1.
Genaugenommen hatten wir unseren Erfolg nur dem Mann mit den guten Augen zu verdanken. So hatten wir Pater Fernando unter uns genannt.
»Der Mann mit den guten Augen« – eine zwar etwas ungebräuchliche Titulierung, die aber aus einem Gefühl der Hochachtung und des Respekts entstanden war. Schließlich hatte Pater Fernando etwas erreicht, was vor ihm noch niemand geschafft hatte.
Eines Tages war er still und völlig unauffällig in der gewaltigsten Abwehrfestung der Neuzeit erschienen; im tausendfältig abgesicherten Hauptquartier der Geheimen-Wissenschaftlichen-Abwehr.
Was mir, besonders aber dem Chef der GWA, Vier-Sterne-General Arnold G. Reling, als völlig unmöglich erschienen war, hatte der Pater in kürzester Zeit geschafft. Er hatte das HQ im Sturm erobert. General Reling hatte vergeblich nach Ausflüchten und sogenannten »Argumenten der Vernunft« gesucht. Schließlich hatte er sich in seiner Ratlosigkeit meiner erinnert und den so zielstrebig vorgehenden Jesuiten-Pater an meine Adresse verwiesen.
Profeß Fernando hatte sich aber durch die Tücken des Dienstweges nicht aufhalten lassen. Ehe seine hochgewachsene, hagere Gestalt auf den Bildflächen unserer Überwachungsgeräte erschien, war mir durch die Rohrpost des HQ ein dunkelblauer Aktendeckel zugestellt worden, auf dem in roten Buchstaben die Bezeichnung »Geheime Kommandosache, streng vertraulich« stand.
Mit seinen markanten Schriftzügen hatte der Alte hinzugefügt:
»Zur Bearbeitung an Major HC-9, Chef GWA-Raumkorps. Sehen Sie zu, daß Sie dem Geistlichen die unausführbaren Ideen ausreden. Legen Sie eine Aktennotiz an. Für Ihre Entscheidung erhalten Sie alle Vollmachten.«
Damit hatte mir der Alte eine Sache aufgebürdet, von der ich bis dahin nichts wußte. Bis auf diese Notiz war der Ordner leer gewesen!
Während ich noch stirnrunzelnd über den Sinn dieser Mitteilung nachdachte, hatte Pater Fernando bereits den Vorraum meines Arbeitszimmers betreten. Augenblicke später saß er mir gegenüber, und ich blickte in seine Augen, von denen eine seltsame Faszination ausging.
Sie waren groß und dunkel; rätselhaft wie ein ruhiger Kratersee und von einem unbestimmbaren Leuchten erfüllt, das mich in meinem tiefsten Inneren unsicher machte.
Er wäre an den Chef des GWA-Raumkorps verwiesen worden, ließ er mich wissen und fragte, ob ich Major HC-9 wäre?
Das konnte ich schlecht abstreiten, zumal ich als aktiver GWA-Agent Zivilkleidung trug und außerdem die vorgeschriebene Dienstmaske angelegt hatte. Auch Pater Fernando gegenüber bestand der strikte Befehl, niemals das wahre Gesicht zu zeigen. Ich konnte es nicht ändern.
Sekunden später war ich vor Überraschung beinahe vom Stuhl gefallen. Dieser hagere Mann mit den unergründlichen Augen hatte nicht mehr und nicht weniger vor, als auf dem Planeten Mars eine Missionsstation zu gründen, was nach der Errichtung eines von Erdenmenschen besetzten Stützpunktes unerläßlich sei.
Ich begann beschwörend auf ihn einzureden und wies auf die unglaublichen Gefahren hin. Außerdem deutete ich an, daß die strapaziöse Raumreise zum Roten Planeten vorläufig den hochspezialisierten Wissenschaftlern, Technikern und Soldaten der Raumgarde vorbehalten sein müsse. Ich erwähnte, daß wir mit jedem Gramm Nutzlast zu rechnen hätten, da unsere Fernraumschiffe trotz der Plasma-Triebwerke noch längst nicht vollendet wären.
Da hatte mir Pater Fernando nachgewiesen, welch hervorragender Biologe er war! Ich begann verzweifelt zu schlucken, als er sehr nett und freundlich anführte, die Aufgabe seiner Ordensbrüder hätte schon immer in der Heidenmission, Seelsorge und in der Ergründung der Wissenschaften bestanden.
