erkannte die Textur als Narben aus der Zeit des Wandels. Manche waren stärker betroffen gewesen als andere, und Hexen, Pixies und Fairies überhaupt nicht.

»Skimmer ist hier«, sagte er sanft.

»Ich habe sie gesehen«, erwiderte Ivy knapp, und er zögerte, als sonst nichts weiter kam.

Er sah müde aus, aber seine braunen Augen strahlten zufrieden, als er Ivy kurz umarmte. Weiches schwarzes Haar umrahmte sein ernstes Gesicht, das von Falten gezeichnet war, die mehr nach Sorge als nach Alter aussahen. Es war klar erkennbar, dass Ivy von ihm ihre Größe geerbt hatte. Der lebende Vampir war groß, mit einer Vornehmheit, die seinen ausgezehrten Körper ansprechend aussehen ließ statt unattraktiv. Er trug Jeans und ein einfaches Shirt. Feine, fast unsichtbare Linien überzogen seinen Hals, und seine Arme, soweit man sie unter den hochgeschobenen Ärmeln sehen konnte, zeigten auf der Unterseite dieselben Narben. Es musste schwer sein, mit einer Untoten verheiratet zu sein.

»Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist«, gestand er, und seine Augen streiften kurz zu mich und das Kreuz an meinem Amulett-Armband, bevor sie sich mit klar erkennbarer Freude und Wärme wieder seiner Tochter zuwandten. »Deine Mutter wird schon bald hochkommen.

Sie wil mit dir reden. Skimmer hat sie in eine selten gute Stimmung versetzt.«

»Nein.« Ivy zog sich von seiner Berührung zurück. »Ich wol te dich nur etwas fragen, das ist al es.«

Er nickte, und seine schmalen Lippen verzogen sich in resignierter Enttäuschung. Ich fühlte ein leises Kribbeln meiner Dämonennarbe, als er das dampfende Wasser in eine zweite Teekanne goss. Das Klappern des Porzel ans war laut.

Mit verschränkten Armen lehnte ich mich gegen den Tisch, um mich von den Geschehnissen zu distanzieren. Ich hoffte, dass das Kribbeln nur eine verspätete Reaktion auf Skimmer war und nicht von Ivys Dad stammte. Ich glaubte eigentlich nicht, dass er es war. Er wirkte zu ruhig, um innerlich gegen das Bedürfnis zu kämpfen, seinen Hunger zu stil en.

»Dad?« Ivy spürte wohl mein Unbehagen. »Das ist Rachel.

Rachel, das ist mein Dad.«

Als ob er wüsste, dass meine Narbe kribbelte, blieb Ivys Vater am anderen Ende der Küche und nahm Erica die Cookies weg, um sie zurück in das Glas zu tun. Das Mädchen schnaubte und zog eine Grimasse, als ihr Vater nur die Augenbrauen hob. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen«, sagte er, als er sich mir schließlich zuwandte.

»Hal o, Mr. Randal«, erwiderte ich höflich. Mir gefiel die Art nicht, wie er mich und Ivy ansah, als wir so neben einanderstanden. Ich fühlte mich plötzlich, als wäre ich auf einem Date und müsst die Eltern treffen. Ich errötete. Ich mochte auch sein wissendes Lächeln nicht. Anscheinend ging es Ivy genauso.

»Hör auf, Dad.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Rachel ist meine Mitbewohnerin, nicht meine Lebensgefährtin.«

»Du sorgst besser dafür, dass Skimmer das auch weiß.«

Seine schmale Brust hob sich, als er tief einatmete, um die Emotionen in der Luft zu wittern. »Sie ist deinetwegen hierher gekommen. Hat al es hinter sich gelassen. Denk gut nach, bevor du dich davon abwendest. Sie hat auch eine gute Blutlinie, eine ungebrochene tausendjährige Linie ist schwer zu finden.«

Anspannung überfiel mich wieder, und ich fühlte, wie ich mich versteifte.

»Oh Gott«, stöhnte Erica, wieder mit der Hand in der Keksdose. »Fang gar nicht erst an, Dad. Wir hatten gerade im Flur schon eine Szene.«

Mit einem Lächeln, das Zähne zeigte, streckte er die Hand aus, nahm ihr den Cookie aus der Hand und nahm einen Bissen. »Musst du nicht bald arbeiten?«, fragte er, nachdem er ihn runtergeschluckt hatte. Der junge Vampir tänzelte.

»Daddy, ich wil zu dem Konzert. Al e meine Freunde gehen hin.«

Meine Augenbrauen hoben sich. Ivy schüttelte kaum merklich den Kopf, um meine unausgesprochene Frage zu beantworten, ob wir ihm sagen sol ten, dass wir hingehen würden und ein Auge auf sie haben könnten.

»Nein«, sagte ihr Vater und wischte sich die Krümel vom Shirt, als er den Cookie aufgegessen hatte.

»Aber, Daddy. .«

Er öffnete die Dose wieder und nahm sich noch drei. »Du hast einfach nicht genug Selbstkontrol e . .«

Erica schnaufte empört und ließ sich gegen den Tresen fal en. »Meine Selbstkontrol e ist prima«, motzte sie.

Er richtete sich auf, und zum ersten Mal sah man unerbittliche Stärke in seinem Gesicht. »Erica, momentan tanzen deine Hormone Polka. In einer Nacht hast du dich in einer stressigen Situation vol unter Kontrol e, in der nächsten verlierst du die Beherrschung, während du einfach nur fernsiehst. Du trägst deine Kappen nicht, wie du sol test, und ich wil nicht, dass du aus Versehen jemanden an dich bindest.«

»Daddy!«, schrie sie und lief peinlich berührt rot an.

Ivy holte zwei Gläser aus dem Schrank und kicherte böse.

Meine Besorgnis ließ ein wenig nach.

»Ich weiß.. « Ihr Vater senkte den Kopf und hob beschwichtigend eine Hand. »Eine Menge deiner Freunde haben Schatten, und es sieht ganz lustig aus, jemanden hinter dir herscharwenzeln zu lassen, der immer da ist und um deine Aufmerksamkeit buhlt. Aber Erica, gebundene Schatten sind eine Menge Arbeit. Sie sind keine Haustiere, die du einem Freund geben kannst, wenn du keine Lust mehr auf sie hast. Sie brauchen Bestätigung und Aufmerksamkeit.

Du bist zu jung, um diese Art von Verantwortung zu tragen.«

»Daddy, hör auf!«, flehte Erica, offensichtlich gedemütigt.

Als Ivy eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank holte, setzte ich mich. Ich fragte mich, wie viel von Mr.

Randais Vortrag wirklich für Erica gedacht war und wie viel darauf ausgerichtet, mich aus der Umgebung seiner älteren Tochter zu verschrecken. Es funktionierte. Nicht, dass ich noch Ermunterung gebraucht hätte.

Das Gesicht des älteren Vampirs wurde streng. »Du bist nachlässig«, erklärte er barsch. »Gehst Risiken ein, die dich in Situationen bringen könnten, in denen du dich noch nicht wiederfinden wil st. Glaub bloß nicht, ich wüsste nicht, dass du die Kappen runternimmst, sobald du das Haus verlässt.

Du wirst nicht auf dieses Konzert gehen.«

»Das ist nicht fair!«, kreischte sie, und die Stacheln ihrer Haare wippten. »Ich kriege lauter Einsen und arbeite noch Teilzeit. Es ist nur ein Konzertl Es wird da nicht mal Brimstone geben!«

Er schüttelte den Kopf, als sie sich so aufplusterte. »Bis dieses verschnittene Zeug von der Straße ist, wirst du vor Sonnenuntergang zu Hause sein, junge Dame. Ich werde nicht in die Leichenhal en der Stadt gehen, um ein Mitglied meines Hauses heimzuholen. Ich habe das einmal getan, und ich bin nicht bereit, es noch mal zu tun.«

»Daddy!«

Ivy drückte ihrem Vater ein Glas Saft in die Hand und setzte sich dann mit ihrem Glas auf den Stuhl neben meinem.

Sie kreuzte die Beine und sagte: »Ich gehe zu dem Konzert.«

Erica keuchte, und ihr Schmuck klingelte, als sie einen Luftsprung machte. »Daddy! Ivy geht hin. Ich werde kein Brimstone nehmen und niemanden beißen. Ich verspreche es! Oh Gott! Bitte, lass mich gehen.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Mr. Randal Ivy an.

Sie zuckte mit den Schultern, und Erica hielt den Atem an.

»Wenn deine Mutter zustimmt, bin ich einverstanden«, sagte er schließlich.

»Danke, Daddy!« Erica stürzte sich auf ihn und warf ihren Vater trotz seiner Größe fast um. Mit klappernden Stiefeln riss sie die Tür zur Treppe auf und raste nach unten. Die Tür fiel zu, und Ericas Schreie erklangen nur noch gedämpft.

Mr. Randal seufzte, und seine schmalen Schultern hoben sich. »Wie lange genau wol test du sie betteln lassen, bevor du mir sagst, dass du auch gehst?«, fragte er trocken.

Ivy lächelte, hielt den Blick aber auf ihren Saft gerichtet.

»Lang genug, dass sie auf mich hört, wenn ich ihr erkläre, dass sie ihre Kappen tragen muss, weil ich es mir sonst anders überlege.«

Ihr Vater lachte leise. »Du lernst schnel , kleine Heuschrecke«, sagte er mit einem schweren, aufgesetzten Akzent.

Auf der Treppe hörte man ein Trampeln, und Erica schoss durch die Tür. Ihre Augen waren vor Aufregung völ ig schwarz, und ihre Ketten schwangen um ihren Hals. »Sie hat Ja gesagt! Ich muss weg! Hab dich lieb, Dad! Danke, Ivy!« Sie deutete mit den Händen ein Paar Hasenohren an und wackelte mit ihnen, als sie »Küsschen, Küsschen!« rief und aus dem Raum rannte.

»Hast du deine Kappen?«, schrie ihr Vater hinter ihr her.

»Ja!«, rief sie kaum noch hörbar zurück.

»Nimm ein paar von diesen Ketten ab, junge Dame!«, fügte er hinzu, aber die Tür schlug bereits zu. Die Ruhe war ein Segen. Ich erwiderte Ivys Lächeln mit faszinierter Bewunderung. Erica konnte einen Raum wirklich fül en.

Ivys Vater stel te sein Glas ab. Sein Gesicht schien noch mehr Falten zu bekommen, und ich konnte sehen, wie sehr es seinen Körper belastete, ausreichend Blut zu produzieren, das seine untote Frau brauchte, um nicht wahnsinnig zu werden.

Ich beobachtete Ivy, wie sie ihre Finger an ihrem Glas auf und ab schob. Langsam verblasste ihr Lächeln. »Hat sie Piscary besucht?«, fragte sie leise, und die plötzliche Sorge in ihrer Stimme erregte meine Aufmerksamkeit. Das war der Grund, warum Ivy mit ihrem Dad sprechen wol te, und als ich mir Ericas sorglose, wilde Unschuld unter Piscarys manipulativem Einfluss vorstel te, machte auch ich mir Sorgen.

Ivys Dad schien al erdings überhaupt kein Problem mit der Vorstel ung zu haben. Er trank einen Schluck, bevor er antwortete. »Ja. Sie besucht ihn al e zwei Wochen. Wie es der Respekt verlangt.« Meine Augenbrauen zogen sich bei der darin versteckten Frage zusammen, und ich war nicht überrascht, als er sie kurz darauf auch stel te: »Hast du?«

Ivys Finger auf dem Glas erstarrten. Unangenehm berührt sah ich mich nach einer Möglichkeit um, mich zu entschuldigen und mich im Auto zu verstecken. Ivy warf einen Blick zu mir, dann zu ihrem Vater. Er lehnte sich zurück und wartete. Von draußen hörte man das Brummen von Ericas Wagen, das sich langsam entfernte. Schließlich war das Ticken der Uhr auf dem Ofen das einzige Geräusch. Ivy atmete tief ein. »Dad, ich habe einen Fehler gemacht.«

Ich fühlte, wie die Augen von Ivys Dad sich auf mich richteten, obwohl ich aus dem Fenster starrte, um mich von der Unterhaltung zu distanzieren. »Wir sol ten darüber reden, wenn auch deine Mutter anwesend ist«, sagte er langsam, und ich keuchte.

»Weißt du«, wandte ich mich an Ivy und stand auf, »ich glaube, ich werde im Auto warten.«

»Ich wil nicht mit Mom darüber reden, ich wil mit dir darüber reden«, lehnte Ivy den Vorschlag ihres Vaters mürrisch ab. »Und es gibt keinen Grund, warum Rachel es nicht hören dürfte.«

Die versteckte Bitte in Ivys Stimme nagelte mich fest. Ich ließ mich wieder auf den Stuhl sinken und ignorierte die offensichtliche Missbil igung ihres Vaters. Viel eicht wol te sie mich als zweite Meinung bei dem Gespräch dabeihaben. Das konnte ich für sie tun.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, wiederholte Ivy leise.

