Nachwort des Herausgebers Der Gang vor die Hunde – die Urfassung des Fabian

Es war schon lange bekannt, dass Erich Kästners wichtigstes Werk, der Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, Streichungen erfahren hatte, dass er bearbeitet worden war. Kästner hat selbst ein vom damaligen Verlag hinwegzensuriertes Kapitel andernorts publiziert, ebenso eines der ursprünglich vorgesehenen Nachworte; in der postumen kommentierten Werkausgabe konnten 1999 einzelne gestrichene Abschnitte im Anhang nachgelesen werden. Erstaunlicherweise hatte aber bisher keine Leserin, kein Leser die Möglichkeit, den Roman so zu lesen, wie der Autor ihn geplant hatte; unglaublich, dass Kästner trotz all seiner Erfolge diese Wiedergutmachung versagt geblieben ist – es sei denn, er wusste nach den Kriegswirren selbst nicht mehr so recht von der Existenz der ursprünglichen Version.

Deshalb ist es schon ein seltenes Glück philologischer Arbeit, plötzlich in der Stille und Konzentration des Deutschen Literaturachivs in Marbach vor einem verblüffend gut erhaltenen, handschriftlich korrigierten Typoskript zu sitzen und genau dieses Leseerlebnis zu haben, das nun, mehr als 80 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe, an das lesende Publikum weitergegeben werden kann. Es ist geeignet, das Bild dieses Autors zu verändern, im feinen, stilistischen Detail ebenso wie durch die Wiedereinsetzung der Streichungen im gröberen Register, im politischen wie im erotischen bzw. sittengeschichtlichen: ein freier, frecher Kästner zeigt sich, der seine besten und kreativsten Jahre vor 1933 hatte und der seine ästhetischen Mittel souverän beherrschte. Aber ich will im Folgenden dieses Typoskript ausführlicher in seinen Entstehungszusammenhang stellen.

Erich Kästner war in den frühen Dreißigerjahren ein anerkannter Autor, beliebt durch sein Kinderbuch Emil und die Detektive (1929), geschätzt (und auch umstritten) wegen seiner Gedichtbände Herz auf Taille (1928), Lärm im Spiegel (1929) und Ein Mann gibt Auskunft (1930), allesamt Lyrik-Bestseller ihrer Zeit. Seine Arbeiten waren im Rundfunk, auf der Bühne und vor allem in den Zeitungen und Zeitschriften präsent, wo die meisten seiner Gedichte vorveröffentlicht wurden. Darüber hinaus schrieb er in den Jahren 1928 bis 1930 wöchentlich ein Gedicht für den Berliner Montag Morgen, oft mit dezidiert tagespolitischem Gehalt. Eine Sammlung dieser Gedichte erschien 2012 unter dem Titel Die Montagsgedichte im Atrium Verlag. Bis 1933 veröffentlichte Kästner Tausende von publizistischen Arbeiten, die nur zum kleinsten Teil in den vorliegenden Werkausgaben nachgedruckt worden sind – Theater- und Buchkritiken, Feuilletons, Kommentare zu Fotografien und wiederum zur Tagespolitik.[37]

Kästner war 1899 in Dresden geboren worden; den Weltkrieg und die Militärzeit (191719) hatte er mit einer Herzneurose überstanden, das Lehrer-Seminar brach er ab, studierte anschließend Germanistik in Rostock, Berlin und vor allem in Leipzig. Dort promovierte er 1925 über die Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift »De la littérature allemande«; eine zuvor geplante Arbeit über Lessings Hamburgische Dramaturgie hatte er abgebrochen, er wusste also genau, was es mit Labudes Lessing-Habilitationsarbeit auf sich hatte. Nach einer mehrjährigen gescheiterten Liebesbeziehung zu der Chemikerin Ilse Julius und einem Provinzskandal bei der Neuen Leipziger Zeitung um ein erotisches Gedicht, das zur Entlassung des Journalisten Erich Kästner (und seines Illustrators Erich Ohser) führte, ging er 1927 nach Berlin.

Dieser junge Mann war ehrgeizig, er kannte seine ästhetischen Mittel, und er war entschlossen, als freier Schriftsteller und Journalist berühmt zu werden; in der Großstadt, die er belebend und anregend fand wie keinen zweiten Ort im Deutschland der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre. Der junge Kästner verbringt hier seine produktivsten, frechsten, genialischsten Schriftstellerjahre, bis diese Karriere durch die NS-Diktatur 1933 abgeschnitten wird. Unmittelbar nach dem Regimewechsel ist er ein verbotener, ›verbrannter‹ Autor. Er kann das mit dem Fabian und den frühen Gedichten erreichte Niveau nicht mehr einholen; als innerer Emigrant im ›Dritten Reich‹, der weiterhin von seinem Beruf leben will und muss, sieht er sich genötigt, dezidiert unpolitische Arbeiten zu schreiben. So entstehen Unterhaltungsromane, Kinderbücher und Boulevardkomödien unter gemeinsamen Pseudonymen mit Freunden, die der Reichsschrifttumskammer beitreten konnten. Zwar konnten seine Kinderbücher und Unterhaltungsromane dank der Gründung des Atrium Verlages in Zürich durch den jüdischen Verleger Kurt Maschler noch bis 1938 aus der Schweiz importiert und in Deutschland verkauft werden; auch konnte Kästner mit einer Sondergenehmigung 1941/42 sogar unter dem Pseudonym ›Berthold Bürger‹ Drehbücher für die UFA schreiben (Münchhausen, Der kleine Grenzverkehr) – um anschließend einem Totalverbot vom Januar 1943 an bis zum Kriegsende zu unterliegen. An den eigenen Kompromissen, am eigenen Verhalten nach 1933 hat sich Kästner bis zu seinem Tode 1974 abgearbeitet, bei allen Erfolgen, die er auch nach dem Krieg noch hatte, mit der erneuten Arbeit als Feuilletonchef und Publizist bei der Neuen Zeitung, als Kabarettautor, als Erzähler und Dramatiker mit Werken wie dem Doppelten Lottchen (1949) und der Konferenz der Tiere (1949), der Schule der Diktatoren (1956), Notabene 45 (1961) und der Kindheitsautobiografie Als ich ein kleiner Junge war (1957). Als Person des öffentlichen Lebens, als P.E.N.-Präsident und Büchnerpreisträger hat er nicht unbedingt sein Werk, aber entschieden sich selbst politisiert; er protestierte gegen die Wiederbewaffnung und gegen Vietnam, gegen ein neues Schmutz- und Schund-Gesetz, er ging auf die Straße, wann immer er es für nötig hielt, denn er wusste, was es bedeutete, in einer Diktatur zu leben.

Dass Kästner im Nationalsozialismus verboten war, hatte zuallererst mit einigen Gedichten zu tun – mit Die andre Möglichkeit (»Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,/mit Wogenprall und Sturmgebraus,/dann wäre Deutschland nicht zu retten/und gliche einem Irrenhaus«) oder mit Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?, Stimmen aus dem Massengrab, Das Führerproblem, genetisch betrachtet oder dem Marschliedchen, in dem den Militaristen gesagt wurde, sie seien dumm und nicht auserwählt: »Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!« Ein Stein des Anstoßes war auch Fabian – die politische Schlagseite des Romans, der zwar nur vage im linken Spektrum bleibt, aber doch deutlich eine pazifistische Gesinnung erkennen lässt; und der offene Umgang mit Sexualität, der als obszön galt. So dürfte der Ausruf »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!«, mit dem die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 die Werke von Erich Kästner, Heinrich Mann und Ernst Glaeser auf dem Berliner Opernplatz in die Flammen warfen, vor allem dem Autor des Fabian gegolten haben.

Die Urfassung des Romans, Der Gang vor die Hunde, ist sexuell noch expliziter; auch auf politischer Ebene sind Provokationen und auch Konkretionen zu finden, die im Fabian fehlen. Wie wichtig Kästner dieser Roman war, kann man daran ablesen, dass jener über die Jahre immer wieder am Text gefeilt und bis zur Ausgabe letzter Hand, der letzten zu Lebzeiten erschienenen Werkausgabe 1969, Korrekturen vorgenommen hat. Auffällig an der hier vorliegenden Version, neben den gestrichenen Partien, sind vor allem die Differenzen in der gesprochenen Sprache der Figuren; Verschleifungen sind in der Urfassung wesentlich häufiger zu finden, aus »Andern« werden »Andere«, aus »drin« wird »darin«, »eignes« wird zu »eigenes« und so fort. Kästner war ein (wenn auch behutsamer) sprachmimetischer Zugriff wichtiger als die Verwendung der immer gleichen korrekten Hochsprache; seine Figuren werden auf diese Weise eindringlicher charakterisiert, es sei nur an den rührenden Brief von Fabians Mutter erinnert (viertes Kapitel).

