4.
Die Leute, die in dem kreisförmig gestalteten Raum saßen, waren vor achtundvierzig Stunden in Schutzhaft genommen worden. Das bedeutete, daß sie das GWA-Zentrum nicht eher verlassen durften, bis die Möglichkeit eines ungewollten Verrates ausgeschaltet war.
Da wir nicht wußten, mit welchen Gegnern wir es zu tun hatten, blieb uns keine andere Wahl, als zu dieser unerfreulichen Maßnahme zu greifen.
Es gab jedoch niemand, der sich dagegen aufgelehnt hätte. Die Situation war zu ernst.
Natürlich stand es den Frauen und Männern jederzeit frei, mit ihren Dienststellen und Forschungszentren per Bildsprech in Verbindung zu treten. Vorsichtshalber mußten wir nur verhindern, daß sie vor der Lösung unserer Probleme das Zentrum verließen. Sie hatten bereits zu viel von dem geplanten Einsatz erfahren. Es wäre mehr als gefährlich gewesen, sie zu entlassen.
Ich sah mich in dem großen Raum um. Außer den bekannten Wissenschaftlern entdeckte ich zahlreiche Geheimdienstoffiziere aus Großasien, Europa und Afrika. Auch die Russen waren vertreten. Wir hatten eine Welt-Abwehrzentrale unter dem Vorsitz von General Reling geschaffen.
Die Männer, die diesem Gremium angehörten, besaßen weitreichendste Vollmachten. Ich wußte mich in ihrer Obhut gut aufgehoben, zumal wir nun einen Fall zu bewältigen hatten, den es seit Bestehen der Menschheit noch niemals gegeben hatte!
Unser Chef hatte sich bereit erklärt, die anderen Abwehr- und Geheimdienstoffiziere in unser Planungssystem einzuweihen und infolgedessen den kommenden Einsatz mit den führenden Leuten aus allen Erdteilen gemeinsam besprochen.
Ich wußte noch nichts, da man wieder einmal nach dem Grundsatz handelte, die aktiven Agenten erst dann mit den Daten zu belasten, wenn alle Nebensächlichkeiten ausgeschieden waren. Das war nun anscheinend geschehen, oder wir wären nicht in die Schaltzentrale des Robotgehirns befohlen worden.
Dr. Tantaly Neon saß dicht neben mir. Drüben, unmittelbar vor dem sichtbaren Teil des positronischen Gehirns, stand General Reling auf der Identifizierungs-Plattform.
Die Endberechnungen des Roboters wären bereits vor einer halben Stunde fällig gewesen. Im letzten Augenblick hatte der Chef einen dringenden Anruf aus Kongo-City erhalten. Nach der geflüsterten Meldung eines afrikanischen Verbindungsoffiziers war der Alte aus dem Raum gestürzt.
Kurz danach hatte uns der Leitende Ingenieur der Roboterzentrale in sehr vager Weise angedeutet, wir hätten mindestens noch eine halbe Stunde zu warten, da man dem »Gedächtnis« soeben völlig neue Daten in die Speicherbänke geben werde.
Wir hatten also gewartet. Meine innere Unruhe war ständig gestiegen. Auch Taly schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. Ihre fragenden Blicke hatte ich nur mit einem hilflosen Schulterzucken beantworten können.
Jetzt sah sie gespannt nach vorn. Sie hatte noch nie einem Identifizierungstest durch das »Gedächtnis« beigewohnt.