»Ich wil nicht Piscarys Nachkomme sein.«

»Ivy. .« In diesem einen Wort schwang unendlicher Verdruss mit. »Es ist Zeit, dass du deine Verantwortung wahrnimmst. Deine Mutter war sein Nachkomme, bevor sie gestorben ist. Die Vorteile. .«

»Ich wil sie nicht!«, sagte Ivy heftig. Ich beobachtete ihre Augen genau und fragte mich, ob der Ring von Braun um ihre Pupil e wohl schon kleiner wurde. »Viel eicht, wenn er nicht die ganze Zeit in meinem Kopf wäre«, fügte sie hinzu und schob ihr Saftglas von sich. »Aber ich kann einfach nicht mehr damit leben. Er setzt mich ständig unter Druck.«

»Das würde er nicht tun, wenn du ihn besuchen würdest.«

Ivy setzte sich aufrechter hin, hielt ihre Augen aber auf den Tisch gerichtet. »Ich habe ihn besucht. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht sein Nachkomme sein würde und dass er aus meinem Kopf verschwinden sol . Er hat mich ausgelacht. Er hat gesagt, ich hätte eine Entscheidung getroffen, und jetzt hätte ich damit zu leben und zu sterben.«

»Du hast eine Entscheidung getroffen.«

»Und jetzt treffe ich eine andere«, schoss sie zurück, zwar mit unterwürfig gesenkten Augen, aber mit entschlossener Stimme. »Ich werde es nicht tun. Ich wil nicht die Unterwelt von Cincinnati anführen, und ich werde es nicht tun.« Sie atmete tief ein und sah ihrem Vater in die Augen. »Ich weiß nicht mehr, ob mir etwas gefäl t, weil ich es mag oder weil Piscary es mag. Dad, würdest du bitte für mich mit ihm reden?«

Meine Augen weiteten sich, als ich ihren bettelnden Tonfal hörte. Diesen Ton hatte ich erst ein einziges Mal bei ihr gehört, und da hatte sie gedacht, sie sei tot und hatte mich angefleht, sie zu beschützen. Mein Kiefer verkrampfte sich, als ich mich daran erinnerte. Gott, war das schrecklich gewesen. Als ich aufsah, weil er immer noch nichts sagte, war ich überrascht zu sehen, dass Ivys Vater mich beobachtete.

Seine Lippen waren zusammengepresst, und sein Blick war wütend, als wäre das al es mein Fehler.

»Du bist sein Nachkomme«, erklärte er, aber seine Augen waren anklagend auf mich gerichtet. »Hör auf, dich vor deinen Pflichten zu drücken.«

Ivys Nasenflügel weiteten sich. Ich wol te definitiv nicht hier sein, aber wenn ich mich jetzt bewegte, würde ich nur Aufmerksamkeit auf mich ziehen. »Ich habe einen Fehler gemacht«, gab sie wütend zu. »Und ich bin bereit, den Preis dafür zu zahlen, um da wieder rauszukommen, aber er wird anfangen, andere zu verletzten, nur damit ich tue, was er wil .

Und das ist nicht fair.«

Mr. Randal gab ein verächtliches Lachen von sich und stand auf. »Hast du wirklich etwas anderes erwartet? Er wird jeden und al es benutzen, um dich zu manipulieren. Er ist ein Meistervampir.« Ivys Vater legte seine Hände auf den Tisch und beugte sich zu ihr runter. »Das ist es nun mal, was sie tun.«

Ich fühlte mich kalt und wandte meine Augen wieder dem Fluss am Ende des Gartens zu. Es machte keinen Unterschied, ob Piscary im Gefängnis war oder nicht. Er musste nur ein Wort sagen, und seine Lakaien würden nicht nur Ivy unter Kontrol e bringen, sondern auch mich aus dem Weg schaffen. Es war viel eicht teuer, aber effektiv.

In diesem Moment hob Ivy den Kopf und schüttelte ihn beruhigend, bevor sie ihre feuchten Augen auf ihren Vater richtete. »Dad, er hat gesagt, dass er anfangen wird, Erica zu rufen.«

Das Gesicht des Mannes wurde so grau, dass die kleinen Fiebernarben deutlich hervortraten. Ich fühlte zuerst Erleichterung, dass Piscary nicht mich als Opfer ausgewählt hatte, dann Schuld, weil ich mich so gefühlt hatte. »Ich werde mit ihm reden«, flüsterte er, und die Sorge um seine unschuldige, unglaublich lebendige Tochter war klar zu hören.

Mir war übel. In ihrer Unterhaltung schwangen die dunklen, hässlichen Untertöne eines Pakts mit, den misshandelte Kinder miteinander schlössen, um jüngere, unschuldige Geschwister vor einem gewalttätigen Elternteil zu schützen. Das Gefühl verstärkte sich, als ihr Vater leise wiederholte: »Ich werde mit ihm reden.«

»Danke.«

Wir schienen uns in dem ungemütlichen Schweigen al e voneinander zu entfernen. Es war Zeit zu gehen. Ivy stand auf, und ich folgte sofort. Ich schnappte mir meinen Mantel von der Stuhl ehne und schlüpfte hinein. Ivys Vater erhob sich ebenfal s langsam und schien plötzlich doppelt so müde zu sein wie zu der Zeit, als wir gekommen waren. »Ivy«, sagte er, als er näher trat. »Ich bin stolz auf dich. Ich bin nicht einverstanden mit dem, was du tust, aber ich bin stolz auf dich.«

»Danke, Dad.« Sie umarmte ihn mit einem schmalen, erleichterten Lächeln. »Wir müssen los. Ich habe heute Abend einen Auftrag.«

»Darvans Mädchen?«, fragte er, und sie nickte. Die Spuren von Angst und Schuld waren noch nicht ganz aus ihrem Gesicht verschwunden. »Gut. Mach weiter mit dem, was du tust. Ich rede mit Piscary und schau mal, was ich vereinbaren kann.«

»Danke.«

Er drehte sich zu mir um. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Rachel.«

»Für mich auch, Mr. Randal.« Ich warf froh, dass das Vamp-Gerede anscheinend vorbei war. Wir konnten al e wieder so tun, als wären wir normal, und die Scheußlichkeiten unter den Fünftausend-Dol ar-Teppich kehren.

»Warte, Ivy. Hier.« Der Mann griff in seine hintere Hosentasche und zog eine alte Geldbörse hervor, womit er sich von einem Vampir in einen einfachen Vater verwandelte.

»Dad«, protestierte Ivy. »Ich habe mein eigenes Geld.«

Er lächelte schief. »Nimm es als Dankeschön dafür, dass du auf dem Konzert ein Auge auf Erica hast. Geh auf meine Kosten essen.«

Ich sagte nichts, als er einen Hundert-Dol ar-Schein in Ivys Hand schob und sie dann noch einmal an sich zog. »Ich rufe dich morgen früh an«, sagte er leise.

Ivy ließ die Schultern hängen. »Ich komme vorbei. Ich wil darüber nicht am Telefon reden.« Sie warf mir ein gezwungenes, schmal ippiges Lächeln zu. »Bist du so weit?«

Ich nickte Ivys Vater noch einmal zu, bevor ich ihr durch den Speisesaal zur Eingangstür folgte. Da ich wusste, wie gut Vamps hören konnten, hielt ich meinen Mund, bis die elegant geschnitzte Tür hinter uns ins Schloss gefal en war und wir wieder im Schnee standen. Es dämmerte schon, und die Schneewehen schienen in dem Licht, dass von den Wolken reflektiert wurde, zu leuchten.

Ericas Auto war weg. Mit klappernden Schlüsseln in der Hand zögerte Ivy. »Warte kurz«, sagte sie, und ihre Stiefel knirschten durch den Schnee zu der Stel e, wo vorher das rote Auto gestanden hatte. »Ich glaube, sie hat ihre Kappen weggeworfen.«

Ich wartete also, während Ivy neben den Reifenspuren stehen blieb. Mit geschlossenen Augen ahmte sie mit der Hand eine werfende Bewegung nach und ging dann zur anderen Seite der Einfahrt. Sie beugte sich zweimal nach unten und hob etwas auf. Dann kam sie zurück und stieg kommentarlos ins Auto.

Ich folgte ihr und schnal te mich an, während ich mir wünschte, dass es schon dunkler wäre, damit ich nicht sehen musste, wie sie fuhr. Als Reaktion auf mein fragendes Schweigen streckte Ivy den Arm aus und ließ zwei Stücke ausgehöhltes Plastik in meine Hand fal en. Das Auto startete, und ich richtete die Lüftung auf mich, in der Hoffnung, dass der Motor noch warm war. »Kappen?«, fragte ich, als Ivy losfuhr, und musterte die kleinen weißen Dinger in meiner Hand. Wie um Himmels wil en hatte sie die im Schnee gefunden?

»Mit einer Garantie, dass sie nicht die Haut durchdringen«, erklärte Ivy und presste wieder die schmalen Lippen aufeinander. »Damit sie niemanden aus Versehen an sich binden kann. Eigentlich sol te sie sie tragen, bis Dad ihr sagt, dass es nicht mehr sein muss. Und wenn sie so weitermacht, wird sie wohl dreißig sein, bis das passiert. Ich weiß, wo sie arbeitet. Macht es dir was aus, wenn wir sie ihr vorbeibringen?«

Ich schüttelte den Kopf und hielt ihr die Kappen wieder entgegen. Ivy kontrol ierte die Straße zu beiden Seiten der Einfahrt, bevor sie sich direkt vor einen blauen Kombi setzte, dessen Reifen prompt im Schnee durchdrehten. »Ich habe eine leere Kappendose in meiner Tasche. Würdest du sie für mich reintun?«

»Sicher.« Ich wühlte nur ungern in ihrer Tasche, aber wenn ich es nicht tat, würde sie es während der Fahrt tun, und mein Magen war schon verkrampft genug. Ich fühlte mich seltsam, als ich Ivys Handtasche auf meinen Schoß zog und sie öffnete. Sie war widerlich ordentlich. Nicht ein einziges benutztes Taschentuch oder fusselüberzogenes Bonbon.

»Meine ist die mit dem farbigen Glasdeckel«, sagte Ivy und beobachtete mit halber Aufmerksamkeit die Straße.

»Ich sol te noch irgendwo eine Plastikdose haben. Das Desinfektionsmittel ist wahrscheinlich noch in Ordnung. Dad würde sie töten, wenn er wüsste, dass sie sie einfach in den Schnee geschmissen hat. Sie kosten ungefähr so viel wir ihr Sommercamp in den Anden letztes Jahr.«

»Oh.« Die drei Sommer, die ich in Kalamacks Wünsch-Dir-Was-Camp für sterbende Kinder verbracht hatte, wirkten plötzlich lächerlich. Ich schob einen kleinen Behälter beiseite, der aussah wie eine aufwändig gestaltete Pil endose, und stieß auf eine viel eicht daumengroße Phiole. Ich schraubte den Deckel ab und sah, dass sie mit einer blauen Flüssigkeit gefül t war. »Das ist sie«, bestätigte Ivy, und ich ließ die Kappen hineinfal en. Sie schwammen an der Oberfläche, aber als ich gerade meinen kleinen Finger hineinstecken wol te, um sie nach unten zu drücken, fügte Ivy hinzu:

»Schraub einfach den Deckel drauf und schüttel. Dann sinken sie.«

Ich folgte ihren Anweisungen, ließ die Phiole wieder in ihre Tasche fal en und stel te diese wieder neben sie.

Ivy bedankte sich und meinte: »Das eine Mal, als ich meine

>verloren< hatte, habe ich für einen Monat Hausarrest bekommen.«

Ich warf ihr ein schwaches Lächeln zu und dachte, dass es ein bisschen so war, als würde man seine Bril e oder seine Zahnspange. . oder viel eicht auch sein Pessar verlieren. Oh Gott. Wol te ich das wirklich al es wissen?

»Du trägst immer noch Kappen?«, fragte ich dann doch, weil meine Neugier mich dazu zwang. Es schien ihr nicht peinlich zu sein. Viel eicht sol te ich einfach mitziehen.

Ivy schüttelte den Kopf und setzte den Blinker ungefähr eine Mil isekunde, bevor sie quer über zwei Spuren schoss, um auf die Auffahrt zur Schnel straße zu kommen. »Nein«, sagte sie, als ich mich am Türgriff festklammerte. »Nicht mehr, seitdem ich siebzehn war. Aber ich behalte sie, fal s. .«

Sie unterbrach sich mitten im Satz. »Für al e Fäl e.«

Für Fäl e wie . .?, fragte ich mich, beschloss aber dann, dass ich es eigentlich gar nicht wissen wol te. »Ahm, Ivy?«, begann ich stattdessen und versuchte, mir keine Gedanken darüber zu machen, wo sie sich als Nächstes in den fließenden Verkehr drängen würde. Ich hielt die Luft an, als wir uns einfädelten und hinter uns ein Hupkonzert losbrach. »Was zum Kuckuck bedeuten Hasenohren und >Küsschen, Küsschen<?«

Sie starrte mich verständnislos an, und ich machte zur Erklärung ein Peace-Zeichen und bog schnel hintereinander zweimal die Finger. Ein eigenartiges Lächeln verzog ihre Mundwinkel. »Das sind keine Hasenohren. Das sind Reißzähne.«

Ich dachte ein wenig darüber nach und errötete dann.

»Oh.«

Ivy lachte in sich hinein. Ich schaute sie mir einen Moment an, beschloss dann, dass es keinen besseren Moment geben würde, und atmete langsam ein. »Ahm, Skimmer . .«

Ihre gute Laune verschwand. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und richtete ihre Augen dann wieder auf die Straße.

»Wir waren Mitbewohner.« Sie wurde leicht rot und verriet mir damit, dass da mehr gewesen war. »Wir waren sehr eng verbundene Mitbewohner«, ergänzte sie vorsichtig, als ob ich das nicht schon al ein herausgefunden hätte. Ivy trat hart auf die Bremse, um einem schwarzen BMW auszuweichen, der sie hinter einem Minivan abklemmen wol te. Dann beschleunigte sie schnel und schoss auf die rechte Spur, um ihn abzuhängen.

»Sie ist deinetwegen hergekommen«, versuchte ich es noch einmal und fühlte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. »Warum hast du ihr nicht gesagt, dass wir nicht so sind?«

Ihr Griff um das Lenkrad wurde fester. »Weil. .« Sie atmete vorsichtig ein und schob ihre Haare hinters Ohr. Das war ein nervöser Tick von ihr, den ich nicht besonders oft zu sehen bekam. »Weil ich nicht wol te«, sagte sie dann trotzig, als sie hinter einem roten Lastwagen einscherte, der fünfzehn Meilen schnel er fuhr als erlaubt.

