2.

 

Als mir vor ei­ni­gen Jah­ren ein ge­nia­ler Ge­hirn­chir­urg den Schä­del öff­ne­te und in mei­nem Groß­hirn einen win­zi­gen Ner­ven­strang durch­trenn­te, war ich durch ei­ne Höl­le ge­gan­gen. Nach mei­ner Ge­ne­sung hat­te ich er­fah­ren, daß man mich ge­ra­de noch von der Schwel­le zum Wahn­sinn hat­te zu­rück­ho­len kön­nen.

Der er­folg­reich ver­lau­fen­den Ope­ra­ti­on hat­te ich mei­ne to­ta­le Un­emp­find­lich­keit ge­gen je­de Art von Wil­lens­be­ein­flus­sung zu ver­dan­ken. Man konn­te mich we­der mit den här­tes­ten Dro­gen noch durch hyp­no­ti­sche oder sug­ge­s­ti­ve Maß­nah­men geis­tig aus­schal­ten.

Es war nicht an­ge­nehm ge­we­sen, was man uns Frei­wil­li­gen aus dem Ein­satz­korps der Wis­sen­schaft­li­chen-Ab­wehr da­mals zu­ge­mu­tet hat­te. Au­ßer mir hat­te nur noch ein Mann die­sen Ein­griff über­stan­den. Von da an hat­te man uns sol­che Auf­ga­ben über­tra­gen, de­nen die Kol­le­gen mit ei­nem noch nor­ma­len und un­ver­än­der­ten Ge­hirn nicht ge­wach­sen wa­ren. Im Zeit­al­ter der hoch­ent­wi­ckel­ten pa­ra­psy­chi­schen Wis­sen­schaf­ten war die ge­won­ne­ne Im­mu­ni­tät über­aus wich­tig.

In­zwi­schen hat­te ich die sei­ner­zeit er­dul­de­ten Qua­len na­he­zu ver­ges­sen, bis sie mich ges­tern in den Des­in­fek­ti­ons­wa­gen scho­ben.

Die Ge­sich­ter un­se­rer Wis­sen­schaft­ler hat­ten hin­ter den di­cken Kunst­stoff­wän­den ge­leuch­tet, die au­ßer­dem un­ter ei­ner stän­di­gen har­ten Ul­tra­vio­lett-Strah­lung stan­den.

Mei­ne An­wei­sun­gen hat­te ich über Funk­sprech er­hal­ten. Die Bak­te­rio­lo­gen, un­ter ih­nen vor­dring­lich die Ra­dio-Bak­te­rio­lo­gen, hat­ten die Be­haup­tung auf­ge­stellt, es wä­re durch­aus noch nicht si­cher, daß mein hun­dert­pro­zen­tig gas­dich­ter und druck­fes­ter Raum­an­zug auch für die Er­re­ger aus ei­ner an­de­ren Welt un­durch­läs­sig wä­re.

Man hat­te mich mit Ul­tra­vio­lett bald ge­rös­tet. Auch die In­fra­rot­strah­ler hat­ten es be­son­ders gut mit mir ge­meint. Ir­gend­ein Tech­ni­ker vom La­b­or­team hat­te mir lä­chelnd ver­si­chert, ein Raum­an­zug die­ser Art hiel­te oh­ne wei­te­res drei­hun­dert Grad Cel­si­us aus, vor­aus­ge­setzt, die Kli­ma­an­la­ge wä­re in Ord­nung. Im­mer­hin hat­te man mich vor­her noch ge­fragt, ob mein An­zug­ge­rät auch wirk­lich ta­del­los funk­tio­nier­te.

Nach­dem ich das leicht­sin­ni­ger­wei­se be­jaht hat­te, ga­ben sie mir Ge­le­gen­heit, mei­nen Hel­den­mut zu be­wei­sen. An­fangs ließ ich die Pro­ze­dur ziem­lich he­ro­isch über mich er­ge­hen. Schließ­lich hat­te ich mir je­doch das En­de her­bei­ge­sehnt. Mein Kör­per war schweiß­über­strömt.

Nach­dem ich mich ei­ni­ger­ma­ßen er­holt hat­te, war ich von Heiß­luft um­weht wor­den, in der ich mich stän­dig dre­hen muß­te. Aber mein »Lei­dens­weg« war im­mer noch nicht zu En­de.

Da­mit der skur­ri­le Hu­mor un­se­rer Her­ren Wis­sen­schaft­ler nicht zu kurz kam, hat­te mich ein Spaß­vo­gel über Funk an­ge­for­dert, ich soll­te ihm doch mei­ne Adres­se ge­ben, falls er even­tu­ell ein­mal einen Kor­ken­zie­her mit be­son­de­ren Ei­gen­schaf­ten brauch­te!