Als sich die Detektorhaube nach oben schob und Relings Kopf wieder voll sichtbar wurde, fragte sie verstört:
»Was soll das bedeuten? Ist das immer so?«
»Nur bei schwerwiegenden Fällen«, flüsterte ich zurück. »Das Gehirn hat einige Hemmungsschaltungen erhalten. Sobald seine Endergebnisse die Sicherheit der Erde betreffen, wird es nur auf Relings Fragen antworten. Seine Individualschwingungen sind in den Speicherbänken enthalten. Doch schweigen Sie nun.«
»Sie werden als berechtigter Fragesteller akzeptiert, Sir«, drang es unmoduliert aus den Lautsprechern. »Nach Hemmungsschaltung E-12 bin ich verpflichtet. Sie während der Fragestellung im Bereich meiner Kontrollorgane zu halten. Sie werden gebeten, auf der ID-Plattform zu verbleiben.«
Blässe überzog Talys Gesicht. Sie sah mich verwirrt an. Diese Reaktion hatte ich auch bei anderen Leuten schon erlebt. Es war für den denkenden Menschen nicht einfach, die Mammutmaschine in dieser Form sprechen zu hören. Allein die Umsetzung der elektronischen und positronischen Rechenimpulse in einwandfrei verständliche Laute war ein Meisterwerk der Kybernetik. Allerdings wußte ich, daß der Roboter trotz seiner ungeheuren Leistungsfähigkeit nicht in der Lage war, tatsächlich individuell zu denken und zu handeln. Was er mit Hilfe seiner künstlichen Stimmband-Modulatoren über die Lautsprecher bekanntgab, war ein Produkt von Rechenergebnissen, mit deren Grunddaten wir ihn vorher gefüttert hatten.
Dennoch war es verblüffend, das »Gedächtnis« sprechen zu hören. Es erweckte in der Tat den Eindruck, als könnte es wirklich denken.
Die roten Lampen über der gewölbten Kunststoffverkleidung leuchteten auf.
»Empfangsbereit, Sir«, verkündeten die Lautsprecher.
Ich sah zu unseren hochspezialisierten Technikern an den Schaltpulten hinüber, die diese gigantische Maschine hervorragend beherrschten.
Reling saß bewegungslos auf dem kleinen Hocker inmitten der Identifizierungs-Plattform. Dicht vor ihm befanden sich die mechanischen Kontrollorgane des Robotgehirns.
»Betrifft Fall ›Niemandsland‹«, sagte der Alte deutlich in die Aufnahmemikrophone.
Ich fuhr zusammen. Es war ein Wort gefallen, mit dem ich nur instinktiv etwas anfangen konnte. Reling gab einige Anweisungen, die mir auch nicht ganz klar erschienen, aber ich erkannte, daß man bereits großartige Vorarbeit geleistet hatte.
Der vor mir sitzende Afrikaner wandte den Kopf. Sein angedeutetes Lächeln erschien mir vielsagend. Seine Uniform wies ihn als Geheimdienstoffizier der »Afrikanischen Allianz« aus. Was wußte der Mann? Sein kurzes Nicken konnte alles und nichts bedeuten. Sicherlich war er aber über mich informiert. Meine vorschriftsmäßige Dienstmaske kam mir in dem Augenblick mehr als fragwürdig vor. Die Verordnung über das Tragen solcher Folien stammte noch aus den Zeiten des gegenseitigen Mißtrauens, das wir inzwischen glücklicherweise überwunden hatten.
Ich winkte dem Afrikaner zerstreut zu. Meine Gedanken beschäftigten sich mit seinem Landsmann, Professor Negete Ngumolo, dessen Referat mir noch immer im Kopf herumging. Die veränderte Mitosestrahlung des Kranken hatte zu einigen waghalsigen Theorien geführt, die das »Gedächtnis« wohl inzwischen einkalkuliert hatte.
Das Robotgehirn begann mit seinem Bericht. Schon die ersten Worte der mechanischen Sprachelemente gaben mir einen Schock.
