27
Drei Wochen später erschien Kirsten Praetorius unangemeldet in der Kanzlei. Knobel hörte ihre erregte Stimme durch die geschlossene Tür, als sie Frau Klabunde in nervöser Hektik von der Dringlichkeit ihres Besuchs zu überzeugen versuchte. Knobel stand auf und öffnete die Tür zu seinem Sekretariat. Kirsten Praetorius stand in hellem Frühlingsmantel vor ihm, der rundliche Bauch wölbte den Mantel etwas nach außen, Kirstens schwarze Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Ihr Gesicht war makellos gepflegt und dezent geschminkt, wie bei Knobels Besuch in ihrer Wohnung in Sa Pobla.
»Es ist schon gut, Frau Klabunde. Frau Praetorius kommt vermutlich im Fall Sebastian Pakulla. Und, wie ich denke, direkt aus Spanien, oder?«
Kirsten Praetorius nickte.
»Dann komm rein!«, und bat sie mit einer Handbewegung in sein Büro.
Frau Klabunde warf ihm einen gereizten Blick hinterher, wie stets, wenn Knobel mit einem Federstrich ihre Bemühungen zunichte machte, einen unerwarteten Mandanten abzuwimmeln, was sie nur seinetwegen tat und damit seinem Wunsch entsprach.
Knobel hatte sich noch nicht nach dem Befinden von Kirsten Praetorius erkundigt, und sie hatte noch nicht vor seinem Schreibtisch Platz genommen, als sie bereits zur Sache kam.
»Gregor braucht einen Strafverteidiger. In Spanien.«
Knobel zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Unsere Kanzlei macht zwar auch Strafrecht, aber nicht spanisches Strafrecht. Was ist passiert?«
»Man hat Gregor verhaftet. Weil er Sebastian vorsätzlich getötet hat.«
Kirsten Praetorius strich sich fahrig durchs Gesicht. »Du und Marie haben es ohnehin vermutet. Ihr hattet recht!«
Sie nahm vor seinem Schreibtisch Platz. Ihre Gesichtszüge waren unruhig. Sie knetete nervös die Hände.
Knobel schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich habe alles erwartet, aber nicht das. Hat man Sebastians Leiche gefunden? Wo? Wie ist die Polizei ihm überhaupt auf die Spur gekommen?«
»Ich habe ihn angezeigt, Stephan!«
»Du hast was?«
Knobel mochte nicht glauben, was ihm Kirsten Praetorius gesagt hatte.
»Angezeigt«, wiederholte sie nüchtern, bevor sich ein Ton Verzweiflung in ihre Stimme mischte.
»Ich konnte einfach nicht mehr, Stephan! Das ständige Versteckspiel. Die Angst, entdeckt zu werden. Du und deine Freundin waren ihm auf der Fährte. Vorletzte Woche rief dann noch ein vermeintlicher Galerist aus Dortmund an und behauptete, Sebastian kürzlich gesehen zu haben. Eine glatte Lüge. Er konnte Sebastian nicht gesehen haben. Aber er erzählte mit unüberhörbarer Süffisanz, dass Sebastian in Sa Pobla gewesen sei und er beschrieb meine Wohnung und mich so genau, dass er ganz ohne Zweifel über die Zusammenhänge bestens Bescheid wusste. Dann kündigte er auch noch an, alles der Polizei zu melden, bevor er das Telefonat beendete. Mit anderen Worten: Es hat sich jemand gemeldet, der in nächster Zeit Geld fordern wird. Ein schmieriger Erpresser, was sonst? Und wenn es diesen einen gibt, dann vermutlich auch noch andere. Die Geschichte findet kein Ende. Man kann nicht ein Leben lang flüchten. Und weißt du …«, Kirsten Praetorius strich mit der rechten Hand über ihren Bauch, »wir brauchen Zukunft. Das Kind braucht eine Zukunft. Ich stehe diesen Stress, das fortdauernde Versteckspielen nicht durch. Ich konnte einfach nicht mehr, Stephan!«
Sie schluchzte leise.
»Was ist denn passiert?«, fragte Knobel, so weich er diese Worte formulieren konnte.
