20
Knobel saß morgens kaum wieder in seinem Büro, als Gregor Pakulla unangemeldet in der Kanzlei erschien. Frau Klabundes Lesebrille war bis auf die Nasenspitze heruntergezogen, als sie in Knobels Büro zur Seite trat und mit knappen Worten Herrn Pakulla hineinbat.
»Der Herr Pakulla hat es ganz dringend gemacht«, bemerkte sie spitz, sah Knobel über ihre Brillengläser an und ließ unausgesprochen wissen: Er ließ sich nicht abwimmeln, nicht einmal vertrösten.
»Aber meine liebe Frau Klabunde«, gab Knobel freundlich zurück, »es macht ja nichts! Seien Sie doch so lieb und bringen Kaffee und etwas Gebäck!«
Diese Worte erzürnten sie sichtlich. Sie hatte auf ihren verschwörerischen Einleitungssatz eine Antwort erwartet, die sie versteckt bestätigte, etwa ein gedehntes Ja, wenn es denn sein muss.
»Wenn Sie da sind, sind Sie da!«, eröffnete Knobel stattdessen lächelnd, bat höflich seinen Mandanten, Platz zu nehmen, und Gregor Pakulla glitt auf einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch.
»Ich habe Sebastian jetzt bei der Polizei als vermisst gemeldet«, eröffnete sein Mandant, »verzeihen Sie, aber ich konnte nicht mehr länger warten.«
Knobel lehnte sich in seinen Sessel zurück. Frau Klabunde erschien in diesem Augenblick in seinem Büro, servierte mit heimlicher Wut Kaffee und Gebäck und demonstrierte ihren Unmut, indem sie die gefüllten Kaffeetassen so hart abstellte, dass das Getränk geringfügig überschwappte.
»Das ist lieb!«, antwortete Knobel, und er zwinkerte Frau Klabunde vertraulich zu, was diese nicht bemerkte und sich deshalb noch mehr erzürnte. Die Zimmertür schlug deutlich hörbar zu, und Knobel bat seinen Gast, doch erst einmal einen Schluck Kaffee zu trinken.
»Sie haben Sebastian also als vermisst gemeldet«, wiederholte er. »Wo?«
»Beim Polizeipräsidium Dortmund«, antwortete sein Mandant. »Es tut sich ja nichts in dem Fall. Irgendetwas musste passieren!«
»Sie sind also aus Limburg angereist, um Ihren Bruder als vermisst zu melden?«
»Gleichermaßen schlimm wie wichtig genug!«, antwortete Pakulla.
»Ich war gestern bei Herrn Theodoridis«, erwiderte Knobel. »Und der sagte etwas, was mir im Gedächtnis geblieben ist: Theodoridis meint nämlich, dass alles normal läuft. Er sagte, dass sich Ihr Bruder für Monate verabschiedet und seinen Haushalt geordnet hinterlassen hat und ihn während seiner Abwesenheit bewirtschaften lässt. Es gibt nur einen, der diese geplante und organisierte Ruhe gehörig aufmischt, und das sind Sie, Herr Pakulla! Und nun melden Sie Ihren Bruder sogar als vermisst, nachdem Sie erst vor ein paar Tagen die Presse für eine Suchaktion instrumentalisiert haben!«
Gregor Pakulla blickte ihn verwirrt an, und Knobel wiederholte die wichtigsten Aussagen, die er aus dem neuerlichen Gespräch mit dem Nachbar Theodoridis gewonnen hatte.
»All das weiß ich ja gar nicht!«, erboste sich Pakulla, überlegte kurz und fuhr laut fort:
»Aber das macht die Geschichte um so rätselhafter! Ein Freund, der Sebastians Post abholt. Wer soll das denn sein?«
»Ich weiß es nicht, Herr Pakulla.«
»Und was ist mit der vermeintlichen Party, die mein Bruder geben soll?«
»Das war eine Sackgasse in unseren Ermittlungen«, beschwichtigte Knobel. »Vergessen Sie das einfach!«
»Wir haben nur Spuren, die ins Nichts führen«, resümierte sein Mandant. »Da ist meine Vermisstenanzeige nur folgerichtig. Was ist, wenn Sebastian nie gefunden wird?«
»Daran müssen wir nach dem Stand der Dinge nicht denken.«
»Wenn er nie gefunden wird, muss er für tot erklärt werden, das ist doch richtig? Man nennt das ›Todeserklärung‹, nicht?«
Knobel erinnerte sich an das erste Gespräch mit Gregor Pakulla, als dieser den Rechtsbegriff der Kommorienten richtig benutzte. Jetzt war es der Begriff der ›Todeserklärung‹, dessen richtige Anwendung durch einen Laien verwunderte.