An­schlie­ßend hat­te ich ein Säu­re­bad neh­men müs­sen, um die Wi­der­stands­fä­hig­keit des Spe­zi­al­kunst­stof­fes mei­nes Raum­an­zu­ges zu tes­ten. Das Ma­te­ri­al hat­te sich her­vor­ra­gend be­währt und nicht die ge­rings­ten Ver­schleiß­er­schei­nun­gen ge­zeigt.

Die mit­tel­al­ter­lich an­mu­ten­de Pro­ze­dur der »Des­in­fi­zie­rung« dau­er­te fünf Stun­den. Als man mich schließ­lich mit­samt dem Wa­gen in ein weiß­ge­ka­chel­tes La­bor brach­te, durf­te ich aus­stei­gen.

Män­ner in hoch­bak­te­ri­zi­den Schutz­an­zü­gen wa­ren mir beim Aus­zie­hen der Raum­klei­dung be­hilf­lich.

Im glei­chen La­bor wa­ren we­nig spä­ter drei Kol­le­gen auf­ge­taucht, Frei­wil­li­ge aus dem ak­ti­ven GWA-Korps! Sie blie­ben zwölf Stun­den mit mir zu­sam­men. Ich er­hielt den Be­fehl, ih­nen voll ins Ge­sicht zu nie­sen, ob­wohl ich kei­nen Schnup­fen hat­te. Ich muß­te sie an­hau­chen, be­rüh­ren und all das tun, was man sonst als Ba­zil­len­trä­ger un­ter al­len Um­stän­den ge­gen­über Ge­sun­den ver­mei­den soll.

Wir wuß­ten, daß die ers­ten Sym­pto­me im Fal­le ei­ner An­ste­ckung nach spä­tes­tens zwölf Stun­den er­kenn­bar wur­den. Als mei­ne Kol­le­gen nach vier­zehn Stun­den noch kern­ge­sund wa­ren, wur­den wir end­lich ent­las­sen.

In­zwi­schen wa­ren fast zwei Ta­ge ver­gan­gen. Ich hat­te mich wie­der ei­ni­ger­ma­ßen von den Stra­pa­zen er­holt.

Vor zwei Stun­den, um sechs Uhr früh, hat­te ich den Be­fehl er­hal­ten, so­fort im »Zen­trum« zu er­schei­nen. Als ich drei­tau­send Me­ter un­ter der Erd­ober­flä­che von dem po­sitro­ni­schen Kon­troll­ro­bo­ter auf Ge­hirn­fre­quen­zen und Gau­men­ab­druck über­prüft wur­de, er­füll­te mich ein hef­ti­ges Un­be­ha­gen, denn auf Grund mei­ner noch nicht völ­lig ab­ge­klun­ge­nen Er­schöp­fung war es oh­ne wei­te­res mög­lich, daß win­zi­ge Schwan­kun­gen in mei­nen In­di­vi­du­al­strö­men auf­tra­ten. Die Ma­schi­ne ließ mich je­doch pas­sie­ren.

Nach der Über­prü­fung fuhr ich mit der Rohr­bahn zum gi­gan­ti­schen Un­ter­grund-For­schungs­zen­trum hin­über. Es soll­te atom­bom­ben­si­cher sein! Ob es auch si­cher ge­gen die un­be­kann­ten Er­re­ger war, muß­te sich erst noch her­aus­stel­len.

Ein Mann brach­te mich zur bak­te­rio­lo­gi­schen Ab­tei­lung, der man neu­er­dings weit­läu­fi­ge La­bo­ra­to­ri­en mit der Be­zeich­nung »Ra­dio­lo­gi­sche-Bak­te­rio­se«, Spe­zi­al­ge­biet »Ra­dio-Se­ro­lo­gie«, an­ge­glie­dert hat­te.

Mir lief es kalt über den Rücken, als ich die­se Auf­schrif­ten las. Was man hier al­les aus­ge­brü­tet hat­te, war glück­li­cher­wei­se noch nie an­ge­wen­det wor­den.

Im­mer­hin hat­ten un­se­re Fach­wis­sen­schaft­ler Er­fah­run­gen ge­won­nen, die uns nun zu­gu­te kom­men muß­ten. Be­son­ders die Ab­tei­lung »Ra­dio-Se­ro­lo­gie« war spe­zi­ell dar­auf ein­ge­rich­tet, Ver­än­de­run­gen des Blut­ser­ums nach Ein­wir­kung künst­lich ge­züch­te­ter Er­re­ger fest­zu­stel­len.