»Den Anfang der Geschichte kennst du ja. Ich habe eines Abends in Palma Sebastian und Gregor kennengelernt. Zwei Brüder, die einander nichts zu sagen, aber gemeinsam nur eines zu erzählen wussten: Die Geschichte einer Jagd nach dem Erbe der Tante Esther van Beek, die noch in irgendeinem Altersheim lebte, aber deren Ende nach der Prognose der Gebrüder Pakulla greifbar nahe war. Sie hatten Spaß daran, ihre Prognosen zu verfeinern. Höchstens ein Jahr noch, hatte Sebastian einmal gesagt und korrigiert, dass es mit etwas Glück auch noch schneller vorbei sein könne. Und natürlich merkte ich, dass sich beide in mich verguckt hatten. Zwei ganz unterschiedliche, aber in ihrer Habgier miteinander verbundene Brüder. Dem zufälligen Treffen in Palma folgten weitere Verabredungen, schließlich Besuche bei mir in Sa Pobla. Sebastian umschwärmte mich mit Dichterzitaten und gleichzeitig mit seinen Bildern. Er wollte mich von den Grundstücksgeschäften abbringen, mit denen ich täglich zu tun habe und die er als eher widerlich empfand. Sebastian ging mir mit seinen Romantikmotiven aus Palmas Altstadt ziemlich schnell auf die Nerven. Er flehte mich förmlich an, mit meiner Maklertätigkeit den Ausverkauf Mallorcas nicht noch zu fördern. Er hatte für Geschäfte keinen Sinn. Sebastian hatte noch nie arbeiten wollen. Mit Esthers halber Erbschaft hätte er sich für den Rest seines Lebens ausgeruht.«
»Und Gregor?«, fragte Knobel.
»Gregor schaute zuerst nur unbeteiligt zu. Er registrierte natürlich mit größter Zufriedenheit, dass ich für seinen malenden Bruder nicht wirklich etwas übrig hatte. Gregor gefiel es, wie sich Sebastian verausgabte. Noch ein Gedicht, noch ein Bild, noch ein Blick auf die wertvollen Kulturgüter Mallorcas, aber nichts wirkte! Sebastian wollte das nicht wahrhaben. Gregor hingegen erkannte die Erfolglosigkeit von Sebastians Mühen und wusste, dass er nur abwarten musste. Es war noch während des ersten Aufenthaltes der Gebrüder Pakulla auf Mallorca, als Gregor alleine zu mir nach Sa Pobla fuhr. Wir haben noch am selben Tag miteinander geschlafen.«
»Einfach so? Man schläft nicht einfach so mit jemandem.«
»Es hatte sich so ergeben«, blieb Kirsten Praetorius unbestimmt. »Jedenfalls löste mein beginnendes Verhältnis mit Gregor die Katastrophe aus. Ein oder zwei Tage später waren beide Brüder wieder bei mir. Es wurde viel Wein getrunken. Du weißt schon, der gute Rioja, den wir letztens bei uns getrunken haben. Ich selbst war bald angetrunken und deshalb so leichtsinnig, dass ich Gregor vertraulich am Knie fasste. Der hatte das natürlich gern und fasste mir zwischen die Oberschenkel. Gregor ist ja nicht dezent. Er ist ein Nehmer! Sebastian hat das natürlich mitbekommen, und dann entwickelte sich ein Streit zwischen den Brüdern, der so furchtbar war, dass ich ihn nicht im Einzelnen schildern möchte. Beide alkoholisiert, beide in jahrzehntelangem Hass aufeinander, beide um mich buhlend. Sebastian, der verletzte Romantiker und Gregor, der vermeintliche Sieger, der mit mir geschlafen hatte und natürlich nicht verschweigen wollte, wie er es mit mir gemacht hatte. Sie wissen ja, dass er immer mehr erzählen muss, als er eigentlich sollte …
Ja, und dann war natürlich ein Punkt erreicht, an dem die Situation eskalierte. Ich erinnere mich noch, dass Gregor seinen Bruder anschrie: Ja, so ist das Leben, Basti, jetzt ist die Entscheidung gefallen, Basti! Basta, Basti! Sebastian starrte ihn mit glühenden Augen an.
Basti bist du, Basti wie Bastard, ein Kuckucksei in unserer Familie, ein kleiner Wurm, du Schmarotzer! So ging es weiter, Sebastian und Gregor begannen sich zu behakeln, zu stoßen, plötzlich rauften sie in meinem Wohnzimmer, schlugen sich und traten sich in die Genitalien. Oh Gott, Stephan, es war furchtbar, glaube mir das! Und irgendwann, ich weiß nicht genau, wie es dazu kam, ergriff Gregor den schweren Messingkerzenständer auf meinem Sekretär im Wohnzimmer und schlug ihn Sebastian an die Schläfe. Er sackte zusammen, trat sogar noch auf ihn ein und forderte ihn auf, wieder aufzustehen. Aber Sebastian blieb liegen. Tot. Es war so schrecklich!«
»Und die Leiche?«, wollte Knobel wissen.