Zur Entstehung des Romans

Kästner war populären Formen gegenüber nie abgeneigt gewesen, insofern ist seine Verlagerung auf die Unterhaltungsromane nach 1933 (Drei Männer im Schnee, Die verschwundene Miniatur, Der kleine Grenzverkehr) nicht als Verkrümmung seiner literarischen Statur zu werten, sondern eher als erzwungene Reduktion auf ein ungleich schmaleres Spektrum. Es ließe sich darüber spekulieren, welche Anregungen aus den niederen Musen in sein wohl wichtigstes literarisches Werk eingegangen sind; immerhin ist Dr. Jakob Fabian ein Beobachter, der sich mit seiner Mutter ein offenbar eher simples verfilmtes Theaterstück ansieht, der sich auf dem Rummelplatz und in weit halbseideneren Etablissements herumtreibt. Beobachter gibt es schließlich auch in der Operette, und eins der Erfolgsstücke der Zeit, die schwerlich an Kästner vorbeigegangen sein können, ist die lange entstellte und erst in den letzten Jahren rehabilitierte Operette von Ralph Benatzky Im Weißen Rössl (Uraufführung: Berlin 1930). Kästner war mit Robert Gilbert, einem der Librettisten, befreundet, und er hatte unmittelbar vor der Arbeit am Roman erwogen, aus seiner Erzählung Inferno im Hotel – aus der später der Roman Drei Männer im Schnee hervorgehen sollte – ein Singspiel-Libretto zu schreiben. Eine der bekanntesten Musiknummern des Werks, komponiert von Bruno Granichstaedten, verhandelt den zentralen Topos des Kästner’schen Protagonisten: Zuschau’n kann i net – ein Liebeslied, in dem der singende Kellner versichert, »Und für sie wär’ i gsprungen/ins Wasser hinein«. Das Motiv hat am Schluss des Fabian eine ganz andere Bedeutung erlangt, und aus dem Singspiel ist auch nichts mehr geworden.

Für Kästners damalige Verhältnisse ist Der Gang vor die Hunde ein langsam geschriebenes Manuskript, es war von Anfang an eine Art ›Hauptwerk‹ angestrebt. Auch hier werden Elemente früherer Texte, Gedichte wie Feuilletons, verwendet und dem Romantext anverwandelt, sie bleiben aber eher die Ausnahme. Der Autor zog alle ihm möglichen Register, um die Gesellschaft in all ihren geistigen und ungeistigen Erscheinungen in seinen Zeit- und Sittenroman zu holen; er ließ seinen Helden Descartes und Schopenhauer lesen, und er bediente die neusachlichen Topoi Werbung, Technik, Sport, die neuen Massenmedien Zeitung und Film. Allerdings werden die neuen Errungenschaften der Zeit auch kritisiert; Zigarettenwerbung, Propaganda, andere Notwendigkeiten der modernen Konsumgesellschaft sind offensichtlich keine »Aufgaben für einen erwachsenen Menschen« (fünftes Kapitel), und auch die eigene Berufsgruppe der Journalisten wird (hier einmal stärker im neu geschriebenen Kapitel für die Erstausgabe) kritisch vorgeführt,[38] obwohl Fabian fortwährend Zeitungen liest – in der Urfassung öfter als in der redigierten Erstausgabe: So ist dem anrührenden Brief der Mutter zu Beginn des vierten Kapitels ein Zeitungsbericht über eine kriminelle Sechzehnjährige vorangestellt (viertes Kapitel).

Kästner hat mit der Niederschrift etwa Ende September 1930 begonnen, im Oktober war er noch am ersten Kapitel. Er berichtete seiner Mutter: »Na, wenn es nicht so rasch geht mit dem Roman, ist es auch nicht so schlimm. Hauptsache, daß er gut wird. In jeder freien Minute überleg ich mir den Stoff, mache Notizen und so.« (10101930, MB) Das Kapitel war Mitte Oktober fertig: »Das wird ungefähr 12 Druckseiten. Da muß ich also ungefähr noch das Zwanzigfache schreiben, bis er fertig ist. Au backe. Aber es macht mir Spaß.« (14101930, MB)

Als Erfolgsschriftsteller konnte er sich nicht nur auf das Manuskript konzentrieren. Er arbeitete gleichzeitig an mehreren Projekten, einen ungefähren Eindruck seines Arbeitsalltags vermittelt diese Aufzählung an seine Mutter: »Der Eine will ein Stück mit mir schreiben. Der andre einen Film. Der dritte sechs Filme. Ein vierter eine moderne Oper. Die fünfte will Texte zum Vortragen. Der sechste will wissen, ob ich ihm nicht raten kann, wie er eine Frau finden kann, die er einmal gesehen hat und von der er nur weiß, wie sie aussieht. Die siebente will wissen, ob sie richtig gewählt hat, als sie kommunistisch wählte. Achtens trink ich bei Hans-Alexander Löhr (8 Jahre) und bei seiner Schwester Ruth (9 Jahre) Kaffee – er hat mir wegen des ›Emil‹ mehrfach geschrieben, weißt Du.« (14101930, MB) Löhr spielte den ›kleinen Dienstag‹ in der ersten Emil-Verfilmung, die 1930/31 in den Studios der UFA erarbeitet wurde, die Uraufführung fand im Dezember 1931 statt, mit einigen Querelen um das ursprüngliche Drehbuch von Billy (damals noch Billie) Wilder. Kästner war mit Löhr befreundet und traf ihn auch später während der NS-Zeit. »Als er in das wehrpflichtige Alter kam, konnte es nicht ausbleiben, daß er dann sehr bald nach Rußland kam und dort ist er (…) gefallen.« (B, S. 513)

Und so geht es weiter in diesem nicht nur renommierenden Brief. Kästner ging zudem regelmäßig ins Theater und pflegte seine zahlreichen Freund- und Liebschaften; man hat den Eindruck, seine Uhren tickten in dieser Zeit anders als die der anderen Menschen. Im November 1930 stand sein Rohmanuskript im 5. Kapitel, er begann, den Anfang Elfriede Mechnig zu diktieren (11111930, MB). Ursprünglich sollte der Roman 25 Kapitel umfassen. Am 20. Mai 1931 war er mit dem 15. Kapitel fertig und immer wieder auch auf Recherche in der Großstadtkulisse Berlin: »Ich renne viel im Norden und Osten herum, da ich das für den Fortgang brauche.« (2051931, MB) Anfang Juni war das 20. Kapitel fertig (361931, MB), zwei Tage später und in der Mitte des 21. Kapitels unterbrach er die Arbeit, um Pünktchen und Anton einzuschieben (561931, MB). Die Verlegerin seiner Kinderbücher, Edith Jacobsohn, wünschte sich den Titel pünktlich zum Weihnachtsgeschäft 1931; angeregt von einer Zeitungsnotiz schrieb Kästner das ganze Buch innerhalb von zehn Tagen nieder, wahrlich ein genialisches Tempo. Am 18. Juni setzte er den Fabian mit dem 21. Kapitel fort, in dem Fabian mit Berlin abschließt und sich mit dem Zug in die Richtung seiner Herkunftsstadt begibt – Kästner saß lange daran, »ein schwieriges Kapitel« (2461931, MB). Eine Woche gab er sich für den restlichen Text, bedrängt von der Schreckensnachricht, dass Hermann Kesten und Ernst Glaeser »genau denselben Roman« schrieben, »vom arbeitslosen Akademiker in Berlin!« (1861931, MB). Es war ihm wichtig, dass sein Buch vor Kestens Roman Glückliche Menschen (1931) erschien; Glaesers Gut im Elsaß (1931) hatte dann doch ein ganz anderes Thema.

Ein exaktes Schluss-Datum ist aus Kästners Korrespondenz nicht zu belegen; am 25. Juni 1931 schrieb er seiner Mutter, er sei bei »Kap. 22, also gleich fertig« (2561931, MB). Der DVA-Direktor Gustav Kilpper wollte während seines Urlaubs, in der zweiten Junihälfte, über die Annahme des Romans entscheiden. Kästner scheint noch vor Ende Juni mit dem Rohmanuskript fertig gewesen zu sein, und obwohl er über die »furchtbar langweilige Arbeit« (2061931, MB) des Diktierens klagte, äußerte sich sein Lektor Curt Weller schon am 10. Juli über das vollständige Manuskript; etwa zehn Monate hat das Schreiben also gedauert, mit allerlei Nebentätigkeiten.