»Die vor vierunddreißig Minuten an mein Gedächtniszentrum übermittelten Grunddaten des Ministerpräsidenten der Afrikanischen Allianz haben keine Änderung der bereits vorliegenden Endergebnisse über den Fall ›Niemandsland‹ bewirkt«, gaben die Lautsprecher bekannt. »Die logistischen Grundlagen für die ermittelten Endwerte wurden bestätigt. Zu Ihrer Information bin ich gezwungen, den Filmstreifen des Afrikanischen Raumjagd-Kommandos vorzuführen. Sie werden gebeten, die erklärenden Hinweise zu beachten.«
Unsere beweglichen Sitze drehten sich automatisch um fünfundvierzig Grad. Die große Bildfläche des Gehirns tauchte in unserem Blickfeld auf.
Die enge Kanzel eines kleinen Raumjägers wurde sichtbar. Es war das Spaltstoff-Plasma-Modell von Professor Dr. Dr. Emanuel Scheuning. Das dunkle Gesicht des Raumpiloten wurde hinter dem Druckhelm des Raumanzuges erkennbar.
»Captain Jusef el Hamid, Chef der 8. Raumjägerstaffel«, berichtete der Robot. »Selbstaufnahme durch automatische Kamera. Der Jäger befand sich in diesem Augenblick auf einer Fünfstunden-Kreisbahn im freien Raum. Die Ortung des fremden Flugobjektes durch Captain el Hamid erfolgte 12.23 Uhr, 14. November 2005. Captain el Hamid benachrichtigte über Sprechfunk die amerikanische Raumstation Terra II. Von dort aus wurden kampfkräftige Einheiten der Vereinten-Raumflotte zum Ortungsgebiet befohlen.«
Ich traute meinen Augen nicht mehr! Die dreidimensionalen und farbigen Aufnahmen zeigten die im Sonnenlicht glitzernden Raumjäger der afrikanischen Staffel. Die einsitzigen Maschinen hoben sich klar vom samtschwarzen Hintergrund des Weltraumes ab.
Augenblicke später blendete das Bild um. Das »Gedächtnis« erklärte dazu:
»Umschaltung der Kamera auf Fern-Objekttaster ist erfolgt. Bildliche Darstellung des angestrahlten Fremdkörpers wurde möglich in Entfernung achtundneunzigtausend Kilometer.«
Wir erblickten das feuerspeiende Heck eines Raumschiffes in bekannter Skelett-Bauweise. Es war ein typischer Transporter, der infolge seiner konstruktiven Merkmale niemals in die Atmosphäre der Erde eintauchen konnte. Das tragende Gittergerüst mit den darin aufgehängten Transport- und Kabinenbehältern wäre in Sekundenbruchteilen zerrissen worden. Diese Schiffe eigneten sich jedoch um so besser für den Einsatz im absoluten Vakuum des Raumes.
»Transporter der europäischen Pluto-Klasse«, erläuterte der Robot. »Das Schiff verzögerte seine Fahrt nach den vorhandenen Rechenergebnissen der Objekttaster mit einem Bremsbeschleunigungswert von 1,3 Gravos. Das Heck mit dem Plasma-Triebwerk ist gegen die Fahrtrichtung gedreht. Captain el Hamid ruft den Transporter über Funk an. Entfernung zu diesem Zeitpunkt zweiunddreißigtausend Kilometer. Nach Angabe der Funksprechmeldung schwenkt das Schiff mit einer Endfahrt von 6,856 Kilometer pro Sekunde zur ersten Kreisbahn-Ellipse ein. Der Anruf des Captains wird nicht beantwortet.«
»Jetzt passen Sie auf«, meinte der vor mir sitzende Afrikaner. »Äußerst seltsam, denke ich. Passen Sie auf!«
Ich beugte mich erwartungsvoll vor. Das große Bild war derart naturgetreu, als nähme man unmittelbar an den Geschehnissen teil.
Der Transporter der Pluto-Klasse war nun sehr deutlich zu erkennen. Captain el Hamid hatte sich mit seinen elf Jägern zwischen den großen Raumer und die Sonne geschoben. Eine kurze Meldung berichtete über die baldige Ankunft des mit Vollschub vorbeirasenden Raumkreuzers der US-Flotte. Das Schiff war dem Space-Department unterstellt.