»Ich war so dumm, Gregor zu raten, die Leiche außerhalb vonSa Pobla in einem Neubaugebiet in einer gerade angelegten Gartenanlage zu verscharren. Ich sagte zu ihm: »Stell dir vor, wenn die Geschichte rauskommt! Denk auch an Esthers Erbe und ihre Auflage, dass du nur in den Genuss des Geldes kommst, wenn du mit deinem Bruder Frieden schließt!«
»An all diese Dinge dachtest du in diesem Moment?«, wollte Knobel erstaunt wissen.
»Ja, auch! Weil Tante Esthers Erbe doch immer bei unseren Gesprächen im Mittelpunkt stand und dem armen Sebastian jetzt ohnehin nicht mehr zu helfen war. Ich weiß, ich habe alles falsch gemacht!«
Kirsten Praetorius seufzte.
»Ich kenne zwar nicht das spanische Strafrecht«, erwiderte Knobel, »aber es wird in der Begehungsform einer Tat und ihrer Rechtswidrigkeit nicht anders sein als das deutsche.«
»Das heißt?«
»Man wird nicht nachweisen können, dass Gregor Sebastian vorsätzlich erschlagen hat. Es war eine fahrlässige Tötung, aus dem Streit heraus begangen, vielleicht auch eine Körperverletzung mit Todesfolge. Vielleicht war der Schlag auch nur ein Notwehrakt. Wie auch immer: Es gibt, jedenfalls aus Sicht des deutschen Strafrechts, eine Anzahl möglicher Strategien, die im Strafverfahren erfolgreich sein könnten! Und ich denke, das wird in Spanien nicht anders sein. Ich werde mich um einen versierten spanischen Kollegen kümmern«, versprach er.
»Es war eine vorsätzliche Tötung, Stephan!«, hielt Kirsten Praetorius entgegen. »Ich habe es gesehen! Keine Fahrlässigkeit! Keine Notwehr!«
»Aber das muss ja niemand wissen«, widersprach Knobel. »Es geht um deinen Freund, den Vater deines Kindes.«
»Ich habe schon alles so bei der Polizei ausgesagt«, sagte Kirsten Praetorius leise.
»Bist Du wahnsinnig?«, brauste Knobel auf. »Nicht nur, dass du, aus meiner Sicht völlig unnötig, Gregor bei der Polizei angezeigt und ein Tötungsdelikt zu Protokoll gegeben hast, das, wie ich schätze, mangels Leiche wahrscheinlich nie hätte nachgewiesen werden können! Nein, du erzählst auch noch seelenruhig bei der Polizei einen Tathergang, der meinen Mandanten der vorsätzlichen Tötung seines Bruders überführt. Du musst wahnsinnig sein, Kirsten!«
Knobel war erregt von seinem Schreibtischsessel aufgesprungen und ging ruhelos in seinem Büro auf und ab.
»Weißt du, was das heißt?«, bellte er. »Weißt du, was Gregor erwartet, wenn er wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt wird? Das ist in Deutschland ein Verbrechen und in Spanien sicher nichts anderes! Und gleichzeitig redest du von der Zukunft, die du sichern möchtest. Kirsten, ich verstehe das absolut nicht!«
Knobel rannte weiter durch sein Büro, von rechts nach links und wieder zurück, er blieb kurz vor dem hohen Bücherregal stehen, stützte, an das Regal gelehnt, den Kopf in die Hände, dachte nach, und lief irgendwann aus dem Büro hinaus, schräg gegenüber in das Büro des Seniors, Zimmer 101.
Dr. Hübenthal hatte zu dieser Zeit die Kanzlei bereits verlassen. Knobel trat an die Bücherwand des Seniorbüros, in dem die Bücher nach Größe geordnet waren, suchte nach einem erbrechtlichen Lehrbuch und fand es schließlich im zweiten Regal rechts unten. Knobel blätterte im Stichwortverzeichnis, las die maßgeblichen Fundstellen und dann auszugsweise einzelne zitierte Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den ihn interessierenden Fragen. Er saß in Dr. Hübenthals Chefsessel, was er noch nie getan hatte, füllte die gesamte Schreibtischplatte mit den aufgeschlagenen Büchern, prüfte und verglich, las einige Paragrafen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dazu nochmals die einschlägige Kommentierung.
Dann endlich hatte er ein Ergebnis gefunden, das ganz unglaublich erschien, aber Sinn machte und eine teuflische Logik offenbarte. Er fand nicht die Ruhe, die Bücher an ihren Platz zu stellen. Puterrot lief er in sein Büro zurück, warf laut die Bürotür hinter sich zu und baute sich in drohender Gebärde vor Kirsten Praetorius auf.