Scharmützel mit der DVA

Curt Weller beglückwünschte Kästner »aufrichtig und von ganzem Herzen« zu seiner »ersten grösseren epischen Arbeit«. Wer nicht »an dem Geschehen hängen bleibt« – das sollte wohl heißen: wer sich nicht über die Provokationen des Buchs aufregt –, der »muß erschüttert sein«. Weller als zuständiger Lektor hatte »Vertrauen zu diesem Buch«, er hatte keine Zweifel an dessen Erfolg. »Freilich, es wird heftig angegriffen werden, aber dagegen steht Ihre leidenschaftliche Ehrlichkeit, die durch Ihre Lyrik bekannt genug geworden ist.« Weller hatte Bedenken gegen die ersten neun Kapitel, die er »geradezu erkältend« fand. Er habe »direkt aufgeatmet«, »als im zehnten Kapitel Menschlichkeit (wenigstens was man darunter verstehen möchte) in Erscheinung tritt«. Er bat um eine Erläuterung Kästners zu den frostigen Eingangskapiteln und hielt die Nachworte in dieser Phase der Diskussion noch für »sehr angebracht«.[39]

In seinem Gutachten schrieb Weller, es handle sich um keinen »Roman im Sinne des Gattungsbegriffes«, dem Verfasser komme es darauf an, »einen Querschnitt durch die Zeit zu geben und seine Menschentypen […] schlaglichtartig zu beleuchten«. »Daß der grundehrliche Charakter Kästners dem Leser mitunter abstossende und erschreckende Situationen zumutet, ist nicht Schuld des Verfassers, sondern Schuld der Zeit. Kästner will bessern, indem er die Wahrheit aufdeckt.« Der Roman sei »Anklage grössten Stils«, ja Menetekel; ohne Zweifel hat Weller das Anliegen des Romans, ›Schrift an der Wand‹ zu sein, also verstanden. »Das Buch will nicht Dichtung sein – es will wahr sein. Man wird an der Phantasie des Verfassers keinen Trost suchen können. Es sind Beobachtungen und Erlebnisse – auch der Selbstmord Labudes und seine Ursache sind erlebt (aber genügend kaschiert).« Insgesamt sei dies ein »unendlich trauriges Buch«, das »eine heftige Diskussion erwecken« werde, einen »Streit«, und gerade dadurch werde es jedenfalls ein Erfolg sein.[40]

Die größten Probleme hatte der Lektor, der nach Kästners Sekretärin auch der erste Leser gewesen sein dürfte, mit dem Titel. Alle Vorschläge seines Autors missfielen ihm – Kästner nannte »Saustall«, »Saustall ohne Herkules«, »Jugend im Vacuum«. Den nach Wellers Meinung besten Titel hatte Stefan Zweig mit seiner Novelle Verwirrung der Gefühle besetzt. Weller selbst assoziierte »Schlachthaus des Herzens, in das Europa geraten ist, Wartesaal, Provisorium … aber auch das sind noch keine Titel«. Ein Verlagsmitarbeiter, »Herr Lang«, hatte »Herz unter Null« vorgeschlagen, allzu nah am Gedichtband Herz auf Taille. Nach Beendigung seiner Lektüre schlug Lang dann »Fabian, die Geschichte eines Moralisten« vor. Weller teilt Kästner diesen Vorschlag bereits handschriftlich im Postskriptum seines ersten Briefs vom 10. Juli 1931 mit, mit dem er auf das Manuskript reagiert. Der Autor selbst war mit keinem der Vorschläge so recht zufrieden. Er liebäugelte noch mit »Matthäi am letzten« (2271931, MB) und »Sodom & Gomorrha« (2871931, MB). Der Titel, der so hartnäckig in den Vorworten der Nachkriegs- und Werkausgaben unterstrichen wird, Der Gang vor die Hunde, ist bislang aus der Zeit selbst nicht belegt, ohne dass das viel bedeuten muss: Das Verlagsarchiv der DVA ist während des Zweiten Weltkriegs ebenso verbrannt wie Kästners Berliner Wohnung, die wenigen Dokumente, die sich erhalten haben, stammen aus dem Archiv der Mutter Ida Kästner in Dresden – die Dresdner Neustadt hat das Bombardement der Stadt im Februar 1945 leidlich überstanden.

Martin Mörike, der Leiter des DVA-Bühnenvertriebs Chronos, hatte ein (nicht erhaltenes) vernichtendes Gutachten geschrieben: »Völlig unbrauchbar, war noch der mildeste Ausdruck.« (1871931, MB) Curt Weller dagegen war »begeistert« von dem Buch, verlangte aber einige Ergänzungen und die Kürzung explizit erotischer und besonders drastischer Kapitel. Der Herr ohne Blinddarm und das erste der ursprünglich vorgesehenen Nachworte, Fabian und die Sittenrichter und Fabian und die Kunstrichter, konnten die Leser der Dreißigerjahre nur in Zeitschriftenabdrucken zur Kenntnis nehmen, das gestrichene Romankapitel erschien erstmals 1932 in einer Anthologie von Wieland Herzfelde (30 neue Erzähler des neuen Deutschland, Berlin: Malik 1932). Dem Lektor fiel außerdem die Busfahrt Labudes und Fabians durch Berlin zum Opfer, auf der sie einige monumentale Gebäude mit Spott bedachten, darunter auch das Brandenburger Tor. Kästner gab sich zwei Wochen Zeit für diese Änderungen (1571931, MB): »Ich streiche die Blinddarmgeschichte und Verschiednes und füge zwei neue Kapitel hinzu, die nicht erotisch sind.« (1871931, MB) Für die Zeitschriftenveröffentlichungen wurden diese gestrichenen Texte so überarbeitet, dass sie für sich stehen konnten. Diese ganzen Prozesse lassen sich nicht bis ins Detail nachvollziehen, weil die Korrespondenzen zwischen Autor und Verlag verloren sind. Nur die Mitteilungen Kästners an Ida Kästner sind erhalten – und natürlich die beiden Texte selbst, der Erstdruck und das ursprüngliche Romanmanuskript.

Die Korrekturen scheinen Kästner mehr angestrengt zu haben als der erste Durchlauf, er ging nicht ans Telefon, meldete sich nicht bei der UFA, tat, als sei er noch verreist (2071931, MB). Das Journalisten-Kapitel, in einer Zeitungs-Nachtredaktion (hier im textkritischen Anhang dokumentiert), ersetzte das ursprüngliche Kapitel mit dem inkriminierten Teil Ein ehemaliger Blinddarm erregt Aufsehen. Dem Verlagsdirektor Kilpper wurde das geänderte Manuskript in den Schwarzwald hinterhergeschickt, er »hält hoffentlich den Rand« (2571931, MB), wünschte sich der Autor. Kilpper war mit dem Manuskript einverstanden (581931, MB), am 15. Oktober 1931 wurde der Fabian ausgeliefert, Kästner hatte »ein bißchen Lampenfieber, wie die Kritiken sein werden« (2991931, MB). Seine Mutter war von ihrem in Leder gebundenen Vorab-Exemplar begeistert, ebenso Hermann Kesten (12101931, MB); Kästners zeitweilig bester Freund Werner Buhre mäkelte, es »scheint aber der Neid mitgespielt zu haben« (22101931, MB).

Anhand Labude: Zum realistischen Verfahren des Romans

Es scheint eine legitime Frage, ob Weller mit seinen Retuschen nicht womöglich recht hatte; vielleicht wäre Kästner ohne sie noch schwerer durch die NS-Diktatur gekommen als ohnehin schon? Oder haben die Veränderungen gerade das satirische Anliegen des Romans verunklart? Die nun erstmals integral lesbare Urfassung des Fabian verstärkt zweifellos die grotesken Elemente des Romans, zumal das Blinddarm-Kapitel und die ausgebauten sexuellen Episoden;[41] auch die wunderbar übermütige Fahrt im Empörten Autobus (viertes Kapitel) ist sicher deutlicher überzeichnet als viele der anderen. Wie ›realistisch‹ ist der Roman?

Die Lesenden werden von dem Germanisten Dr. Jakob Fabian gewissermaßen an der Hand genommen und durch das Berlin von 1930/31 geführt, durch alle Gesellschaftsschichten, öffentliche wie private Stätten. Er funktioniert zunächst durchaus als Identifikationsfigur, obwohl er unentwegt, wie Labude, bei seinem Nachnamen genannt wird. Sein Vorname ›Jakob‹ ist eher beiläufig zu erfahren, seine Mutter redet ihn so an, Labude in seinem Abschiedsbrief und die früheren Bekannten in der Stadt seiner Kindheit; der Erzähler dagegen nimmt sich dieses Recht nicht heraus, er spricht stets von »Fabian« und hält so eine gewisse Distanz ein. Dass der bedeutungsvolle Nachname zugleich ein Vorname ist, erleichtert die Identifikation wiederum. Trotz aller sozialen Ereignisse, die der Roman zu bieten hat, ist der Protagonist einsam, »Fabian war allein« (fünfzehntes Kapitel), heißt es einmal. Es kommt niemand so ganz und länger an ihn heran, kurz einmal Cornelia, sicher auch Labude, mit dessen politischen Auffassungen er aber seine Differenzen hat; auch die Mutter, die ihm bei aller emotionalen Nähe intellektuell nicht gewachsen ist, wird auch distanziert gesehen: Fabian freut sich im Kino über ihre Freude an einem verfilmten »alberne(n) Theaterstück« und lacht nur deshalb mit ihr mit.