Mit besorgten Augen sah sie mich an und ignorierte den grünen Minivan, auf den sowohl der Lastwagen als auch wir zurasten. »Ich werde mich nicht entschuldigen, Rachel. In der Nacht, in der du entscheidest, dass Blut zu teilen nicht gleich Sex ist, werde ich da sein. Bis dahin nehme ich, was ich kriegen kann.«

Ich fühlte mich höl isch unwohl und rutschte in meinem Sitz hin und her. »Ivy. .«

»Tu es nicht«, warnte sie, als sie das Auto nach rechts riss und aufs Gas trat, um sich vor beide Wagen zu setzen. »Ich weiß, wie du darüber denkst. Ich kann deine Meinung nicht ändern. Du musst selbst einen Weg finden, es herauszufinden. Dass Skimmer da ist ändert überhaupt nichts.« Sie glitt vor den Van und warf mir ein sanftes Lächeln zu, das mich nur in meiner Meinung bestärkte, dass Blut sehr wohl gleich Sex war. »Und dann wirst du dich den Rest deines Lebens selbst treten, weil du so lange gewartet hast, diese Chance zu ergreifen.«

18

Die Werbepause begann, und die Lautstärke ließ mich auf meiner Couch zusammenfahren. Ich zog die Knie ans Kinn und umschlang meine Beine mit den Armen. Es war noch früh, gerade mal zwei Uhr morgens, und ich suchte immer noch nach einem Antrieb, um mir etwas zu essen zu machen.

Ivy war immer noch auf ihrem Job unterwegs. Trotz der unbequemen Unterhaltung im Auto hoffte ich immer noch, dass sie früh nach Hause kommen würde, damit wir essen gehen konnten. Ein Fertigessen aufzuwärmen und al ein zu essen übte ungefähr dieselbe Verlockung aus wie mir die Haut von den Schienbeinen zu ziehen.

Ich schnappte mir die Fernbedienung und stel te den Ton am Fernseher aus. Das war doch deprimierend. Ich saß an einem Freitagabend al ein auf dem Sofa und schaute Stirb langsam. Nick sol te bei mir sein. Ich vermisste ihn. Ich glaubte zumindest, ihn zu vermissen. Ich vermisste etwas.

Viel eicht vermisste ich einfach nur, dass jemand mich im Arm hielt. War ich wirklich so oberflächlich?

Ich schmiss die Fernbedienung hin und realisierte, dass aus im vorderen Teil der Kirche jemand sprach. Ich setzte mich auf; es war eine Männerstimme. Beunruhigt zapfte ich die Kraftlinie im Garten an. Kaum einen Atemzug später war mein Innerstes gefül t. Die Macht der Linie lief durch mich hindurch, und ich wol te schon aufstehen, als Jenks auf Kopfhöhe in den Raum geflogen kam. Das sanfte Summen seiner Flügel verriet mir sofort, dass wer auch immer vorne war, mich weder töten noch mir Geld bringen würde.

Mit weit aufgerissenen Augen landete er auf dem Lampenschirm. Der Pixiestaub, der von ihm herabrieselte, stieg durch die Hitze der Birne wieder nach oben.

Normalerweise lag er zu dieser Zeit schlafend in meinem Schreibtisch, weshalb ich meinen Selbstmitleidsanfal auch auf jetzt gelegt hatte, damit ich mich in Ruhe suhlen konnte.

»Hey, Jenks«, sagte ich, als ich die Linie losließ und die rohe Magie mich wieder verließ. »Wer ist da gekommen?«

Sein Gesicht war besorgt. »Rachel, wir haben viel eicht ein Problem.«

Ich beäugte ihn missmutig. Ich saß hier al eine und schaute Stirb langsam. Das war ein Problem, nicht was auch immer gerade zur Tür herein getrampelt war. »Wer ist es?«, wiederholte ich ruhig. »Die Zeugen Jehovas habe ich schon verschreckt. Man sol te meinen, sie würden kapieren, was los ist, wenn man in einer Kirche lebt, aber nein, nein, nein.«

Jenks runzelte die Stirn. »Irgendein Tiermensch mit Cowboyhut. Er wil , dass ich ein Papier unterschreibe, in dem steht, dass ich den Fisch gegessen habe, den wir für die Howlers gestohlen haben.«

»David?« Ich sprang von der Couch und ging in den Altarraum.

Jenks Flügel gaben ein hartes Summen von sich, als er neben mir herflog. »Wer ist David?«

»Ein Versicherungssachverständiger.« Ich runzelte irritiert die Stirn. »Ich habe ihn gestern getroffen.«

Und wirklich, David stand in seinem langen Mantel in der Mitte des Raums, hatte den Hut über die Augen gezogen und sah unbehaglich aus. Die Pixiekinder beobachteten ihn neugierig aus einer Schreibtischschublade. Er telefonierte am Handy. Als er mich sah, murmelte er ein paar Worte, schloss das Gerät und steckte es ein.

»Hal o, Rachel«, begrüßte er mich und zuckte zusammen, als seine Stimme widerhal te. Seine Augen glitten über meine bequemen Jeans und den roten Pul i und hoben sich dann zur Decke, während er von einem Fuß auf den anderen trat und seinen Hut abnahm. Es war offensichtlich, dass er sich in einer Kirche nicht wohlfühlte, wie die meisten Tiermenschen; aber die Gründe dafür waren psychologisch, nicht physiologisch.

»Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen«, sagte er, als er seinen Hut abnahm und ihn verkrampft zusammenknül te.

»Aber Hörensagen wird in diesem Fal nicht ausreichen. Ich brauche eine Aussage Ihres Partners, die verifiziert, dass er diesen Wunschfisch gegessen hat.«

»Heiliger Dreck! Es war ein Wunschfisch?« Aus dem Schreibtisch erklang ein Chor von schril en Schreien. Jenks gab ein barsches Geräusch von sich, und die aufgereihten Gesichter verschwanden wieder in den Schatten.

David zog ein dreimal gefaltetes Stück Papier aus der Tasche seines Mantels und öffnete es auf Ivys Klavier. Er strich es glatt und fragte: »Wenn Sie hier unterschreiben könnten?« Dann richtete er sich mit einem misstrauischen Blick auf. »Sie haben ihn doch gegessen, oder?«

Jenks sah ängstlich aus, und seine Flügel waren tief blau.

»Yeah. Wir haben ihn gegessen. Hat das gesundheitliche Folgen?«

Ich versuchte noch, mein Lächeln zu verstecken, aber David grinste breit, und seine Zähne leuchteten fast in dem Dämmerlicht des Altarraums. »Ich glaube, es wird Ihnen gut gehen, Mr. Jenks«, sagte er beruhigend und hielt Jenks einen Stift entgegen.

Meine Augenbrauen hoben sich. David zögerte und schaute von dem Stift zu dem Pixie. Der Stift war der größere von beiden. »Ahm« Nervös trat er wieder von einem Fuß auf den anderen.

»Schon kapiert.« Jenks schoss zum Schreibtisch und kam mit einem Bleistiftstummel zurück. Ich beobachtete, wie er sorgfältig seinen Namen schrieb. Das Geplapper im Ultraschal bereich, das aus dem Tisch drang, tat mir in den Ohren weh. Jenks erhob sich und flatterte unruhig. »Hey, ahm, wir bekommen jetzt keine Schwierigkeiten, oder?«

Ich konnte das durchdringende Aroma von Tinte riechen, und David sah von dem Schriftstück auf, das er gerade beglaubigte. »Nicht von unserer Seite. Ich danke Ihnen, Mr.

Jenks.« Er sah mich an. »Rachel.«

Das sanfte Klirren der Fenster, als sich der Luftdruck im Raum veränderte, ließ uns beide aufblicken. Jemand hatte die Hintertür zur Kirche geöffnet. »Rachel?«, erklang eine hohe Stimme, und ich blinzelte.

Meine Mutter? Verwirrt sah ich David an. »Ahm, es ist meine Mutter. Viel eicht sol ten Sie besser gehen. Außer, Sie wol en, dass sie Sie zu einem Date mit mir drängt.«

Davids Gesicht wirkte erschrocken, als er das Dokument wieder einsteckte. »Nein, ich bin hier fertig. Ich hätte viel eicht vorher anrufen sol en, aber es sind die normalen Geschäftszeiten.«

Mein Gesicht erwärmte sich. Ich hatte gerade zehntausend Dol ar auf meinem Konto deponiert, und das war Quen und seinem »kleinen Problem* zu verdanken. Ich konnte eine Nacht rumsitzen und mich in Selbstmitleid suhlen, wenn ich wol te. Und ich würde den Teufel tun und jetzt die Zauber vorbereiten, die ich für den besagten Auftrag morgen brauchen würde. Bei abnehmendem Mond nach Mitternacht zu zaubern hieß Ärger geradezu herauszufordern. Außerdem ging es ihn überhaupt nichts an, wie ich meinen Tag organisierte.

Ich fühlte mich bedrängt und sah in den hinteren Teil der Kirche. Ich wol te zwar nicht unhöflich sein, aber ich wol te auch nicht, dass meine Mutter David mit endlosen Fragen in die Mangel nah. »Ich bin gleich da, Mom«, schrie ich und drehte mich zu Jenks um. »Bringst du ihn für mich zur Tür?«

»Sicher, Rache.« Jenks erhob sich in Kopfhöhe, um David ins Foyer zu begleiten.

»Wiedersehen, David«, sagte ich hastig, und er winkte mir zum Abschied und setzte seinen Hut auf.

Warum passiert immer al es auf einmal?, dachte ich, als ich in die Küche eilte. Dass meine Mutter mich unangekündigt besuchte, würde einem schon tol en Tag den Rest geben.

Müde betrat ich die Küche und sah meine Mutter, die gerade ihren Kopf in den Kühlschrank steckte. Aus dem Altarraum hörte man das Schlagen der Vordertür.

»Mom«, begann ich und versuchte, meine Stimme erfreut klingen zu lassen. »Es ist tol , dich zu sehen. Aber es sind Geschäftszeiten.« Meine Gedanken wanderten zu meinem Badezimmer, und ich fragte mich, ob meine Unterwäsche noch auf dem Ständer hing.

Lächelnd richtete sie sich auf und warf mir an der Kühlschranktür vorbei einen Blick zu. Sie trug eine Sonnenbril e, und das sah zu ihrem Strohhut und dem Sommerkleid wirklich seltsam aus. Sommerkleid? Sie trug ein Sommerkleid? Da draußen hatte es Minusgrade.

»Rachel!« Lächelnd schloss sie die Tür und öffnete ihre Arme. »Lass dich umarmen, meine Süße.«

Meine Gedanken rasten, als ich ihre Umarmung geistesabwesend erwiderte. Viel eicht sol te ich ihre Psychologen anrufen und sicherstel ten, dass sie noch zu ihren Terminen ging. Ein seltsamer Geruch umgab sie, und als ich mich von ihr löste, fragte ich: »Was für ein Parfüm trägst du da? Es riecht wie verbrannter Bernstein.«

»Das ist es auch, Liebste.«

Entsetzt wanderten meine Augen zu ihrem Gesicht. Ihre Stimme war um mehrere Oktaven gefal en. Adrenalin brachte mich zum Zittern. Hastig warf ich mich zurück, nur um festzustel en, dass Finger in weißen Handschuhen meine Schulter umklammerten. Ich erstarrte und war unfähig mich zu bewegen, als Wel en von Jenseits über ihre Gestalt glitten und schließlich Algaliarept freigaben. Oh Scheiße. Ich bin tot.

»Guten Abend, Vertrauter«, sagte der Dämon und schenkte mir ein Lächeln, das breite flache Zähne präsentierte. »Lass uns eine Kraftlinie finden und dich nach Hause bringen, hm?«

»Jenks!«, kreischte ich und hörte die Panik in meiner Stimme. Dann lehnte ich mich zurück, schwang mein Bein und trat ihn vol in die Eier.

AI grunzte, und seine roten, ziegenartig geschlitzten Augen weiteten sich. »Miststück«, zischte er, griff nach unten und packte meinen Knöchel.

Keuchend fiel ich auf den Hintern, als er mir die Füße wegzog. Ich landete mit einem Knal und wurde endgültig panisch. Während ich hilflos in seine Richtung trat, schleppte er mich aus der Küche in den Flur.

»Rachel«, schrie Jenks, und schwarzer Pixiestaub rieselte von ihm.

»Bring mir ein Amulett«, rief ich, als ich mich am Türrahmen festklammerte. Oh Gott. Er hatte mich. Wenn er mich zu einer Kraftlinie bekam, konnte er mich körperlich ins Jenseits zerren, egal, ob ich zustimmte oder nicht.

Meine Arme verkrampften sich, als ich versuchte, mich so lange an der Wand festzuhalten, bis Jenks meinen Zauberschrank geöffnet und mir ein Amulett gebracht hatte.

Ich brauchte keinen Fingerstick, weil meine Lippe nach dem Fal sowieso blutete.

»Hier«, schrie Jenks und schwebte auf Knöchelhöhe, um mir ins Gesicht sehen zu können. Er hatte die Kordel eines Schlafamuletts in der Hand. In seinen Augen stand Angst, und seine Flügel leuchteten rot.

»Ich denke, eher nicht, Hexe«, sagte AI und riss an mir.

Schmerz schoss durch meine Schulter, und mein Griff löste sich. »Rachel«, kreischte Jenks hilflos, als meine Fingernägel über den Holzboden des Flurs und dann über den Teppich des Wohnzimmers kratzten.

AI murmelte etwas Lateinisches, und ich schrie, als eine Explosion die Hintertür aus den Angeln riss.

»Jenks! Verschwinde! Bring die Kinder in Sicherheit!«

Kalte Luft drang in den Raum. Hunde bel ten, als ich auf dem Bauch die Treppe hinuntergezogen wurde. Schnee, Eis und Salz schürften über meinen Bauch und mein Kinn. Ich starrte den zertrümmerten Türrahmen an, als plötzlich Davids Silhouette vor dem Licht erschien. Ich hielt meine Hand auf, um das Amulett fangen zu können, das Jenks hatte fal en lassen. »Das Amulett«, schrie ich, obwohl er offenbar keine Ahnung hatte, was ich wol te. »Wirf mir das Amulett zu!«

AI blieb stehen und drehte sich um. Seine englischen Reitstiefel hatten Abdrücke auf dem ungeräumten Weg hinterlassen. »Detrudo«, sagte er, was offensichtlich ein Auslöser für einen Fluch war.

Ich keuchte, als ein schwarzroter Schatten aus Jenseits David traf und ihn gegen die gegenüberliegende Wand und aus meinem Blickfeld schleuderte. »David!« Ohne sich um mein Geschrei zu kümmern, zog AI mich weiter.