»Mir ist alles klar geworden, Kirsten!«, schrie er. »Alles macht Sinn. Bis ins Detail. Bis ins kleinste Detail!«, bekräftigte er und rang nach Luft, um seine Stimme zu beruhigen.
»Stephan, was ist los?«
Kirsten Praetorius’ Augen hatten sich erschrocken geweitet. »Ich suche einen Anwalt für Gregor, deshalb bin ich hier.«
»Ich sage dir jetzt, wie ich die Dinge sehe, Kirsten«, erwiderte er merklich ruhiger, »und eines versichere ich dir vorab: Ich werde Gregor weiterhin vertreten! Ich werde ihn aus ganzem Herzen vertreten, denn ich erkenne jetzt, dass er wirklich mein Mandant ist und ich ihn wirklich vertreten möchte! Ich werde ihn nicht strafrechtlich vertreten, das überlasse ich einem spanischen Kollegen, aber ich werde dir versichern, Kirsten, dass ich den besten Strafverteidiger Spaniens beauftragen werde! Ich selber werde Gregor erbrechtlich beraten, und ich werde versuchen, was möglich ist, um Gregor die Erbschaft zu erhalten. Sei versichert: Ich werde dir das Leben schwer machen, Kirsten! Du bist noch nicht am Ziel!«
Kirsten sah ihn ungläubig an.
»Du musst nicht unwissend tun!«, zischte Knobel. »Jetzt liegen die Dinge auf der Hand, und ich schwöre dir, ich werde jeden Haken suchen, der dich zu Fall bringt!«
Er sammelte sich, um die Falllösung zu präsentieren, die sie nach Knobels fester Überzeugung kennen musste.
»Die Tötung Sebastians hat in der Erbsache Esther van Beek eine Bedeutung. Aber ich habe bisher nicht ihre wirkliche Funktion verstanden. Es wird sich, da bin ich mir sicher, gar nicht um eine vorsätzliche Tötung gehandelt haben. Marie und ich haben uns immer gefragt, warum denn Sebastian vor Esthers Tod umgebracht werden soll. Das wäre aus Gregors Sicht rechtlich unklug gewesen, und deshalb habe ich auch nie daran geglaubt, dass er es getan hat. Eine Tötung Sebastians nach Esthers Tod, das hätte für Gregor Sinn gemacht, aber nicht eine Tötung Sebastians vor Esthers Tod. Jetzt, wo es offensichtlich doch so ist, dass Gregor Sebastian vor Esthers Tod getötet hat, kann es sich nur um ein tragisches Versehen gehandelt haben, denn Gregor hatte allen Grund, die Folgen zu vermeiden, die Sebastians Tod mit sich brachte: Er musste Sebastian gegenüber Esther am Leben erhalten, um das drohende Testament zu verhindern, mit dem Esther einen anderen begünstigt hätte, wenn sie von Sebastians Tod und dessen Umständen erfahren hätte. Und sie hätte die wahren Umstände erfahren. Sie hätte nachforschen lassen und die Wahrheit über Sebastians Tod erfahren. Sie wusste ja, dass die Brüder gemeinsam nach Mallorca wollten, um einen Versöhnungsurlaub zu machen. Und ausgerechnet da kommt Sebastian um. Nein, das durfte aus Gregors Sicht nicht passieren. Da wäre das Erbe dahingewesen. Der Tod Sebastians wird also ein tragischer Unfall gewesen sein, aber ein Zufall, der dir, Kirsten, in die Finger spielen sollte, und es wird noch zu prüfen sein, inwieweit du selbst möglicherweise den Tod von Sebastian, oder vielleicht alternativ auch den von Gregor, gewollt hast.«
»Du fantasierst!«, rief sie erschrocken.