Wie Kästners Figuren ›gebaut‹ sind, lässt sich an Fabians Freund Labude nachvollziehen, über den es eine regelrechte Forschungsdebatte gibt. Labude ist weit weniger resigniert und melancholisch als Fabian; er arbeitet an einer germanistischen Habilitationsschrift über Lessing, über die wenig zu erfahren ist, und führt eine Art sozialistischer Splittergruppe, während Fabian, als überzeugter Kleinbürger, nirgends dazugehören will. Als die Freunde Zeugen einer Schießerei zwischen einem kommunistischen Arbeiter und einem Nationalsozialisten werden, legt Labude dem Arbeiter einen Notverband um die Wade und stellt fest, dass die Kugel durchgegangen ist – hier scheint Ralph Zucker durch, ein Schulfreund Kästners, der Medizin studierte und sich, wie Labude, als angeblich Frühvollendeter und Opfer eines Scherzes umgebracht hat. Labude wird von einem missgünstigen Konkurrenten erzählt, seine Habilitationsschrift, an der er fünf Jahre gearbeitet hatte, sei abgelehnt worden. Es stellt sich heraus, dass der Universitätslehrer Labudes im Gegenteil die Arbeit als »die reifste literarhistorische Leistung der letzten Jahre« beurteilt hat (zwanzigstes Kapitel). Fabian schlägt den Assistenten, der den Namen eines barocken Odendichters trägt, blutig, als der verkündet, er habe nur einen Scherz gemacht.

Werner Fuld hat in seiner Biografie über Walter Benjamin die These aufgestellt, dass »jedem Eingeweihten die Gestalt Labudes als ein Porträt Benjamins erscheinen« musste,[42] eine erst von der Forschung schroff abgelehnte, dann zunehmend positiv diskutierte These. Fabian Beer hat anhand von Leipziger Recherchen dagegengesetzt, dass möglicherweise auch Kästners akademische Lehrer Albert Köster – der sich umgebracht hat – und Georg Witkowski in die Figur eingegangen sein könnten. Witkowski hat seine Habilitationsschrift zweimal einreichen müssen, allerdings bereits 1888/89, zehn Jahre vor Kästners Geburt; er müsste also ein sehr persönliches, ja privates Verhältnis zu seinem Doktorvater gehabt haben.[43] Für die Leipziger Lehrer Kästners spricht, dass die Gelehrtensatire ein wichtiger Topos im Fabian ist, dass sie jedenfalls aus Kästners eigener Erfahrung auch recht konkret ausgefüttert ist; 1913 ist sogar tatsächlich eine Abhandlung über die Frage erschienen, ob Kleist gestottert hat.[44] Dass Universitäten von der Aufklärung bis heute als Brutstätten der Intrige notorisch und als solche allen Spott wert sind, hat Alexander Košenina in einer voluminösen Studie belegt.[45]

Walter Benjamin war allerdings, anders als Ralph Zucker und die Leipziger Lehrer, eine Figur des öffentlichen Lebens. Er hatte im Frühjahr 1931 die auf Kästners Gedichtbände gemünzte Polemik Linke Melancholie geschrieben, die auch auf Walter Mehring und Kurt Tucholsky abzielte. Darin stand zu lesen, dass Kästner seine Gedichte mit routinierten Anmerkungen einbeule wie lackierte Kinderbällchen, um ihnen »das Aussehen von Rugbybällen zu geben«, sie seien »Sachen für Großverdiener, (…) deren Weg über Leichen geht«; der hauptsächliche Vorwurf war aber, dass »dieser linke Radikalismus (…) genau diejenige Haltung« sei, »der überhaupt keine politische Reaktion mehr entspricht. Er steht links nicht von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt.«[46]

Nachdem Labude und Fabian just über die Frage politischer Aktivität ein (wenn auch im Ton freundschaftliches) Streitgespräch führen und der Letztere die Vorstellungen des Ersteren für abwegig erklärt, ein Paradies, in dem sich die Zwangsbeglückten immer noch »die Fresse vollhauen« würden (fünftes Kapitel), könnte das leicht als Retourkutsche an Benjamin gewertet werden. Dass seine Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) drei Jahre vor ihrem Erscheinen in Frankfurt nicht als Habilitation angenommen worden war, war zweifellos kein Boulevard-Thema; immerhin könnte Kästner durch seinen Freund Hermann Kesten davon gewusst haben, der Benjamin kannte.[47] Das ist alles noch recht vage; es gibt aber eine Fülle weiterer Details, die auf Benjamin und Labude zutreffen: Auch Benjamins Eltern hatten eine Grunewaldvilla, während er eine Stadtwohnung unterhielt. Benjamins Sohn hieß Stefan, Labudes Vorname im Typoskript; für den Erstdruck wurde systematisch zu »Stephan« geändert. Benjamins Geliebte Asja Lacis lebte, wenn auch etwas weiter weg, wie Labudes Verlobte Leda in einer anderen Stadt. Und Kästner schickt seinen Labude auf einer letzten Reise ausgerechnet nach Frankfurt, der Stadt von Benjamins Habilitationsproblem. Zu allem Überfluss stellt Fabian sich vor, neben dem toten Labude sitzend, dass der, statt auf dem Totenbett zu liegen, in Paris mit offenen Augen glücklich von Sacré-Coeur hinunter auf die Boulevards blicken könnte – Benjamin’s own country, sozusagen. Verständlich, dass Košenina die Parallelen als »frappierend« bezeichnet.[48]

Für eine bloße Rache an den eingedellten Kinderbällchen wäre das alles viel zu gesucht, vor allem ist Stephan Labude keineswegs eine denunzierte oder auch nur karikierte Figur, im Gegenteil dürfte sie weit ungebrochener positiv zu sehen sein als Fabian selbst.[49] Wie jeder realistische Autor hat Kästner ineinandergeschoben, was ihm aus seiner eigenen Erfahrung, seinem Kenntnisstand verfügbar war; und das waren eben Ralph Zucker, seine akademischen Lehrer und offensichtlich Walter Benjamin. Der Roman ist angefüllt mit Details aus Kästners eigenem Leben, um die es allerdings nicht geht; ›kein Detail, das nicht erlebt, kein Detail so, wie erlebt‹, scheint seine Maxime gewesen zu sein.

Zur politischen und satirischen Dimension des Romans

Auch wenn Fabian einiges mit seinem Schöpfer gemein hat, geht jener auf Distanz zu seiner Figur, am deutlichsten allerdings außerhalb des Romantextes. In seinem Nachwort für die Sittenrichter erläutert Kästner, der Verfasser des Fabian sei ein »Moralist«, der »eine einzige Hoffnung« sehe: »Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Anderer vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand am linken Griff!« (Anhang 1) Das 1950 geschriebene Vorwort (Anhang 4) argumentiert ähnlich: Der Roman sei eine Warnung gewesen »vor dem Abgrund (…), dem sich Deutschland und damit Europa näherten!« Fabian schildere zwar »großstädtische Zustände von damals«, sei aber »kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt.« Es fällt aus der zeitlichen Distanz vielleicht schwerer, die Übertreibungen wahrzunehmen, obwohl die Metaphern, die als Titel-Überlegungen existierten, alle mehr oder weniger in den Roman eingegangen sind: Von »Sodom und Gomorrha« spricht Fabian, als er Cornelia Battenberg kennenlernt; das Atelier Ruth Reiters ist ein »Saustall«; die Figuren leben in einem »Irrenhaus«, in dem es »Gaunerei«, Elend, Unzucht und »Untergang« gibt. Das krasse Blinddarm-Kapitel blieb den zeitgenössischen Lesern erst einmal vorenthalten, ebenso die zusätzlichen Szenen um Pornografie und Gewalt. Der vom Verlag vorgeschlagene Titel Fabian. Die Geschichte eines Moralisten war zum Verständnis der satirischen Haltung wenig hilfreich, da Kästner sich schließlich selbst wiederholt als Moralist bezeichnet hat, also als Beobachter der menschlichen Gesellschaft. Das wichtigste Distanzierungssignal, das auch für die Leser der Erstausgabe erhalten geblieben ist, war der irritierende Schluss des Romans und die Überschrift des letzten Kapitels: Lernt schwimmen!, eine Anweisung, die die Erzählfiktion durchbricht und sich direkt an das Publikum wendet. Fabian ist keine recht lebensfähige Figur, sollte das heißen; macht’s anders, lebt anders als er!