Ich wand mich, bis ich auf meinem Hintern saß und nicht mehr auf dem Bauch lag. So zog ich einen breiten Streifen hinter AI durch den Schnee, als er mich strampelnd zu dem hölzernen Gartentor zerrte, das auf die Straße führte. AI konnte die Kraftlinie durch den Friedhof nicht benutzen, um mich ins Jenseits zu ziehen, weil sie völ ig von heiligem Boden umgeben war, den er nicht betreten konnte. Die nächste Kraftlinie, von der ich wusste, war acht Blocks entfernt. Ich habe eine Chance, dachte ich, während der kalte Schnee meine Jeans durchnässte.

»Lass mich los!«, fauchte ich und trat mit meinem freien Fuß in Als Kniekehlen.

Sein Bein gab nach, und er blieb stehen. Die Wut in seinem Blick war im Licht der Straßenlaternen klar zu sehen.

Er konnte seine Gestalt nicht rauchig werden lassen, um meinen Tritten auszuweichen, weil ich mich sonst aus seinem Griff winden konnte. »Was für ein Hundsfott du doch bist«, stel te er fest, nahm meine beiden Knöchel in eine Hand und ging weiter.

»Ich wil nicht gehen!«, schrie ich und klammerte mich an das Tor, als er mich hindurch zog. Wir kamen zu einem abrupten Halt, und AI seufzte.

»Lass das Tor los«, sagte er müde.

»Nein!« Meine Muskeln fingen an zu zittern, als ich darum kämpfte, hängen zu bleiben, während AI weiterzog. Ich hatte nur einen einzigen Kraftlinienzauber in meinem Unterbewusstsein verankert, aber mich und AI in einem Schutzkreis einzuschließen würde nichts bringen. Er konnte ihn so leicht brechen wie ich auch, jetzt, wo seine Aura den Kreis verschmutzen würde.

Wieder schrie ich, als AI es aufgab, mich durch das Tor ziehen zu wol en und mich stattdessen hochhob und über seine Schulter warf. Mir blieb die Luft weg, als seine muskulöse Schulter sich in meinen Bauch rammte. Er stank nach verbranntem Bernstein, und ich kämpfte darum, mich zu befreien.

»Das wäre so viel einfacher«, sagte er, als ich ihm ohne größere Reaktion meinen El bogen zwischen die Schulterblätter rammte, »wenn du einfach akzeptieren würdest, dass ich dich habe. Sag einfach, dass du freiwil ig mitkommst, dann kann ich uns von hier aus in eine Linie transportieren, und du ersparst dir eine Menge Peinlichkeiten.«

»Peinlichkeiten machen mir keine Sorgen!« Ich streckte mich nach dem an mir vorbeigleitenden Ast eines Baumes und atmete kurz auf, als ich ihn erwischte. AI wurde nach hinten gerissen und verlor kurz das Gleichgewicht.

»Oh, schau«, sagte er, als er mich losriss, sodass meine Handflächen zerkratzt wurden und bluteten. »Dein Wolfsfreund wil spielen.«

David, dachte ich erschrocken und wand mich, um über seine Schulter zu sehen. Ein riesiger Schatten stand mitten auf der erleuchteten, schneebedeckten Straße. Er hatte sich in weniger als drei Minuten verwandelt. Gott, das musste wehgetan haben.

Und er war riesig, da er seine gesamte menschliche Masse behalten hatte. Sein Kopf wäre ungefähr auf Höhe meiner Schulter, schätzte ich. Sein seidiger schwarzer Pelz, der mehr aussah wie Haare, bewegte sich im kalten Wind. Seine Ohren lagen flach am Kopf an, und ein unglaublich tiefes, warnendes Knurren stieg aus seiner Kehle. Pfoten, die ungefähr so groß waren wie meine gespreizten Hände, gruben sich in den Schnee, als er uns den Weg versperrte. Er warnte mit einem tiefen Bel en und AI kicherte. In den umliegenden Häusern gingen die Lichter an, und Leute schielten hinter Vorhängen hervor. »Sie gehört rechtsgültig mir«, erklärte AI leichtfertig. »Ich bringe sie nur nach Hause.

Versuch es nicht mal.«

AI ging die Straße hinunter, und ich wusste nicht, ob ich nach Hilfe schreien oder einfach akzeptieren sol te, dass ich verloren hatte. Ein Auto näherte sich, und seine Scheinwerfer beleuchteten uns harsch. »Guter Hund«, murmelte AI, als wir mit gut drei Metern Abstand an David vorbeigingen. Im Licht der Straßenlampen sah ich, wie er seinen Kopf beugte, und ich fragte mich schon, ob er aufgegeben hatte, weil er wusste, dass er nichts tun konnte. Doch dann hob er den Kopf wieder und folgte uns.

»David, du kannst nichts tun. David, nein!«, rief ich, als sein langsamer Trab plötzlich in vol en Galopp wechselte. Seine Augen zeigten nichts als Mordlust, als er genau auf mich lossprang. Sicher, ich wol te nicht ins Jenseits gezogen werden, aber eigentlich wol te ich auch nicht sterben.

Fluchend drehte AI sich um. »Vacuefacio«, sagte er und streckte eine Hand aus.

Ich wand mich auf seiner Schulter, um etwas zu sehen. Ein schwarzer Bal aus Energie schoss aus seiner Hand und beendete Davids stil e Attacke ungefähr einen halben Meter vor uns. Davids riesige Pfoten gruben sich noch in den Schnee, aber er rannte genau hinein. Mit einem Kläffen wurde er zurückgeworfen und rol te in einen Schneehaufen.

Es roch kurz nach versengten Haaren.

»David!«, schrie ich hilflos und fühlte nichts von der Kälte, die mich umgab. »Geht es dir gut?«

Ich jaulte auf, als AI mich auf den Boden fal en ließ und mit einer vierschrötigen Hand so fest meine Schulter packte, dass ich sofort wieder vor Schmerzen aufschrie. Die dicke Schicht von zusammengepresstem Schnee unter mir schmolz, und mein Hintern wurde taub von dem Schmerz und der Kälte. »Idiot«, murmelte AI sich selbst zu. »Du hast einen Familiaris, warum bei der Asche deiner Mutter benutzt du ihn nicht?«

Er lächelte mich an, und seine dichten Augenbrauen hoben sich in Vorfreude. »Bereit für die Arbeit, Rachel, Liebes?«

Mein Atem gefror mir im Hals. Angsterfül t starrte ich zu ihm hoch und fühlte, wie mein Gesicht bleich wurde und meine Augen sich weiteten. »Bitte nicht«, flüsterte ich.

Er grinste nur umso breiter. »Halt das für mich«, sagte er lässig.

Ein Schmerzensschrei drang aus meiner Kehle, als AI eine Linie anzapfte und ihre Stärke in mich schießen ließ. Meine Muskeln verspannten sich, und Krämpfe schüttelten mich, bis mein Gesicht auf das Pflaster knal te. Ich brannte. Ich rol te mich in einer fötalen Haltung zusammen und hielt mir die Ohren zu. Schrei um Schrei ertönte, und ich konnte sie nicht ausblenden. Sie schlugen gegen mein Bewusstsein und waren das Einzige, was ich als real wahrnehmen konnte außer den Höl enqualen in meinem Kopf. Die Macht der Linie fuhr durch mich wie eine Explosion, fül te mein Innerstes und floss in meine Arme und Beine über. Mein Hirn fühlte sich an, als hätte es jemand in Säure gebadet, und die ganze Zeit quälte dieses schreckliche Gebrül meine Ohren. Ich stand in Flammen. Ich brannte.

Plötzlich ging mir auf, dass die Schreie aus mir kamen.

Heftige, tiefe Schluchzer nahmen ihren Platz ein, als es mir gelang, aufzuhören. Ein unheimliches, wehklagendes Heulen erhob sich, und schließlich schaffte ich es, auch das zu stoppen. Keuchend öffnete ich die Augen. Meine Hände waren bleich und zitterten in dem Licht eines Autos. Sie waren nicht verbrannt. Der Geruch von verschmortem Bernstein kam nicht daher, dass meine Haut langsam verkohlte. Das al es war nur in meinem Kopf.

Oh Gott. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er an drei Orten gleichzeitig. Ich hörte al es zweimal, roch al es zweimal und hatte Gedanken, die nicht mir gehörten. AI wusste al es, was fühlte, al es, was ich dachte. Ich konnte nur beten, dass ich Nick nicht dasselbe angetan hatte.

»Besser?«, fragte AI, und es riss mich zurück, als wäre ich mit der Peitsche geschlagen worden, weil ich seine Stimme gleichzeitig mit meinen Ohren und in meinem Kopf hörte.

»Nicht schlecht«, sagte er und zerrte mich auf die Füße, ohne dass ich Widerstand leistete. »Ceri ist in Ohnmacht gefal en, als sie nur halb so viel hielt, und es hat drei Monate gebraucht, bis sie aufgehört hat, dieses schreckliche Geräusch von sich zu geben. Komm mit, Rachel, Liebes.« AI hatte klar erkennbar gute Laune, als er mich über den Schneeberg am Straßenrand auf den geräumten Gehsteig zog. »Dein Wolf hat aufgegeben, und wir haben noch ein gutes Stück zu laufen, bevor ich dich an einer Kraftlinie habe

- außer, du unterwirfst dich mir.«

Stolpernd taumelte ich hinter AI her. Meine strumpfsockigen Füße waren kalt und betäubt. Seine Hand umfasste meinen Arm fester als jede Metal fessel.

Algaliarepts Schatten fiel hinter uns und reichte bis zu der Stel e, wo David sich hechelnd aufrappelte und den Kopf schüttelte. Ich konnte nichts tun, nichts fühlen, als Davids Lefzen sich über seine Zähne zurückzogen. Lautlos sprang er.

Taub und ohne Gefühl beobachtete ich al es, wie aus weiter Ferne. AI al erdings war sich seiner Umgebung sehr bewusst.

»Celero fervefacio!«, rief er wütend, und ich schrie, als der Fluch sich durch mich hindurchbrannte. Die Macht von Als Magie explodierte aus seiner ausgestreckten Hand und traf David. In einem Blitz schmolz der Schnee unter dem Werwolf, der sich im nächsten Moment auf dem schwarzen Asphalt wand. Ich kreischte unter Qualen auf - unterdrückte es, fing es ein - und hörte, wie sich mein Schrei in das Heulen einer Banshee verwandelte.

»Bitte. . nicht mehr«, flüsterte ich erschöpft, und Spucke tropfte von meinen Lippen und schmolz ein Loch in den Schnee. Ich starrte auf das dreckige Weiß und dachte, dass das meine Seele war. Kraterartig und beschmutzt zahlte ich für Als schwarze Magie. Ich konnte nicht denken. Der Schmerz raste immer noch durch meinen Körper und wurde langsam zu einer bekannten Agonie.

Das Geräusch angsterfül ter Menschen zog meinen trüben Blick nach oben. Die Nachbarschaft beobachtete al es aus Türen und Fenstern. Wahrscheinlich würde ich in den Nachrichten erscheinen. Ein scharfer Knal - zog meine Aufmerksamkeit auf das Haus, an dem wir schon vorbeiwaren und in dessen Garten ein elegantes Schneeschloss mit Zinnen und Türmchen stand. Das Licht aus der geöffneten Tür strahlte über den zertrampelten Schnee fast bis zu AI und mir. Mir stockte der Atem, als ich Ceri mit Ivys Kreuz um den Hals auf der Türschwel e stehen sah. Ihr Nachthemd wehte weiß und wogend bis auf die Veranda. Ihr offenes Haar umfloss sie und fiel ihr fast bis auf die Hüfte.

Sie war stocksteif vor Ärger. »Du«, sagte sie bestimmt, und ihre Stimme klang klar über den Schnee.

Hinter mir ertönte ein warnendes Jaulen, und ich fühlte ein kurzes Ziehen. Durch Als Wissen war mir instinktiv klar, dass Ceri einen Schutzkreis um mich und AI errichtet hatte. Ein hilfloses Schluchzen entkam mir, aber ich hielt mich an dem Gefühl fest wie ein hungriger Köter an Abfal . Ich hatte etwas gefühlt, was nicht von AI kam. Das dem Dämon gehörende Gefühl von Ärger folgte direkt auf meine Verzweiflung und übertönte sie, bis ich nicht mehr wusste, wie ich mich fühlte.

Durch AI war mir klar, dass der Kreis nutzlos war. Man konnte einen Schutzkreis ziehen, ohne ihn vorher zu zeichnen, aber nur ein gezeichneter Kreis war stark genug, um einen Dämon zu halten.

AI machte sich nicht einmal die Mühe langsamer zu werden und zog mich in die dünne Decke aus Jenseits.

Mein Atem wurde zischend aus mir herausgepresst, als die Kraft, die Ceri in den Schutzkreis gelegt hatte, in mich floss.

Ich schrie auf, als eine neue Wel e von Feuer meine Haut umhül te. Es ging von dort aus, wo ich die Hül e zum ersten Mal berührt hatte, und ergoss sich wie eine Flüssigkeit über mich. Schmerz suchte nach meinem Innersten und fand es.

Ich schrie wieder und wand mich aus Als Griff, als die Energie mein übervol es Chi erreichte. Die Jenseitsenergie pral te ab und schoss durch mich hindurch, um sich am einzigen Ort niederzulassen, wo sie Platz erzwingen konnte: in meinem Kopf. Früher oder später würde es zu viel werden, und ich würde wahnsinnig.

Ich krümmte mich zusammen. Der raue Gehsteig schürfte mir Hüfte und Schulter auf, als ich in Zuckungen fiel.

Langsam wurde es erträglicher, und ich konnte aufhören zu schreien. Der letzte Schrei endete in einem Stöhnen, das die Hunde der Nachbarschaft zum Schweigen brachte. Oh Gott, ich sterbe. Ich sterbe von innen nach außen.