Sekunden später liefen die Ereignisse so schnell ab, daß man die einzelnen Szenen kaum verfolgen konnte.
Captain el Hamid gab einen Befehl, den wir diesmal durch die Aufzeichnung mithören konnten.
Aus den Werferrohren eines seiner Jäger löste sich ein armlanges Raketengeschoß. Der atomare Sprengkopf entfaltete sich knapp dreißig Kilometer vor dem Transporter, der anscheinend noch immer mit seinem Kreisbahnmanöver beschäftigt war.
Der weiße Glutball stach in meine Augen. Gleich darauf jagte der Pluto-Raumer an dem atomaren Miniaturstern vorbei. Es war ein Warnschuß gewesen, natürlich!
Dennoch reagierte die Besatzung des Transporters höchst feindselig. Ich sah deutlich die lohenden Feuerzungen aus den Waffenöffnungen des Skelettschiffes zucken. Zwei der afrikanischen Raumjäger verglühten in den lautlos aufzuckenden Feuerbällen spontaner Kernreaktionen.
Da gab Captain el Hamid den Feuerbefehl. Seine lautstarken Kommandos waren nicht zu überhören.
Das »Gedächtnis« verzichtete auf weitere Kommentare.
Ehe el Hamid die Befehlserteilung vollendet hatte, geschah das, was der afrikanische Geheimdienstoffizier wahrscheinlich als »sehr seltsam« bezeichnet hatte.
Aus dem mächtigen Laderaumzylinder der EUROPA – der Name war inzwischen ermittelt – schob sich ein blitzendes Etwas in die Leere des Raumes. Der Objekttaster unseres Jägers erfaßte es sofort.
Ich hörte mich aufstöhnen. Andere Leute in meiner Umgebung sprangen von den Sitzen. Taly stieß einen unterdrückten Schrei aus.
Dann war der Fremdkörper klar zu erkennen. Ehe er mit hoher Beschleunigung davonraste, hatten wir festgestellt, daß es sich um ein diskusförmiges Gebilde geringen Durchmessers handelte. Der wabernde Feuerkranz an den Rändern der Scheibe verriet genug.
Captain el Hamid ließ dem fremden Raumschiff nachschießen. Die kleinen Raketen konnten das mit wenigstens fünfzig Gravos beschleunigende Ziel aber nicht mehr erreichen.
Während ich noch verhalten stöhnte, flammte das hintere Drittel der EUROPA auf. Ich bemerkte den grellen Lichtfinger, der aus den Tiefen des Raumes heranschoß.
Das »Gedächtnis« erklärte dazu:
»Der schwerbewaffnete Kreuzer des Space-Department ist eingetroffen. Das Schiff ist im Auftrag der Geheimen-Wissenschaftlichen-Abwehr mit einem marsianischen Energiestrahler ausgerüstet. Die Waffe arbeitete perfekt. Der Kommandant der STARDUST verdampft die hintere Hälfte des Transporters, dessen Kreisbahnmanöver beendet ist. Die EUROPA schießt nicht mehr. Kreuzerkommandant J. Minhoe erteilt Captain el Hamid den Befehl, das schwerbeschädigte Schiff direkt anzugreifen und ein Anlegemanöver zu versuchen. Das Manöver gelingt. Die afrikanischen Raumjäger schießen die Saugwulstleinen ab. Zwei Beiboote des Kreuzers kommen näher. Kein Widerstand aus der unbeschädigt gebliebenen Kommando- und Wohnkugel der EUROPA. Die Männer der Raumgarde schneiden die hintere Luftschleuse des Transporters auf. Kein Widerstand.«
Der Film war fast abgelaufen. Man sah noch einige unserer Leute mit schußbereiten Raketenkarabinern das Kommandosegment betreten. Unbekannte Männer tauchten auf. Sie trugen die Uniform der europäischen Mars-Division. Still und reglos ruhten sie auf ihren Andrucklagern. Die starren Augen sagten alles.