Diese Aufforderung mag metaphorisch-unkonkret sein, das macht jedoch eine Qualität des Romans aus: Kästner zeigt Fabians Orientierungslosigkeit und kritisiert sie, ohne eine Lösung anzubieten. Der Romancier wusste nur, dass sich etwas ändern musste, aber er wusste nicht, was. Dass er das offen zugegeben hat, spricht für ihn. Vielleicht ist sein politisches Programm aber doch gar nicht so undeutlich und unterscheidet sich von dem Bild, das Walter Benjamin von Kästners Gedichten entworfen hat. Kästner war zwar nie Mitglied einer Partei, und konkretes politisches Engagement scheint auch kein Weg für Fabian zu sein; der ›ungebundene‹ Antimilitarismus und Pazifismus der Gedichte findet sich jedoch auch im Roman wieder, besonders in Fabians Albtraum (vierzehntes Kapitel), den Dirk Walter überzeugend als Warnung vor einem Bürgerkrieg, vor einer »gewaltsamen Änderung der Gesellschaftsverhältnisse« interpretiert hat.[50] Fabian sieht hier, wie Polizisten zu Straßenunruhen gefahren werden, »Gewehr bei Fuß, in stummer Kolonne« (sechzehntes Kapitel); nur in Der Gang vor die Hunde stehen sie Gewehr bei Fuß, in den veröffentlichten Versionen stehen sie lediglich »entschlossen«. Die neuen Konflikte rufen in Fabian Erinnerungen an seine Soldatenzeit und sein »krankes Herz« wach, »eine Kinderei« (sechstes Kapitel). Und es wird von ungleich härter betroffenen Opfern berichtet: »In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und sprechen und schreien können.« (sechstes Kapitel) Diese Passage ist keine Übertreibung; Kriegskrüppel standen im Berlin der Zwanzigerjahre an vielen Straßenecken, und die beschriebenen Extremfälle kann Kästner in Ernst Friedrichs Foto- und Pamphletband Krieg dem Kriege (1924) gesehen haben. Friedrich untertitelte die grausigen Fotografien, er berichtete von Kriegsopfern, die dreißig, sogar »weit über vierzig Operationen« erdulden mussten, die künstlich ernährt wurden und die »weltabgeschieden, fern von ihrer Familie (…) dahinleben in der Hoffnung, daß sie vielleicht nach Jahren ein menschliches Aussehen wieder erhalten«.[51]

Der Roman enthält eine Fülle konkreter politischer Anspielungen, die sich mehrheitlich aus Fabians Zeitungslektüre ergeben und die Zeichen für den Abgrund sein sollen, auf den das Land zuhält. Inflation, Arbeitslosigkeit, die daraus resultierende Armut werden unentwegt thematisiert. Sicher hat Kästner seine Roman-Prophetie ex post ein wenig präzisiert; tatsächlich hat er keinen neuen Weltkrieg vorhergesagt, sondern einen Bürgerkrieg. Das beginnt mit der »verworrenen Lage« nach der Ministerpräsidentenwahl in Sachsen 1930 und den rebellierenden Starhembergjägern – einer österreichischen Faschistentruppe –, von denen Fabian im ersten Absatz des Romans liest.[52] Auch das eher komische Duell zwischen einem kommunistischen und einem nationalsozialistischen Arbeiter, die Labude und Fabian verarzten und ins Krankenhaus bringen, gehört in diesen Zusammenhang. Der Mord an Walther Rathenau wird erwähnt, Fabian geht im neunzehnten Kapitel an der »Straßenbiegung« (neunzehntes Kapitel) vorbei, an der dieser von den Mitgliedern einer nationalistischen Terrororganisation erschossen worden war, um die Bürgerkriegsstimmung anzuheizen. Fabian denkt an einen »nationalistischen« Schriftsteller (neunzehntes Kapitel), der ihm gegenüber den Mord gerechtfertigt habe; erst in den Nachkriegs-Werkausgaben wurde daraus »nationalsozialistisch«, so nahe das bei der rassistischen Invektive der Figur liegen mag. Im vorletzten Kapitel trifft Fabian Wenzkat, einen Bekannten aus der Schulzeit, der sich als Mitglied des paramilitärischen Stahlhelm-Bundes erweist. Fabian streitet sich nicht nur mit ihm, die beiden gehen auch zusammen ins Bordell, wo sich zeigt, dass der autoritäre Charakter Wenzkat auch sexuell eine autoritär-sadistische Neigung hat; auch die (im Erstdruck stark gekürzte) Bordell-Passage hat also politische Implikationen.

Es ist zu vermuten, dass Curt Weller auch die Busfahrt von Labude und Fabian durch Berlin aufgrund politischer Bedenken gestrichen hat, nicht nur, um den Berliner Lokalpatrioten nicht zu nahe zu treten. Die Freunde spielen Komödie vor den Fahrgästen und bezeichnen die Universität als »Anstalt für schwachsinnige Kinder«, schließlich sei der »Schwachsinn hier sehr verbreitet« (viertes Kapitel). Diese Invektive passt gut zum Element der Gelehrtensatire des Romans. Aber die Freunde vergehen sich auch an nationalen Heiligtümern: Der Berliner Dom, der als Ruhestätte vieler Hohenzollern für das vergangene deutsche Kaiserreich steht, wird zur Hauptfeuerwache erklärt. Das Brandenburger Tor, nationales Symbol schlechthin, wird von Fabian als »Verkehrsturm« bezeichnet, dass der Wagenlenker »fast nichts an« hat, erklärt Fabian als »symbolisch«, »wegen der Steuern« (viertes Kapitel). Den Tiergarten bezeichnet er als das Tempelhofer Feld, das bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts preußisches Militärgelände war und also gleichfalls mit der vergangenen deutschen Größe zu tun hatte.

Stimmt die Haltung von Autor und Figur beim Antimilitarismus und auch in vielen anderen Aspekten überein, gibt es doch auch deutliche Unterschiede. Fabian ist Geschichtspessimist, dem jedes Tun vergeblich, ja sinnlos vorkommt; es gibt kein System, in dem er funktionieren kann (fünftes Kapitel). In dem für die Erstausgabe zusätzlich geschriebenen Kapitel denkt er an Honoré Daumiers Blatt Progrès. Les Escargots non sympathiques (1869), eine Allegorie des Fortschritts: »Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war das Schlimmste.« (vgl. Liste der Varianten und Streichungen) Kästner hingegen hat zwar in vielen seiner Gedichte apokalyptische Stimmungen beschworen (Die Entwicklung der Menschheit, Misanthropologie usw.), doch er muss dabei von der Sinnhaftigkeit des Verfassens von Literatur überzeugt gewesen sein; anders hätte er einen Roman wie Fabian kaum schreiben können.

Zacharias, ein »Bekannter« (fünfzehntes Kapitel) Fabians, Mitarbeiter in einem großen Zeitungsverlag, hat keine Stelle für Fabian; aber er hat konkrete politische Auffassungen. Auch die sind sicher mit Vorsicht zu nehmen, immerhin ist in der Ausgabe letzter Hand von einem »eitlen, verlogenen Menschen« die Rede (GE, S. 171). Zacharias verficht die »Behauptung von H. G. Wells, daß das Wachstum der christlichen Kirche nicht zuletzt auf geschickte Propaganda zurückzuführen sei«, und fordert mit Wells, »daß es an der Zeit sei, die Reklame nicht länger auf die Steigerung des Konsums von Seife und Kaugummi zu beschränken, sondern sie endlich ausreichend in den Dienst von Idealen zu stellen« (fünfzehntes Kapitel). Fabian zweifelt an diesen Theorien, »die Erziehbarkeit des Menschengeschlechts sei eine fragwürdige These« (fünfzehntes Kapitel). Erich Kästner hingegen zweifelte keineswegs an ihnen. Herbert George Wells dürfte einer der wichtigsten Schriftsteller für seine politischen Auffassungen in dieser Zeit gewesen sein. Kästner schrieb hymnische Rezensionen über Menschen, Göttern gleich (1923, dt. 1927) und Die Welt des William Clissold (1926, dt. 1927), die klassische Dystopie The Time Machine (1895) steht warnend im Hintergrund des Fabian.[53] Kästner rühmte Wells’ Weltanschauung und seinen Weltanschauungsroman, in dem der sechzigjährige Konzernchef William Clissold seine Ansichten zu Religion und Reklame, Sexualität und Ehe, Marxismus und Kapitalismus sowie der Rettung der Welt verbreiten darf. Kästner erklärte den Roman zum »gescheiteste[n] Buch der letzten Jahre überhaupt«.[54] Bertolt Brecht fand dagegen, es handle sich um eine »monströse Sammlung von pseudophilosophischen Gemeinplätzen in verlogen objektivem Stil«.[55] Speziell zu Wells’ Propaganda-Ideen – »die Tempel der Welt als Reklame unseres Herrgotts«[56] – hat Kästner einen eigenen Artikel geschrieben, Reklame und Weltrevolution (1930), der großenteils aus Zitaten aus Wells’ Roman besteht, insbesondere aus Sätzen von Clissolds Bruder Dickon, der im Buch eine der ersten großen britischen Werbeagenturen gegründet hat. Kästner wie Dickon Clissold sind sich freilich über die Möglichkeiten und Gefahren von Propaganda durchaus im Klaren gewesen, die im ›Dritten Reich‹ denn auch zu einem perfiden Instrument wurde.