Nach drei Stunden intensiver Unterhaltung, die von seiner Seite aus sachlich und in verbindlichem Ton geführt wurde, mußte auch ich mich geschlagen geben. Auf mein Verlangen hin unterzog sich Pater Fernando einem kurzen, aber sehr harten Zentrifugentest.
Nachdem wir ihn in der Gondel jenen Andruckswerten ausgesetzt hatten, die bei einer Beschleunigung zwischen acht und sechzehn Gravos auftreten, war er so ruhig und gelassen von seinem Konturlager geklettert, daß mich die Techniker erstaunt angesehen hatten.
Zehn Minuten später hatte ich von meinen Vollmachten Gebrauch gemacht. Ich hatte dem Kommandanten unseres GWA-Expeditionsschiffes INTERSPACE die Anweisung erteilt, den mit einer Zubringerrakete eintreffenden Pater an Bord zu nehmen und auf dem Mars dafür zu sorgen, daß einige unserer dort gelandeten Soldaten bei der Errichtung einer bescheidenen Kapelle eingesetzt wurden.
So war Profeß Fernando auf eine Welt gekommen, die er bei unserem Gespräch als »Staubkorn Gottes« bezeichnet hatte.
Es war alles gutgegangen. Mehr als tausend Männer aus allen Nationen unserer Erde hatten sich anfänglich gewundert, doch danach waren sie dem interplanetarischen Missionar nach Kräften behilflich gewesen.
Als uns diesbezügliche Funksprüche vor etwa sechs Monaten erreichten, war ich doch froh gewesen, daß mir der Chef die bewußten Vollmachten erteilt hatte. Mit Pater Fernando war ein Stück echter Erdenmenschheit auf den lebensfeindlichen Mars gekommen.
Dann, vor genau dreizehn Tagen hatte Profeß Fernando ein zweites Mal das Hauptquartier der Geheimen-Wissenschaftlichen-Abwehr erobert. Diesmal nicht durch sein persönliches Erscheinen, sondern durch einen kurzen Funkspruch, der von unserer gigantischen Mondstation »Luna-Port« aufgefangen und an den Chef weitergeleitet worden war.
Das war am 31. Oktober 2005. Wenigstens hatten die Funker der Mondstation den Wortlaut des Spruches unter diesem Datum in die Liste eingetragen.
Ehe wir den Text über Richtstrahler erhielten, war im Hauptquartier der GWA die Hölle los gewesen. Der Begriff »Sorge« reichte für unsere Panikstimmung schon nicht mehr aus.
Etwa vierzehn Tage vor dem Eintreffen des Mars-Funkspruches waren aus Europa, Afrika, Asien und natürlich auch aus den Staaten der amerikanischen Kontinente Nachrichten eingegangen, die das gesamte HQ schlagartig in hektische Aktivität versetzten.
Normalerweise wendet man sich sofort an die staatlichen Gesundheitsämter, wenn irgendwo und irgendwann der Ausbruch einer Seuche gemeldet wird. Sobald es sich um eine einigermaßen normale Epidemie handelt, wird es kein Geheimdienst der Erde für erforderlich halten, besondere Ermittlungen anzustellen und den Ärzten damit ins Handwerk zu pfuschen.
Nachdem die Seuche jedoch trotz Einsatz modernster Hilfsmittel nicht eingedämmt werden konnte, wurden wir benachrichtigt. Der Chef schaltete vorsichtshalber die Forschungsabteilungen der GWA ein, doch da war es schon zu spät.
Ehe die Mediziner in den Seuchengebieten klar erkannt hatten, daß es sich bei den Symptomen um eine neuartige, völlig unbekannte Infektionskrankheit handelte, waren bereits über zweihunderttausend Menschen auf allen Kontinenten der Erde erkrankt.
Niemals zuvor hatte die medizinische Wissenschaft vor einer derartigen Aufgabe gestanden, zumal alle bekannten Antibiotika restlos versagten.
Es war selbstverständlich, daß die von Natur aus mißtrauischen GWA-Agenten versuchten, der rätselhaften Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Wenn die Krankheit nur in den Staaten oder nur in Europa ausgebrochen wäre, hätten wir vielleicht noch an einen Zufall geglaubt. So aber war das Unheil fast auf die Stunde genau über alle Erdteile hereingebrochen.
Das GWA-Hauptquartier erhielt Alarmstufe I. Sämtliche Truppeneinheiten der amerikanischen Kontinente wurden dem HQ unterstellt. In Europa, Afrika, Asien und Australien handelten die verantwortlichen Leute genau nach unserem Vorbild.