»Es gäbe für diesen Fall ein Verfahren nach dem Verschollenheitsgesetz«, erklärte Knobel.
»Ja, so etwas ist es doch!«, rief Pakulla erregt. »Ist er denn nicht verschollen?«
Knobel stand auf und trat an die Bücherregalwand seines Büros, in der er die für ihn wichtige Kommentarliteratur, Gesetzessammlungen, aber auch viele Fachbücher, die er selten oder nie benutzt hatte, publikumswirksam nach Farben geordnet zusammengestellt hatte.
»Sie werden sich denken können, dass solche Fälle nicht alltäglich sind«, erklärte Knobel und zog eine der dicken roten Gesetzessammlungen hervor, suchte nach der Ordnungsnummer des Verschollenheitsgesetzes und musste die zusammenpappenden Blätter dieses noch nie von ihm eingesehenen Gesetzes durch behutsames Pusten voneinander trennen.
»Verschollenheitsgesetz vom 4. Juli 1939«, las er vor.
»Ja, ja, es geht natürlich auf ein Nazigesetz vor dem Krieg zurück, aber es gilt noch heute«, erläuterte Gregor Pakulla ungeduldig, und Knobel stutzte ein weiteres Mal ob der Kenntnisse seines Mandanten.
»Das begreift doch jeder Laie!«, half Pakulla über das Staunen Knobels hinweg. »An solchen Gesetzeswerken sieht man, dass die Nazis den Krieg vorbereitet haben. Man wusste doch, dass es viele Opfer geben würde, die man niemals findet. Deshalb dieses Gesetz, oder irre ich mich, Herr Knobel? Um die Zusammenhänge zu begreifen, muss man weder Jurist noch Historiker sein!«
»Hier ist die Definition«, sagte Knobel. »Direkt am Anfang, § 1, Absatz 1:
Verschollen ist, wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden.«
»Ja, so ist es doch«, rief Pakulla erregt. »Natürlich ist Sebastian verschollen. Seit wann hören wir nichts mehr von ihm, Herr Knobel? Spätestens seit seinem letzten Anruf bei diesem Herrn Theodoridis, von dem Sie mir berichteten. Oder haben Sie andere Erkenntnisse?«
»Nein«, bekannte Knobel.
»Alles andere sind Zeichen, die nicht wirklich etwas über Sebastian aussagen: Dieser Freund, der die Post abholen soll. Oder die Freunde, die Gläser für eine Party anliefern. Alles Mumpitz! Von Sebastian keine Spur«, stellte er fest.
»Die Vermisstenanzeige ist das einzig Richtige«, bekräftigte Pakulla. »Sie werden sehen, es läuft auf ein ›Todeserklärungsverfahren‹ hinaus.«
»Da gibt es sehr lange Fristen«, erklärte Knobel, und er überflog den Gesetzestext und zitierte § 3 Absatz 1:
Die ›Todeserklärung‹ ist zulässig, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, 10 Jahre oder, wenn der Verschollene zur Zeit der ›Todeserklärung‹ das 80. Lebensjahr vollendet hätte, 5 Jahre verstrichen sind. – Also mindestens 10 Jahre, Herr Pakulla!«
»Wir werden also noch lange miteinander zu tun haben.«
Gregor Pakulla stand auf und sah auf die Uhr.
»Mein Zug fährt in 20 Minuten. Es gibt nur wenige ICE-Züge am Tag, die von Dortmund aus fahren und in Limburg halten. Montabaur und Limburg werden von den meisten Zügen ohne Halt bis Frankfurt-Flughafen durchfahren. Also, nichts für ungut, danke für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben, vielmehr die Zeit, die ich bereits teuer bevorschusst habe.«
Der Mandant lächelte verschmitzt. »Ich denke, Herr Knobel, wir sollten uns auf dieses ›Todeserklärungsverfahren‹ einstellen, wenn die Vermisstenanzeige keine neuen Erkenntnisse bringt. Auf die Zeitungsanzeigen hat sich niemand mehr gemeldet.«
Pakulla stand auf, reichte Knobel die Hand und eilte hinaus.