Noch vor zwei Jah­ren hat­te man mit ei­nem Kon­flikt zwi­schen den Völ­kern der Er­de rech­nen kön­nen. Was lag nä­her, als für einen even­tu­el­len Bak­te­ri­en­krieg die ent­spre­chen­den Be­kämp­fungs­ab­tei­lun­gen zu schaf­fen! Un­se­re Fach­leu­te be­schäf­tig­ten sich längst nicht mehr mit be­kann­ten Krank­heits­er­re­gern. Sie ar­bei­te­ten seit Jah­ren mit ra­dio­lo­gisch mu­tier­ten oder mo­di­fi­zier­ten Mi­kro­le­be­we­sen, ge­gen die nor­ma­le Vi­ren harm­los und nich­tig wirk­ten.

Der Be­gleit­of­fi­zier aus dem mi­li­tä­ri­schen Korps der GWA deu­te­te stumm auf die wei­ße Schie­be­tür, vor der zwei Män­ner in en­gen Kunst­fa­ser­kom­bi­na­tio­nen der Ein­satz­trup­pe stan­den. Die durch­ge­la­de­nen Ma­schi­nen­ka­ra­bi­ner und die leuch­ten­den klei­nen Lam­pen an den Au­ßen­wüls­ten der Funk­hel­me re­de­ten ei­ne deut­li­che Spra­che.

Hier un­ten herrsch­te wie­der ein­mal Alarm­stu­fe I, was mit ei­ner zwangs­läu­fi­gen Ver­schär­fung der oh­ne­hin stren­gen und weit­rei­chen­den Si­cher­heits­vor­keh­run­gen ver­bun­den war.

Ich zeig­te mei­ne röt­lich flim­mern­de ID-Mar­ke aus dem un­nach­ahm­li­chen »Lu­na­ri­um« -Ele­ment und nann­te mei­ne Ko­de­num­mer. Au­ßer­dem muß­te ich den elek­tro­ma­gne­tisch be­schrif­te­ten Kon­troll­strei­fen des Ein­gangs­ro­bo­ters vor­wei­sen.

Nach­dem ei­ne Laut­spre­cher­stim­me ihr »Ja« ge­spro­chen hat­te, durf­te ich ein­tre­ten. Mei­ne Ge­sichts­haut un­ter der reich­lich gro­ben Dienst­mas­ke be­gann zu ju­cken, denn die­se ein­fa­chen Kunst­stoff­ge­bil­de be­stan­den nicht aus le­ben­dem Ge­we­be, wie man es bei un­se­ren hoch­wer­ti­gen Ein­satz­fo­li­en ver­wen­de­te.

Im Vor­raum zu ei­nem der ge­heim­ni­sum­wit­ter­ten Sä­le der Ra­dio-Ab­tei­lung be­grüß­te mich ein ak­ti­ver Kol­le­ge mit stum­mem Kopf­ni­cken. Ich rea­gier­te mit ei­ner of­fen­bar ver­fäng­lich wir­ken­den Gri­mas­se, die bei ihm Miß­trau­en aus­lös­te. Das war nicht ver­wun­der­lich, wuß­te er doch nichts von dem star­ken Juck­reiz, der mich plag­te.

»Fehlt Ih­nen et­was, Sir?« er­kun­dig­te sich der Mann. »Sie sind Ma­jor HC-9, ja?«

»Wenn Sie das mitt­ler­wei­le noch nicht wis­sen, wä­re es lang­sam an der Zeit«, er­wi­der­te ich är­ger­lich. »Was ist hier un­ten ei­gent­lich los? So oft bin ich noch nie kon­trol­liert wor­den. Hier, se­hen Sie sich noch­mals mei­nen Strei­fen an.«

»Ent­schul­di­gen Sie«, wehr­te er lei­se ab. »Sir, seit­dem der Chef die­sen Ba­zil­len­trä­ger ins Zen­trum brin­gen ließ, sind die Ner­ven der Leu­te äu­ßerst an­ge­spannt. Ich war da­bei, als sie ihn nach un­ten schaff­ten. Oben im HQ ha­ben wir ihn erst ein­mal in einen her­me­tisch schlie­ßen­den Raum­an­zug ge­steckt, den wir dann von au­ßen des­in­fi­zier­ten.«

»Oh!« stöhn­te ich, da ich mir gut vor­stel­len konn­te, was Hen­drik Kos­ter­na er­lebt hat­te. Erst mein Strahl­schuß und dann noch die Ent­gif­tung!