Die Seuchengebiete wurden hermetisch abgeriegelt, medizinische Teams mit hochwertigen Spezialausrüstungen eingeflogen. Wir unternahmen alles, die erkrankten Menschen von den gesunden zu isolieren, um zuerst einmal einen klaren Überblick zu erhalten.
Nachdem wir schon sicher waren, die Ansteckungsherde lokalisiert zu haben, ging es plötzlich in anderen Gegenden los. Menschen erkrankten zum beinahe gleichen Zeitpunkt. Es war, als hätte ein Unsichtbarer über Nacht zugeschlagen.
Die Wissenschaft der irdischen Menschheit arbeitete fieberhaft. Bisher war es trotz aller Bemühungen noch nicht gelungen, einigermaßen genau festzustellen, welche Erreger für die Seuche verantwortlich waren. Sogar die größten Elektronenmikroskope in der Forschungszentrale der GWA und in Moskau hatten versagt. Man hatte einfach nichts finden können.
Allerdings wußten wir ziemlich genau, daß wir einer neuen Art Leukämie gegenüberstanden, die mit dieser Bezeichnung eigentlich überhaupt nicht mehr charakterisiert werden konnte.
Genauer gesagt, handelte es sich um eine hochinfektiöse, leukämieähnliche Krankheit, die nach ihrem klassischen Vorbild in erster Linie eine unkontrollierbare Vermehrung der weißen Blutzellen bewirkte.
Drüsen- und Milzschwellungen konnten wir noch als einigermaßen normal ansehen, nicht aber die leprösen Erscheinungen, die mit einem raschen Erlöschen sämtlicher Nervenempfindungen begannen. Die krebsartigen, schnell fortschreitenden Wucherungen führten im weiteren Verlauf der Krankheit zum Abfallen ganzer Gewebeteile. Wie es nach einigen Wochen oder Monaten um die Erkrankten bestellt sein mußte, brauchte man uns nicht mehr zu sagen.
Die GWA-Maschinerie lief seit dem 16. Oktober 2005 auf Hochtouren!
Bisher hatte es noch keinen Todesfall gegeben. Die Krankheit schien niemals akut und stürmisch zu verlaufen. Die Lebenserwartung der Kranken konnte recht gut noch Monate, vielleicht sogar einige Jahre betragen.
Mit dieser eher tröstlichen Gewißheit war uns aber nicht gedient. Die Mediziner der Welt bestürmten uns und die Regierungen der anderen Staaten, unter allen Umständen für eine hundertprozentige Isolierung der Kranken zu sorgen.
Eben das war uns nicht gelungen!
Ehe wir die betroffenen Zonen abriegeln konnten, mußte es einigen infizierten Personen gelungen sein, das Gefahrengebiet zu verlassen und anderswo Unheil zu säen. Wir wußten schon am 21. Oktober 2005 sehr genau, daß in dieser Beziehung etwas nicht stimmen konnte. Es sah danach aus, als wären unbekannte Kräfte am Werk, mit der festen Absicht, die Seuche immer mehr zu verbreiten.
Am 31. Oktober 2005 war dann der von Pater Fernando unterzeichnete Funkspruch eingetroffen. Plötzlich erkannten wir, welche unerhörte Teufelei gegen die Menschen unserer Welt eingeleitet worden war.
Pater Fernando hatte keine genauen Daten angeben können, aber er teilte uns mit, daß etwa dreißig Mann auf dem Mars infiziert worden waren. Es handelte sich um die Besatzung eines Vorpostens, den wir im Rahmen des vorgeschriebenen Austauschprogramms mit neuen Leuten besetzt hatten.
Natürlich hatten wir die abgelösten Männer sofort zur Erde zurückgeflogen. Sie sollten hier ihren verdienten Urlaub antreten.
Aus dem Funkspruch ging nicht hervor, woher Pater Fernando von der Infizierung dieser Männer wußte. Er hatte sie lediglich als Bazillenträger bezeichnet und hervorgehoben, sie besäßen eine gewisse Immunität, die bei jedem Beobachter zu dem Eindruck führen müßte, kerngesunden Menschen gegenüberzustehen.
Profeß Fernando schien keine Zeit gehabt zu haben, seinen Funkspruch ausführlicher zu gestalten. Es war uns überhaupt rätselhaft, wie es ihm gelungen war, die Nachricht abzustrahlen. Dafür war die große Marsstation erforderlich. Wie mochte er in den interplanetarischen Großsender hineingekommen sein?
Auf alle Fälle hatten wir sofort gehandelt. Wir wußten, daß einunddreißig Männer mit dem Urlauber- und Ablösungsschiff angekommen waren. Sie waren fast drei Monate unterwegs gewesen.