Der Chemiefabrikant William Clissold plädiert in seinen Aufzeichnungen für einen Zusammenschluss der wirtschaftlich Mächtigen der Welt. Eine »Elite ernster und wohlunterrichteter Geister« werde heranreifen, die »wahre Revolution« werde von einer »kleinen Minderheit intelligenter Männer und Frauen gemacht werden«. Eine aufgewiegelte Menge könne wohl »das bestehende umstoßen, doch etwas Neues schaffen kann sie nicht«.[57] Nur die Tatkraft der »Wissenschaftler, der geistigen Arbeiter, der führenden Männer in der produktiven Industrie, der Männer, die den Geld- und Kreditumlauf beherrschen, der Zeitungsleiter und der Politiker«[58] reiche aus, um mit Billigung der Arbeiter Regierungen und Staaten abzuschaffen und eine vernünftige Weltrepublik zu errichten. Eine solche »sozial gefärbte (…) Revolution der kapitalistisch und geistig führenden Minderheit« könnte gelingen; sie müsse aber »ihre Interessen mit denen der Arbeiterschaft identifizieren«.[59] Wells hatte, wie sein jüngster deutscher Biograf Elmar Schenkel mitteilt, »bei allem demokratischen Denken, immer etwas Diktatorisches«, mindestens Rechthaberisches, da weiß einer genau, wo es langgehen soll. Eine prozessuale Vorstellung von Politik – zu der ein Abwägen von Interessen verschiedener Gruppen, die Kompromissbildung, das Finden zustimmungsfähigen Handelns gehören würde –, eine solche genuin demokratische Vorstellung gibt es bei Wells nicht, und es gibt sie auch im Fabian nicht so recht, bei Kästner am ehesten in den Kinderbüchern, wo etwa die Jungenbande in Emil und die Detektive untereinander verhandelt, was die nächsten Schritte sind und ob es moralisch vertretbar sei, vom Dieb das Geld zurückzuklauen. Vor diesem Wells’schen Hintergrund stellte Kästner also seine Forderungen an tatsächliche und vielleicht künftige Millionäre, seine Stoßseufzer wie in dem Gedicht Ansprache an Millionäre, bevor eine Revolution den Reichen ein gewaltsames Ende machen würde:[60]

Ihr sollt ja gar nicht aus Güte handeln!

Ihr seid nicht gut. Und auch sie sind’s nicht.

Nicht euch, aber die Welt zu verwandeln,

ist eure Pflicht! […]

Macht Steppen fruchtbar. Befehlt. Legt Gleise.

Organisiert den Umbau der Welt!

Ach, gäbe es nur ein Dutzend Weise

Mit sehr viel Geld …

Die Forderung nach individueller Hilfe richtete sich nicht nur an Millionäre. Kästner verhielt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst altruistisch, genauso seine Figur Jakob Fabian. Der lädt einen Bettler zum Essen ein, lässt den Stadtstreicher Kollrepp auf seinem Sofa übernachten, bezahlt einem zehnjährigen Mädchen den Aschenbecher, den sie ihrem Vater schenken will, und so fort; es gibt eben nichts Gutes, außer man tut es.

Wells’/Clissolds politische Ziele sind stark von denen der Fabian Society gefärbt, einer 1883 gegründeten spezifisch britisch-gemäßigten Vereinigung: »umsichtig organisierte Befriedigung der wesentlichsten Bedürfnisse der Menschheit, systematische Verwertung der Kräfte, die vorläufig im Kampfe ums nackte Dasein vergeudet werden, vollständige Unterbindung der Spekulation, Einschränkung des Gewinns, Abschaffung jedweder unlauteren Profitmacherei«.[61] Die Fabier waren eine bürgerlich-elitäre sozialistische Gesellschaft, zu deren Vorstellungen sich die Labour Party noch bis zu Tony Blairs Zeiten bekannte. In ihrer Anfangsphase verlangten die Fabier vor allem eine moralische und kulturelle, weniger eine ökonomische Neuordnung der Gesellschaft. Sie forderten auch gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, weil, nach einem frühen Fabier-Manifest von Bernard Shaw, »die Männer zum Schutz gegen die Frauen keine besonderen politischen Vorrechte mehr brauchten«.[62] Später propagierten sie eine eklektizistische und pragmatische soziale Theorie und ein vages Ideal sozialer Gleichheit. Bernard Shaw und seine Mitstreiter entwickelten eine Theorie des »demokratischen Kollektivismus« und arbeiteten auf eine »Neukonstruktion der Sozialordnung« hin.[63] Anders als Wells’ Liberal-Aristokratismus stellten sich die Fabier einen demokratisch und evolutionär hervorgebrachten Fortschritt durch allmähliche Reformen vor. Ihr Name war Programm: Quintus Fabius Cunctator war ein römischer Konsul und Diktator, der nur zögernd und hinhaltend Truppen einsetzte. Jakob Fabians Name dürfte ebenfalls dieser Provenienz sein – ein Zauderer, mit dem, noch einmal sei’s gesagt, Kästner sich in politischen Dingen weniger identifizierte als etwa mit dem Clissold-Roman, den er Menschen wie Fabian beinah nötigend empfahl: Wer, »politisch betrachtet, zur Hoffnungslosigkeit neigt und nach Rettung ausblickt, ohne sie zu finden, […] für den ist das neue Buch von Wells eine Lektüre von unerhörter Bedeutung!«[64]. Es versteht sich, dass Kästner nicht mit den Ansichten seiner Figur Fabian übereinstimmt; im Unterschied zu diesem hat er nicht gezögert, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen. Damit hat sich Kästner entschieden in den öffentlichen Diskurs eingemischt, statt nur im Privatraum zu moralisieren – die Leser sollten aufgefordert werden, schwimmen zu lernen und sich gerade nicht so zu verhalten wie der Protagonist, obwohl es sicher nicht schadet, sich gegenüber den Menschen seiner unmittelbaren Umgebung ähnlich hilfreich zu verhalten wie Fabian vor seiner letzten Tat, seinem letzten Fehler.

Sittengeschichte der späten Weimarer Republik

Die sexuelle Offenheit des Fabian rief einige Empörung hervor; die Provokation war offensichtlich erfolgreich, wenn es denn eine solche hätte sein sollen. Noch Ende der Sechzigerjahre zeigte sich eine Handelsschülerin, die ein Referat über den Roman halten sollte, schockiert und schrieb Kästner in diesem Tenor. Der antwortete ihr: »Ihr spezieller Kummer darüber, daß einer der beiden Helden, nämlich Dr. Jakob Fabian, allzu viele horizontale Erlebnisse habe, scheint mir doch wohl etwas übertrieben.« Er empfiehlt ihr, »die Zahl seiner Bettbekanntschaften« nachzuzählen, sehr »ergebnisreich« werde der Test nicht ausfallen. Und er erklärt ihr den Kontext: »Etwas ganz anderes ist: daß es in dem Buche, mitten im überhitzten Berlin der letzten zwanzig Jahre, auch erotisch ziemlich drunter und drüber geht. Dazu wäre zu bemerken, daß es damals auch politisch und wirtschaftlich drunter und drüber ging und daß alle diese Verwirrungen der gleiche Ausdruck für die damalige Ratlosigkeit sind.« (B, S. 498)