»Dein Plan ist ebenso simpel wie teuflisch«, fuhr Knobel unbeirrt fort, »und ich reime mir zusammen, was passiert ist:
Du lernst die Gebrüder Pakulla in einer Bar in Palma kennen. Zufällig. Die Brüder mögen sich nicht. Vielleicht hassen sie sich sogar. Aber beide verbindet ein Thema: Der hoffentlich baldige Tod von Tante Esther van Beek. Beide erzählen unverhohlen von den Millionen, die ihnen zufallen werden. Und du merkst, dass sich beide Brüder in dich verguckt haben. Du wiederum findest Gefallen an dem Luxusleben, das in naher Zukunft für die Brüder beginnen wird. Mehr als ein Gefallen wird es in diesem Moment bei dir noch nicht gewesen sein. Schließlich ist alles noch sehr wenig konkret. Du kennst Sebastian und Gregor kaum, und wann die sichere Erbschaft wirklich anfallen wird, lässt sich natürlich nicht abschätzen. Aber man lernt sich näher kennen, trifft sich häufiger in Palma und auch bei dir in Sa Pobla. Wirtschaftlich erscheinen beide zunächst ziemlich attraktiv. Da ist Sebastian, der dir offen den Hof macht. Er verliebt sich schließlich in dich, malt mallorquinische Motive, malt, was du nicht weißt, zu Hause sogar eine Art Stadtplan vonSa Pobla, auf dem die Position deiner Wohnung mit einem leuchtenden roten Herz in etwa gekennzeichnet ist. Zwar ist Sebastian auf Esthers Erbe aus wie auch sein Bruder, aber Sebastian ist nicht eigentlich geschäftstüchtig. Ganz im Gegenteil: Er würde sich auf dem Erbe ausruhen, aber nicht noch nach mehr streben. Sebastian ist gegen den Ausverkauf der schönen Insel Mallorca, zu dem du mit deiner Maklertätigkeit beiträgst. Er malt stilisierte Motive aus der Innenstadt Palmas, aber er kann dich auf diesem Wege nicht erreichen. Altstadtromantik ist nicht deine Sache, Kirsten! Du willst an neu erschlossenen Grundstücken verdienen. Deine Zukunft sind Neubaugebiete mit Villen für reiche Mallorquiner oder Ausländer. Da ist das Geld, und da willst du hin!
Längst hast du mittlerweile auch Gregor näher kennengelernt, der, wie du weißt, ohnehin bereits einigermaßen vermögend ist. Er ist strebsam und geschäftstüchtig. Er denkt strategisch. Er passt in dieser Hinsicht viel besser zu dir, unterstützt deine Geschäfte, würde möglicherweise die Geschäfte auch mit seinem Erbanteil unterstützen. Bei Gregor stand nicht zu erwarten, dass er das Erbe verprasst oder sich auf dem Geld ausruht. Er würde das Vermögen mehren, Geschäfte machen. Das reizte dich. Irgendwann in dieser Zeit hast du dich für den agilen Gregor entschieden, der deinen wirtschaftlichen Zielen entspricht. Liebe war es gewiss nicht. Und natürlich hast du Sebastian verletzen und die Rivalität zwischen den Brüdern noch weiter aufheizen wollen, als du vor Sebastians Augen mit Gregor Zärtlichkeiten ausgetauscht hast. Du hast mit Gregor bereits deshalb geschlafen, weil du dir sicher sein konntest, dass der prahlende Gregor so oder so seinem Bruder davon erzählen würde. Nichts kam gelegener als die kalkulierte Verletzung Sebastians. Was beide Brüder auf Mallorca nur halbherzig versuchten, nämlich eine Versöhnung, musste von dir verhindert werden. Dein Plan, Kirsten, konnte nur aufgehen, wenn du die Brüder gegeneinander aufbrachtest. Das demonstrierte Streicheln Gregors vor Sebastians Augen wird nur eine von vielen Provokationen gewesen sein, die du offen oder subtil inszeniert hast, um den Bruderzwist zu schüren.«
»Wie du sagtest, Stephan, du reimst dir etwas zusammen!«
»Ich gebe zu: Bis hierhin ist alles reine Vermutung, aber es ist eine glaubhafte Vorgeschichte zum eigentlichen Hauptgeschehen, das mit dem verhängnisvollen Streit zwischen den Brüdern beginnt. Ab diesem Zeitpunkt setzt deine für Gregor Pakulla folgenschwere Rolle ein, die nur aus deiner eigenen Gier heraus erklärbar ist.