Das Bild zeigte wieder den durchsichtigen Druckhelm des afrikanischen Raumpiloten. Captain el Hamid starrte fassungslos in das Objektiv der Aufnahmekamera. Dann wies er seine näher kommenden Leute an, unter keinen Umständen die Toten zu berühren.
Das Funkgespräch zwischen el Hamid und dem Kreuzerkommandanten war aufgenommen worden. Kapitän J. Minhoe kündigte die Ankunft seines Bordarztes an.
Damit endete der Film.
Das »Gedächtnis« ließ uns keine Zeit, die eigenartigen Geschehnisse zu verarbeiten. Ich ahnte ohnehin, was die Untersuchung der Kreuzer-Mediziner ergeben hatte.
Der Riesenrobot erklärte monoton:
»Es wurden dreiundzwanzig Besatzungsmitglieder aufgefunden. Ihre Namen sind bekannt. Die Todesursache ist in allen Fällen die gleiche. Es steht fest, daß die Brandschußverletzungen von anderen Personen verursacht wurden. Die dreiundzwanzig Toten waren Träger der Marsseuche. Der Primaten-Test ist inzwischen abgeschlossen.«
Ich wandte langsam den Kopf. Dr. Tantaly Neon war leichenblaß geworden. Erst die »Stimme« des Robotgehirns riß uns aus unserer Erstarrung. Es bestätigte das, was in mir als dumpfe Ahnung schlummerte.
»Die neuesten Geschehnisse bestätigen meine bisherigen Berechnungen mit hundertprozentiger Gewißheit. Das aus dem Laderaum der EUROPA entwichene Raumschiff ist in Form, Beschleunigungswerten und Antriebserscheinung absolut identisch mit einem jener unbekannten Flugkörper, die vor zwei Jahren noch häufig in der Atmosphäre der Erde auftauchten. Es handelt sich mit hundertprozentiger Gewißheit um ein raumtüchtiges Fahrzeug venusischer Intelligenzen, die uns als metabolische Lebewesen bekannt geworden sind. Ich verweise auf den Fall ›CC-5‹, Einsatz des Agenten HC-9. Nach dem Fall ›Eliteeinheit Luna-Port‹ wurde mit den venusischen Intelligenzen ein stillschweigendes Abkommen getroffen. Wir flogen niemals den Planeten Venus an. Andererseits tauchten die Diskusraumschiffe nicht mehr im Hoheitsbereich der Erde auf.«
»Sie waren damals eingesetzt?« flüsterte Tantaly.
Ich nickte. Ja, an dieses Unternehmen konnte ich mich nur zu gut erinnern.
Nun hatten die seltsamen Geschöpfe also wieder einmal ihre fragwürdigen Hände im Spiel. Mir graute, wenn ich an diese metabolische Lebensform dachte. Hier hatte die allmächtige Natur ganz andere Wege beschritten, das wußten wir. Die kompakten Zellverbindungen waren ohne weiteres fähig, organische Kohlenstoffverbindungen nachzuahmen. Ich hatte Menschen gesehen, die keine Menschen waren.
Immerhin waren uns die Fremden in vielen Dingen unterlegen gewesen. Sie konnten sich nun nicht mehr als Nachahmungen bewegen, ohne sofort entdeckt zu werden. Dafür hatte unsere Wissenschaft gesorgt. Auch das »Gedächtnis« war zum gleichen Resultat gekommen, was aus den nachfolgenden Berichten hervorging.