Kästner konnte sich auf viele Anregungen für die ›sittengeschichtliche‹ Seite seines Romans berufen. Im Vergleich zur in erster Linie ›schlüpfrig‹ gemeinten Literatur der Zeit beeindruckt sein Text freilich immer noch durch seine entspannte Offenheit; er behandelt das Thema differenziert, Sexualität und Promiskuität sind keineswegs nur als ›Sodom und Gomorrha‹ dargestellt. Verhältnisse wie die im Roman beschriebenen kann Kästner selbst erlebt oder gesehen haben; so könnte die Chansonette und Schauspielerin Rosa Valetti ein Vorbild für Irene Moll sein. Kästner muss sie gekannt haben, in seinen Rezensionen wird sie mehrfach erwähnt. Max Ophüls hat ihren Alltag beschrieben: »Sie führte einen Haushalt mit ihrem früheren Gatten, von dem sie geschieden war; einem jetzigen Freund, den sie nicht heiraten wollte; einer siebzehnjährigen Tochter, über deren bürgerliche Lebensformen sie mit grotesker, eiserner, mütterlicher Strenge wachte.« Rosa Valetti hat laut Ophüls ein offenes Haus geführt, und in ihrer Wohnung muss ein derartiges Tohuwabohu von Theaterleuten geherrscht haben, dass sie einmal seufzte: »Mein Gott – wenn’s nur schon acht wäre – wenn der Vorhang aufgeht, ist man wenigstens allein.«[65]

Zu den literarischen Anregern Kästners zählt sehr wahrscheinlich auch der amerikanische Arzt Warner Fabian, der in seinem Roman Flammende Jugend die »Frau unsrer Zeit« darstellen wollte, und zwar »mit rückhaltloser Offenheit«.[66] Kästner kannte das recht brave Buch über voreheliche Sexualität und hat es in einer Rezension empfohlen. Es gab zur damaligen Zeit auch einige Romane über lesbische Liebe, die sich allerdings nicht durch offene erotische Schilderungen auszeichnen, sondern eher dem Kitschverdacht unterliegen (Christa Winsloes Mädchen in Uniform etwa, Film 1931, Romanfassung 1934), oder Grete von Urbanitzkys Roman Der wilde Garten (1927). In diesem ›Sittengemälde‹ gibt es einen homosexuellen Schüler, der sich umbringt; und es gibt, wie im Fabian, eine ›verworfene‹, hier aber auch geheimnisvolle und verlockende lesbische Bildhauerin. Noch näher steht dem Fabian (unter diesem Aspekt) der Roman Freundinnen (1923), geschrieben von der jungen Schauspielerin Maximiliane Ackers. Sie hat nicht den süßlichen Stil ihrer Kolleginnen, schreibt eher burschikos und vertritt ihr Anliegen – Emanzipation auch der lesbischen Minderheit – offensiv. Wie im Fabian spielen auch in Freundinnen lesbische Bildhauerinnen als Vermittlerinnen eine kleine Rolle.[67] Die Protagonistin wird von einer Art Irene Moll in eine verfängliche Situation gebracht: Als sie im ehelichen Schlafzimmer verführt werden soll, kommt der Ehemann der Verführerin ins Bett: »Bitte, mein gnädiges Fräulein, lassen Sie sich nicht stören … ich, wenn Sie gestatten, werde inzwischen ein wenig schlafen.« Die Protagonistin ist durch ihn blockiert und beendet die Szene, sie fühlt sich zu Recht beobachtet, zur Enttäuschung des Ehemannes, der eben kein Dr. Felix Moll ist. »Kinder, Kinder, das ist Berlin W.«,[68] seufzt Ackers’ Heldin, auch angesichts von Voyeuren (wie Fabian, möchte man ergänzen): »Die ganzen Leute – es gibt nichts Taktloseres als die sogenannten Gebildeten – haben ja ihren Spaß daran, uns anzuglotzen.«[69] Im Vorwort zur Neuauflage (1946, Anhang 3) weist Kästner selbst noch auf einen weiteren Anreger hin, wenn er schreibt, der Roman hätte statt Der Gang vor die Hunde auch Krankheit der Jugend heißen können, der Titel eines »um 1930 oft gespielten Stücks« von Ferdinand Bruckner; im späteren Vorwort (Anhang 4) hat Kästner den Verweis wieder gestrichen. Krankheit der Jugend (Uraufführung 1926, Erstdruck 1928) zeigt den Verfall der bürgerlichen Werte nach dem Ersten Weltkrieg als Kammerspiel, eine Gruppe junger Akademiker richtet sich zugrunde, zum Teil mit tödlichem Ausgang wie im Fabian. Sexuell wechselnde Verhältnisse und eine lesbische Beziehung spielen hier eine Rolle, aber auch weniger Einschlägiges wie Gift, Alkohol, ein Dienstmädchen, das in die Prostitution gezwungen wird.

Fabians Lamento über das »Sodom und Gomorrha« Berlin (zehntes Kapitel) ist also nicht neu; Kästners Beschreibung des »Sündenpfuhls« ist lediglich besonders deutlich und besonders konzentriert. Er lässt Fabian sogar ein bisschen stolz darauf sein, wie gut er sich in seinem Viertel im Berliner Westen auskennt: »Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen.« (zehntes Kapitel)

Wird also in den bekannten Fassungen des Fabian in sexualibus durchaus schon einiges geboten, vom Lesbencafé bis zum Männerbordell Irene Molls, so enthält Der Gang vor die Hunde noch eine Reihe von zusätzlichen Passagen und Sätzen zu diesem Thema. Dr. Felix Moll, der Gatte von Irene Moll, die Fabian im Verlauf seiner letzten Tage immer wieder über den Weg läuft, erläutert den Ehebruch-Vertrag, den er mit seiner Frau geschlossen hat, mit dem Satz: »Mir wuchs der Unterleib meiner Frau sozusagen über den Kopf« (zweites Kapitel) – ein gestrichener Satz. Das gestrichene Kapitel um die Blinddarm-Operationswunde des Direktors Breitkopf inszeniert deutlich den Ekel vor einer Machthaber-Figur der Zeit, es endet aber auch mit einem Verweis auf den Zusammenhang von Sexualität und Macht; Fabian wirft dem Direktor im Streit an den Kopf, dass dieser »die Tippfräuleins über den Schreibtisch« lege (drittes Kapitel). Er spricht zwar von »Geschmacklosigkeit«, das ist aber noch ein Understatement – er wirft seinem Chef damit Machtmissbrauch vor, »Unzucht mit Abhängigen« hieß der entsprechende § 174 im Strafgesetzbuch. Es gehört wenig spekulatives Talent dazu, in Fabians Satz seinen wahren Kündigungsgrund zu erahnen.

Immer wieder ist Der Gang vor die Hunde expliziter als die bisher bekannte Fassung des Romans; als Fabian, von Cornelia enttäuscht, mit einer Frau vom Rummelplatz mitgeht, die sich später als Vertretergattin entpuppt, untersucht sie, »im Schein der Taschenlampe, seinen Sexualapparat wie ein alter Kassenarzt« (sechzehntes Kapitel) – in der DVA-Version untersucht sie lediglich »ihn im Schein der Taschenlampe« (vgl. Liste der Varianten und Streichungen). Labude beobachtet, wie sie auf dem Balkon ihren Schlafrock für den Liebhaber »für einen Moment weit auseinander« breitet (achtes Kapitel), während sie ihn im Erstdruck lediglich auseinanderbreitet (vgl. Liste der Varianten und Streichungen). Auch die Bordellszene am Ende des Romans ist ungleich expliziter, die Prostituierten führen hier ein Stück auf, es reicht bis zum umgebundenen »Gummiglied« (dreiundzwanzigstes Kapitel). Der prügelnde Stahlhelm-Mann wird noch deutlicher präsentiert, und beim Abschied aus dem Viertel vermerkt Fabian: »Ein paar Strichfrauen standen lustlos an den Ecken und rauchten Zigaretten« (dreiundzwanzigstes Kapitel) – noch ein gestrichener Satz.