Der Transporter, ein schwerfälliges Plasma-Schiff in Skelett-Bauweise, hing noch immer auf seiner weiten Mondkreisbahn. Die abgelösten Marssoldaten waren mit einem Kreuzer des Space-Department abgeholt und auf dem neuen Sahara-Raumflughafen ausgeschifft worden.
Da sie ihren Urlaub sofort antraten, hatten sie sich in alle Winde zerstreut. Es war eine gemischte Besatzung gewesen, zusammengesetzt aus Europäern, Afrikanern, Asiaten, amerikanischen und australischen Bürgern. Wir legten größten Wert darauf, den Mars gemeinschaftlich zu erobern.
Selbstverständlich hatte uns die Liste der Urlauber vorgelegen. Sofort nach Erhalt der Nachricht hatten wir die Ermittlungen aufnehmen können. Wir sahen uns mit der Tatsache konfrontiert, daß es einunddreißig immune Männer gab, die aber dennoch das Grauen verbreiteten. Wenn sie von der Krankheit nicht sichtbar angegriffen wurden, wäre es ohne die Warnung unmöglich gewesen, sie von den Gesunden zu unterscheiden.
So aber kannten wir die Namen! Wir hatten selbstverständlich hochwertige Bilder von jedem der Bazillenträger. Uns war es nur unverständlich, daß sich die einunddreißig sorgfältig geschulten Spezialsoldaten nicht sofort selbst meldeten.
Die Geheimdienste der Erde begannen mit der Jagd, nachdem Aufrufe über Rundfunk und Television erfolglos geblieben waren. Für uns stand es daher fest, daß die Männer bestrebt waren, sich der ärztlichen Kontrolle zu entziehen.
Eine Großfahndung von niemals erlebten Ausmaßen lief an. Alle einunddreißig Personen waren spurlos verschwunden. Keiner der Männer war dort anzutreffen, wo er sich auf Grund seiner Urlaubspapiere hätte aufhalten müssen.
Am 2. November 2005 war dem Großasiatischen Sicherheitsdienst der erste Schlag gelungen. Fast auf die Stunde zur gleichen Zeit waren zwei der Urlauber aufgespürt worden. Sie hatten sich weder durch gute Worte noch durch klare Befehle bewegen lassen, ihre Schlupfwinkel zu verlassen. Nachdem sie mit ihren Dienstwaffen erbitterten Widerstand leisteten, waren sie von Spezialkommandos des GAS-Geheimdienstes erschossen worden.
So war es nahezu überall geschehen! Ehe sich die verantwortlichen Offiziere und Sicherheitsbeamten auf das Risiko einließen, von den amoklaufenden Krankheitsträgern infiziert oder getötet zu werden, hatten sie Feuerbefehl erteilt.
Auch bei uns hatte es vier Fälle dieser Art gegeben. Die Kommandeure der Truppen hatten ebenso die Nerven verloren wie die Angehörigen der Geheimen Bundeskriminalpolizei. Sogar unsere eigenen Leute hatten geschossen, nachdem ihnen keine andere Wahl geblieben war.
Nun schrieben wir den 12. November 2005!
Ich stand in einem leichten hermetisch geschlossenen Raumanzug auf einer der belebtesten Straßenkreuzungen des New Yorker Stadtteils Manhattan.
Hinter mir wurde die Fulton Street von Einheiten der militärischen GWA abgeriegelt. Die vor mir liegende South Street wurde auf der anderen Seite von den großen Lagerhäusern und Silos der East-River-Kais begrenzt. Überall sah man die auffälligen Schutzanzüge unserer Leute. Aus dieser Gegend konnte keine Maus entkommen, das stand fest.
Drüben, jenseits der South Street, befand sich jenes hohe und weiträumige Lagerhaus, in dem sich der letzte unserer einunddreißig Krankheitsträger verkrochen hatte.
Es war relativ einfach gewesen, sie innerhalb kürzester Zeit zu finden; denn – wohin sie auch kamen – hatten sie die Seuche verbreitet. Wir brauchten nur den letzten Meldungen nachzugehen, um zu wissen, wo wir die Suche zu konzentrieren hatten. Alles andere war reine Routinearbeit.
Ein Mann, der durch jeden Atemzug, durch jede Berührung den Tod bringt, kann sich nicht lange verbergen. Wohl hätte er es vermocht, wenn wir nicht seinen Namen gewußt hätten. Also hatten wir diesen Erfolg zweifellos unserem interplanetarischen Missionar zu verdanken.
