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Marie fuhr am nächsten Mittwochmorgen nach Vorlesungsschluss mit der S-Bahn von der Dortmunder Universität zum Bahnhof Dorstfeld, stieg dort noch in die S-Bahn Richtung Unna um und verließ den Zug am nächsten Haltepunkt Dortmund West. In unmittelbarer Nähe befand sich die Adlerstraße in Dortmunds Westend, ein Viertel mit zumeist aus der Gründerzeit stammenden Häusern, dessen Kneipen-und Kulturszene sich vor Jahren in Abkehr zum Ostwallviertel formiert und mit einem Namen versehen hatte und seither an Beliebtheit gewann. Die hohen Häuser ähnelten denen der Nordstadt, in der die Brunnenstraße und Maries Wohnung lagen. Marie folgte von der S-Bahn-Haltestelle der Sternstraße, gelangte dann nach links in die Adlerstraße und blieb vor der Hausnummer 71 stehen.

Marie wartete, bis zwei kleine Jungen lärmend das Haus verließen und stahl sich dann in den Hausflur. In einer Nische hingen die schlichten eisernen Briefkästen. Sebastian Pakulla hatte seinen mit einem handgeschriebenen Namensschild beklebt, genauso wie sein Namensschild draußen an der Tür. Im Kasten befanden sich einige Schriftstücke; das sah sie durch die Sehschlitze im unteren Bereich der Kästen. Sie griff oben in den Briefkasten, und nach einigen Versuchen gelang es ihr, Sebastian Pakullas Post herauszuziehen: ein Werbeblatt vom nahen REWE-Supermarkt mit Sonderangeboten für das vorletzte Wochenende, ein Hinweis auf die Altkleidersammlung am letzten Wochenende im Januar und eine Telefonrechnung. Marie sah sich um, und als sie sicher war, dass sie niemand beobachtete, öffnete sie den Umschlag der Deutschen Telekom: Eine Rechnung für den vergangenen Januar. Monatliche Grundgebühr zuzüglich einige wenige Euro für geführte Telefonate. Am Ende ein Minimalbetrag. Sebastian Pakulla hatte bis vor gewisser Zeit seine Post aus dem Briefkasten abgeholt. Wirklich aktuelle Briefsendungen gab es nicht. Gut möglich, dass Sebastian Pakulla seit Wochen, vielleicht sogar seit Jahreswende, nicht mehr den Briefkasten geleert hatte. Marie warf die Reklame wieder in den Kasten, die Telekomrechnung steckte sie ein. Dann verließ sie das Haus.

 

Auf dem Weg zurück informierte sie Stephan von dem Ergebnis ihrer Recherche, und Knobel ahnte, dass der Fall Sebastian Pakulla sich nicht so bald auflösen werde. Das Auffinden der Adresse des Bruders war zu einfach, als dass sein Mandant Gregor Pakulla die aktuelle Adresse seines Bruders Sebastian in der Adlerstraße nicht über das Einwohnermeldeamt oder auf einem anderen Wege selbst hätte ausfindig machen können. Dies galt um so mehr, als Gregor für die Erbauseinandersetzung seinen Bruder Sebastian dringend brauchte und deshalb nicht erklärlich erschien, dass Gregor nicht in der Lage gewesen sein sollte, mit simplen Methoden den Aufenthaltsort seines Bruders ausfindig zu machen. Es lag auf der Hand, dass sich Gregor Pakullas Mandat nicht darin erschöpfen konnte, den Bruder Sebastian, der im Telefonbuch nicht verzeichnet war, an seiner Wohnadresse anzutreffen, obwohl der Briefkasten seine Anwesenheit oder höchstens eine Abwesenheit von einigen Wochen suggerierte. Knobel konnte seine Vermutung nicht begründen, aber er war sich der Richtigkeit seiner Vermutung gewiss. Er erklärte Marie, dass er jetzt erst mit seinem Mandanten reden wolle. Danach werde er sich wieder melden.