»Mit­samt dem Raum­an­zug ist er da­nach in einen Spe­zi­al­be­häl­ter ge­kom­men, der bis zum Rand mit ei­ner Säu­re­lö­sung an­ge­füllt war. Pro­fes­sor Tho­man mein­te, die­ses Zeug müß­te so­gar die Mars-Er­re­ger ab­tö­ten, ob­wohl wir noch gar nicht wis­sen, ob es sich um Er­re­ger im Sin­ne des Wor­tes han­delt. Die Bio­lo­gen sind an­de­rer An­sicht. Sie re­den von ei­ner ei­weiß­frem­den Le­bens­form, oder was weiß ich. An­de­re mei­nen, die gan­ze Sa­che …«

»Hö­ren Sie auf«, un­ter­brach ich ihn be­schwö­rend. »Ver­mu­tun­gen füh­ren zu nichts. Wo ist der Chef? Ich bin von ihm per­sön­lich an­ge­ru­fen wor­den.«

»Dort drin­nen, Sir. Mo­ment bit­te. Ich muß Sie vor­her an­mel­den. Tut mir leid. Sie müs­sen auch noch einen Schutz­an­zug an­le­gen.«

Wenn ein Mann die Ner­ven zu ver­lie­ren be­fürch­tet, kann es ge­sche­hen, daß er sei­nen Ge­füh­len mit Flü­chen und Ver­wün­schun­gen Luft ver­schafft. Ich be­fand mich jetzt in die­ser Stim­mung.

Der Kol­le­ge grins­te über mei­ne ver­ständ­li­che Re­ak­ti­on. Nach ei­nem kur­z­en An­ruf über Bild­sprech öff­ne­te er die nächs­te Tür.

Beim Be­tre­ten des Raum­es be­merk­te ich ei­ne jun­ge Frau. Sie moch­te drei­ßig bis zwei­und­drei­ßig Jah­re alt sein. Ihr grau­wei­ßer Schutz­an­zug be­wies, daß auch sie die neu­en Vor­schrif­ten be­fol­gen muß­te. Sie hat­te nur den dünn­wan­di­gen Helm zu­rück­ge­klappt. Ihr hell­blon­des Haar wirk­te zer­zaust und war of­fen­bar von Schweiß und Schmutz ver­klebt.

Mit ei­ner has­ti­gen Be­we­gung fuhr sie sich über die ho­he Stirn.

»Hal­lo«, emp­fing sie mich mit ei­nem Lä­cheln, das ihr et­was streng wir­ken­des Ge­sicht in selt­sa­mer Wei­se ver­schön­te. »Kom­men Sie nur wei­ter her­ein, Ma­jor. Wir bei­ßen nicht. Zi­ga­ret­te?«

»Dan­ke, ich kann ei­ne ge­brau­chen. Wenn ich mir die Mas­ke ver­bren­ne, haf­te ich so­gar für den Scha­den. Darf ich mich set­zen? Man nennt mich HC-9. Ich wür­de Ih­nen gern mein Ge­sicht zei­gen, aber Sie wis­sen ja …!«

Mein Schul­ter­zu­cken be­ant­wor­te­te sie mit ei­nem ver­ständ­nis­vol­len Ni­cken. Ihr Lä­cheln ver­tief­te sich.

Ei­gen­ar­tig, wie sehr die­ses her­be Ge­sicht da­durch ge­wann. Ich kam schon nach die­sen we­ni­gen Mi­nu­ten un­se­rer Be­kannt­schaft zu der Über­zeu­gung, daß ich mich mit ihr gut ver­ste­hen wür­de. Au­gen­blick­lich schi­en sie je­doch im Dienst zu sein.

Sie mus­ter­te mich ein­ge­hend und of­fen. Schließ­lich sag­te sie:

»Ich bin Ihr Emp­fangs­ko­mi­tee, wenn Sie so wol­len. Wie ich se­he, sind Sie nicht in be­son­ders gu­ter Stim­mung. Ge­fällt es Ih­nen nicht bei uns?«

Mei­ne Auf­merk­sam­keit er­wach­te schlag­ar­tig. Mei­ne Ge­sprächs­part­ne­rin schi­en be­stimm­te Ab­sich­ten zu ha­ben. Ich sah sie for­schend an.