»Nach den Unterlagen meiner Gedächtnisspeicher ist es im letzten Jahrzehnt zu einer technisch-wissenschaftlichen Gleichschaltung zwischen den Planeten Erde und Venus gekommen. Der Kampf um das Erbe der ausgestorbenen Marsintelligenzen bestätigt das mit 99,8prozentiger Sicherheit. Unter Berücksichtigung aller bekannten Daten komme ich zu dem Schluß, daß die offene Aktivität der Venusbewohner vom klaren Erkennen der Marswissenschaft abhängig ist. Sobald es diesen Lebewesen gelingen sollte, die wissenschaftlich-technischen Hinterlassenschaften des Mars zu erbeuten und folgerichtig auszuwerten, ist mit einem offenen Konflikt zwischen Erde und Venus zu rechnen. Dabei wirft sich die noch unlösbare Frage auf, ob das metabolische, zellverformende Leben auf Venus auch dort entstanden ist. Da es der irdischen Raumfahrt verboten wurde, Venus durch unbemannte Raumsonden zu erforschen, stehen mir zur Klärung dieser Probleme nicht die entsprechenden Grunddaten zur Verfügung.«
Diese Erklärung war wieder mehr als typisch für das »Gedächtnis«. Das Riesenrobotgehirn übersah nichts. Es warf Probleme auf, an die unsere fähigsten Leute noch nicht gedacht hatten.
Nach einer kurzen Pause fuhr das »Gedächtnis« fort:
»Ich verweise auf den Bombenangriff der inzwischen besiegten Intelligenzen vom vierten Planeten der Sonne Deneb. Venus wurde vor einem Dreivierteljahr durch ein denebisches Raumschiff angegriffen und mit Kernbomben belegt. Die Folgerungen sind klar: Die Überlebenden eines fremden galaktischen Volkes kannten die auf Venus heimische Gefahr. Durch den Einsatz der GWA wurde der Schlag gegen Venus zum größten Teil vereitelt. Konsequenz: Nach der Durchrechnung von achtunddreißig Millionen Möglichkeiten klärt sich der ›Fall Niemandsland‹. Die Marsseuche ist nicht identisch mit Erregern, die schon immer auf dem Mars heimisch waren. Ich bitte um die Beachtung meiner Kontrollberechnungen vom 3. November 2005. Daraus geht hervor, daß das marsianische Leben niemals unter einer solchen Krankheit zu leiden hatte. Die nahe Verwandtschaft dieses Volkes mit den Menschen ist erwiesen. Desgleichen haben sich unter Berücksichtigung aller bekannten Fakten über die denkenden Wesen aus dem System der Sonne Deneb Tatsachen ergeben, die im Zuge meiner Endresultate wichtig sind. Im Krieg zwischen Deneb und Mars vor etwa 187.000 Jahren irdischer Zeitrechnung wurden keine bakteriologischen Waffen eingesetzt. Es ist ausgeschlossen, daß es sich bei den Erregern der Marsseuche um gefährliche Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten handelt.«
Der Robot zeigte einen kurzen Film, in dem das Verhör des letzten Denebers vorgeführt wurde. Dann kam das, was ich inzwischen längst ahnte. Die Resultate waren niederschmetternd.
»Die Infizierung der Bazillenträger erfolgte nicht zufällig, sondern gezielt: Das Verhalten des Paters Fernando zeugt für das planmäßige Eingreifen einer fremden Macht, deren Bestreben in der Lahmlegung der menschlichen Kampfkraft liegt. Pater Fernando war gezwungen, seine Funknachricht unter größter Lebensgefahr abzustrahlen. Unter Einkalkulierung der bekannten Daten über die psychischen Reaktionen der Venus-Intelligenzen wird mit 95prozentiger Gewißheit festgestellt, daß eine unauffällige Eroberung des Roten Planeten erfolgt ist. Es ist wahrscheinlich, daß die wichtigsten Kommandostellen der vereinten Erdtruppen von Zellverformen übernommen worden sind. Pater Fernando ist relativ gesund; es ist jedoch möglich, daß er ebenfalls infiziert worden ist. Ich gebe zu bedenken, daß der offene und sichtbare Ausbruch der Infektionskrankheit unter Umständen einer sauerstoffreichen Atmosphäre bedarf. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Krankheit unter den veränderten Umweltbedingungen des Mars verkapselt. Eine scheinbare Immunität könnte die Folge sein.«
Ich hörte das erregte Flüstern unserer Wissenschaftler. Es war ungeheuerlich, welche Probleme das »Gedächtnis« aufwarf.