 

Knobel hatte sich angewöhnt, seine Mandanten anzurufen, wenn er ein noch so kleines Ergebnis vermelden konnte. Gewöhnlich trieb ihn sein von ihm nicht eingestandener Wunsch nach Lob dazu, seine Bemühungen und ihre ersten Erfolge zu schildern, was häufig nicht nur die äußere Anerkennung seiner Kunden einbrachte, sondern auch seinen nachhaltigen und durchaus werbewirksamen Ruf begründete, dass Knobel seine Mandanten umgehend am Fortgang ihrer Sachen teilhaben ließ und er sich auf diese Weise als äußerst zuverlässiger Anwalt empfahl. Er hatte bereits Mandanten gewonnen, denen er gerade wegen dieser Informationspraxis ans Herz gelegt worden war. Doch als er Gregor Pakulla anrief, spielten diese Motive keine Rolle. Er wollte seinem Mandanten nicht wirklich etwas mitteilen. Eher hoffte er, von Gregor Pakulla etwas zu erfahren, ohne dass er wusste, in welche Richtung er forschen und welche Erkenntnisse ihm das Gespräch bringen sollten. Er erreichte seinen Mandanten über das Handy. Keine Geräuschkulisse im Hintergrund. Sein Mandant schien in einem geschlossenen Raum zu sein.

»Haben Sie Ergebnisse?«

Gregor Pakullas Stimme klang ungeduldig.

»Wir haben die Adresse Ihres Bruders«, erwiderte Knobel, hielt inne und ließ seinen Mandanten den nächsten Zug tun.

»Und – haben Sie ihn gesprochen?«

»Nein. Er war nicht zu Hause.«

»Versuchen Sie es wieder!«, forderte Pakulla.

»Ich will Ergebnisse!«

»Sicher«, beruhigte Knobel. »Ich melde mich wieder bei Ihnen.«

Dann brach er die Verbindung ab.

Das inhaltsleere Gespräch hatte Knobel nicht verwundert. Ganz im Gegenteil fand er seine Ahnung bestätigt, dass er seinen Mandanten mit seiner Nachricht nicht überraschen konnte. War Pakullas Mandatsauftrag der Sache nach nichts anderes als die überschaubare Aufgabe, eine Adresse zu finden, hätte das Beschaffen eben dieser Information bei seinem Mandanten eine andere Reaktion auslösen müssen. Knobels Auftrag war es, den Bruder seines Mandanten ausfindig zu machen, und die Ermittlung seiner Wohnadresse war der erste und eigentlich wichtigste Schritt, diesen Auftrag zu erfüllen. Dies um so mehr, als Pakulla seiner Schilderung nach hier die entscheidende Information fehlte. Warum also führte die Nachricht, die Adresse herausgefunden zu haben, nicht zu der naheliegenden Frage, wo der Bruder wohne? Warum keine Frage nach der Telefonnummer, vielleicht nach Einzelheiten der Wohngegend, in der er abgeblieben war? Warum die Forderung nach Ergebnissen, wenn das entscheidende Resultat doch schon mitgeteilt worden war? Welche Ergebnisse sollten noch erzielt werden, wenn nicht das auf der Hand liegende, dass man den Bruder unter der Adresse Adlerstraße 71 antreffen werde, was nicht eine Frage weiteren Nachforschens, sondern nur eine Frage der Zeit schien? Je mehr Knobel über diese Fragen nachdachte, desto größer wurde sein Verdacht, dass mit dem Ausfindigmachen der Adresse des Bruders die Lösung des Falles eben nicht nahe lag. Das eigenartige Verhalten Pakullas in dem kurzen Telefonat ließ keinen anderen Schluss zu und zwang damit zu der weiteren Folgerung, dass Pakulla mehr über den Verbleib seines Bruders wusste, als er preiszugeben bereit war. Eigenartig war, dass sich Pakullas Mandat und Knobels Schlussfolgerungen gegenseitig ausschlossen. Welchen Sinn machte Pakullas Auftrag, wenn er möglicherweise den Aufenthaltsort des Bruders kannte? Und warum gab sich Pakulla nicht wenigstens interessiert, als Knobel ihm die Nachfrage nach der Adresse des Bruders förmlich in den Mund legte?