Bei mei­nem Blick sag­te sie, lei­se auf­la­chend:

»Okay, ver­ges­sen Sie mei­ne Fra­ge. Da­mit Sie wis­sen, mit wem Sie es zu tun ha­ben, wer­de ich mich höf­li­cher­wei­se erst ein­mal vor­stel­len. Ich hei­ße Ne­on, Dr. Tan­ta­ly Ne­on. Kom­men Sie jetzt aber nicht auf die Idee, mich zu fra­gen, ob ich bei Be­rüh­rung mit elek­tri­schem Strom zu leuch­ten pfle­ge. Ich tue es ga­ran­tiert nicht. Au­ßer­dem ist die Re­de­wen­dung schon der­art ab­ge­droschen, daß ich kei­ne pas­sen­de Ant­wort mehr fin­de. Mei­ne lie­ben Kol­le­gen ha­ben den Be­griff ›Ne­on‹ schon er­schöp­fend aus­ge­beu­tet.«

End­lich konn­te ich wie­der herz­haft la­chen! Sie kön­nen sich über­haupt nicht vor­stel­len, wel­che Wohl­tat mir die­se in­tel­li­gen­te Frau mit ih­rer kur­z­en Er­klä­rung er­wie­sen hat­te. Ich fand sie sehr sym­pa­thisch.

»Fein, jetzt nor­ma­li­siert sich Ihr See­len­zu­stand wie­der«, er­klär­te sie ge­las­sen. »Zu al­lem Über­druß hat man mir noch einen Vor­na­men ge­ge­ben, der in in­ni­ger Wei­se mit dem Me­tall ›Tan­tal‹ ver­wandt ist. Das ist auch Ih­nen si­cher auf­ge­fal­len. Mein Va­ter be­schäf­tig­te sich be­ruf­lich mit Me­tal­le­gie­run­gen. Wenn Sie al­so gü­tigst dar­auf ver­zich­ten woll­ten, mich Miß Edel­gas oder Miß Ta-Ta zu nen­nen, so könn­ten wir uns auf die Be­zeich­nung Ta­ly ei­ni­gen. Okay?«

In ih­ren Au­gen schie­nen plötz­lich tau­send Teu­fel­chen zu tan­zen, so lus­tig fun­kel­ten sie. Ich fühl­te mich schlag­ar­tig woh­ler. Viel­leicht war das auch ih­re Ab­sicht ge­we­sen.

»Wenn Sie wol­len, ich bin ein­ver­stan­den«, er­klär­te ich schmun­zelnd. »Miß Edel­gas ist üb­ri­gens gar nicht schlecht.«

»Amü­sie­ren Sie sich nur auf mei­ne Kos­ten, Ma­jor. Ich bin schon dar­an ge­wöhnt, daß so­gar äl­te­re und durch­aus se­ri­öse Wis­sen­schaft­ler in die­ser Laus­bu­ben­art den Mund ver­zie­hen. Darf ich Sie aber auch dar­über auf­klä­ren, daß Sie seit vor­ges­tern eben­falls einen apar­ten Spitz­na­men füh­ren? Je­der, der Sie in dem Des­in­fek­ti­ons­wa­gen er­lebt hat, nennt Sie seit­dem der ›Ar­me Mann‹; ›arm‹ na­tür­lich groß­ge­schrie­ben, da es sich hier ein­deu­tig um einen Ei­gen­na­men han­delt. Hal­lo, wo bleibt denn Ihr spöt­ti­scher Ge­sichts­aus­druck?«

Ich starr­te sie sprach­los an. Es war ein­fach nicht zu fas­sen.

Dies­mal lach­te sie auf mei­ne Kos­ten. Mir blieb kei­ne an­de­re Wahl, woll­te ich mich nicht bla­mie­ren, als mit ein­zu­fal­len. Al­ler­dings wirk­te mei­ne Hei­ter­keit leicht ge­quält.

»Fein, Ar­mer Mann! Nach­dem wir uns al­so ge­gen­sei­tig et­was be­schnup­pert ha­ben, kön­nen wir ja durch die­se Tür schrei­ten. Ich ge­hö­re üb­ri­gens zu dem Per­so­nen­kreis, der al­ler­lei streng ge­hei­me Din­ge er­forscht hat. Ich bin Bak­te­rio­lo­gin, Spe­zi­al­ge­biet Ra­dio-Se­ro­lo­gie. Fra­gen Sie mich aber nicht, ob wir be­reits den Er­re­ger der Mars­seu­che ge­fun­den oder gar ein Ge­gen­mit­tel ent­deckt hät­ten. Ich kann Ih­nen doch gar nichts sa­gen, zu­mal man uns vor­läu­fig nicht an den Ba­zil­len­trä­ger her­an­läßt. Im Ge­gen­satz zu den po­si­tiv In­fi­zier­ten ist Kos­ter­nas Blut­bild so ein­wand­frei, wie es nur sein kann. Wir ste­hen vor ei­nem Rät­sel; vor ei­nem großen Rät­sel.«