Ich kann nicht beurteilen, ob du diese Entwicklung gezielt provoziert hast. Du hattest ja, trotz deines planvollen Vorgehens, keine wirkliche Gewalt über den Geschehensablauf. Aber ein massiver Streit zwischen den Brüdern, wohl auch eine Schlägerei, das konntest du mit Sicherheit hinbekommen. Und ein solches Zerwürfnis, einen kräftigen Knall zwischen den Brüdern, das wolltest und konntest du erreichen. Das nämlich hätte gereicht, um die Brüder erpressbar zu machen. Du hättest nur damit drohen müssen, dein Wissen an Tante Esther weiterzugeben, von der du bereits durch die Schilderungen der beiden Brüder alles wusstest, insbesondere auch, dass sie in ihren letzten Tagen durchaus über ihr Erbe anderweitig, nämlich testamentarisch, noch hätte verfügen können, und sei es auch nur zugunsten einer sozialen Einrichtung. Die Errichtung eines Testaments durch Esther drohte beiden Brüdern wie ein Damoklesschwert. Verhindert werden konnte es nur durch demonstrierte Bruderliebe. Hätte Esther von dem Zerwürfnis zwischen den Brüdern erfahren, hätte sie testamentarisch ihr Vermögen anderen Personen vermacht. Indem du Streit und Hass zwischen den Brüdern geschürt hast, hast du beide erpressbar gemacht. Es wäre ein Leichtes für dich gewesen, dich Esther van Beek anzudienen und sie über das heftige Zerwürfnis zwischen den Brüdern in Kenntnis zu setzen. Esther, das weißt du, hätte sofort ein Testament errichtet. Und mit der Drohung, Esther zu informieren, hättest du beide Brüder gleichermaßen in der Hand gehabt. Es wäre ein Leichtes für dich gewesen, kräftig mitzuverdienen. Aber der von dir provozierte Streit zwischen Sebastian und Gregor eskalierte und endete unglücklicherweise mit dem Tod Sebastians. Ich vermute, dass nach dem tödlichen Ausgang des Streits Entsetzen geherrscht hat. Bei Gregor ebenso wie bei dir. Wegen Esthers zu befürchtender Reaktion, der Enterbung Gregors, kam eine Offenbarung des Todesfalls nicht infrage, und natürlich auch nicht wegen der zu erwartenden Scherereien mit der spanischen Justiz. Also weg mit der Leiche!
Du hast Gregor geholfen. Eigentlich warst du hier schon am ursprünglichen Ziel. Gregor war erpressbar, ohne Zweifel. Du wusstest um die Zusammenhänge und warst Zeugin aller Ereignisse. Gemeinsam, ich vermute einmal, es ging eher auf deine Idee zurück, wurde der Plan ausgeheckt, dass Gregor gegenüber Esther in die Rolle Sebastians schlüpfen sollte, bis Esther endlich starb. Esther musste der lebende Sebastian vorgespielt werden, damit sie bloß kein Testament macht. Es wurde geschauspielert. Aber nun ging es darum, auch rechtlich eine Rahmengeschichte zu entwickeln, die den Erbplänen nicht im Wege stand. Ihr habt euch im Erbrecht kundig gemacht und ich vermute, dass du auch an dieser Stelle fleißiger warst als Gregor. Immerhin hat er Grundkenntnisse erworben. Erinnere dich an Gregors Bemerkung bei unserem Besuch in deiner Wohnung: Sie hat es mir beigebracht, sagte Gregor. Und das Studium des Erbrechts vermittelte dir eine elegante Lösungsmöglichkeit, die wirklich unglaublich ist: Ich weiß nicht genau, im wievielten Monat du schwanger bist, Kirsten. Aber ich wette, das Kind wurde bald nach Sebastians und lange vor Esthers Tod gezeugt, nämlich sobald wie möglich, als du erkannt hattest, dass dir die Vorschriften des Erbrechts eine legale Möglichkeit boten, an die Erbschaft zu kommen, ohne Gregor erpressen zu müssen. Die Idee war vor der Zeugung des Kindes in deinem Gehirn geboren worden, aber zunächst lief nach außen alles so ab, wie du es mit Gregor besprochen hattest.
Sebastians Tod hätte, nachdem Esther gestorben war, für die Erbschaft insoweit keine Rolle mehr gespielt, aber du und Gregor konnten Sebastians Tod auch nicht nachträglich gegenüber den Behörden offenbaren. Wie sollte man erklären, einen vor Monaten in einem Streit tödlich verletzten Bruder heimlich vergraben zu haben? – Selbst wenn der Tod Sebastians nur ein Unfall war: Diese Umstände deuteten, und immer vor dem Hintergrund des schlagkräftigen Motivs, nämlich Esthers Erbschaft, die durch Sebastians Tod nun Gregor alleine zufiel, unzweifelhaft auf einen Mord hin. Darum also der Ausweg über die rechtliche Krücke ›Todeserklärungsverfahren‹, über das Gregor und auch du natürlich ebenfalls Bescheid wussten. Geschickt wurde die aufwändige Beauftragung unserer Kanzlei eingefädelt. Geschickt auch die Suchartikel in den Zeitungen, dann die Vermisstenanzeige. Alle Welt sollte wissen: da sucht Gregor Pakulla seinen verschwundenen Bruder. Und dann, als Sebastian natürlich nicht gefunden wurde: das unweigerliche ›Todeserklärungsverfahren‹. Das war das ursprüngliche Ziel: rechtlich sollte auf den Weg eingeschwenkt werden, der bei der für Gregor Pakulla verzwickten Ausgangslage überhaupt noch zur Erbschaft führen konnte.