Kästners Frauenbild dürfte in Fabian am differenziertesten sein; es ist ihm zwar vorgeworfen worden, dass er wieder die alte »Dichotomie imaginierter Weiblichkeit« vertrete und die Frauenfiguren »in sexualisierte Huren und entsexualisierte Mütter aufgeteilt« seien,[70] aber das ist nicht die ganze Wahrheit, denn so typisch ist die Geschlechterkonstellation des Fabian nun auch wieder nicht für Neue Sachlichkeit und frühe Moderne.[71] Die sexuellen Sodom-und-Gomorrha-Szenen werden nicht nur verurteilt, und anders als Direktor Breitkopf werden die Frauenfiguren differenziert dargestellt. Fabian sucht sich als Geliebte eine moderne Frau; Cornelia Battenberg gibt sich zwar so illusionslos wie ihr Liebhaber, dennoch unternimmt sie wenigstens etwas, um ihrer Misere zu entrinnen. Auch an Fabians Beziehung mit der Vertretergattin zeigt sich, dass die moderne Frau die seine sein soll, nicht die Schnittchen schmierende und unentwegt kochende Hausfrau, die nebenbei ihren Mann betrügt. Und Irene Moll, so unsympathisch sie Fabian ist, sagt ihm in seinem Traum, der »makabren Untergangsvision«,[72] die Wahrheit über sein Verhältnis zur Welt: »(D)u hast Angst, (…) das Glas zwischen dir und den Anderen könnte zerbrechen. Du hältst die Welt für eine Schaufensterauslage.« (vierzehntes Kapitel) Als er Moll zum letzten Mal sieht, betrachtet sie ihn denn auch durch eine Scheibe in der Tür zu seinem Zugabteil. Frauen sind im Gegensatz zu dem melancholischen Fabian die Handelnden in diesem Roman; sie sind – ebenso wie das Kind, das Fabian am Ende retten will – überlebenstüchtig.

Zur Rezeptionsgeschichte

Beim Publikum war Fabian sofort ein Erfolg, die broschierte Parallelausgabe war innerhalb einer Woche vergriffen, und Anfang November 1931 wurde bereits das 6. bis 10. Tausend der gebundenen Ausgabe gedruckt. »Hoffentlich geht das so weiter«, schrieb Kästner (30101931, MB). Im März 1932 war das 25. Tausend erreicht; zur gleichen Zeit erschienen die ersten ausländischen Ausgaben.

Verrisse in rechtsradikalen Blättern waren zu erwarten gewesen, für den Völkischen Beobachter war der Roman selbst in seiner entschärften Version »Gedruckter Dreck«, »Schilderungen untermenschlicher Orgien«, eine »Sudelgeschichte«.[73] Diese Reaktion und auch die wenigen Verrisse einiger bürgerlicher Blätter waren Kästner ziemlich egal, solange sich der Roman trotzdem verkaufte. Dass er, bei aller Empfindlichkeit, gut mit Kritik umgehen konnte, zeigt etwa ein Brief an den Verleger und Schriftsteller Friedrich Michael: »Daß Ihnen der ›Fabian‹ nicht gefallen hat, war ja nun wirklich kein Anlaß, daß Sie so lange nichts von sich hören ließen. Sie vermuten ganz richtig, daß ich diese Dinge, die Sie formal ablehnen, absichtlich so deformiert und direkt geliefert habe.« (B, S. 40)

Die übrigen Rezensionen waren überwiegend positiv, besonders vonseiten anderer Autoren wie Rudolf Arnheim, Hans Fallada, Hermann Hesse, Monty Jacobs, Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten, Robert Neumann und Franz Schoenberner. Heinrich Mann schrieb Kästner einen Dankesbrief, der Fabian habe ihm »wirkliche Theilnahme abgewonnen«, man werde bei der Lektüre »sentimental, ohne daß Sie es sind«, der Roman gebe »Vergnügen für den Leser inmitten seiner Ergriffenheit« (B, S. 37). Walter Bauer sah in Fabian »eine von Verzweiflung durchtränkte Bestandsaufnahme«. Wilhelm E. Süskind erkannte Atmosphäre, die »in der mühelosen Weise des guten Films« geschaffen sei, »wie überhaupt eine Verwandtschaft dieser Prosa mit der Prosa, der Diktion des Films unverkennbar ist«. Julius Bab hielt den Fabian zwar für »kein episches Meisterwerk«, es gebe »wenig Tempo und viel Wiederholungen«; aber jenseits der technischen Kritik ernannte er den Roman zur Hamlet-Version seiner Generation und sah ihn in einer Reihe mit Werther, Adolphe und Oblomow. Ähnlich argumentierte, zu Kästners Ärger, sein früherer Lehrer bei der Neuen Leipziger Zeitung, Hans Natonek. Große moralische Zusammenhänge wollten sich ihm nicht einstellen; Kästner sei zwar der »stärkste Episodist und Epigrammatiker unter den jüngeren Erzählern«, aber die »Fabel ist nicht die Stärke dieses Buches«. Kästner fand diese Besprechung »halblapperig«, »[i]mmer gelobt und dann wieder gebremst, er kann nun mal nicht aus seiner Haut heraus« (15111931, MB). Joachim Maass verglich Fabian zwar lobend mit Ginster, Siegfried Kracauers unter Pseudonym veröffentlichtem Roman; aber er zweifelte, dass die »Dinge, die hier beleuchtet werden«, noch typisch seien. »Jene ausweglose Unzucht etwa, […] die vor zwei, drei Jahren wirklich noch eine weit unter unserer Jugend verbreitete Zeitkrankheit war, ist heute typisch nur noch für eine belanglose, verrottete Jugend von Berlin W; für die Jugend des übrigen Deutschlands aber sind andere Phänomene, die politische Radikalisierung, die Abwendung vom Intellekt, weit typischer.« Schließlich sprach Maass dem Roman, besonders in Hinblick auf den Schluss, das ›Moralische‹ überhaupt ab – »weil weder Fabian als Gestalt, noch in seiner Geschichte als moralistische Idee oder Gestalt das Schwimmen gelehrt wird«. Einen scharfen und genau argumentierenden Verriss schrieb Else Rüthel. Wie zuvor Walter Benjamin in seiner berühmten Polemik, warf auch sie Kästner vor, im Fabian die Wahrheit nur halb ausgesprochen und nicht wirklich Stellung bezogen zu haben. Kästners Anliegen formulierte sie ebenso exakt und zutreffend wie auch die Bedeutung des Romanschlusses. Sie bemängelte, dass nicht einmal Fabians Arbeitslosigkeit ihm den »Tatbestand der wachsenden Proletarisierung seines Standes und dessen Konsequenzen zum Bewußtsein« bringe. Fabian zeige »abschreckend, anfeuernd klar, woher wir kommen«. Rüthel war der ganze Roman zu künstlich, sie fand etwas »vom Jargon eines äußerst gehobenen Conférenciers«, von »metaphysischer Operette«. Nur Labude und Fabians Mutter überzeugten sie mit ihrer Menschlichkeit. »Alles übrige ist Geschnipsel flächiger Natur ohne Tiefenwirkung: halbverfaulte und ganz verfaulte Typen aller Schichten, mit viel Sexualität und wenig Liebe inmitten Politik und Arbeitslosigkeit. […] Für einen Fabian, für einen ›anständigen‹ Menschen, für einen Normalmoralisten scheint kein Platz in der Welt von heute zu sein. Kunststück: kein Geländer und kein Leiterlein, das nicht aus Glanzpapier geschnitten wäre, kunstgewerblich, verspielt. Wohin rollst du, Fabian, Äpfelchen?« Rüthels letzter Satz spielt auf Leo Perutz’ Roman an, der die Orientierungslosigkeit seines Protagonisten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg geografisch stark ausweitet, er hetzt ihn quer durch Europa (Wohin rollst du, Äpfelchen?, 1928).

Unabhängig von Rüthels Kritik bleibt Fabian durch die Ernst-Friedrich-Referenz, durch das Duell der beiden Radikalen, die Bürgerkriegsvision und vieles mehr ein eminent politischer Roman. Auch wenn sich der Protagonist ebenso wenig wie der Autor parteipolitisch klar verorten lässt, steht er politisch links und legt aufklärerisches Engagement an den Tag, und das heißt hier auch: ein pazifistisches. Auch wenn das Land in der Vision des Romans auf einen Bürgerkrieg zumarschiert – es kam dann doch anders –, lehnt Jakob Fabian jede Art von Krieg eindeutig ab. Noch im Schlusskapitel tritt er dem Leuteschinder aus seiner Militärzeit auf die Füße; in der jetzt vorliegenden Fassung bespöttelt er die nationalen Heiligtümer in Berlin. Schon in der abgemilderten Version galt Der Gang vor die Hunde als dekadent und obszön, was dazu führte, dass Fabian 1933 auf dem Berliner Opernplatz von den Nazis ins Feuer geworfen wurde. Es steht zu vermuten, dass der Roman, wäre er bereits 1931 in der jetzt vorliegenden Fassung erschienen, zu noch schwereren Sanktionen gegen den Verfasser geführt hätte.

Die vorliegende Ausgabe bietet jetzt endlich die Gelegenheit, das Leseerlebnis zu haben, das Kästner für seine Zeitgenossen ursprünglich vorgesehen hatte. Der originale Duktus ist wiederhergestellt, die Streichungen sind wieder eingefügt – und wir können selbst beurteilen, wie gefährlich Literatur einmal sein konnte.

S. H.

München,

im Februar 2013