»Bitte«, flehte ich Ceri an, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht hören konnte. »Mach das nicht noch mal.«

AI riss mich wieder hoch. »Du bist ein fantastischer Vertrauter«, ermutigte er mich, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich bin ja so stolz auf dich. Du hast es wieder geschafft, mit dem Geschrei aufzuhören. Ich glaube, wenn wir nach Hause kommen, mache ich dir eine Tasse Tee und lasse dich ein bisschen schlafen, bevor ich dich al meinen Freunden vorführe.«

»Nein. .«, flüsterte ich, und AI lachte leise über meinen Widerstand, noch bevor ich das Wort ausgesprochen hatte.

Ich konnte keinen Gedanken haben, ohne dass er ihn zuerst erspürte. Jetzt erkannte ich, warum Ceri ihre Gefühle betäubt und es vorgezogen hatte, keine zu haben, statt sie mit AI zu teilen.

»Warte«, verlangte Ceri, und ihre Stimme war laut und klar zu hören, als sie die Verandastufen herunterlief, an dem Maschendrahtzaun vorbei und in den Garten vor uns.

Ich sackte in Als Griff zusammen, als er stehen blieb, um sie anzusehen. Ihre Stimme glitt über mich hinweg und beruhigte gleichzeitig meinen Geist und meine Haut. Meine Augen leuchteten bei dem Versprechen einer Ruhepause von den Schmerzen, und ich schluchzte fast vor Erleichterung. Sie sah aus wie eine Göttin. Sie gewährte Freiheit von den Schmerzen.

»Ceri«, begrüßte AI sie warm und achtete nicht weiter auf David, der uns mit aufgestel ter Bürste und einer Furcht einflößenden Wildheit im Blick umkreiste. »Du siehst gut aus, Liebes.« Seine Augen wanderten über das kunstvol e Schnee-schloss hinter ihr. »Vermisst du deine Heimat?«

»Ich bin Ceridwen Merriam Dulciate«, sagte sie scharf, und der Befehlston in ihrer Stimme war wie ein Peitschenschlag.

»Ich bin nicht dein Familiaris. Ich habe eine Seele. Erweise mir den Respekt, den das verlangt.«

AI kicherte. »Ich sehe schon, du hast dein Ego wiedergefunden. Wie fühlt es sich an, wieder zu altern?«

Ich sah, wie sie sich versteifte. Sie baute sich vor uns auf, und ich konnte die Schuld in ihrem Gesicht sehen. »Ich fürchte es nicht mehr«, sagte sie leise, und ich fragte mich, ob AI ein Leben ohne Alterung als Lockmittel verwendet hatte, um sie zu seinem Familiaris zu machen. »So ist es in der Welt. Lass Rachel Mariana Morgan gehen.«

AI warf den Kopf zurück und lachte schal end. »Sie gehört mir. Du siehst gut aus. Wil st du zurückkommen? Ihr könntet Schwestern sein. Wäre das nicht schön?«

Ihr Mund zuckte. »Sie hat eine Seele. Du kannst sie nicht zwingen.«

Keuchend hing ich in Als Griff. Wenn er mich in eine Kraftlinie bekam, würde es keine Rol e mehr spielen, ob ich eine Seele hatte oder nicht.»Doch, kann ich«, behauptete AI und bestätigte damit meine schlimmsten Vermutungen. Er runzelte irritiert die Stirn und richtete seine Aufmerksamkeit auf David. Ich hatte gesehen, dass er uns in einem weiten Bogen umkreiste, um mit seinen Pfotenabdrücken einen physischen Kreis zu ziehen, in dem er AI binden konnte. Die Augen des Dämons verengten sich. »Detrudo«, sagte er mit einer knappen Geste.

Ich schnappte nach Luft und zuckte zusammen, als ein Faden von Jenseitsenergie aus mir herausfloss, um Als Zauber zu wirken. Mit hoch erhobenem Kopf unterdrückte ich das wie auch immer geartete schreckliche Geräusch, das aus meiner wunden Kehle dringen wol te. Es gelang mir ruhig zu bleiben, als die Energie aus mir herausschoss, aber al meine Bemühungen waren umsonst, als aus einer Kraftlinie eine neue Wel e von Jenseits in mich eindrang, um zu ersetzen, was AI verbraucht hatte. Wieder folterte Feuer mein Innerstes, floss über, brachte meine Haut zum Brennen und ließ sich schließlich in meinen Gedanken nieder. Ich konnte nicht denken. In mir war nichts außer Schmerz. Ich brannte. Meine Gedanken und meine Seele standen in Flammen.

Erschöpft fiel ich auf die Knie. Den Schmerz, als ich auf dem eiskalten Gehsteig aufschlug, nahm ich fast nicht wahr, als mir ein gepeinigter Schrei entfuhr. Meine Augen waren offen, und Ceri wand sich. Sie stand barfuß vor uns im Schnee. Geteiltes Leid stand in ihrem Blick, und ich saugte mich daran fest und fand ein wenig Frieden in den grünen Tiefen ihrer Augen. Sie hatte das überlebt. Ich konnte es überleben. Ich würde es überleben. Gott, hilf mir einen Weg zu finden, das hierzu überleben.

AI lachte, als er meine Entschlossenheit spürte. »Gut«, ermutigte er mich. »Ich schätze deine Versuche, leise zu sein.

Du wirst es schaffen. Dein Gott kann dir nicht helfen, aber ruf ihn ruhig an. Ich würde ihn gerne mal treffen.«

Ich tat einen stockenden Atemzug. David war ein zitternder Haufen von seidigem Fel und lag ein ganzes Stück von dem Ort entfernt, an dem er zuletzt gestanden hatte. Ich hatte geschrien, als der Zauber ihn traf, und deshalb nicht gesehen, wie er zur Seite geschleudert worden war. Ceri ging zu ihm, als er sich erhob, nahm seine Schnauze in beide Hände und starrte ihm in die Augen. Sie wirkte neben ihm winzig. Seine Mitternachtsschwärze sah neben ihrer weiß gekleideten Zerbrechlichkeit gefährlich und gleichzeitig richtig aus. »Gib mir das«, flüsterte sie, als sie ohne Angst in seine Augen sah, und David spitzte die Ohren.

Sie ließ seinen Kopf los und ging vorwärts, bis sie an der Stel e stand, wo Davids Pfotenabdrücke endeten. Keasley gesel te sich zu ihr. Er knöpfte sich noch seine dicke Wol jacke zu, als er zu meiner Rechten erschien, um sich neben Ceri zu stel en. Er nahm ihre Hand und murmelte »Es gehört dir«, bevor er sie wieder losließ und beide einen Schritt zurücktraten.

Ich wol te weinen, aber mir fehlte die Kraft. Sie konnten mir nicht helfen. Ich bewunderte Ceris Selbstvertrauen, ihre stolze und leidenschaftliche Haltung, aber sie war hier falsch.

Ich könnte genauso gut tot sein.

»Dämon«, rief sie, und ihre Stimme klang durch die ruhige Luft wie eine Glocke. »Ich binde dich.«

AI zuckte zusammen, als eine Decke aus milchig blauem Jenseits über uns erblühte, und sein Gesicht lief rot an. »Es scortum obscenus impurua!«, schrie er und ließ mich los. Ich blieb liegen, wo ich fiel, da ich wusste, dass er mich nie losgelassen hätte, wenn ich entkommen könnte. »Du wagst es, das, was ich dir beigebracht habe, dazu zu verwenden, mich zu binden?«

Keuchend hob ich den Kopf. Erst jetzt verstand ich, warum sie erst David und dann Keasley berührt hatte. David hatte den Kreis begonnen, Ceri hatte den zweiten Teil gemacht und Keasley hatte ihn vol endet. Sie hatten ihr die Erlaubnis gegeben, ihre Schritte zu einem Schutzkreis zu verbinden.

Der Kreis war errichtet; Algaliarept war gefangen. Und als ich ihn beobachtete, wie er zum äußersten Rand der Blase und auf die siegreiche Ceri zuging, dachte ich, dass es nicht viel brauchen würde, damit er mich al ein aus Gehässigkeit tötete.

»Moecha putida!«, brül te er und hämmerte gegen die Kraft zwischen ihnen. »Ceri, ich werde deine Seele wieder aus dir herausreißen, ich schwöre es!«

»Et de«, erwiderte sie. Ihr schmales Kinn war hoch erhoben, und ihre Augen glitzerten. »Acervus excerementum. Du kannst von hier zu einer Kraftlinie springen. Verschwinde, bevor die Sonne aufgeht, damit wir al e wieder ins Bett können.«

Algaliarept atmete langsam ein, und ich schauderte, als ich die kontrol ierte Wut in seinen Bewegungen erkannte.

»Nein«, beschloss er. »Ich werde Rachels Horizont erweitern, und du wirst dir ihre Schreie anhören, während sie das maximale Fassungsvermögen kennenlernt, das ich verlange.«

Er kann noch mehr durch mich ziehen?, dachte ich und fühlte, wie meine Lungen sich zusammenpressten, als ich kurzzeitig jeden Wil en verlor, überhaupt zu atmen. Es geht noch schlimmer?

Ceris Zuversicht fiel in sich zusammen.

»Nein«, sagte sie. »Sie weiß nicht, wie sie es richtig verwahrt. Noch mehr, und ihr Geist wird brechen. Sie wird verrückt werden, bevor du ihr beibringen kannst, deinen Tee zu machen.«

»Man muss nicht geistig gesund sein, um Tee zu machen oder meinen Toast auf einer Seite anzubräunen«, knurrte er.

Er packte meinen Arm und zog mich widerstandslos auf die Beine.

Ceri schüttelte heftig den Kopf und stand im Schnee als wäre es Sommer. »Du bist kleinlich. Du hast sie verloren, sie hat dich überlistet. Du bist einfach nur ein schlechter Verlierer.« s AI kniff mich in die Schulter, und ich biss die Zähne zusammen. Ich weigerte mich, zu schreien. Es war nur Schmerz. Es war nichts gegen das ständige Brennen der Jenseitsenergie, die ich gezwungenermaßen für ihn halten musste. »Schlechter Verlierer?«, schrie er, und ich hörte Angstschreie von den Leuten in den Schatten um uns herum.

»Sie kann sich nicht ewig auf geheiligtem Boden verstecken.

Wenn sie es versucht, werde ich einen Weg finden, sie durch die Linien zu benutzen.«

Ceri warf einen Blick zu David, und ich schloss verzweifelt meine Augen. Sie glaubte, dass er es konnte. Gott hilf mir. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er herausfand, wie. Der Trick, meine Seele zu retten, würde versagen. »Geh weg«, sagte Ceri schließlich und wandte den Blick von David ab. »Geh zurück ins Jenseits und lass Rachel Mariana Morgan in Frieden. Keiner hier hat dich gerufen.«

»Du kannst mich nicht bannen, Ceri!«, wütete er und zerrte an mir, bis ich gegen ihn fiel. »Mein Familiaris hat einen Pfad der Beschwörung geöffnet, als sie eine Kraftlinie angezapft hat. Brich diesen Schutzkreis und lass mich sie in Besitz nehmen, wie es mein Recht ist.«

Ceri holte triumphierend Luft. »Rachel! Er hat anerkannt, dass du ihn gerufen hast. Bann ihn!«

Meine Augen weiteten sich.

»Nein!«, schrie Algaliarept und jagte einen Strom von Jenseits in mich. Ich fiel fast in Ohnmacht. Die Schmerzwel en, die durch mich schössen, bauten sich auf, bis ich nichts mehr war als pure Qual. Aber ich atmete ein und roch den Gestank meiner verbrennenden Seele.

»Algaliarept«, würgte ich mühsam hervor, »kehr zurück ins Jenseits.«

»Du kleines Miststück!«, knurrte er und ohrfeigte mich. Die Kraft des Schlages hob mich in die Luft und warf mich gegen Ceris Barriere. Ich fiel in einem Haufen in mich zusammen und konnte nicht denken. Mein Kopf schmerzte, und meine Kehle war wund. Der Schnee unter mir war kalt. Ich kuschelte mich hinein, weil ich brannte.

»Geh weg. Geh jetzt weg!«, flüsterte ich.

Die überwältigende Jenseitsenergie, die durch mein Hirn kursierte, verschwand in einem Wimpernschlag. Ich ächzte, als sie weg war. Ich hörte mein Herz schlagen, anhalten, wieder schlagen. Nur mit Mühe schaffte ich es weiterzuat-men, leer wie ich war, mit nur meinen eigenen Gedanken im Kopf. Es war weg. Das Feuer war weg.

»Holt sie aus dem Schnee«, hörte ich Ceri drängend sagen, und ihre Stimme war beruhigend wie ein kalter Umschlag.

Ich versuchte meine Augen zu öffnen und schaffte es nicht.

Jemand hob mich hoch, und ich spürte die Wärme eines Körpers. Ein kleiner Teil von mir beschloss, dass es wohl Keasley war, als ich den Geruch nach Rotholz und bil igem Kaffee erkannte. Mein Kopf sackte weg, und mir fiel das Kinn auf die Brust. Ich fühlte kleine, kühle Hände auf meiner Stirn, und während Ceri mir etwas vorsang, bemerkte ich, dass wir uns in Bewegung setzten.

19

»Oh Gott«, flüsterte ich, und meine Worte klangen so rau, wie sich meine Kehle anfühlte. Es hörte sich heiser an, mehr wie Kiesel in einer Blechdose als eine Stimme. Mein Kopf tat weh, und über meinen Augen lag ein nasser Waschlappen, der nach Seife roch. »Ich fühle mich nicht so gut.«

Ceris kühle Hand berührte meine Wange. »Das überrascht mich nicht«, sagte sie trocken. »Halt die Augen geschlossen.

Ich werde deine Kompresse wechseln.«

Um mich herum hörte ich das leise Atmen von zwei Menschen und einem sehr großen Hund. Ich erinnerte mich vage daran, dass jemand mich nach drinnen getragen hatte.

Ich war kurz davorgewesen, das Bewusstsein zu verlieren, aber irgendwie war es mir nicht ganz gelungen, egal, wie sehr ich mich bemühte. Ich wusste durch den Geruch nach Parfüm, dass Keasley mich in mein Zimmer gebracht hatte, und auch das Kissen unter meinem Kopf fühlte sich vertraut und sicher an. Über mir lag das schwere Gewicht der Tagesdecke, die sonst am Fußende meines Bettes lag. Ich lebe noch. Stel dir das mal vor.