Der Name des Mannes im Lagerhaus lautete Hendrik Kosterna. Er war Sergeant der Raumgarde, vierundzwanzig Jahre alt und in Edgeley, Nord-Dakota, geboren. Mit einem der ersten Expeditionsschiffe war er zum Mars gekommen. Was dort mit ihm geschehen war, erschien uns mehr als interessant! Es war lebenswichtig. Nachdem so viele Fehler gemacht worden waren, mußten wir nun alles versuchen, wenigstens einen der rätselhaften Krankheitsträger lebend in unsere Gewalt zu bekommen.
Wie aber konnten wir das erreichen! Auf Grund trüber Erfahrungen wußten wir, daß die Männer im letzten Augenblick von dem Selbstmord nicht zurückschreckten. Das war in Europa und auch in der Nähe von Los Angeles geschehen.
Unsere Leute hatten versucht, die Kranken mit Betäubungsgasen zu überwältigen. Als die Verfolgten jedoch begriffen, daß ihr erbitterter Widerstand sinnlos war, hatten sie den Tod von eigener Hand gewählt.
Resignierend lauschte ich jetzt auf die dröhnende Lautsprecherstimme, die unüberhörbar verkündete:
»Hendrik Kosterna, hier spricht General Reling, Chef der Geheim-Wissenschaftlichen-Abwehr! Ich fordere Sie zum letzten Male auf, mit erhobenen Händen aus Ihrem Versteck zu kommen. Es ist uns genau bekannt! Meine Leute haben Sie bereits innerhalb des Lagerhauses umstellt. Sergeant Kosterna, ich appelliere an Ihren Treueeid als Soldat und an Ihre Pflicht vor Gott und den Menschen. Kosterna, kommen Sie hervor! Helfen Sie uns, die von Ihnen eingeschleppte Seuche zu besiegen. Ich garantiere Ihnen eine faire Behandlung und sogar Ihre spätere Freiheit, wenn sich herausstellen sollte, daß Sie gegen Ihren bewußten Willen gehandelt haben. Kommen Sie!«
Der Lautsprecher verstummte. Zweitausend Soldaten einer Eliteeinheit der militärischen GWA starrten zu dem Betonspeicher hinüber, in dem zwischen zahllosen, zur Verschiffung bestimmten Gütern unser Mann kauerte.
»Sinnlos, Sir«, klang es im Lautsprecher meines Helmgerätes auf. »Damit locken Sie ihn nicht an die frische Luft. Wir haben ihn im dritten Stockwerk eingekesselt. Er feuert mit einer vollautomatischen Henderly auf jeden Uniformierten. Ich habe bereits drei Schwerverwundete, Sir. Geben Sie den Feuerbefehl?«
»Ich lasse Sie vor ein Gericht stellen, wenn Sie sich nicht beherrschen können«, kam die scharfe Entgegnung des Alten, der in einem dicht hinter mir aufgefahrenen Raketenpanzer saß. Der andere Sprecher war Major Wulfer, Chef des Einsatztrupps.
»Achtung! An alle. Es ist Ihnen strengstens verboten, auf den Kranken zu schießen. Schüchtern Sie ihn lediglich mit ungefährlichen Warnschüssen ein, damit er seine Deckung nicht noch einmal verlassen kann. Machen Sie aber keinesfalls von der Waffe Gebrauch, wenn Sie nicht absolut sicher sind, daß Ihre Geschosse wenigstens drei Meter das Ziel verfehlen. Achtung, Major Wulfer! Wie weit sind Sie jetzt von dem Kranken entfernt?«
Die Gesichter der umstehenden Männer drehten sich in meine Richtung. Es handelte sich um die Mitglieder unseres wissenschaftlichen Einsatzteams. Unter den durchsichtigen Kugelhelmen waren die wachsamen Augen und zusammengekniffenen Lippen deutlich zu erkennen.
Es gab praktisch nur eine Möglichkeit, den Kranken lebend in unsere Gewalt zu bekommen. Er mußte so blitzartig betäubt werden, daß er keine Zeit mehr hatte, seine Waffe gegen sich selbst zu richten. Mit Gasen konnte das nicht erreicht werden, das hatten wir erfahren.
Andererseits wußten wir aus den wissenschaftlichen Befunden, daß die Kranken bei der Ausübung des Selbstmordes höchstwahrscheinlich gegen ihren bewußten Willen handelten. Unsere Spezialisten hatten von einem tiefgreifenden Hypnoseblock gesprochen, der dann wirksam wurde, wenn das wache Unterbewußtsein der Verfolgten die Gefahr erkannte. Es mußte also sehr schnell und wirkungsvoll vorgegangen werden.