Ih­re schma­len Hän­de zit­ter­ten, als sie nach ei­ner Zi­ga­ret­te griff. Ich gab ihr wort­los Feu­er und über­leg­te krampf­haft, was die­se Wis­sen­schaft­le­rin ei­gent­lich von mir woll­te. Sie re­de­te et­was zu­viel. Ich hat­te den Ein­druck, als woll­te sie nur lang­sam auf den Kern der Din­ge kom­men. In sol­chen Fäl­len schweigt man am bes­ten.

»Sind Sie im­mer so zu­rück­hal­tend?« frag­te sie leicht ge­reizt. »Kei­ne Fra­gen? Al­le Leu­te ver­su­chen, uns zu un­be­dach­ten Äu­ße­run­gen zu ver­lei­ten, so oft er­kun­di­gen sie sich nach Din­gen, die wir selbst nicht wis­sen. Sie ste­hen da, als gin­ge Sie das al­les nichts an.«

Ich steck­te mein Feu­er­zeug ein und stand lang­sam auf. Ih­re Hal­tung wur­de förm­lich, als ich ge­las­sen ent­geg­ne­te:

»Ge­nug des Ver­steck­spiels, Dok­tor. Was wol­len Sie von mir? Sind Sie vom Chef be­auf­tragt, mir In­for­ma­tio­nen zu ge­ben?«

Sie drück­te die kaum an­ge­rauch­te Zi­ga­ret­te aus. Dann er­hob sie sich so schwer­fäl­lig aus dem Ses­sel, als las­te­te ei­ne Bür­de auf ihr.

»Okay, Sie ha­ben mich er­tappt«, mein­te sie lei­se. »HC-9, ich ge­hö­re eben­so zur GWA wie Sie, nur bin ich kei­ne ak­ti­ve Agen­tin. Das wird sich aber än­dern.«

»Ach! Und wie geht’s wei­ter?«

»Wer­den Sie nicht iro­nisch. Ge­ne­ral Re­ling hat mich ges­tern mit ei­ni­gen wich­ti­gen Da­ten ver­traut ge­macht. Sie wer­den zum Mars flie­gen, so­bald hier die letz­ten Vor­be­rei­tun­gen ab­ge­schlos­sen sind. Ich wer­de Sie be­glei­ten, das ist al­les.«

Mei­ne Sym­pa­thi­en für sie er­kal­te­ten et­was. Ich fühl­te, daß mei­ne Au­gen un­freund­lich und ab­wei­send fun­kel­ten. Das hät­te mir noch ge­fehlt!

»Zur Kennt­nis ge­nom­men«, ent­geg­ne­te ich knapp. »Aber las­sen Sie sich ge­sagt sein, Dok­tor, daß ich nicht der Mann bin, der in Be­glei­tung ei­ner Frau in einen sol­chen Ein­satz geht. Da­für feh­len Ih­nen nach mei­ner An­sicht al­le Vor­aus­set­zun­gen. Der Mars ist für uns Nie­mands­land. Ich leh­ne grund­sätz­lich ab, Dok­tor. Wo ist mein Schutz­an­zug?«

Sie deu­te­te auf einen brei­ten Wand­schrank. Ich such­te mir die pas­sen­de Grö­ße her­aus, ließ die Ma­gnet­ver­schlüs­se ein­schnap­pen und kon­trol­lier­te die se­pa­ra­te Sau­er­stoff­ver­sor­gung. Nor­ma­le At­mungs­fil­ter wa­ren streng ver­bo­ten.

Sie sah reg­los und schwei­gend zu. Als ich zur Ver­bin­dungs­tür schritt, ver­nahm ich plötz­lich ih­re Stim­me. Sie klang ein­dring­lich, aber emo­ti­ons­los.

»HC-9, sind Sie be­reits dar­über in­for­miert, daß es der ir­di­schen Wis­sen­schaft mit 98pro­zen­ti­ger Ge­wiß­heit nicht ge­lin­gen wird, ein Se­rum ge­gen die Mars­seu­che zu ent­wi­ckeln? Dar­über kön­nen Jah­re und Jahr­zehn­te ver­ge­hen. Bis da­hin dürf­te die Mensch­heit aus­ge­stor­ben sein. Ich glau­be, mehr brau­che ich Ih­nen nicht zu sa­gen.«

Ich ver­hielt im Schritt. Mich er­füll­te ein der­art un­gu­tes Ge­fühl, daß mei­ne Hand­flä­chen plötz­lich feucht wur­den. Ich wand­te den Kopf.