»Nach Auswertung aller Möglichkeiten ist das Eingreifen der Venus-Intelligenzen mit hundertprozentiger Sicherheit gegeben. Die durch Professor Negete Ngumolo festgestellten Veränderungen in der Mitosestrahlung des Bazillenträgers sind beachtlich. Ich verweise die Wissenschaft auf meine Unterlagen über die Metabolik der Venusier. Es sollte geklärt werden, ob die Krankheit tatsächlich durch Erreger im bekannten Sinne hervorgerufen wird. Es liegt nicht in meiner Macht, darüber klare Auskünfte zu geben.
Endfolgerungen: Es ist unerläßlich, sofort geeignete GWA-Agenten zum Mars zu schicken. Verbindungsaufnahme mit Pater Fernando ist wahrscheinlich möglich. Ich rate dem Chef der GWA dringend, den Kommandierenden Offizier der irdischen Marsstützpunkte weiterhin ohne besondere Informationen zu lassen. Der Offizier darf nicht darüber aufgeklärt werden, was inzwischen auf der Erde geschehen ist. Start- und Landeverbot für sämtliche Raumschiffe müssen zwar aufrechterhalten werden, aber eine diesbezügliche Nachricht sollte nicht zum Mars gefunkt werden. Es besteht die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, daß unbekannte Mächte sofort davon erfahren.«
Reling wurde in seinem schmalen Sitz hell angestrahlt. Bei den Worten des Robots sah ich den Chef dünn lächeln. Jetzt begriff auch ich plötzlich, wieso der europäische Raumtransporter in Erdnähe gekommen war!
»Der Abschuß der EUROPA beweist, daß die Venusier nicht ahnten, daß die einunddreißig Bazillenträger erkannt und gefaßt worden sind. Wohl ist es den metabolischen Intelligenzen bekannt, daß die Seuche auf der Erde Einzug gehalten hat. Sie versuchten heute erneut, einige Bazillenträger zu landen. Der Abschuß der EUROPA dürfte für die Fremden Probleme aufwerfen. Es ist fraglich, ob sie die Ursache richtig durchschauen. Dagegen spricht mit siebzigprozentiger Gewißheit die Tatsache, daß der Warnschuß unserer afrikanischen Raumjäger von der EUROPA-Besatzung mit heftigem Feuer erwidert wurde. Wir hatten allen Grund, den Transporter teilweise zu zerstören.
Der Einsatz hochqualifizierter Agenten sollte sofort erfolgen. Nähere Hinweise kann ich laut Hemmungsschaltung nicht geben. Ich verweise den Chef der GWA auf meine Einsatzberechnungen vom 12. November 2005.«
Der Lautsprecher schwieg. Ich wollte mich gerade erregt an den afrikanischen Verbindungsoffizier wenden, als das »Gedächtnis« nochmals zu einer Erklärung ansetzte. Sie betraf mich.
»Achtung, Detailberechnung«, dröhnte es durch den Raum. »General Reling wird dringend ersucht, die zum Marseinsatz vorgesehenen Personen nicht mit den üblichen Masken auszustatten. Die Biofolie wird von jedem Normalindividuum anerkannt werden, nicht aber von Lebewesen, deren Dasein auf metabolischen Stoffverbindungen aufgebaut ist. Eventuelle Kontrollen könnten zu einem katastrophalen Scheitern unserer Planung führen. Ende!«
Unsere Sitze schwenkten in die alte Stellung zurück. Das Licht flammte auf.