Ceri hob den nassen Waschlappen von meinem Gesicht, und trotz ihrer Warnung öffnete ich meine Lider einen Spalt weit. »Au. .«, stöhnte ich, als das Licht der Kerze auf meiner Kommode mir in die Augen stach, scheinbar bis ins Hinterste meines Schädels eindrang und dort zum Querschläger wurde. Mein Kopfweh verdreifachte sich.

»Sie hat dir gesagt, dass du die Augen zulassen sol st«, sagte Jenks sardonisch, aber gleichzeitig war die Erleichterung in seiner Stimme deutlich zu hören. Das Klicken von Davids Kral en erklang, gefolgt von einem warmen Schnüffeln an meinem Ohr.

»Sie ist in Ordnung«, sagte Ceri leise, und er zog sich zurück.

In Ordnung?, dachte ich und konzentrierte mich auf meine Atmung, bis die Lichter, die in meinem Kopf herumschössen, nachließen und starben.

Das Pochen im meinem Kopf verringerte sich, und als ich ein sanftes Hauchen hörte und den beißenden Geruch einer erloschenen Kerze roch, öffnete ich noch einmal die Augen.

In dem Licht, das von der Straße an meinen Vorhängen vorbeidrang, konnte ich Ceri sehen, die auf einem Küchenstuhl neben meinem Bett saß. Auf ihrem Schoß stand eine Schüssel mit Wasser, und ich zuckte zusammen, als sie sie auf dem Vampir-Dating-Handbuch abstel te, das für al e sichtbar auf meinem Nachttisch lag. Auf meiner anderen Seite stand Keasley, den ich nur als gebeugten Schatten wahrnahm. Jenks saß auf dem Bettpfosten und leuchtete in einem gedämpften Gelb, und im Hintergrund lauerte David, der mit seiner großen Wolfsgestalt fast die Hälfte des Bodens beanspruchte.

»Ich glaube, wir sind zurück in Kansas, Toto«, murmelte ich, und Keasley räusperte sich amüsiert.

Mein Gesicht war kalt und nass, und ein Luftzug von der zerstörten Tür verband sich mit dem muffigen Geruch der Heizungsluft, die in den Raum geblasen wurde.

»Jenks«, krächzte ich, als mir die Wel e kalter Luft wieder einfiel, die ihn getroffen hatte. »Sind deine Kinder in Ordnung?«

»Yeah, es geht ihnen gut«, beruhigte er mich, und ich ließ mich in die Kissen zurückfal en. Meine Hand kroch nach oben, um an meine Kehle zu fassen. Sie fühlte sich an, als würde sie innerlich bluten.

»David?«, fragte ich ängstlich. »Was ist mit dir?«

Sein Hecheln wurde lauter, als er Keasley zur Seite drängte, um warm und feucht an meinem Ohr zu schnüffeln. Seine Kiefer öffneten sich. Ceri keuchte auf, als er mein gesamtes Gesicht ins Maul nahm.

Adrenalin betäubte die Schmerzen. »Hey!«, rief ich und wand mich, als er mich sanft schüttelte und dann wieder losließ. Mit klopfendem Herzen erstarrte ich, als ein leises Knurren ertönte und eine nasse Nase meine Wange berührte. Dann gab er ein hundeartiges >Wuff< von sich und tappte in den Flur.

»Was zur Höl e heißt das?«, fragte ich? und mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb.

Jenks erhob sich, umgeben von Pixiestaub, in die Luft, was mich zum Blinzeln brachte. Es war nicht hel , aber meine Augen taten einfach so weh. »Er ist froh, dass es dir gut geht«, erklärte er, und sein winziges Gesicht war ernst.

»Und das ist gut?«, fragte ich unsicher, und aus dem Altarraum erklang ein seltsames, lachendes Bel en.

Mein Hals schmerzte wieder, und ich bedeckte ihn mit der Hand, als ich mich aufsetzte. Auf meinem Gesicht klebte Werwolfspeichel, den ich mit dem Waschlappen abwischte.

Meine Muskeln taten weh. Zur Höl e, al es tat mir weh. Und es hatte mir überhaupt nicht gefal en, mit dem Gesicht in Davids Maul zu stecken.

Das Geräusch geschnittener Kral en, die über Bodendielen klapperten, zog meine Aufmerksamkeit in den dunklen Flur, gerade, als er die Tür in Richtung des hinteren Teils der Kirche passierte. Sein Rucksack und seine Kleider hingen aus seinem Maul, und er schleifte seinen Mantel hinter sich her wie ein erlegtes Tier.

»Jenks«, sagte Ceri leise. »Schaut, ob er sich hier verwandelt oder ob er Hilfe dabei braucht, seine Besitztümer in seinen Ranzen zu packen.«

Jenks hob ab, nur um nach einem kurzen, ablehnenden Bel en aus dem Wohnzimmer wieder zurückzukehren.

Ich biss die Zähne zusammen, um gegen den Kopfschmerz vom Ausmaß des Staates Texas anzukämpfen, und entschied, dass er sich wahrscheinlich zurückverwandeln würde, bevor er ging. Es war il egal, sich in der Öffentlichkeit zu verwandeln, außer es waren die drei Tage rund um Vol mond.

Früher war diese Regel eine bloße Tradition gewesen; jetzt war es ein Gesetz, das dafür sorgte, dass die Menschen sich wohlerfühlten. Was Tiermenschen in ihren eigenen vier Wänden taten, war ihre Sache. Ich war zuversichtlich, dass niemand etwas dagegen sagen würde, dass er sich verwandelt hatte, um mich vor einem Dämon zu retten, aber er konnte in seiner momentanen Form nicht Autofahren und erst recht nicht den Bus nehmen.

»Nun«, sagte Keasley, als er sich auf die Bettkante setzte,

»lass dich mal anschauen.«

»Au. .«, rief ich, als er den verletzten Muskel an meiner Schulter berührte. Ich schob seine Hand weg, doch er kam nur noch näher.

»Ich hatte vergessen, was für ein verdammt nerviger Patient du bist«, seufzte er, als er die Hand wieder ausstreckte. »Ich wil doch nur wissen, wo dir was wehtut.«

»Stopp«, krächzte ich und versuchte, auf seine knorrigen, arthritischen Hände zu schlagen. »Meine Schulter tut weh, wo AI mich gekniffen hat. Meine Hände tun weh, wo ich sie mir aufgeschürft habe, mein Kinn und mein Bauch tun weh, wo er mich über die Treppen gezogen hat. Meine Knie tun weh von. .«, ich zögerte, »vom Sturz auf die Straße. Und mein Gesicht tut weh, wo AI mich geschlagen hat.« Ich schaute Ceri an. »Habe ich ein blaues Auge?«

»Du wirst morgen früh eines haben«, sagte sie leise und verzog mitfühlend das Gesicht.

»Und meine Lippe ist aufgeplatzt«, beendete ich die Aufzählung und berührte suchend meinen Mund. Ein leiser Geruch von Eisenhut gesel te sich zu dem Geruch nach Schnee. David verwandelte sich schön langsam zurück. Er musste es langsam machen, nachdem schon die schnel e Verwandlung vorher wahrscheinlich sehr schmerzhaft gewesen war. Ich war froh, dass er Eisenhut hatte. Das Heilkraut war ein mildes Schmerz- und Beruhigungsmittel und machte es einfacher. Schade, dass es nur bei Tiermenschen funktionierte.

Keasley stöhnte, als er aufstand. »Ich- besorge dir ein Schmerzamulett«, sagte er und schlurfte in den Flur. »Stört es dich, wenn ich Kaffee mache? Ich bleibe hier, bis deine Mitbewohnerin zurück ist.«

»Zwei Amulette wären besser«, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, ob es meinem Kopf helfen würde. Schmerzamulette halfen nur gegen körperlichen Schmerz, und ich hatte so ein Gefühl, dass das, was ich spürte, mehr ein Echo davon war, dass ich so viel Kraftlinienenergie kanalisiert hatte. Hatte ich das Nick angetan? Kein Wunder, dass er gegangen war.

Ich zwinkerte, als das Licht in der Küche anging und ein Strahl davon in mein Zimmer drang. Ceri beobachtete mich genau, und ich nickte ihr zu, um ihr zu bestätigen, dass es mir gut ging. Sie tätschelte meine Hand auf der Decke und murmelte: »Tee wäre leichter verträglich als Kaffee.« Ihre ernsten grünen Augen blickten auf Jenks. »Bleibt Ihr bei ihr?«

»Yeah.« Seine Flügel bewegten sich kurz. »Auf Rachel aufzupassen ist das, was ich am drittbesten kann.«

Ich blickte ihn finster an, und Ceri zögerte. »Ich brauche nicht lang«, sagte sie dann, stand auf und verließ den Raum.

Das beruhigende Geräusch einer Unterhaltung klang aus der Küche zu mir herüber, und ich zog umständlich die Überdecke um meine Schultern. Jeder Muskel tat weh, als hätte ich Fieber gehabt. Meine Füße waren in den feuchten Socken kalt, und ich hinterließ in meinen schneenassen Kleidern wahrscheinlich einen nassen Fleck im Bett.

Deprimiert sah ich Jenks auf dem Bettpfosten am Fußende an.

»Danke, dass du versucht hast, zu helfen«, murmelte ich.

»Bist du dir sicher, dass du okay bist? Er hat die Tür aus den Angeln gesprengt!«

»Ich hätte schnel er mit dem Amulett da sein müssen.«

Seine Flügel nahmen ein jämmerliches Blau an.

Ich zuckte mit den Schultern und wünschte mir sofort, ich hätte es gelassen, da sie wieder schmerzten. Wo blieb Keasley mit meinen Zaubern? »Viel eicht wirken sie nicht mal bei Dämonen.«

Jenks schoss in die Höhe, um über meinem Knie auf der Decke zu landen. »Verdammt, Rachel, du siehst wirklich beschissen aus.«

»Danke.«

Der himmlische Geruch von Kaffee vermischte sich mit der stickigen Heizungsluft. Ein Schatten schnitt das Licht aus dem Flur ab, und ich drehte mich mühsam um. Ceri trat ein.

»Iss die, solange dein Tee zieht«, sagte sie und stel te einen Tel er mit drei von Ivys Cookies vor mir ab.

Meine Mundwinkel sackten nach unten. »Muss ich?«, beschwerte ich mich. »Wo ist mein Amulett?«

»Wo ist mein Amulett?«, spottete Jenks mit hoher Stimme.

»Gott, Rachel, schluck es runter!«

»Halt den Mund«, murmelte ich beleidigt. »Versuch du mal, für einen Dämonen eine Kraftlinie zu kanalisieren, und schau, ob du es überlebst. Ich wette, du würdest in einem Blitz aus Pixiestaub explodieren, du kleiner Depp.«

Er lachte, und Ceri sah uns missbil igend an, als ob wir Kinder wären. »Ich habe es hier bei mir«, sagte sie und beugte sich über mich, um die Kordel um meinen Hals legen zu können. Wundervol e Erleichterung kam über mich -

Keasley musste das Amulett bereits für mich aktiviert haben

-, aber mein Kopfweh blieb und fühlte sich jetzt noch schlimmer an, ohne die anderen Schmerzen, die davon abgelenkt hatten.

»Es tut mir leid«, sagte Ceri mitfühlend. »Es wird einen Tag andauern.« Als ich nichts sagte, drehte sie sich zur Tür um und fügte hinzu: »Ich hole deinen Tee.« Sie ging, aber ein Schlurfen ließ mich sofort wieder aufblicken. »Entschuldigt mich«, murmelte Ceri und hielt ihre Augen zu Boden gerichtet, weil sie fast in David gelaufen war. Der Werwolf sah müde aus und wirkte älter, als er seinen Jackenkragen hochschlug. Seine Bartstoppeln wirkten dunkler und er roch stark nach Eisenhut. »Hättet Ihr gern einen Tee?«, fragte sie, und ich hob überrascht die Augenbrauen, als ihr normales Selbstvertrauen plötzlich demütiger Ehrfurcht wich.

David schüttelte den Kopf und akzeptierte ihre unterwürfige Haltung mit einer Anmut, die ihn nobel wirken ließ. Ceri schob sich mit immer noch gesenktem Kopf an ihm vorbei und ging in die Küche. Jenks und ich wechselten erstaunte Blicke, als David in den Raum kam und seinen Rucksack fal en ließ. Er nickte Jenks zu, setzte sich auf den Küchenstuhl mir gegenüber und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, um mich unter der Krempe seines Cowboyhuts hervor fragend anzustarren.

»Wil st du mir sagen, worum sich das Ganze gedreht hat, bevor ich gehe? Langsam glaube ich, dass es einen guten Grund gibt, warum dich keiner versichern wil .«

Ich schaute beschämte drein und nahm ein Cookie.

»Erinnerst du dich an den Dämon, der im Prozess gegen Piscary als Belastungszeuge ausgesagt hat?«

Seine Augen weiteten sich. »Sohn einer läufigen Hündin!«

Jenks lachte, was klang wie das Gebimmel eines Windspiels. »Verdammt dämlich von ihr, wenn du mich fragst.«

Ich ignorierte Jenks und fing Davids entsetzten Blick ein: eine Mischung aus Sorge, Schmerz und Unglauben. »Er ist hierher gekommen, um eine Schuld für erwiesene Dienste einzutreiben«, erklärte ich. »Die bezahlt wurde. Ich bin sein Familiaris oder Vertrauter, aber ich habe immer noch meine Seele, also kann er mich nicht ins Jenseits befördern, außer ich lasse ihn.« Ich schaute an die Decke und fragte mich, was für ein Runner ich wohl noch wäre, wenn ich nach Sonnenuntergang keine Kraftlinie mehr anzapfen konnte, ohne Dämonen auf mich herabzubeschwören.