Da ich der Mann sein sollte, der Hendrik Kosterna zu überwältigen hatte, war es nicht verwunderlich, daß sich die Blicke auf mich konzentrierten.
Ich fühlte meine Nervosität. Die schwere, monströs wirkende Waffe in meiner Armbeuge war mir fremder als ein Wasserbewohner auf dem Grund unserer Ozeane. Das Gerät stammte nicht von unserem Planeten! Wir hatten es als wissenschaftliche Ausbeute vom Mond zur Erde gebracht. Es handelte sich um einen jener elektrischen Schockstrahler, die bei der Vernichtung der lunaren Deneber-Zentrale zum Einsatz gekommen waren.
Von der Wirkung des Gerätes war ich überzeugt. Jedes Lebewesen mit Nervensystem mußte unter den Auswirkungen der gleichgerichteten Entladung im Bruchteil einer Sekunde gelähmt werden. Das hatte ich sogar bei Mutanten erlebt, deren Organismus sich doch erheblich von dem eines Normalmenschen unterschied.
Die elektrischen Schockstrahler hatten nur den Nachteil, reine Nahkampfwaffen zu sein. Für einen Schockschuß über zwanzig Meter hinweg konnte ich noch garantieren. Was aber deutlich darüber hinausging, war schon mehr als illusorisch. Deshalb mochte der Alte auch angefragt haben, wie weit Wulfer von dem gestellten Bazillenträger entfernt wäre.
Das Antwort des Majors unterbrach meine Überlegungen.
»Ich garantiere für nichts, Sir. Wir haben Kosterna zwar umstellt, aber näher als bis auf fünfundzwanzig Meter sind wir nicht herangekommen. Ich liege hinter einem Betonpfeiler. Kosterna schießt bei jeder Bewegung. Er scheint ausreichend Munition zu haben. Ich habe den Eindruck, als hätte er sich auf einen solchen Fall vorbereitet. Geben Sie mir Erlaubnis zu einem ernsthaften Angriff. Ich habe hier einen hervorragenden Scharfschützen. Er könnte den Kranken aktionsunfähig schießen. Ich garantiere für die Treffsicherheit meines Schützen. Wir kommen sonst nicht näher ran, Sir.«
Die Stimme in meinem Helmlautsprecher verstummte. Major Wulfer hatte in größter Erregung gesprochen. Verwunderlich war es nicht. Immerhin befand er sich in nächster Nähe eines Mannes, dessen Feuer er nicht erwidern durfte. Dazu kam noch die Gefahr einer Infizierung. Das dritte Stockwerk des Speichers mußte überall verseucht sein, wo sich der Bazillenträger aufgehalten hatte.
Mehr als zweitausend Mann hatten Wulfers Worte vernommen. Wir hatten von den Medizinern die Anweisung erhalten, unter gar keinen Umständen die leichten Raumanzüge zu öffnen. Das war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, eine Ansteckung zu vermeiden.
Innerhalb der Lagerhalle hielten sich nur zwölf Mann auf. Ich vernahm das helle Peitschen unserer vollautomatischen Dienstwaffen. Die Männer des Einsatzkommandos unternahmen alles, um Kosterna nicht den Standort wechseln zu lassen. Natürlich befolgten sie trotzdem streng den Befehl, den Sergeanten nicht zu verletzen.
Die Stimme des Alten klang über die Funksprechanlage meines Raumanzuges auf.
»Wulfer, warten Sie das Eintreffen von Major HC-9 ab. Wir können nicht länger zögern, ohne Gefahr zu laufen, daß der Kranke zum Selbstmord getrieben wird. Bereiten Sie für HC-9 eine Deckung vor, aus der er einigermaßen ungefährdet feuern kann. Sind Sie sicher, daß Kosterna unsere Funksprech-Unterhaltung nicht abhören kann?«
»Absolut sicher, Sir. Er trägt Zivilkleidung. Als wir ihn in die Enge trieben, haben wir bei ihm kein E-Gerät bemerkt. Für ihn führen wir keine Gespräche.«
Augenblicke später erhielt ich den Befehl, den riesigen Speicher zu betreten. Nun geriet ich ebenfalls in den Bannkreis der Krankheit, die wir bisher noch nicht bekämpfen konnten.