»Mit 98pro­zen­ti­ger Ge­wiß­heit? Von wem stam­men die­se Da­ten?«

»Vom po­sitro­ni­schen Ro­bot­ge­hirn, dem wir al­le be­kann­ten Fak­ten ge­ge­ben ha­ben. Der Fall Hen­drik Kos­ter­na wur­de be­reits be­rück­sich­tigt, des­glei­chen die Funk­mel­dung von Pa­ter Fer­n­an­do. Die Le­bens­er­war­tung der be­reits er­krank­ten Per­so­nen be­läuft sich auf bes­ten­falls sechs Mo­na­te, nicht auf ei­ni­ge Jah­re, wie wir vor vier­zehn Ta­gen noch an­nah­men. Wenn es ei­ner un­be­kann­ten Macht ge­lingt, noch­mals ei­ne grö­ße­re An­zahl im­mu­ner Ba­zil­len­trä­ger auf die Er­de zu brin­gen, wer­den wir die Na­men nicht wis­sen. Dann kön­nen die Trä­ger des To­des un­er­kannt von ei­nem Ort zum an­de­ren ei­len. Die Mel­dung des Pa­ters war ein schwe­rer Schlag für un­se­ren Geg­ner, der in Zu­kunft sol­che Feh­ler­quel­len be­stimmt aus­zu­schal­ten weiß. Wenn es uns nicht ge­lingt, schleu­nigst ein Ge­gen­mit­tel zu fin­den, dann …«

Sie ver­stumm­te. Ihr Schul­ter­zu­cken sag­te mir ge­nug.

»Was hat das mit Ih­nen zu tun? Mit Ih­rer ge­plan­ten Rei­se zum Mars?«

»Viel, viel­leicht al­les. Sie ha­ben ei­ne zwölf­jäh­ri­ge GWA-Aus­bil­dung ab­sol­viert, aber Sie sind kein spe­zia­li­sier­ter Bak­te­rio­lo­ge. Sie be­nö­ti­gen auf al­le Fäl­le ei­ne Fach­kraft. Wir müs­sen her­aus­fin­den, wo die Ur­sa­chen lie­gen, und das kann nur auf dem Mars ge­sche­hen. Ich ha­be üb­ri­gens auch mei­nen Dok­tor der Bio­lo­gie.«

»Ich zweifle nicht an Ih­rem Kön­nen, sonst ge­hör­ten Sie nicht zum For­schungs­team der GWA. Ich neh­me Sie aber trotz­dem nicht mit. Wenn un­be­dingt ein Fach­wis­sen­schaft­ler da­bei sein muß, dann tei­len Sie mir einen Mann zu, der sich im Fal­le ei­nes Fal­les auch hel­fen kann. Ge­hen wir nun? Ich bin zum Chef be­foh­len.«

»Er war­tet. HC-9, Sie wer­den den Be­fehl er­hal­ten, mich den­noch mit­zu­neh­men. Ich bin be­reits ein­ge­plant, wie mir ge­sagt wur­de.«

Sie stand hoch­auf­ge­rich­tet vor mir. Ehe ich et­was ent­geg­nen konn­te, fuhr sie fort:

»Ich ha­be einen drei­jäh­ri­gen Sohn. Er ist an der Seu­che er­krankt. Mein Mann ist bei der De­ne­ber-Ak­ti­on auf dem Mond ge­fal­len. Er lief in den Strahl­schuß ei­ner au­ßer­ir­di­schen Kampf­ma­schi­ne. Wenn ich mich nicht ir­re, hat­ten Sie da­mals das Kom­man­do. Sie sind mir et­was schul­dig, Ma­jor HC-9! Sei­en Sie ver­si­chert, daß ich ei­ne aus­ge­zeich­ne­te Ein­satz­agen­tin sein wer­de. Es geht um mein Kind, es geht um die ge­sam­te Mensch­heit. Ent­schul­di­gen Sie, daß ich mei­nen Jun­gen zu­erst er­wähn­te. Sie wis­sen nicht, wie es ist, wenn man als Mut­ter und hoch­s­pe­zia­li­sier­te Wis­sen­schaft­le­rin hilf­los zu­se­hen muß, wie der Tod un­er­bitt­lich nach dem Liebs­ten greift, das man noch auf der Welt hat. Ich darf Mi­cha­el nicht ein­mal mehr se­hen! Er ist im Seu­chen­ge­biet von Ka­li­for­ni­en ein­ge­schlos­sen.«

In mir brach je­der Wi­der­stand zu­sam­men. Ich konn­te die­ser Frau plötz­lich nicht mehr in die Au­gen se­hen. Ja, bei der De­ne­ber-Ak­ti­on hat­te ich das Kom­man­do ge­führt.

