Anhang 3: Vorwort zur Neuauflage

Über dieses Buch, das zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg entstand, wurden im Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile laut. Und es wurde noch von vielen, die es lobten, mißverstanden. Jetzt, ein Jahr nach dem zweiten großen Krieg unseres Jahrhunderts, wird man es ganz gewiß nicht besser verstehen als damals. Wie denn auch? Die Findung von Geschmacksurteilen lag ein Jahrdutzend ausschließlich in den Händen eines faschistischen Büroklüngels. Die Ansichten und Ideale wurden in Phrasen hergestellt, wie Lebkuchen in Backformen. Die Urteile und Meinungen wurden mundgerecht geliefert und allerorten geschluckt. Die junge Generation weiß kaum, daß man sich Urteile selber bilden kann. Und soweit sie es versucht, weiß sie nicht, wie man es macht. Die Kunst kommt sich vor wie eine Porzellantasse im Elefantenkäfig.

So wird natürlich noch weniger als damals begriffen werden, daß der »Fabian« keineswegs ein »unmoralisches«, sondern ein ausgesprochen moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen Kapiteln, der Erstverleger für untragbar hielt, lautete »Der Gang vor die Hunde«. Damit sollte, schon auf dem Einband, deutlich werden, daß der Roman einen Zweck verfolgte. Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrunde warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten. Er wollte mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen. Als Titel hätte sich auch der eines um 1930 oft gespielten Stücks geeignet. Es hieß »Krankheit der Jugend«.

Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seelische Depression, die Sucht sich zu betäuben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das waren die Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht, – die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseitegeschoben. Lieber hörte man den Jahrmarktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und Patentlösungen anpriesen. Man lief ihnen nach, hinein in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind.

Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals schildert, ist kein Photographiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es vielmehr, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch heißt: Dennoch!

München, Sommer 1946

Erich Kästner