Der Chef trat langsam aus dem aufgleitenden Gitter der ID-Plattform. Seine Stimme klang so tief und dunkel wie immer.
»Meine Herren, das ›Gedächtnis‹ hat sich auf die allernotwendigsten Angaben beschränkt. Ich stelle Ihnen frei, die einzelnen Berechnungen im Detail nachzuprüfen. An den Angaben ist aber bestimmt nicht zu zweifeln. Die Wissenschaftler der GWA werden gebeten, ihre ausländischen Kollegen mit den Fällen ›CC-5 streng geheim‹ und ›Eliteeinheit Luna-Port‹ vertraut zu machen. Ich hoffe, daß sich daraus einige Anhaltspunkte ergeben. Die Speicherbänke des Robots stehen zu Ihrer Verfügung. Diesbezügliche Hemmungsschaltungen werden sofort beseitigt.«
Nach diesen Worten schritt der Alte in Begleitung eines Geheimdienstoffiziers auf die schmalen Panzertüren zu.
Augenblicke später beugte sich der Afrikaner zu mir herüber.
»In einer Stunde sollen Sie zur Endbesprechung bei General Reling erscheinen«, sagte er leise. »Ich kann Ihnen nur viel Glück wünschen. Halten Sie da oben die Augen auf. Was wir tun können, wird zu Ihrer Unterstützung veranlaßt werden.«
»Was haben Sie denn schon getan?« entgegnete ich bedrückt. »Mit den Erkenntnissen des Robots ist uns nur wenig gedient.«
»Sie werden sich noch wundern«, lächelte der Mann. Sein Blick wirkte unergründlich. »Vergessen Sie nicht, daß Sie diesmal nicht allein sind. Die ganze Erde steht hinter Ihnen. Sie werden nach Sonnenuntergang zum Mond starten.«
»Das ist mir bereits bekannt. Mehr aber auch nicht«, beschwerte ich mich.
»Warten Sie ab. Was halten Sie beispielsweise von einem Raumflug, der Sie im Zeitraum von knapp drei Stunden zum Mars bringen wird?«
Ich traute meinen Ohren nicht! Unser schnellstes Plasma-Schiff, die letzte Konstruktion von Professor Scheuning, benötigte mindestens zwei Monate.
Was veranlaßte diesen Mann, von etwa drei Stunden zu sprechen? Hatte man in den afrikanischen oder asiatischen Forschungszentren etwa ein Triebwerk entwickelt, das derartige Wahnsinnswerte erlaubte? Ausgeschlossen! Das konnte ich mir nicht vorstellen.
Selbst wenn wir ein Triebwerk dieser Art besessen hätten, wäre die angegebene Zeitspanne illusorisch gewesen. Kein menschliches Lebewesen hätte die dafür erforderlichen Beschleunigungen ausgehalten, nicht einmal das von der irdischen Raumfahrt verwendete Material.
Der afrikanische Oberst empfahl sich mit flüchtigem Gruß. Ich konnte ihm nur fassungslos nachblicken, bis Taly zögernd äußerte:
»Ich verstehe das zwar nicht alles, Armer Mann, aber ich habe doch das Gefühl, als hätten wir unsere Leute grundlos verdächtigt. Sie haben schon allerlei getan, scheint mir. Gehen wir? Ich könnte eine kleine Stärkung gebrauchen.«
»Wenn ich Sie wenigstens nicht an meiner Seite wüßte«, sagte ich deprimiert. »Ich ahne jetzt schon, daß ein solcher Einsatz in Begleitung einer Frau zur Katastrophe wird.«
»Meinen Sie? Da bin ich aber anderer Ansicht. Wenn wir erst einmal Pater Fernando gefunden und gesprochen haben, wird sich allerlei aufklären. Nun kommen Sie schon. Sie sehen reichlich verhungert aus.«