»Passen Sie auf«, warnte der Chef. »Einer von Wulfers Männern wird Sie nach oben bringen. Vermeiden Sie jede Berührung mit Gegenständen, die von dem Kranken angefaßt worden sind. Nehmen Sie möglichst einen Weg, den er bei seiner Flucht nicht beschritten hat. Und –«, General Reling zögerte, »– schießen Sie genau! Unter keinen Umständen den Raumanzug öffnen, auch wenn Sie getroffen werden sollten. Jeder Atemzug des Kranken verbreitet die Seuche. Viel Glück!«
Ich ging mit weiten Schritten über die menschenleere Straße. Wir hatten längst für die Sicherheit der Stadtbewohner gesorgt, obwohl wir nicht wissen konnten, wie viele Menschen Kosterna bereits infiziert hatte.
Ich fühlte mich einsam wie in der Wüste. Dabei waren hinter mir die Panzer der GWA-Division aufgefahren, dröhnten über mir die Atomtriebwerke schneller Flugschrauber und dickbauchiger Transportmaschinen.
Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, den gesamten Speicher in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Schon ein Soldat dieser Elitetruppe hätte ausgereicht, die Lagerhalle mit einem atomaren Flammenwerfer auszuräuchern. Diese Maßnahme war uns aber strikt untersagt.
Wir mußten den Mann lebend haben; einen Mann, den ich zutiefst bedauerte. Er hatte auf dem fernen Mars seine Pflicht getan, bis ihn eine unbekannte Macht überwältigte. Wir wußten, daß er nicht mehr bei klarem Verstand sein konnte.
Nur deshalb hatte ich mich für diesen Einsatz gemeldet. Außer mir gab es nur noch einen Mann, der die denebischen Schockstrahler im Gefecht erlebt hatte. Dieser Kollege war aber zur Zeit nicht hier. Er befand sich auf dem Mond, wo wichtige Vorbereitungen getroffen werden mußten.
Ein Soldat im Raumanzug brachte mich vorsichtig nach oben. Der Speicher war wirklich groß. Man hätte sich verlaufen können.
Während des Aufstiegs sprachen wir kein Wort. Mir fiel jedoch auf, mit welcher Ängstlichkeit mein Begleiter versuchte, Wänden und eingelagerten Gegenständen aus dem Wege zu gehen.
Zehn Minuten später sah ich Major Wulfer hinter einer großen Kiste hervorkriechen. Sein Gesicht unter dem transparenten Kugelhelm war schweißüberströmt. Er atmete so hastig und unkontrolliert, als litte er an akuter Luftnot. Wir verständigten uns über die Funksprechanlagen der Anzüge.
»Okay«, sagte er mit einem Anflug von Sarkasmus, »da wären Sie also. Freut mich, daß die ›Schatten‹ die Sache wieder einmal erfolgreich erledigen wollen. Ich bringe Sie nach vorn hinter meine Säule. Ist das Ihre Waffe?«
Er blickte neugierig auf das unhandliche Gebilde mit der trichterförmigen Mündung auf einem kurzen Lauf. Wulfer war am Ende seiner Nervenkraft, das stand außer Frage.
Für die wenigen Meter bis zu seiner Deckung benötigten wir fünfzehn Minuten. Seine Männer lagen tatsächlich unter so starkem Beschuß, als feuerte eine komplette Kompanie. Ich warf mich mit einem letzten Sprung hinter den meterstarken Betonpfeiler.
»Wulfer, woher hat Kosterna die viele Munition?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Major schulterzuckend. »Er hatte einen Koffer bei sich. Ich komme langsam zu der Ansicht, daß er nur Patronen enthielt. Das ist auf alle Fälle der seltsamste Verbrecher, den ich jemals verfolgt habe, mein Wort darauf.«
»Das ist kein Verbrecher«, belehrte ich ihn. »Sie ahnen nicht, was hier gespielt wird. Achtung: Die Wulfer-Abteilung hört nun auf meine Anweisungen! Stellen Sie Ihr Feuer ein!«
Das gellende Peitschen der Abschüsse verstummte. Es wurde so still in der gewaltigen Halle, als hätte es hier keine Lebenden mehr gegeben.
Ich sah hinüber zu der wuchtigen Automaten-Drehbank, die offenbar zur Verschiffung bestimmt war. Sie stand dicht an der einen Außenwand der Lagerhalle. Zwischen ihr und der Betonmauer kauerte Sergeant Kosterna, der dort eine vorzügliche Deckung gefunden hatte. Er konnte nur von vorn und den beiden Seiten angegriffen werden.