Das ›Todeserklärungsverfahren‹ ist zeitaufwändig, wäre aber rechtlich sicher gewesen. Sebastians Spur hätte sich verloren. Man wäre bei der Fluggesellschaft auf seinen Hinflug nach Mallorca gestoßen, dem kein Rückflug folgte. Aber man hätte auf Mallorca keinen Ansatzpunkt gefunden. Man wäre auf den Hin-und Rückflug von Gregor Pakulla aufmerksam geworden. Das hätte Fragen aufgeworfen, natürlich auch einen Verdacht erregt. Aber es hätte keine Spur nach Sa Pobla geführt. Die Figur Kirsten Praetorius hätte es bei den Ermittlungen nicht gegeben. Die Bilder Sebastians, jedenfalls die dir bekannten, hätten auf Palmas Altstadt hingedeutet. Es war bekannt, dass Sebastian meistens nur einen Flugweg buchte und dass er sich häufig länger auf Mallorca aufhielt. Aber wo? Man hätte es wahrscheinlich nicht erfahren. Und der Verdacht gegen Gregor? Er hätte sich mit der Zeit zerstreut.
Es wäre also rechtlich sicher, nur eben zeitlich unbequem gewesen, der Zeit ihren Lauf zu lassen. Jahrelanges Warten auf die Verwertung von Esthers Erbschaft, dafür mit der vollen Erbschaft und nicht nur mit der Hälfte belohnt, und außerdem während dieser Zeit trotzdem gut ausstaffiert, denn Gregor ist ja, wie du weißt, selbst einigermaßen vermögend.
Warum also nicht diese auf der Hand liegende Lösung verfolgen und mit der Zeit Wirklichkeit werden lassen?«
Knobel hielt inne und blickte Kirsten Praetorius lange in die Augen. Würde sie sich jetzt geschlagen geben? Knobel sah keine Regung in Kirstens Gesicht.
»Die Antwort ist einfach: Diese Lösung wäre für Gregor gut und relativ sicher gewesen, aber nicht für dich!
Dein Studium der erbrechtlichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat dich natürlich auf die Vorschrift des § 2339 BGB gestoßen, in dem die Gründe für die Erbunwürdigkeit aufgeführt sind.
Knobel trat an die Bücherwand seines Büros, zog ein Bürgerliches Gesetzbuch heraus, blätterte auf, und las vor:
Ȥ 2339 Absatz 1 BGB:
Erbunwürdig ist, – ich lese Ziffer 2 vor -, wer den Erblasser vorsätzlich und widerrechtlich verhindert hat, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder aufzuheben.
Das ist es! Gregor ist unwürdig, Esther zu beerben, denn er hat sie bis zu ihrem Tod darüber getäuscht, dass Sebastian nicht mehr lebte. Er hat die Täuschung begangen, um Esther von der Errichtung eines Testaments abzuhalten, mit dem andere in den Genuss der Erbschaft gekommen wären, zum Beispiel ein Tierheim oder vielleicht auch das Wohnstift Augustinum in Dortmund.
Aber was hätte dir das gebracht? Eine Erbunwürdigkeit kann erst auf Grundlage einer Anfechtungsklage durch ein Urteil festgestellt werden, und § 2341 BGB bestimmt: Anfechtungsberechtigt ist jeder, dem der Wegfall des Erbunwürdigen, sei es auch nur mit dem Wegfall eines anderen, zustatten kommt.
Das bist nicht du, Kirsten, denn du stehst in keiner erbrechtlichen Beziehung zu Gregor Pakulla. Du bist nicht mit ihm verwandt und auch nicht mit ihm verheiratet. Andere Erben gibt es nicht. Du hättest ihn natürlich vor Esthers Tod heiraten können, aber du liebst ihn ja gar nicht. Nein, Kirsten, du hast eine andere und wirtschaftlich viel effektivere Lösung gewählt: Du hast vor Esthers Tod einen Erben zeugen lassen, der bereits zum Zeitpunkt von Esthers Tod rechtlich existent war! Denn selbstverständlich kennst du die Vorschrift des § 1923 Absatz 2 BGB.«
Knobel blätterte in dem Gesetzbuch zurück und las vor: »Absatz 1: Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.
Und Absatz 2 bestimmt:
Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbe geboren.