David pfiff leise. »Kein Fang ist das wert.«

Ich warf ihm einen irritierten Blick zu. »Normalerweise würde ich dir zustimmen, aber zu der Zeit hat Piscary gerade versucht mich zu töten, und es schien eine gute Idee zu sein.«

»Gute Idee zur Höl e. Es war verdammt dämlich«, murmelte Jenks und war offensichtlich der Meinung, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn ich ihn dabeigehabt hätte. Viel eicht hatte er sogar recht.

Ich fühlte mich als hätte ich einen Riesenkater, und nahm einen Bissen von dem Cookie. Die trockenen Dinger sorgten dafür, dass ich zwar hungrig, mir zur selben Zeit aber auch übel war. »Danke, dass du mir geholfen hast«, fuhr ich fort und wischte die Krümel weg. »Er hätte mich gehabt, wenn du nichts unternommen hättest. Ist bei dir al es in Ordnung? Ich habe noch nie gesehen, dass jemand sich so schnel verwandelt hat.«

Er beugte sich vor und zog seinen Rucksack zwischen die Füße. Ich sah, wie seine Augen zur Tür glitten, und wusste, dass er gehen wol te. »Meine Schulter tut weh, aber ich komme schon in Ordnung.«

»Es tut mir leid.« Ich aß das erste Cookie auf und machte mich ans nächste. Ich glaubte zu spüren, wie ihre Wirkung einsetzte. »Wenn du je etwas brauchst, ich bin dir 'ne Menge schuldig. Ich weiß, wie weh es tut. Letztes Jahr habe ich mich in drei Sekunden von einer Hexe in einen Nerz verwandelt.

Zweimal, in einer Woche.«

Er stieß zischend den Atem aus, und auf seiner Stirn erschienen Falten. »Autsch«, sagte er, und ein neuer Respekt stand in seinen Augen.

Ich lächelte und freute mich darüber. »Al erdings. Aber weißt du, es wird wahrscheinlich das einzige Mal in meinem Leben gewesen sein, in dem ich wirklich dünn war und einen Pelzmantel trug.«

Ein mattes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Wo geht die überschüssige Masse hin?«

Es war nur noch ein Cookie übrig, und ich zwang mich dazu, es langsam zu essen. »Zurück in die Kraftlinie.«

Er wirkte überrascht. »Das können wir nicht.«

»Ist mir aufgefal en. Aus dir wird ein verdammt großer Wolf, David.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Weißt du was? Ich habe meine Meinung geändert. Selbst wenn du je überlegen sol test, ins Versicherungsbusiness zu wechseln. . ruf mich bloß nicht an!«

Jenks landete auf dem leeren Tel er vor mir, damit ich nicht immer meinen Kopf bewegen musste, um ihn und David im Blick zu haben. »Ich sehe es richtig vor mir«, kicherte er.

»Rachel in einem grauen Anzug mit Aktentasche, die Haare in einem Knoten gebändigt und eine Bril e auf der Nase.«

Ich lachte, nur um sofort in heftiges Husten auszubrechen.

Ich schlang die Arme um mich und krümmte mich zusammen, als mich die rauen, markerschütternden Krämpfe packten. Meine Kehle fühlte sich an, als stünde sie in Flammen, aber das verblasste neben dem pulsierenden Schmerz in meinem Kopf, der bei jeder Bewegung explosionsartig zunahm. Und das Schmerzamulett um meinen Hals half nicht wirklich.

David klopfte mir besorgt auf den Rücken. Meine verletzte Schulter durchdrang das Schmerzamulett, und mein Magen hob sich. Mit tränenden Augen wehrte ich ihn ab. Ceri kam herein und gab sanfte Laute von sich, als sie die Teetasse abstel te und eine Hand auf meine Schulter legte. Ihre Berührung schien den Anfal zu lösen, und ich erlaubte ihr keuchend, mich in die Kissen zurückzuschieben, die sie mir in den Rücken gestopft hatte. Schließlich hörte ich auf zu husten und suchte ihren Blick.

Ihr im Schatten liegendes Gesicht war besorgt. Hinter ihr warteten Jenks und David. Es war war mir nicht recht, dass David mich so sah, aber ich hatte ja kaum eine Wahl. »Trink deinen Tee«, befahl sie, hielt ihn mir entgegen und legte meine Hand um die Tasse.

»Mein Kopf tut weh«, beschwerte ich mich, bevor ich einen Schluck von der faden Brühe nahm. Was ich wirklich wol te, war eine Tasse Kaffee, aber ich wol te Ceris Gefühle nicht verletzen. »Ich fühle mich wie ein überfahrener Misthaufen«, jammerte ich.

»Du siehst auch aus wie ein überfahrener Misthaufen«, versicherte mir Jenks. »Trink deinen Tee.«

Er war geschmacklos, aber beruhigend. Ich nahm noch einen Schluck und kratzte für Ceri ein Lächeln zusammen.

»Mmmmm. Gut«, log ich.

Sie richtete sich offensichtlich erfreut auf und nahm sich die Schüssel mit dem Wasser. »Trink ihn ganz aus. Stört es dich, wenn Keasley eine Decke über die Tür tackert, um die Zugluft zu stoppen?«

»Das wäre tol , danke«, nickte ich, aber sie ging nicht, bevor ich nicht noch einen Schluck getrunken hatte.

Ihr Schatten verschwand im Flur, und mein Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse. »Dieses Zeug schmeckt nach nichts«, flüsterte ich. »Warum schmeckt al es, was gut für mich ist, nach gar nichts?«

David warf einen kurzen Blick in den leeren Flur. Jenks flog auf seine Schulter, als der Tiermensch den Reißver-schluss an seinem Rucksack aufzog. »Ich habe etwas, das viel eicht hilft«, raunte er. »Mein alter Partner hat darauf geschworen.

Hat mich darum angebettelt, wenn er auf einer Party zu viel Gas gegeben hatte.«

»Wow!« Mit einer Hand über der Nase startete Jenks senkrecht nach oben. »Wie viel Eisenhut ist da drin, mein lieber Pflanzenfarmer?«

Davids Lächeln bekam etwas Schlitzohriges. »Was denn?«, fragte er mit unschuldigen braunen Augen. »Es ist nicht il egal. Und es ist organisch. Nicht mal Kohlenhydrate drin.«

Der vertraut würzige Geruch von Eisenhut breitete sich in dem kleinen Raum aus, und ich war nicht überrascht, als David eine Zip-Lock-Tüte hervorzog. Ich erkannte den Markennamen, Natürlicher Wolfskopf.

»Hier«, sagte er, nahm mir die Tasse aus der Hand und stel te sie auf meinen Nachttisch.

Er stel te sich so, dass man von der Tür aus nicht sehen konnte, was er tat, und schüttete einen guten Löffel vol in meinen Tee. Nach einem abwägenden Blick auf mich fügte er noch ein bisschen was hinzu. »Versuch's mal«, sagte er und gab mir die Tasse zurück.

Ich seufzte. Warum gab mir jeder irgendwelches Zeug?

Al es, was ich wol te, war ein Schlafzauber oder viel eicht eine von Captain Eddens seltsamen Aspirin. Aber David sah so hoffnungsfroh aus, und immerhin war der Geruch von Eisenhut vielversprechender als der von Hagebutte. Also rührte ich den Tee mit meinem kleinen Finger um, und die zerstoßenen Blätter sanken nach unten und gaben dem Tee eine vol ere Farbe. »Wie sol das helfen?«, fragte ich, als ich daran nippte. »Ich bin kein Tiermensch.«

David ließ die Tüte wieder in seinen Rucksack fal en und schloss den Reißverschluss. »Nicht viel. Dein Hexen-Stoffwechsel ist zu langsam, um wirklich eine Wirkung zu spüren. Aber mein alter Partner war eine Hexe, und er hat gesagt, dass es ihm bei einem Kater geholfen hat. Wenn es sonst nichts tut, schmeckt es zumindest besser.«

Er stand auf, um zu gehen, und ich nahm noch einen Schluck und musste ihm zustimmen. Meine Kiefer entspannten sich: Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich sie zusammengebissen hatte. Warm und sanft glitt der Eisenhut-Tee, der nach einer Mischung aus Fleischbrühe und Äpfeln schmeckte, durch meine Kehle. Meine Muskeln lockerten sich, als hätte ich ein Glas Tequila gekippt. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus, dann lenkte Jenks meine Aufmerksamkeit auf sich, indem er auf meinem Arm landete.

»Hey, Rachel? Al es okay?«

Ich lächelte und nahm noch einen Schluck. »Hi, Jenks. Du bist ganz funkelnd.«

Jenks Gesicht wurde leer, und David sah von seiner Jacke auf, an der er gerade die Knöpfe schloss. Seine braunen Augen blickten fragend.

»Danke, David«, sagte ich langsam und empfand meine Stimme als unglaublich präzise und tief. »Ich schulde dir was, okay?«

»Sicher.« Er nahm seinen Rucksack. »Pass auf dich auf.«

»Werde ich.« Ich trank die Hälfte meines Tees, und er glitt in meinen Magen, wo er einen warmen Fleck bildete.

»Momentan fühle ich mich nicht so schlecht. Was gut ist, weil ich morgen ein Date mit Trent habe, und wenn ich nicht gehe, kil t mich sein Security-Chef.«

David kam auf der Türschwel e abrupt zum Stehen. Von jenseits der Tür hörte man das Pock-Pock-Pock-Pock von Keasley, der eine Decke über die Tür nagelte.

»Trent Kala-mack?«, fragte der Werwolf.

»Yeah.« Ich nahm noch einen Schluck und quirlte die Flüssigkeit dann mit dem kleinen Finger, bis sie einen Strudel bildete und noch dunkler wurde. »Er wil mit Saladan reden.

Sein Securitychef hat mich dazu gebracht, mit ihm zu gehen.« Ich schielte zu David hoch, und das Licht aus dem Flur erschien mir sehr hel , tat aber nicht mehr weh. Ich fragte mich, wo Davids Tätowierungen wohl saßen. Al e Tiermenschen hatten Tätowierungen, keine Ahnung, warum.

»Hast du Trent je getroffen?«, fragte ich.

»Mr. Kalamack?« David drehte sich zu mir um. »Nein.«

Ich wand mich unter der Decke und starrte auf meine Tasse. Davids alter Partner hatte recht. Das Zeug war super.

Mir tat überhaupt nichts mehr weh. »Trent ist ein Arschloch«, verkündete ich, als ich mich wieder erinnerte, worüber wir eigentlich sprachen. »Ich habe etwas gegen ihn in der Hand, und er hat etwas gegen mich in der Hand. Aber ich habe nichts gegen seinen Securitychef in der Hand, und wenn ich das nicht tue, hängt er mich hin.«

Jenks flog unsicher zwischen David, der Tür und mir hin und her. David beobachtete ihn und fragte dann:

»Hinhängen womit?«

Ich lehnte mich näher zu ihm, und meine Augen weiteten sich, als mein Tee überzuschwappen drohte, weil ich mich schnel er bewegt hatte als ich es viel eicht sol te.

Stirnrunzelnd trank ich den Rest und störte mich nicht daran, dass ich dabei auch einige Blätter schluckte. »Mein Geheimnis«, flüsterte ich und überlegte, ob ich wohl nach Davids Tätowierungen suchen durfte, wenn ich ihn fragte. Für einen älteren Mann sah er tol aus. »Ich habe ein Geheimnis, aber ich werde es dir nicht verraten.«

»Ich bin gleich zurück«, rief Jenks und schoss zu mir rüber.

»Ich wil wissen, was sie in diesen Tee getan hat.«

Er flog aus dem Raum, und ich blinzelte, als ich den glitzernden Pixiestaub dabei beobachtete, wie er zu Boden sank. Ich hatte das noch nie so deutlich gesehen und auch nicht, dass der Staub in al en Farben des Regenbogens strahlte. Jenks musste besorgt sein.

»Geheimnis?«, hakte David nach, aber ich schüttelte den Kopf, wodurch das Licht hel er zu werden schien.

»Sag ich nicht. Ich mag die Kälte nicht.«

David legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich sanft in die Kissen zurück. Ich lächelte zu ihm hoch und war glücklich, als Jenks hereingeflogen kam.

»Jenks?«, fragte David leise. »Ist sie je von einem Tiermenschen gebissen worden?«

»Nein!«, protestierte ich. »Außer es war, bevor ich sie getroffen habe.«

Meine Augen waren zugefal en, und ich öffnete sie, als David mich schüttelte. »Was?«, quengelte ich und stieß ihn weg, als er mich prüfend musterte und sein Gesicht dabei zu nah vor meines schob. Dann erinnerte er mich plötzlich an meinen Vater, und ich lächelte ihn an.

»Rachel, Süße«, sagte er. »Bist du je von einem Tiermenschen gebissen worden?«

Ich seufzte. »Nö. Von dir nicht und auch nicht von Ivy.

Niemand außer Mücken beißt mich, und die zerquetsche ich.

Kleine Dreckskerle.«

Jenks und David zogen sich zurück. Ich schloss die Augen und lauschte ihren Atemzügen. Sie klangen furchtbar laut.

»Shhh«, sagte ich. »Ruhe.«

»Viel eicht habe ich ihr zu viel gegeben«, überlegte David.

Ceris sanfte Schritte klangen auch laut. »Was. . Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, fragte sie mit scharfer Stimme und schob eines meiner Lider hoch.

»Nichts«, verteidigte sich David mit hochgezogenen Schultern. »Ich habe ihr nur ein bisschen Eisenhut gegeben, das hätte ich wohl nicht tun sol en. Aber ich habe noch nie gesehen, dass es so auf Hexen wirkt.«

»Ceri«, jammerte ich. »Ich bin müde. Kann ich schlafen?«

Sie schürzte die Lippen, aber ich konnte sehen, dass sie nicht sauer auf mich war. »Ja.« Sie zog die Decke unter mein Kinn. »Schlaf jetzt.«

Ich sackte zusammen, und es kümmerte mich nicht, dass ich immer noch meine nassen Kleider trug. Ich war wirklich, wirklich müde. Und mir war schön warm. Und meine Haut kribbelte. Und ich fühlte mich, als könnte ich eine ganze Woche lang schlafen.