Es war recht dunkel in dem Raum. Die Leuchtröhren waren von Kosterna längst zerschossen worden. Nur spärliches Tageslicht fiel durch die schmalen Fenster in der Mauer.
Ich wartete, bis sich meine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten.
Kosterna schoß in genau berechneten Abständen. Die Geräusche der explodierenden Geschosse belehrten mich über seine Absichten.
Ich wartete auf seinen nächsten Schuß. Der Sergeant kam blitzschnell hinter der Deckung hervor, feuerte und verschwand wieder. Die Regelmäßigkeit seiner Handlung war unschwer zu erfassen.
»Achtung, an den Einsatztrupp: Nach seinem nächsten Schuß eröffnen Sie gleichzeitig das Feuer. Schießen Sie auf die Maschine, und geben Sie mir damit Gelegenheit, meine Waffe in Anschlag zu bringen. Dann brechen Sie ab. Alles klar?«
Es gab keine Rückfragen. Zwölf Maschinenwaffen verwandelten die Dämmerung in einen blitzdurchzuckten Tag. Die Querschläger heulten so zahlreich durch die Halle, daß ich es kaum wagen konnte, meine Waffe nach vorn zu schieben. Dann hatte ich genau jene Ausbuchtung im Visier, hinter der Kosterna regelmäßig auftauchte. Ich legte den Daumen auf den roten Feuerknopf eines Gerätes, dessen Konstruktion von uns nicht verstanden wurde. Wir wußten lediglich, auf welchen Knopf wir zu drücken hatten.
Nach meinem »Stop« verstummte das Feuer unserer Männer. Kosterna erschien so planmäßig, als hätte er nur auf den Augenblick gewartet. Er handelte – taktisch gesehen – völlig unmöglich! Er glich einer ferngesteuerten Marionette.
Feuerhand, Arm und Oberkörper tauchten gleichzeitig in meinem Leuchtvisier auf. Er gab sich keine sonderliche Mühe, den Körper besser abzudecken.
Ehe er erneut schießen konnte, gab ich den Kontakt. Der schwere Schockstrahler in meinen Armen entlud sich mit einer donnerartigen Geräuschentwicklung. Der grelle Blitz zuckte vor, hüllte den Fuß der Apparatur ein und umfing dann die sichtbare Körperpartie des Kranken, der im gleichen Sekundenbruchteil wie von unsichtbaren Gewalten hinter seiner Deckung hervorgeschleudert wurde.
Als sich das Grollen des Energieschusses verlief, lag Hendrik Kosterna in eigenartig verkrümmter Haltung auf dem Boden. Er bewegte keinen Finger mehr. Ich wußte, daß die totale Lähmung seines Nervensystems nur eine halbe Stunde anhalten konnte. Bei diesem Mann war es uns endlich gelungen, seinem selbstmörderischen Drang zuvorzukommen.
Als wir uns vorsichtig über ihn beugten, sahen wir in weit aufgerissene Augen. Er konnte jedes Wort hören, wahrscheinlich auch verstehen, nur vermochte er sich nicht zu bewegen.
»Auf keinen Fall anfassen«, beschwor mich Major Wulfer. »Wenn das Teufelsding auch großartig gewirkt hat, so dürfte es wohl kaum die Erreger vernichtet haben. Hören Sie, wie arbeitet die Waffe eigentlich?«
Ich ließ die Frage vorerst unbeantwortet, da in diesem Moment die Ärzte unseres wissenschaftlichen Teams herbeieilten. Meine Arbeit war getan. Nun hatten die Mediziner das Wort.
Ich drehte mich langsam nach Wulfer um, der mit einer derben Verwünschung die Zigarette fallen ließ. Mit einem stahlfesten Kugelhelm über dem Kopf konnte man wirklich schlecht rauchen.
»Wenn ich Ihnen das sagen könnte, Major, wäre mir entschieden wohler«, nahm ich unser Gespräch wieder auf. »Ich …!«
Mein Satz blieb unvollendet.
»Major HC-9 sofort zur Desinfizierung«, dröhnte es in meinem Helmlautsprecher auf. »Suchen Sie den Spezialwagen auf. Schutzanzug nicht ablegen, bis Sie bestrahlt sind.«
Ich ging mit schleppenden Schritten auf den Desinfektionswagen zu. Als ich ihn betrat, dachte ich über Ursachen und Wirkung nach. Ich konnte mir nicht helfen – aber Hendrik Kosterna gehörte mein Mitgefühl. Was mochte man mit ihm angestellt haben?