Lei­se frag­te ich:

»Wie hieß Ihr Mann? Auch Ne­on?«

»Nein, ich ha­be wie­der mei­nen Mäd­chen­na­men an­ge­nom­men. Der Na­me mei­nes Man­nes ist ne­ben­säch­lich. Er fiel für die Er­de und da­mit für ei­ne ge­ein­te Mensch­heit. HC-9, ich wer­de Sie nicht eher in Ru­he las­sen, bis Sie mich als Kol­le­gin an­er­kannt ha­ben. Sie wer­den mir kei­ne Schwie­rig­kei­ten mehr ma­chen, nicht wahr?«

Nein, ich fühl­te, daß ich nicht wei­ter auf mei­nem Stand­punkt be­har­ren konn­te. Ih­re Pro­ble­me wa­ren auch die mei­nen. Den­noch trieb mir der Ge­dan­ke, ei­ne Frau zu die­sem Ein­satz mit­zu­neh­men, den kal­ten Schweiß auf die Stirn.

»Wir wer­den se­hen«, ent­geg­ne­te ich aus­wei­chend. »Hal­ten Sie mich nur nicht für einen so­ge­nann­ten Su­per­mann, Dok­tor! Wir ha­ben ei­ne gu­te Schu­lung er­hal­ten, aber zau­bern kön­nen auch wir nicht. Die Er­fol­ge der Ein­satz­agen­ten ba­sie­ren in al­ler­ers­ter Li­nie auf den groß­ar­ti­gen Pla­nun­gen, die von pas­si­ven GWA-An­ge­hö­ri­gen durch­ge­führt wer­den und dar­über hin­aus auf der Ar­beit un­se­rer Wis­sen­schaft­ler. Wenn man mich jetzt oh­ne ent­spre­chen­de An­wei­sun­gen und Hilfs­mit­tel auf den Ro­ten Pla­ne­ten schick­te, wä­re ich mehr als hilf­los. Den­ken Sie dar­an. Das sind kei­ne lee­ren Wor­te.«

»Ge­hen wir«, sag­te sie ru­hig. »Sie wer­den Ih­re An­wei­sun­gen er­hal­ten. Seit der ers­ten Mel­dung über das Auf­fla­ckern der Seu­che ar­bei­ten wir oh­ne Un­ter­bre­chung. Hier hat nie­mand ge­schla­fen, ver­las­sen Sie sich dar­auf. Am we­nigs­ten aber Ge­ne­ral Re­ling.«

End­lich öff­ne­te sie die wei­ße Tür. Den da­hin­ter­lie­gen­den Saal hat­te ich nie zu­vor ge­se­hen. Es schi­en sich um ein grö­ße­res La­bor zu han­deln.

»Schlie­ßen Sie bit­te Ih­ren Helm«, ord­ne­te ein pas­si­ver Kol­le­ge an. Sei­ne dunkle Uni­form schim­mer­te un­ter dem trans­pa­ren­ten Kunst­stoff der Schutz­klei­dung.

Ich klapp­te die Ku­gel nach vorn und schal­te­te Kli­ma- und Sau­er­stoff­an­la­ge ein. Die An­zü­ge wa­ren zwar nicht druck­fest, aber als her­me­tisch schlie­ßen­de Klei­dungs­stücke muß­ten sie ei­ne In­fi­zie­rung eben­falls ver­hin­dern kön­nen. Un­se­re Stim­men klan­gen nun dumpf un­ter dem hauch­dün­nen Werk­stoff der Ku­gel­hel­me her­vor. Es war ei­ne un­wirk­li­che Si­tua­ti­on, we­nigs­tens für mei­ne Be­grif­fe.

»Sie ge­wöh­nen sich dar­an«, er­klär­te Ta­ly. »Wir wa­ren schon oft ge­zwun­gen, Le­ben und Ge­sund­heit durch die­se Klei­dung zu schüt­zen. Ver­ges­sen Sie nicht, daß Sie sich in der Ra­dio-Bak­te­rio­lo­gi­schen-Ab­tei­lung be­fin­den.«

»Fol­gen Sie mir bit­te«, klang die Stim­me des Kol­le­gen auf. »Der Chef war­tet.«