»Warum habt Ihr mich nicht gefragt, bevor Ihr Rachel Eisenhut gegeben habt?«, fragte Ceri flüsternd, aber scharf.

»Sie ist schon auf Brimstone. Es ist in den Cookies!«

Ich wusste es!, dachte ich und versuchte, meine Augen zu öffnen. Junge, das würde Ivy mir büßen, wenn sie nach Hause kam. Aber sie war noch nicht da, und ich war müde, also tat ich nichts. Ich war fertig mit Leuten, die mich betrunken machten. Ich schwor mir, dass ich nie wieder etwas essen oder trinken würde, was ich nicht selbst gemacht hatte.

Das Geräusch von Davids leisem Lachen ließ meine Haut überal prickeln, wo keine Decke darüberlag. »Jetzt hab ich's«, sagte er. »Das Brimstone hat ihren Stoffwechsel auf ein Level gehoben, auf dem der Eisenhut wirklich gut wirkt. Sie wird mindestens drei Tage schlafen. Ich habe ihr genug gegeben, um einen Tiermenschen für einen Monat auszuschalten.«

Ich erschrak und riss die Augen auf. »Nein!«, rief ich entsetzt und versuchte, mich aufzusetzen, obwohl Ceri mich in die Kissen drückte. »Ich muss zu dieser Party. Wenn ich es nicht tue, verrät mich Quen!«

David half ihr, und zusammen hielten sie meinen Kopf auf dem Kissen und meine Füße unter der Decke. »Ist schon okay, Rachel«, beruhigte er mich, und ich hasste die Tatsache, dass er stärker war als ich. »Kämpf nicht dagegen an, oder es rächt sich. Sei eine gute kleine Hexe und lass es einfach seinen Weg nehmen.«

»Wenn ich nicht gehe, wird er mich verraten!«, wiederholte ich und hörte, wie mein Blut rauschte. »Das Einzige, was ich gegen Trent in der Hand habe, ist, dass ich weiß, welche Spezies er ist, und wenn ich das erzähle, wird Quen mich sicher töten!«

»Was?«, kreischte Jenks, und seine Flügel klapperten, als er abhob.

Zu spät kapierte ich, was ich gesagt hatte. Scheiße.

Ich starrte Jenks an und fühlte, wie mein Gesicht weiß wurde. Der Raum war plötzlich totenstil . Ceris Augen blickten fragend, und David starrte nur ungläubig. Ich konnte es nicht zurücknehmen.

»Du weißt es?«, schrie Jenks. »Du weißt, was er ist, und du hast es mir nicht gesagt? Du Hexe! Du wusstest es? Du wusstest es! Rachel! Du . . du . .«

In Davids Augen stand deutliche Missbil igung, und Ceri sah verängstigt aus. Einige Pixiekinder spähten am Türrahmen vorbei. »Du wusstest es!«, brül te Jenks wieder, und Pixiestaub fiel wie ein goldener Lichtstrahl von ihm herab. Seine Kinder verschwanden mit einem verängstigten Zwitschern.

Ich setzte mich unsicher auf. »Jenks. .«, versuchte ich ihn zu besänftigen und krümmte mich zusammen, als mein Magen sich hob.

»Halt den Mund«, schrie er. »Halt verdammt noch mal einfach den Mund! Wir sol ten Partner sein!«

»Jenks. .« Ich streckte die Hand nach ihm aus. Die Müdigkeit war wie weggeblasen, und meine Eingeweide verkrampften sich.

»Nein!«, wies er mich zurück, und eine Explosion von Pixiestaub erhel te mein halbdunkles Zimmer. »Du vertraust mir nicht? Schön. Ich bin weg. Ich muss jemanden anrufen.

David, können meine Familie und ich dich als Mitfahrgelegenheit benutzen?«

»Jenks!« Ich warf die Decke von meinen Schultern. »Es tut mir leid! Ich konnte es dir nicht erzählen.« Oh Gott, ich hätte Jenks vertrauen sol en.

»Halt zur Höl e noch mal das Maul!«, brül te er, dann schoss er aus dem Raum und hinterließ eine blutrote Spur aus Pixiestaub in der Luft.

Ich stand auf, um ihm zu folgen. Ich ging einen Schritt, streckte dann die Hand nach dem Türrahmen aus und starrte verunsichert auf den Boden. Meine Sicht verschwamm, und ich verlor das Gleichgewicht. Ich legte mir eine Hand auf den Magen. »Mir ist schlecht«, hauchte ich. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Davids Hand fiel schwer auf meine Schulter. Mit bestimmten Bewegungen zog er mich in den Flur. »Ich habe dir gesagt, dass es sich rächen wird«, murmelte er, während er mich ins Bad schob und mit dem El bogen das Licht anschaltete. »Du hättest dich nicht aufsetzen dürfen. Was habt ihr Hexen nur immer? Ihr glaubt, ihr wisst al es und hört nie zu, wenn man euch was sagt.«

Natürlich hatte er recht. Mit einer Hand über dem Mund schaffte ich es gerade noch zur Toilette. Al es kam hoch: die Cookies, der Tee, das Abendessen von vor zwei Wochen.

David ging nach dem ersten Würgen und ließ mich keuchend und hustend zurück. Und ich würgte, bis nichts mehr kam.

Schließlich hatte ich mich wieder unter Kontrol e. Mit wackelnden Knien stand ich auf und spülte. Unfähig, mich selbst im Spiegel anzusehen, wusch ich mir den Mund aus und trank eine Menge Wasser direkt aus dem Hahn. Ich hatte mich über mein Schmerzamulett erbrochen. Ich nahm es ab, machte es sorgfältig sauber und legte es dann neben das Waschbecken. Al meine Schmerzen kamen zurück, und ich fühlte, dass ich sie verdiente.

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien schüttelte ich mir das Wasser vom Gesicht und schaute hoch. Neben meinem zerstört aussehenden Spiegelbild sah ich Ceri im Türrahmen stehen. Die Kirche war unheimlich stil . »Wo ist Jenks?«, krächzte ich.

Sie sah zu Boden und ich drehte mich um. »Es tut mir leid, Rachel. Er ist mit David weggegangen.«

Er ist weg? Er kann nicht weggehen. Draußen hat es Minusgrade.

Ich hörte ein leises Schlurfen, und Keasley erschien neben ihr.

»Wo ist er hingegangen?«, fragte ich und zitterte, als der verbleibende Eisenhut und der Brimstone in mir tobten.

Ceris Kopf sank noch weiter. »Er hat David gebeten, ihn zu dem Haus eines Freundes zu bringen, und die gesamte Sippe ist in einer Kiste mitgegangen. Er sagte, er könne seine Familie nicht mehr riskieren, und. .« Ihr Blick wanderte zu Keasley, und ihre grünen Augen spiegelten das Neonlicht.

»Er hat gesagt, dass er kündigt.«

Er ist weg? Ich stolperte aus dem Raum, auf dem Weg zum Telefon. Wol te seine Familie nicht riskieren, genau. Er hatte dieses Frühjahr zwei Fairykil er getötet, und den dritten nur als Warnung für die anderen am Leben gelassen. Die Tür würde repariert werden, und sie könnten immer noch in meinem oder Ivys Zimmer leben, bis das erledigt war. Er war gegangen, weil ich ihn angelogen hatte. Und als ich Keasleys faltiges, grimmiges Gesicht hinter Ceri sah, wusste ich, dass ich damit recht hatte. Es war etwas besprochen worden, das ich nicht mitbekommen hatte.

Ich torkelte ins Wohnzimmer und schaute mich nach dem Telefon um. Es gab nur einen Ort, wo er hingehen würde: der Tiermensch, der letzten Herbst meine Sachen von den Flüchen befreit hatte. Ich musste mit Jenks reden. Ich musste ihm sagen, dass es mir leid tat. Dass ich ein Trottel gewesen war. Dass ich ihm hätte vertrauen müssen. Dass er jedes Recht hatte, wütend auf mich zu sein, und dass es mir leid tat.

Aber Keasley fing meine Hand ab, als ich sie nach dem Hörer ausstreckte, und ich zog mich bei der Berührung zurück. Ich starrte ihn an und fror, weil die Decke nur eine dünne Barriere bildete zwischen mir und der Nacht.

»Rachel. .«, sagte er, gerade als Ceri mit melancholischer Miene im Flur stehen blieb. »Ich denke. . Ich denke, du sol test ihm wenigstens einen Tag geben.«

Ceri zuckte zusammen und sah den Flur entlang. Ich hörte, wie sich die Vordertür leise öffnete und die Decke bewegte sich im Luftzug.

»Rachel?«, erklang Ivys Stimme. »Wo ist Jenks? Und warum steht in unserer Einfahrt ein Home-Depot-Laster, der Sperrholzbretter entlädt?«

Bevor ich umfal en konnte, sank ich auf einen Stuhl, stützte meine El bogen auf den Knien ab und ließ den Kopf in meine Hände sinken. Der Eisenhut und das Brimstone kämpften immer noch in mir und machten mich zittrig und schwach.

Verdammt. Was sol te ich nur Ivy sagen?

20

Der Kaffee in meiner riesigen Tasse war kalt, aber ich hatte nicht vor, in die Küche zu gehen, um mir frischen zu holen.

Ivy polterte dort herum und buk noch mehr von ihren widerwärtigen Cookies. Und das, obwohl ich ihr bereits un-missverständlich klargemacht hatte, dass ich sie nicht essen würde. Ich war wütender als ein Trol mit Kater, weil sie mir Brimstone untergeschoben hatte.

Als ich die Tasse zur Seite stel te und mich vorbeugte, um meine Schreibtischlampe anzumachen, schlug mein Schmerzamulett geräuschvol gegen den Teintzauber, der mein blaues Auge verbergen sol te. Es war dämmrig geworden, während Ceri mir beizubringen versucht hatte, wie ich Kraftlinienenergie speichern konnte. Fröhliches gelbes Licht fiel auf die Pflanzen auf meinem Schreibtisch und beleuchtete gerade noch Ceri, die auf einem Kissen, das sie aus Keasleys Haus mitgebracht hatte, auf dem Boden saß.

Wir hätten das Ganze auch im bequemeren Wohnzimmer machen können, aber Ceri hatte auf geheiligtem Boden bestanden, obwohl die Sonne noch am Himmel stand. Und im Altarraum war es ruhig. Deprimierend ruhig.

Ceri saß in Jeans und einem zwanglosen Hemd im Schneidersitz unter dem Schatten des Kreuzes. Neben ihr stand eine Kanne vol Tee, der immer noch dampfte, während mein Kaffee schon lange kalt war. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie Magie benutzte, um ihn warm zu halten, obwohl ich sie noch nicht dabei erwischt hatte. Sie hielt ehrerbietig eine filigrane Tasse in den Händen - auch die hatte sie von Keasley drüben mitgebracht -, und an ihrem Hals glitzerte Ivys Kruzifix. Ihre Hände waren nie weit davon entfernt. Jenks älteste Tochter hatte am Morgen Ceris hel e Haare zu Zöpfen geflochten, und die Elfe sah aus, als hätte sie ihren Frieden gefunden. Es tat mir gut, sie so zu sehen, da ich ja wusste, was sie al es durchgemacht hatte.

Aus der Küche drang ein dumpfer Schlag, gefolgt vom Geräusch der sich schließenden Ofentür. Ich runzelte die Stirn und wandte mich zu Ceri um, als sie sagte: »Bist du bereit für einen weiteren Versuch?«

Ich stel te meine strumpfsockigen Füße fest auf den Boden und nickte. Mit inzwischen geübter Geschwindigkeit streckte ich mein Bewusstsein nach der Kraftlinie im Garten aus und berührte sie. Mein Chi fül te sich und nahm ungefähr dasselbe auf, was immer hineinpasste. Die Energie floss durch mich hindurch wie ein Bach durch einen Teich. Das hatte ich schon gekonnt, seit ich zwölf war und Trent in dem Wunsch-Camp seines Vaters aus Versehen in einen Baum geworfen hatte. Aber jetzt musste ich sozusagen ein wenig Energie aus dem Teich nehmen und sie in eine Zisterne in meinem Geist heben. Das Chi einer Person, egal, ob sie ein Mensch, Inderlander oder Dämon war, konnte nur eine gewisse Menge halten. Vertraute dienten als Extra-Chi, aus dem ein Zaubernder sich wie aus seinem eigenen bedienen konnte.

Ceri wartete, bis ich ihr signalisierte, dass ich bereit war, bevor sie dieselbe Linie anzapfte und mehr Energie in mich fließen ließ. Es war nur ein Rinnsal verglichen mit Algaliarepts Sintflut, aber trotzdem brannte meine Haut, als mein Chi überfloss und die Kraft auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich sammeln konnte, durch mein Bewusstsein rann.

Um zu dem Bild mit dem Teich und dem Bach zurückzukehren - das Wasser war über die Ufer getreten, und im Tal herrschte Land unter.

Meine Gedanken waren der einzige Ort, an dem die Energie sich niederlassen konnte. Bis sie dorthin gefunden hatte, war es mir gelungen, in meinem Kopf einen dreidimensionalen Zylinder zu erstel en. Ceri hatte den halben Nachmittag al ein damit verbracht, mir beizubringen, ihn aufzubauen. Meine Schultern entspannten sich, als ich fühlte, wie das Energierinnsal die kleine Einfriedung fand. Als die Energie, die mein Chi nicht halten konnte, wie Quecksilbertropfen dort hineinlief, verschwand die Wärme auf meiner Haut sofort. Das Behältnis dehnte sich mit einem roten Glühen aus, das kurz darauf die Farbe von meiner und Als Aura annahm. Igitt. s

»Sprich deinen Auslöser«, forderte Ceri mich auf, und ich duckte mich. Es war zu spät. Sie sah meinen Blick und ihre schmalen Lippen zuckten. »Du hast es vergessen«, beschuldigte sie mich, und ich zuckte mit den Schultern.

Sofort hörte sie auf, Energie in mich zu zwingen, und der Überschuss floss in einem kurzen heißen Aufflackern zurück in die Kraftlinie. »Sag es diesmal«, mahnte sie angespannt.

Ceri war nett, aber sie war keine besonders geduldige Lehrerin.