Das ist die Fiktion, die dir in die Finger spielt. Du hast Gregor das Kind zeugen lassen, das ihm das Erbe nimmt.«
»Ich bin fast 40, Stephan, ich wollte ein Kind. Das ist der einzige Grund. Du fantasierst!«
»Und natürlich wirst du so bald wie möglich als alleinsorgeberechtigte Mutter deines nichtehelichen Kindes für das Kind die Klage auf Feststellung der Erbunwürdigkeit Gregors erheben«, fuhr Knobel unbeirrt fort. »Gregor wirst du los, indem du ihn der vorsätzlichen Tötung bezichtigst. Ob das Erfolg haben wird, weiß man nicht. Aber das ist dir letztlich egal. Du bist ihn so oder so los. Die Anzeige Gregors bei der Polizei hat für dich schließlich eine ganz wesentliche andere Bedeutung:
Mit der Aufdeckung von Sebastians Tod und dem Auffinden seiner Leiche ist er nicht mehr verschollen. Das leidige lange ›Todeserklärungsverfahren‹ hat sich erledigt. Sebastians Tod wird festgestellt, und es ergibt sich folgende erbrechtliche Lösung:
Sebastian ist vor Esther verstorben. Sebastian wird von seinem Bruder Gregor beerbt. Sollte Gregor, was ich nach wie vor nicht glaube, Sebastian vorsätzlich und widerrechtlich getötet haben, wäre er aus diesem Grunde bereits hinsichtlich Sebastians Erbe erbunwürdig. Aber das ist egal. Sebastian hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin nichts zu vererben. Kurz darauf wird jedenfalls dein Kind gezeugt. Wochen oder Monate später stirbt Esther. Alleinerbe ist der einzige noch lebende Neffe Gregor, der aber erbunwürdig ist, weil er seine Tante Esther durch Täuschung dazu veranlasst hat, kein Testament zu errichten. Zum Zeitpunkt des Todes von Esther war aber bereits das Kind gezeugt, also der nach gesetzlicher Fiktion bereits lebende Erbe, der hinsichtlich der Erbschaft von Gregor anfechtungsberechtigt ist. Und Gregor wird nun das Erbe genommen durch dessen eigenes Kind! Die ganze Erbschaft von Esther van Beek geht auf dein Kind über! Fantastisch, Kirsten!«
»Ich wollte nur ein Kind, Stephan!«, wiederholte Kirsten Praetorius. »Nichts weiter! Und ich erkenne nichts von dem, was du gesagt hast, als richtig an. Und ich werde es auch nie tun. Ich bin enttäuscht von dir, Stephan!«
Kirsten Praetorius stand auf.
»Verzichte einfach!«, schrie Knobel. »Die Erbunwürdigkeit steht ja nicht von Amts wegen fest. Keine Klage heißt keine Erbunwürdigkeit Gregors! – Als ich mit Marie bei euch war, dachte ich, dass du ihn liebst!?«
»Warum sollte ich nicht? Bloß weil er einen Kopf kleiner ist als ich? Liebe ist so eine Sache. Aber wäre es wirklich in Esthers Sinne, dass ein Neffe erbt, der den anderen, den Lieblingsneffen, umgebracht hat? Meinst du nicht auch, dass Esther in Kenntnis dieser Umstände dann nicht eher ihren ungeborenen Großneffen bedacht hätte?«
»Du verrätst dich mit diesem Satz mehr, als du denkst, Kirsten!«, erwiderte Knobel. »Ich verstehe dich ja, und du weißt: Ich verstehe dich jetzt ganz und gar!«
Kirsten Praetorius warf ihren Mantel über und dann Knobel einen zornigen Blick zu:
»Du bist ein völlig verrückter Mensch! Gregor wird bedauern, dich je kennengelernt zu haben. Ich bedaure es jetzt schon. Du bist uns keine Hilfe. Du bist krank!«
»Und wie ist dein weiterer Plan?«, wollte Knobel wissen. »Wirst du irgendwann dein Kind ermorden, damit das Geld dann auf dich übergeht? Bis jetzt ist ja nur das Kind Erbe. Das Geld ist noch nicht bei dir angekommen, Kirsten! Was meinst du? Plötzlicher Kindstod? Kann man das nicht arrangieren?«
»Du bist krank, Stephan!«
»Du hast noch ungelöste Probleme, Kirsten!«, rief Knobel erregt. »Man wird eine Nachlasspflegschaft anordnen. Was machst du dann? Dieses Problem musst du lösen, Kirsten! Bis jetzt hast du es nur wunderbar geschafft, aus einem ›Todeserklärungsverfahren‹, das auf die Fiktion des Todes ausgerichtet ist, herauszuführen und mit der Fiktion einer gesetzlichen Vorschrift, die das ungeborene Leben als geboren fingiert, einen gewaltigen wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen. Von der Todesfiktion zur Lebendfiktion! Aber du musst doch weitermachen! Deine Geschichte endet noch nicht!«
»Du bist so unendlich krank!«, schrie sie und rannte aus seinem Büro.
»Ich werde als Zeuge aussagen im Strafprozess gegen Gregor!«, rief er ihr hinterher.