Zehntes Kapitel Topographie der Unmoral – Die Liebe höret nimmer auf! – Es lebe der kleine Unterschied!
»Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?« fragte sie auf der Straße.
»Sie kennen ihn doch gar nicht!« Er ärgerte sich über ihre Frage und er ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach einer Weile sagte er: »Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrogen hat. Er organisiert gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus, es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst auf horizontale Art.«
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Insel.
»Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« fragte jemand neben ihnen. Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters. »Zehn nach zwölf«, sagte Fabian.
»Danke schön. Da muß ich mich beeilen.« Der junge Mann, der sie angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd: »Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige einstecken, die Sie entbehren könnten?«
»Zufällig ja«, antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
»Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich nicht bei der Heilsarmee zu übernachten.« Der Fremde zuckte entschuldigend die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
»Ein gebildeter Mensch«, meinte Fräulein Battenberg.
»Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte.«
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als sie. »Das Schlimmste an der Geschichte ist das«, sagte er. »Labude hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den richtigen Typus verkörpert, aber man kann seine Individualität nicht leiden.«
»Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das nicht vor?«
»Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen«, erwiderte Fabian. »Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und Gomorrha?«
»Ich bin Referendar«, erklärte sie. »Meine Dissertation betraf eine Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen. Hundertfünfzig Mark im Monat.«
»Werden Sie doch Filmschauspielerin!«
»Wenn es sein muß, auch das«, sagte sie entschlossen. Und beide lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
»Sogar der Mond scheint in dieser Stadt«, bemerkte die Kennerin des internationalen Filmrechts.
Fabian drückte ihren Arm ein wenig. »Ist es nicht fast wie zu Hause?« fragte er. »Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider seine Tochter, und das hatte er nicht erwartet … Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.«
»Und was kommt nach dem Untergang?«
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab zur Antwort: »Ich fürchte, die Dummheit.«
»In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen«, sagte das Mädchen. »Aber was soll man tun?«
»Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der Andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf, wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen.«
»Und wie lautet Ihre Hypothese?«
»Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt! Richten Sie sich darnach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann.«
»Soll ich bei Ihnen damit beginnen?« fragte sie.
»Ich bitte darum«, meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargen den Himmel.
»Ich bin angelangt«, sagte sie und machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen dürfe.
»Wollen Sie es wirklich?«
»Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen.«
Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. »Ich will es auch.« Er drückte ihre Hand. »Diese Stadt ist so groß«, flüsterte sie und schwieg unschlüssig. »Werden Sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken nachts schwarze Bäume.«
Fabian sagte lauter, als er wollte: »Ich komme gern mit. Schließen Sie nur auf.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu ihm. »Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen.« Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete.
Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Tröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
»Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß«, brummte Fabian.
Herr Tröger grinste, trieb die Mädchen in seinen Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
»Um Gottes willen«, flüsterte Fräulein Battenberg. »Da wohnt jemand anderes.«
»Pardon«, sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den Schrank. »Eine fürchterliche Bude«, sagte sie lächelnd. »Und achtzig Mark im Monat.«
»Ich zahle genau so viel«, tröstete er.
Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten unwillig. »Die Nachbarschaft habe ich gratis«, meinte sie.
»Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt.«
»Ach, ich bin so froh«, sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin. »Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel gräßlicher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?«
Sie traten ans Fenster. »Heute sind sogar die Bäume freundlicher«, stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: »Das macht, weil ich sonst allein bin.« Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. »Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb bat mitzukommen.«
»Freilich denke ich das«, gab er zur Antwort. »Aber du wußtest es selber noch nicht.«
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte er.
»Cornelia.«
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert, während er ihr mit den Händen über das Gesicht strich und dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: »Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?«
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief Atem und antwortete: »An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe.«
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. »Vorhin, als wir uns umarmten, hab ich geweint«, flüsterte sie. Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe glücklich. »Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das versprech ich dir.« Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen, daß Beiden der Atem verging. »So«, rief sie, »und jetzt hab ich Hunger!«
Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. »Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat, aber du verstehst mich schon, ja? dann hab ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme.« Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: »Da müssen wir eben einbrechen.« Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür.
»Das ist ja entsetzlich«, jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: »Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen.« Dann warf er sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
»Nein!« sagte sie hinter ihm, »das ist nicht möglich.« Aber dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. »Du darfst dir nicht so laut hintendrauf klatschen«, erklärte er würdevoll.
»Das ist bei Schuhplattler nicht anders«, meinte sie und tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: »Bitte, die Speisekarte.«
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den rechten Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: »Bringen Sie mich unverzüglich in mein Appartement zurück.«
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde.
»Werden sich die Leute freuen, wenn ich mit dem Glockenschlag ins Büro trete«, sagte er begeistert.
Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und sagte: »Komm!« Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: »Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Unterschied!«